World of X

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Das Kind des Mörders

von Tangerine Krycek

Entgegen aller Vernunft

Zunächst fuhren sie scheinbar ziellos durch die Gegend. Überquerten unzählige Kreuzungen und passierten Häuserschluchten. Amber hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Sie fühlte sich unwohl und nervös und innerlich fragte sie sich wie weit sie ihr Schweigen auf Dauer bringen würde. Alex konzentrierte sich auf den Verkehr, deshalb versuchte sie mit einem leichten Räuspern seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Er sah kurz zu ihr und schaute dann wieder geradeaus.

,Was ist los Amber?'

Eigentlich wollte sie ihn darum bitten zum Headquarter zu fahren, doch etwas hinderte sie daran diesen Wunsch zu äußern und so schüttelte sie nur leicht mit dem Kopf, verwarf den Gedanken, den sie hatte wieder und antwortete still: ,Nichts.'

Sie wusste, dass er ihr nicht glaubte, doch sie war sich sicher, dass es vorübergehend besser sein würde, jene Wahrheit, die sie mit Alex verband, eine Zeit lang für sich zu behalten.

Erneut blickte Amber auf die Uhr. Sie wusste, dass sie längst hätte im Büro sein müssen. Aber sie konnte dort nicht erscheinen. Auf der einen Seite fürchtete sie sich vor den Konsequenzen, auf der anderen Seite gab es für sie nun weitaus Wichtigeres.

Alex und Amber gingen noch eine Weile lang am Wehr spazieren. Dem Ort, an dem sie sich vor Monaten zum ersten Mal begegneten. Der Himmel war ebenso trüb wie es ihre Gemüter waren und doch belebte sie eine milde Brise wieder und wieder. Sie setzte sich auf einen der verrosteten Poller, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und sah zum ihm empor. Langsam hockte er sich nieder und berührte ihr Gesicht. Es waren viel mehr die liebevollen Berührungen die sie jetzt brauchte, anstatt tausende Worte, die sie schlussendlich doch nur verwirrten. Manchmal war es besser nichts zu sagen. Manchmal...

Hier am anderen Ende der Stadt, erlangte sie nach Tagen endlich wieder einen Zustand, den man weitläufig als Ruhe und Wohlbefinden hätte bezeichnen können. Wäre dort nicht immer wieder die in ihr aufflammende Übelkeit gewesen. Mit jedem Mal, als sie spürte, dass sich etwas in ihr veränderte, reifte Ambers Bewusstsein.

Heute war es soweit. Heute würde sie das neue Leben, das in ihr entstand, zum ersten Mal sehen können. An sich wäre dies ein Grund zur Freude gewesen, doch es gab noch immer unausgesprochene Tatsachen, die sie an solch einem Gefühl hinderten. Dennoch wusste Amber, dass sie nicht alleine war.

Es war noch früh. 5 Uhr morgens. Doch sie konnte nicht mehr schlafen, strich die Decke sanft von ihrer Haut und ging schleichend zu dem großen Fenster des Apartments. Über den Gebäuden konnte sie bereits die Morgendämmerung in einem trüben Orange erahnen. Ambers Intuition verriet ihr, dass sich ihre Eltern um sie sorgten. Vielleicht mehr als sie es je zuvor getan hatten. Und ständig grübelte sie darüber nach wie sie ein Gespräch beginnen konnte. Offenheit zählte zwar zu ihren Stärken, jedoch nur wenig, wenn es sie selbst betraf. Sie nahm ihr Handy vom Wohnzimmertisch und schaltete es nach Tagen zum ersten Mal wieder ein. Einen Arm vor dem Bauch verschränkt ging sie zurück zum Fenster und starrte scheinbar gedankenverloren in die Ferne. Ihr Herz schlug unruhig. Sie war drauf und dran die Rufnummer ihrer Mum zu wählen. Beinahe hätte sie dies getan, und doch konnte sie es nicht. Wenn Amber mit ihren Eltern sprechen würde, dann wollte sie dies von Angesicht zu Angesicht tun. Für sie würde sich solch eine Situation sicherlich anfühlen, als ginge sie durch die tiefsten und dunkelsten Abgründe der Hölle. Aber nur sie war es, die das lange Schweigen früher oder später brechen können würde.

,Amber?' hörte sie eine Stimme aus dem Hintergrund müde fragen und drehte sich um.

Mit schleichenden Schritten ging sie zu Alex, der sich im Bett aufgesetzt hatte und mit den Handflächen über sein Gesicht rieb. Langsam ließ sie sich auf die Bettkante sinken und umschlang ihren anorektischen Körper mit beiden Armen. Sanft strich er über den weichen Stoff ihres Shirts. Er fühlte sich zart und warm an und doch spürte er sogleich einige ihrer Rückenwirbel. Amber wirkte wie ein Hauch von Mensch. Zerbrechlich und anfänglich unnahbar. Und doch spiegelte der Ausdruck ihrer Augen Liebe, Furcht und Traurigkeit wieder. Dies waren jene Seiten, die Alex von ihr kannte und doch hatte er einige davon bisher nicht gänzlich verstehen können. Aber er hielt an ihr fest, denn sie gab ihm das Gefühl wertvoll zu sein, auch wenn sie um seine Schattenseite wusste.

Behutsam zog er sie zu sich und ließ sie mit sich ins Bett sinken. Er deckte Amber zu und küsste ihr Haar, während er ihre Hand hielt, die zu ihrem Bauch glitt.

,Ich kann einfach nicht schlafen und dennoch bin ich so müde.' brachte sie schließlich mühsam hervor und es klang als müsse sie gegen ihre Tränen ankämpfen.

Alex drückte sie noch fester an sich. Er wollte nichts sagen und ihr nur das Gefühl geben, dass er für sie da sein würde, egal was auch geschehen mochte.

Grell weißes, kühles Neonlicht blendete sie und Amber kniff die Augen zusammen als sie in dieses sah.

Ihr Unterkörper war entblößt. Sie krallte sich an ihrem Shirt fest und hielt für viele Sekunden die Luft an. In jenem Moment hatte sie den Eindruck nachempfinden zu können, wie sich die Toten, die sie bei ihren Autopsien während ihres Medizinstudiums untersucht hatte, fühlten, wären sie überhaupt noch zu solch einer Regung nach ihrem Ableben imstande gewesen.

Alex hielt ihre Hand und erst als er begann diese zu drücken, holte er Amber damit zurück in die Gegenwart.

Im Untersuchungsraum wurde es dunkler und sie erkannte nur noch Schattenrisse. Lediglich ein Monitor warf einen dezenten Lichtkegel in ihre Richtung. Ein schmaler Schallkopf drang in sie ein. Dieser fühlte sich kühl an und sorgte dafür, dass sie zusammenfuhr und sich verspannte. Wie gerne hätte sie das Gefühl von Vorfreude zugelassen, denn Amber hatte das Glück Leben schenken zu dürfen, was ihr auch bewusst war und doch war sie noch immer wie paralysiert in diesem Augenblick.

Und dann sah sie es. Jenes neue Leben, das nun seit ungefähr 9 Wochen in ihr reifte. Ein winziger ovaler Punkt, in dessen Mitte ein kleines Herz unermüdlich schlug.

Angestrengt richtete sie sich ein Stück auf. Ihre Augen wurden wässrig und sie umschlang Alex in Bruchteilen von Sekunden so fest sie konnte.

Die Blicke des Arztes, die sie zu erahnen vermochte und seine Wortkargheit ließen Amber vermuten, dass es ihm auf der Seele brannte, zu behaupten, dass dieses Kind wohl nicht geplant gewesen sei. Doch berührte sie jene Ahnung in diesem Moment kaum.

Nun hatte sie das, was sie wollte. Eine Gewissheit. Eine Tatsache. Einen Beweis. Etwas, das sie und Alex bald noch enger miteinander verbinden würde. Doch würde die Liebe einer Wahrheit, die so voll von den dunkelsten Abgründen zu sein schien stand halten können?

Eines war sicher. Jemand würde reden und somit das Jahre lange Schweigen brechen müssen.

Ohne ein weiteres Wort verließen beide die Arztpraxis. Ambers Gesicht war ausdruckslos und ihre Blicke starrten ins Leere, während sie neben Alex her ging. In ihr wüteten jedoch die Emotionen gleich der gigantischen Welle eines Tsunamis. Er sah immer wieder zu ihr und wollte sie ansprechen. Er griff nach ihrer kalten Hand. Sie blieb stehen und hatte das Gefühl, der lange, enge Flur und das kühle Licht würden sie erdrücken.

Zunächst sah Amber eine Weile lang wortlos zu Boden, um die Tränen zu verstecken, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, dann blickte sie zu Alex empor und die wässrigen Perlen bahnten sich langsam den Weg über ihre Wangen.


Eines war sicher. Jemand würde reden und somit das Jahre lange Schweigen brechen müssen.
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