World of X

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Das Kind des Mörders

von Tangerine Krycek

Andere Wahrheiten

Wie Fox es am Telefon mit Dana ausgemacht hatte, wartete sie auf halber Strecke an einer abgelegenen, stillgelegten Tankstelle. Während der Fahrt hatte sich Alex immer wieder umgedreht um nach Amber zu sehen, doch diese rührte sich kaum und schien vollkommen in eine andere Welt gedriftet zu sein. Dieser Anblick brach ihm das Herz und er begriff, dass es das war was diese Leute, die seit Monaten hinter ihm her waren, wollten. Seine innige Liebe und Verbundenheit zu der Tochter zweier Agenten, die stets für die Wahrheit gekämpft hatten, machten ihn angreifbar, doch er hatte sich geschworen alles in seiner Macht stehende zu tun, um sie und ihr Baby vor weiteren Angriffen jeglicher Art zu schützen.

Ruckartig schlug Fox das Lenkrad ein und brachte das Auto zum Stehen. Dana erwartete sie bereits ungeduldig, stieg aus dem Wagen und eilte zu den Dreien.

,Wo ist sie?' fragte sie aufgeregt und sah zu Fox auf. Dann fielen ihre Blicke zu Alex, der noch immer Ambers kalte Hand hielt. Für gewöhnlich wäre dies ein Anblick gewesen, der sie ekelte oder wütend machte, doch in einem Moment wie diesem war kein Platz für derartige Gefühle.

Fox öffnete die Hintertür seines Autos, sodass Dana ihren Oberkörper durch diese strecken und ihre Tochter begutachten konnte. Alex ließ ihre Hand los und stieg für einen Moment aus dem Wagen, um frische Luft zu atmen und darüber nachzudenken wie es nun weitergehen sollte. Er wollte nicht in ewiger Furcht leben und ebenso wenig in selbiger sterben müssen, denn er wurde gebraucht – als Lebensretter, Partner und werdender Vater.

Auch wenn sie wusste, dass sie nicht reagieren würde, so sagte Dana immer wieder den Namen ihrer Tochter. Ihr Anblick schmerzte sie und als sie die Haarsträhne von ihrer Schläfe strich, unter der sie bereits Blut erahnen konnte, fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr wurde klar, dass sie nicht noch länger zögern durften und Amber umgehend medizinisch versorgt werden musste.

Dana richtete sich wieder auf, schloss die Hintertür und ging zu Fox und Alex, die sich mit verschränkten Armen an die Kühlerhaube gelehnt hatten, jedoch kein Wort miteinander sprachen. Sie schienen müde und durstig, aber ebenso angespannt zu sein.

,Ich übernehme ab jetzt und bringe Amber in ein Krankenhaus. Fahrt erst mal nach Hause und versucht zu schlafen!' forderte Dana die zwei Männer auf.

Fox rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht und atmete tief durch, bevor er fragte:

,Denkst du dass ich Recht hatte... ?'

Sie biss sich daraufhin nur kurz auf die Unterlippe und in ihren Augen begannen Tränen zu glänzen, dann berührte sie Fox Oberarm, ging an ihm vorüber und setzte sich in sein Auto. Bevor sie los fuhr, drehte sie sich noch einmal zu Amber um und flüsterte:

,Es tut mir alles so leid... '

Fox und Alex nahmen in Danas Wagen Platz, dann sahen sie sich wortlos in die Augen. Niemand brauchte etwas zu sagen. Fast schien es so als hätte sich ein tief sitzender Knoten gelöst...




Amber war umgeben von undurchdringlich dicken Schichten des kältesten Eises. Hier unten war es dunkel und still. Hin und wieder spürte sie einen Strudel, einen tosenden Sog an ihren Füßen und Beinen, der drohte sie noch tiefer in diese schwarzen Abgründe zu ziehen. Sie blickte nach oben, sah einen leichten Schein, dann ein Licht durch das Dunkel dringen und streckte ihm ihre Arme und Hände entgegen, um von diesem Ort, diesem Alptraum, der sie gefangen hielt entfliehen zu können. Sie schaffte es jedes Mal ein Stückchen näher an die Wasseroberfläche zu gelangen, doch immer wenn sie kurz davor war aufzutauchen, wurde sie wieder von etwas Bösem ergriffen, das sie schlussendlich darin hinderte. Amber spürte wie ihr mehr und mehr die Kräfte schwanden und doch flüsterte ihr jemand immer wieder zu, dass ihre Zeit noch nicht gekommen sei. Sie wollte schreien und öffnete den Mund, doch sie war stumm und verängstigt – zu schwach...



Kein Zeitgefühl und doch schienen die Wochen atemlos zu rasen. Dana wich keine Minute von Ambers Seite, sah immer wieder zu ihrer Tochter, dann zu den Monitoren, die ihre Vitalwerte aufzeichneten. Es war ein bitteres Gefühl, dass immer wieder in ihr hochkam und doch hoffte sie, dass es noch nicht zu spät war eine gute Mutter zu sein. Sie hielt ihre knochige Hand, strich über ihre weiche, blasse Haut, berührte ihre Stirn und das ebenso tizianrote Haar. Dana sprach mit ihr, flüsterte ihren Namen und berührte ihren Bauch, der sich mehr und mehr unter der Bettdecke wölbte. Sie erinnerte sich an jene Zeiten, in denen sie William sowie Amber unter ihrem Herzen trug und wurde sehnsüchtig.

Eines Tages würde auch Dana alles raus lassen und ihrer Tochter die bittere Wahrheit anvertrauen müssen – über sich selbst, Fox und William, Ambers Bruder von dessen Existenz diese jedoch bisher nichts wusste, denn Dana schämte sich noch immer dafür ihn damals weg gegeben zu haben, gab es nun doch Situationen in denen sie wissen wollte wie es ihm ging, wie er aussah und ob er die Wahrheit kannte und bereits nach seinen leiblichen Eltern suchte. Doch noch verdrängte sie es. Es tat zu weh.

Wäre ihre Zeit tatsächlich abgelaufen, hätten sie und ihr Baby nicht überlebt. Dessen war sich Dana sicher. Und dabei war die Dosis der, Amber verabreichten, Halluzinogene, wie man später nach der Entnahme ihres Blutes heraus fand, bedenklich hoch, sodass es einem Wunder glich, dass beide überhaupt noch lebten. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie doch zurückkehren würde, deshalb betete und flehte sie, denn irgendetwas verriet ihr, dass Amber genau dies spürte und für sich und ihr ungeborenes Kind kämpfte.

Doch an wen oder was würde sich Amber, käme sie jemals wieder zu Bewusstsein, erinnern können?

Und würde sie tatsächlich sprechen wollen, wenn dadurch all das was sie erlebt hatte lebendiger als je zuvor werden würde?

Dana ließ die Hand ihrer Tochter für einen Augenblick los und sah mit müden Augen zur Uhr. Sie fröstelte leicht und hüllte sich in eine Decke, wollte nicht einschlafen und dennoch übermannte sie nach Wochen der Anspannung das natürliche Verlangen ihres Körpers nach Ruhe. Ein letztes Mal griff sie in ihre Brusttasche und berührte dabei die kleine Schatulle die sich darin verbarg, dann rutschte sie etwas näher an Amber heran und drückte ihre Hand so fest sie konnte, während sie flüsterte:

,Komm' doch bitte wieder zurück!'

Danach schlief sie endgültig ein.



Wieder sah Amber Schichten des dicksten Eises über sich und wieder verspürte sie den unbändigen Drang auftauchen zu wollen. Sie wollte nicht schwach sein und fort von jenem Ort, der sie gefangen hielt. Sie sah sich selbst, umgeben von erdrückender Dunkelheit. Dann blickte sie an sich herunter...
,Alex!' war das einzige was aus ihrer Kehle heiser zu vernehmen war. Sie hielt die Luft an und versuchte mit letzter Kraft dem Licht, nach dem sie sich sehnte, zu folgen und schwamm diesem entgegen...

Ihre Lider zitterten und ihr Atmen drang röchelnd aus ihrem Mund hervor. Mit den Händen berührte sie den Stoff der Bettdecke, dann versuchte sie ihren Kopf zu bewegen. Doch zunächst war sie wie gelähmt. Mit viel Anstrengung und Kraft schaffte sie es ihre Augen einen winzigen Spalt weit zu öffnen. Alles was sie umgab war verschwommen und dennoch konnte sie eine Gestalt ausmachen, die auf einem Stuhl vor ihrem Bett saß. Amber tastete zunächst blind, dann spürte sie etwas, das ihr vertraut vorkam. Es war eine warme Hand, deren Haut sich zart anfühlte. Als ihre Blicke klarer wurden und sie sich zumindest darüber bewusst wurde, dass sie wach war, bewegten sich ihre Lippen leicht. Mit ihrem Zeigefinger strich Amber kraftlos über Danas Handrücken. Es kostete sie zunächst viel Anstrengung und dennoch versuchte sie zu sprechen.

,Mum? Mommy... ?' waren jedoch die einzigen Worte, die heiser und trotzdem hörbar aus ihrer Kehle klangen.

Dana dachte sie habe geträumt, öffnete kurz die Augen, ließ ihren Kopf dann aber wieder schwer auf die Schulter sinken. Amber konnte ihre Geste erahnen und in ihren Augen begannen sich Tränen zu sammeln. Nocheinmal nahm sie ihre Kraft zusammen, räusperte sich so laut sie es in jenem Moment konnte und griff so fest es ging nach der Hand ihrer Mum. In Bruchteilen von Sekunden fuhr Dana zusammen und war wacher als je zuvor.

,Amber!' stieß sie ungläubig und atemlos hervor, sprang von dem Stuhl auf und drückte ihre Tochter so fest sie konnte an sich, während sie durch ihren Haarschopf strich und selbigen zahllose Male küsste.

Amber war schwach und dennoch gelang es ihr sich für einen Augenblick an ihrer Mum fest zu krallen. Sie ließen einander los und Dana sank auf die Bettkante. Ihre Augen waren von Tränen gerötet und auch ihre Tochter weinte.

,Mum? Was ist geschehen? Und... was mache ich hier?' fragte Amber heiser und gequält.

Danas Herz traf ein Stich, sie ließ den Kopf hängen und begann kurz auf ihrer Unterlippe zu kauen.

,Du kannst dich an nichts erinnern?' flüsterte sie und suchte dann wieder die Blicke ihrer Tochter.

Amber zuckte kaum merklich mit den Schultern, kniff die Augen zusammen und schnaufte. Scherben von Erinnerungen, Fragmente die angstgetränkt waren, tauchten nach und nach auf und sorgten dafür, dass sie sich, schutzsuchend, unter die Bettdecke sinken ließ. Plötzlich überkam sie eine unbändige Furcht und sie begann zu zittern, blickte an sich herab und entdeckte ihren Babybauch. Vorsichtig und unsicher, strich sie den Stoff der Decke ein Stück weit von sich, wenngleich sie fröstelte. Dana beobachtete jede Geste ihrer Tochter genau und Gefühle aus Erleichterung und Unbehagen mischten sich.

Amber legte erst eine Hand auf die harte Wölbung, dann die Zweite. Sie umfasste ihren Bauch und sah dennoch verwundert zu ihm. Innerhalb von Wochen war ihr Baby gewachsen, gereift und es lebte ebenso wie sie es tat, das konnte sie an den zarten Bewegungen des Fötus ausmachen. Sie schluckte, doch es schmerzte sie, da ihr Hals trocken war, dann zog sie beide Brauen nach oben und sah wieder zu ihrer Mum.

,Wie lange war ich weg und... und... ' ihre Stimme brach kurz als sie flüsternd und mit fast kindlicher Stimme fort fuhr: ,... wie hat mein Baby all dies überstanden?'

In diesem Moment war sich Dana sicher, dass sich Amber an alle grausamen Details erinnern konnte, doch sie hütete sich davor ihr jetzt Fragen zu stellen. Zu frisch waren diese Wunden, zu schmerzgetränkt. Eines Tages würde sie sprechen und es raus lassen müssen, das wusste sie. Doch nicht jetzt und nicht hier.

Sie hatte ihre Tochter wieder. Dana versuchte ihr ein sanftes Lächeln zu schenken, strich eine Haarsträhne hinter Ambers Ohr, küsste sanft ihre Stirn und antwortete:

,Du warst so lange fort, dass ich froh bin, dass du den Weg zurück ins Leben wieder gefunden hast. Für dich, dein Baby und... ' sie sprach nicht weiter.

,Alex... ' ergänzte Amber flüsternd und sah tief in die Augen ihrer Mum.

Dana presste kurz ihre Lippen zusammen und nickte, ohne jedoch etwas zu sagen.

,Wo sind die Beiden jetzt? Wo sind Alex und Dad... ?' fragte sie mit leiser Stimme.

Am liebsten hätte sie nicht geantwortet, denn sie fürchtete, dass alles was sie sagte Amber zu sehr aufregen würde, doch sie entschied sich zu reden, denn nun war, nach so vielen Jahren, der Zeitpunkt gekommen offen zu sein, um die Wahrheit nicht länger hinter einer Lüge zu maskieren.

Dana räusperte sich kurz und holte tief Luft.

,Dein Dad... und Alex... sind auf der Suche nach denen die dir das angetan haben. Jemand muss seit Beginn eurer Bekanntschaft gewusst haben wer du bist, dass du unsere Tochter bist, und das Leben von Alex für interessant genug gehalten haben, um ihn permanent zu überwachen. Ich weiß zwar noch immer nicht genau was ich von ihm halten soll, dazu ist zu viel geschehen, aber Fakt ist, dass du als ein Mittel benutzt wurdest, das ihn angreifbar macht. Er scheint dich wirklich zu lieben und das macht ihn selbst zu einem Opfer seiner Vergangenheit, die ihn nun gewissermaßen eingeholt hat... '

Dana spreizte die Hand und berührte mit Daumen und Zeigefinger ihre Schläfen und schloss kurz die Augen, bevor sie fort fuhr:

,Was hat er dir genau über sich erzählt?'

Ambers Herz begann schneller zu schlagen. Es war eine vollkommen neue Situation. Sie konnten zum ersten Mal miteinander sprechen – so wie sie es schon hätten Jahre zuvor tun sollen. Und dennoch merkte sie, dass es noch dauern würde bis sie ihrer Mum tatsächlich vertrauen würde.

Zunächst starrte sie nur stumm auf ihren Bauch und versuchte ruhig zu atmen. Ihre Fingerspitzen folgten den Bewegungen ihres Babys und in diesem Augenblick wurde ihr vieles bewusster, wenngleich es ihr schwer fiel sich an bestimmte Dinge genau zu erinnern und sie in die richtige Reihenfolge zu bringen.

,Er hat mir alles erzählt... ' flüsterte Amber und fuhr dann fort: ,... und als ich ihn auf seine Vergangenheit und die Morde, die er begangen hat ansprach, da tat es ihm leid. Mum, Menschen können sich ändern. Ich will nichts von dem was er machte gut heißen oder entschuldigen, aber dennoch zeugt es doch auch von Mut und Reue zu dem zu stehen was man getan hat. Wenn er könnte, würde er sicherlich vieles ungeschehen machen. Das weiß ich. Und ich weiß auch wie sehr er leidet und sich fürchtet, auch wenn er es vielleicht niemals zugeben würde. Die Vergangenheit ist wie ein Schatten, der ihm auf ewig zu folgen scheint und ich wünschte ich könnte ihm helfen damit abzuschließen – Ruhe und Frieden zu finden. Ich denke es gibt für alles was im Leben geschieht einen Grund. Einen Grund weshalb uns genau diese Schicksale heimsuchen... '
Amber endete ziemlich abrupt. Ihre Blicke verweilten auf ihrem Bauch, dann begann sie auf ihrer Unterlippe zu kauen.

Dana ließ keine Sekunde die Augen von ihrer Tochter und lauschte jedem ihrer Worte, doch eines wurde ihr klar – all sein Wissen schien Alex doch nicht preis gegeben zu haben. Vielleicht weil er es noch nicht konnte, selbst nicht für wichtig erachtete oder Amber nicht noch mehr beunruhigen oder von ihren Eltern entzweien wollte, jedoch schien er niemals etwas von der Existenz ihres Bruders William erwähnt zu haben, denn sonst, und da war sich Dana sicher, hätte Amber sie in einem Augenblick wie diesem, als sie halbwegs offen miteinander reden konnten, darauf angesprochen.

Eines Tages hätte er es ihr bestimmt gesagt. Hätte es dafür den richtigen Zeitpunkt gegeben und wäre alles anders gekommen. Doch bisher hatte er es ihr verheimlicht.

Dana war hin und her gerissen. Sie hatte die Möglichkeit etwas zu offenbaren, das sie schon lange quälte und vor dem sie sich fürchtete. Doch sie würde Amber ein Stückchen der Wahrheit zeigen können, in der Hoffnung sie verstünde dann vieles von dem was geschehen war besser.

Aber wie würde sie tatsächlich reagieren, würde sie etwas so prägnantes erfahren?

Wäre sie erfreut oder vielleicht zornig?

Würde sie eine derartige Wahrheit wieder enger zusammenführen und zu einer Familie werden lassen oder wäre es vielleicht das letzte was sie ihrer Tochter anvertrauen würde, bevor sie diese gänzlich verlöre?

Danas Körper verkrampfte sich plötzlich und ihre Körperhaltung wirkte, während sie grübelte, ungewöhnlich angespannt und steif.

Amber sank wieder tiefer in das Kissen und versuchte sich seitwärts zu drehen. Sie fröstelte und zog die Decke ein Stückchen höher. Für einen Moment schloss sie die Augen, da sie sich schläfrig fühlte, doch dann öffnete sie diese wieder und sah stirnrunzelnd und mit fragendem Blick zu ihrer Mum. Dieser Gesichtsausdruck, den sie nun hatte, war ihr bisher vollkommen fremd und so richtete sich Amber leicht auf und fragte:

,Was ist los Mum?'

Es fühlte sich an als durchzöge Danas Körper ein Blitz, der ihr kurzzeitig das Bewusstsein raubte und sie senkte den Kopf, sodass einige Strähnen ihr Gesicht verdeckten. Ihr Herz raste und hämmerte gegen ihren Brustkorb. Ihre Hände waren kalt und feucht und auch ihr Hals wurde trocken. Es war ein Gefühl aus Scham, Furcht und Schuld welches in sie Einzug hielt und dennoch konnte sie nicht länger schweigen und durchbrach die schwere, erstickende Stille indem sie die Worte 'William, dein Bruder... ' flüsterte.

Amber kniff mit den Augen und zog die Brauen zusammen, sodass sich Zornfalten bildeten. Sie war irritiert und wusste nicht, ob sie tatsächlich das gehört hatte, was sie zu hören glaubte. Angestrengt versuchte sie sich erneut aufzurichten und ließ dabei keine Sekunde den Blick von ihrer Mum. Etwas an ihr wirkte plötzlich anders. Etwas, eine bisher tief in ihr verborgene und gut behütete Wahrheit, schien sie in wenigen Sekundenbruchteilen verletzlich gemacht zu haben. Scheu sah sie zu Amber.

,Was hast du da eben gesagt?' fragte diese heiser und ungläubig und ergänzte: ,Du willst mir sagen, dass ich einen Bruder habe, der William heißt? Ist es das was du all die Jahre vor mir verheimlicht hast? … wieso? Und... und wo ist er jetzt?' Ihre Stimme zitterte und bebte.

Dana konnte den Blicken ihrer Tochter nicht stand halten. Zu unangenehm war das Gefühl der Offenbarung nach so vielen Jahren. Beschämt strich sie ihr Haar hinter die Ohren, schluckte und versuchte dann nach Ambers Hand zu greifen, welche diese jedoch reflexartig zurück zog. Ihr Schweigen würde sie in einem Moment wie diesem nicht schützen können und so entschied sich Dana, so schwer es ihr fiel und so sehr es sie ängstigte, weiter zu sprechen.

,Alles was ich mir jemals gewünscht habe, war eine Familie, eigene Kinder, etwas das mir Halt geben würde... '

,Und deshalb hast du all die Jahre gelogen! Wo ist William?' unterbrach Amber den Ansatz ihrer Mum harsch und verschränkte die Arme vor der Brust und begann zu schmollen.

Dana blieb für einen Sekundenbruchteil der Mund offen stehen. Sie zog eine Braue nach oben, ließ den Kopf kurz nach unten sinken, legte die Hände ineinander und fuhr dann fort.

,Es gibt noch andere Wahrheiten, Amber. Vielleicht hätte ich dir das alles schon viel früher sagen müssen, vielleicht wäre dann alles anders geworden. Du glaubst vermutlich, dass man als Agent des FBI nur Mörder und Kleinkriminelle jagt und hin und wieder seinen Vorgesetzten Rede und Antwort stehen muss. Aber es war in der Vergangenheit mehr als das. Dein Dad und ich waren in Angelegenheiten verwickelt worden, die uns mehr als ein Mal hätten das Leben kosten könne, hätte es nicht immer Leute gegeben die uns wohlgesonnen waren. Jetzt ins Detail zu gehen, würde vermutlich zu lange dauern... '

,Dann sag mir doch endlich was euer großes Geheimnis ist und weshalb ich erst jetzt davon erfahre! Und weshalb William all die Jahre nicht bei uns war... '

Auch wenn Dana es sich anfänglich nur schwer eingestehen konnte, so verstand sie Ambers Wut und Ungeduld. Es war viel, zu viel, was sie nun innerhalb kürzester Zeit erfahren würde.

Sie fuhr fort.

,Ich bin entführt worden. Viele Jahre bevor William und du geboren worden sind. Es war allerdings keine normale Entführung. Durch diese Entführung, die durch unsere Regierung inszeniert worden ist, um Tests an Unwissenden, eben auch an mir, durchzuführen, verlor ich meine Fruchtbarkeit. Sie lösten eine Superovulation aus, entnahmen mir sämtlichen Eizellen, implantierten mir Computerchips, manipulierten meine Erinnerungen. … und ich erkrankte, nachdem ich wusste, dass ein solcher Chip in meinem Genick war und ich diesen entfernen ließ, an Krebs... ich dachte es gäbe nie mehr etwas Gutes in diesem Leben. Ich hatte Angst. Angst zu sterben. Angst zu vieles unerledigt gelassen zu haben. Dinge, die wirklich wichtig waren neben meinem Job. Eine Familie zu gründen und meine tiefste Sehnsucht zu stillen. Dein Dad und ich... wir waren anfänglich so weit voneinander entfernt und standen uns doch so nah. Nur ihm verdanke ich es, dass diese Sehnsucht nach vielen Jahren erfüllt worden ist. William war das Resultat einer künstlichen Befruchtung, … ebenso wie du eines warst.'

Amber hatte jedes Wort ihrer Mum aufgesogen und verinnerlicht. Ihr Magen verkrampfte sich als sie all dies hörte und sie blickte erschrocken und zunächst ungläubig zu ihr. Doch ihr Instinkt verriet ihr, dass sie nicht log. Es waren Fragmente der Wahrheit und diese kleinen Teile waren bereits bitter genug. Dana saß Amber, in sich gekauert, gegenüber und suchte durch die Haarsträhnen, die ihr Gesicht verdeckten, die Augen ihrer Tochter.

,Also war ich ein Wunschkind? Und du hast all die Jahre nichts gesagt, weil du nicht wolltest dass ich unter diesem Wissen leide oder in Gefahr gebracht werde... aber das Gegenteil war der Fall, Mum. Ich war mir sicher, dass du mich gehasst haben musst. Jedenfalls hatte ich immer das Gefühl. Du hattest niemals einen Scherz mit mir gemacht, warst immer ernst und streng, hast mich angeschrien wenn etwas schief gelaufen war... und ich wollte es dir immer nur Recht machen, doch irgendwann gab ich auf. Was glaubst du wie froh ich war, dass ich Dad hin und wieder an meiner Seite hatte? Er gab mir das Gefühl gut zu sein... und trotzdem frage ich mich weshalb du William fort gegeben und mich behalten hast. Ist er älter als ich? Und hast du niemals versucht ihn wieder zu finden? Ich meine, er ist doch immerhin dein... euer... Sohn!'

Der Eisblock, der sie als Mutter und Tochter all die Jahre hatte innerlich erfrieren lassen, begann nun, nach all diesen herben und schmerzlichen Worten, zu schmelzen und die tiefsten Kluften ihrer Seelen zum Vorschein zu bringen. Es tat weh und dennoch erleichterte das Sprechen. Es war das erste Mal, dass Amber ihre Mum weinen sah und es berührte sie. Sie biss sich auf die Unterlippe und strich sich mit der Handfläche einige Tränen aus dem Gesicht, bis sie nach der Hand ihrer Mum griff und diese so fest drückte wie sie konnte. Dana atmete ein, erwiderte den festen Griff und sah in Ambers Augen. Sie holte tief Luft, schluckte und presste die zarten Finger ihrer Tochter fest zusammen, bevor sie, nach einige Minuten der Stille, weiter sprach.

,William ist der Ältere von euch beiden. Ich gab ihn allerdings kurz nach seiner Geburt weg. Obwohl er alles war, was ich mir jemals gewünscht hatte. Doch ich hatte einfach das Gefühl, dass ich ihm keine gute Mutter sein würde. Das ich ihn durch unsere Arbeit doch nur gefährden würde und er bei Pflegeeltern besser aufgehoben wäre. Ich tat dies um ihn zu schützen. Dabei werde ich niemals vergessen wie er mich ansah als ich zum letzten Mal in seine Augen blickte. Es tat weh und er schien, obwohl er noch ein Baby war, zu verstehen. … diese Endgültigkeit, … diese Gewissheit – sie zerriss mich innerlich. Und doch konnte ich ihn nicht wieder zurück holen. Zu groß war meine Scham. Er wäre nicht sicher gewesen... und doch werde ich mir das was ich tat niemals verzeihen können! Ein Kind gehört zu seiner Mutter und ich habe als solche versagt. Bei William und auch bei dir Amber... '

Amber ließ die Hand ihrer Mum keine Sekunde los und hörte jedem Wort, das sie tränenerstickt hervorbrachte, genaustens zu.

,Aber wenn du selbst nie geglaubt hast, dass du eine gute Mutter sein würdest, weshalb wolltest du mich dann unbedingt haben? … und hast du jemals nach William gesucht? Was ist mit Alex? Ihr kanntet ihn doch schon all die Jahre zuvor. Wusste er von meinem Bruder?'

,William und dich trennen fünf Jahre Altersunterschied. Ich habe wohl damals geglaubt, dass Zeit alle Wunden und auch das Gefühl von Reue heilen würde. Doch dem war nicht so. Aber mein Sehnen endete einfach nicht. Ich wollte ein zweites Kind um etwas gut zu machen. Um mir etwas zu beweisen. Um zu erkennen was wirklich wichtig ist im Leben und um mir selbst eine weitere Chance zu geben, um zu lieben und Liebe zu erfahren... '

Dana machte eine kurze Pause und fuhr dann fort.

,All dies führt so weit zurück. Und erst jetzt, wo wir nach all den Jahren miteinander sprechen können, spüre und erkenne ich wie tief und dunkel diese Abgründe sind. Es war ein Fehler William weg zu geben. Es war ein Fehler sich der Angst nicht zu stellen und es war ebenso ein Fehler dir niemals etwas von alle dem zu offenbaren. Ich konnte es nur damals nicht tun... und Alex Krycek... er hat von William gewusst... '

Ambers Körper bebte als sie diese letzten Worte vernahm und auch das Baby schien jede ihrer Empfindungen zu spüren und reagierte mit zarten Tritten darauf, die sie daran erinnerten Nachsicht zu zeigen und sich nicht der Wut zu ergeben.

,Alex hat gesehen was los war und was mit unserer Familie nicht gestimmt hat.' tröstete sie sich und fügte dann hinzu:

,Er hat gesehen wie weit wir bereits voneinander entfernt waren und er wollte diese Kluft nicht noch größer werden lassen. Er wusste von William und hat dessen Existenz nicht erwähnt. Er wollte, dass ihr es mir sagt, auch wenn er dabei riskierte, dass ich das Vertrauen zu ihm verlieren könnte... ich vertraue ihm dennoch.'

Dana sagte nichts. Jedoch gestand sie sich in diesem Augenblick ein, dass das was sie lange Zeit zuvor voneinander entfremdet hatte, nun wieder näher zusammen brachte. Und wenn es nur ein kleiner Schritt war. Aber dieser wirkte erleichternd. Sie griff an ihre Brusttasche und rückte die kleine Schatulle die sich darin befand hin und her. Amber sah zu ihr, schloss kurz die Augen und presste die Lippen aufeinander. Dana spürte, dass ihrer Tochter noch etwas auf der Seele lag und sie gab ihr die Zeit bis diese von selbst sprechen würde, auch wenn sie sich mittlerweile sorgte, dass all diese unangenehmen Details zu viel für sie werden könnten. Doch entgegen ihrer Erwartung schüttelte Amber nur den Kopf. So, als hätte sie einen Gedanken oder eine Erinnerung wieder verworfen oder vorübergehend vergessen.

Als sie spürte, dass ihre Tochter vom Sprechen langsam müde zu werden drohte, holte sie das kleine Kästchen aus ihrer Brusttasche hervor. Amber hörte das Rascheln und wandte ihren Blick, der zuvor wieder auf ihrem Bauch verweilt hatte, ihrer Mum zu.

,Was ist das?' fragte sie mit hochgezogenen Brauen und folgte jeder Bewegung. Dana öffnete die Schatulle und betrachtete eine Weile lang die Halskette an der ein tropfenförmiger Bernstein hing, bevor sie diese entnahm. Amber öffnete beide Hände und Dana legte das Schmuckstück behutsam in diese, während sie flüsterte und sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten:

,Diese Kette habe ich all die Jahre wohl behütet und gut versteckt. Du hast heute schon so viel erfahren, sodass ich auf die Geschichte dieses Gegenstands nicht näher eingehen möchte. Ich verspreche dir aber, dass du es noch erfahren wirst! Betrachte sie heute vorerst nur als etwas, das dich beschützen soll, das zur Familie gehört und... - dem du deinen Namen zu verdanken hast. Ich habe Jahre auf diesen Moment gewartet und heute schien der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein.'

Ein kaum erkennbares Lächeln zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Sie überging all das was ihre Mum zuvor gesagt hatte, hielt ihr das Schmuckstück hin und forderte sie wortlos auf es um ihren Hals zu legen. Dana verstand, beugte sich über ihre Tochter, verschloss die Halskette und gab ihr, bevor sie sich setzte, einen Kuss auf die Stirn.
,Welche Geschichte sich auch immer dahinter verbirgt, sie ist wunderschön. Amber – der Bernstein... ' waren die letzten Worte die sie müde flüsterte, bevor sie sich, behütet von ihrer Mum, erneut dem Schlaf ergab.
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