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Familienbande

von Dawn

Kapitel 4

1616 Merton Avenue

Montag

19:07 Uhr



Mulder erwachte langsam und sein Körper fühlte sich an, als ob er mit geschmolzenem Blei bedeckt wäre. Er lag halbaufrecht, auf etwas Hartgepolstertem und für einen Augenblick dachte er, er wäre auf seiner Couch einge­schlafen. Er wollte sich strecken und bemerkte, dass die Kissen irgendwie mit seinem Körper verbunden waren. Im Bruchteil einer Sekunde kehrte die Realität in stückhaften Bildern in sein Gehirn zurück – die Nacht im Re­vier von Raleigh, Greys wütende Reaktion, die Fahrt zu Jackson Ross’s Haus, Sara, die ihm Kaffee anbot... Sara!



Mulder riss seine Augen auf, versuchte sich aufzusetzen und bemerkte, dass er vollkommen festgeschnallt auf einer Trage lag. Sein Pullover, die Socken und die Schuhe trug er nicht mehr und lag somit nur in Jeans und T-Shirt da. Immer noch benebelt von der Droge in seinem Kreislauf geriet er in Panik und kämpfte gegen die nicht nachgebenden Fesseln uns schrie aus vollem Halse. Nach einigen Minuten hatte er sich wieder unter Kontrolle, allerdings war die Belohnung für seinen Kampf ein schmerzender Hals und wunde Handgelenke. Er bemühte sich seine Atmung und sein rasendes Herz zu beruhigen, denn er merkte an dem kribbelnden Gefühl in seinen Extremitäten, dass er angefangen hatte zu hyperventilieren.



Er ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern und nahm seine Umgebung in sich auf. Er befand sich in einem Keller, einem nassen Keller ohne Fenster. Das einzige Licht kam von einer Glühbirne an der Kellerdecke, die blasses, freudloses Licht abgab. Die Wand war aus grauen Ziegeln und er konnte zwei Türen ausmachen, eine gegenüber der Stelle wo er lag, die andere konnte er nur sehen, wenn er seinen Kopf so weit wie möglich nach links drehte. Als er seinen Kopf jedoch nach rechts drehte verließen alle Gedanken sein Gehirn und er konnte nur mit Mühe und Not eine zweite Panikattacke verhindern.



Ein hölzerner Tisch stand weniger als zwei Meter entfernt von ihm und eine Sammlung von Gegenständen war ordentlich darauf abgelegt. Er erkannte ein Schweizer Taschenmesser, verschiedene Ampullen und Spritzen, Handtücher und eine Metallsäge. Etwas glattes, glänzendes erfasste sein Auge und er blickte hinunter und sah, dass Plastikfolien den Boden unter und um die Trage herum bedeckten. Er kniff die Augen zusammen und kon­zentrierte sich auf jeden einzelnen Atemzug, war aber unfähig, die Bilder der Tatorte aus seinen Gedanken zu verbannen.



Der Griff der Tür, die ihm gegenüber lag, bewegte sich und einen Augenblick später betrat Sara den Raum. Sie ging langsam zu ihm hinüber, betrachtete ihn von oben bis unten und vergewisserte sich, dass die Fesseln noch intakt waren. Als sie sich sicher war, dass er weiterhin außer Gefecht war, schaute sie ihm ins Gesicht. Mulder war erstaunt über die Änderung, die da zu sehen war. Sie war nicht länger die mickrige, etwas nervöse junge Frau, die er zuerst getroffen hatte. Jetzt gab sie sich mit einer ruhigen Sicherheit und begegnete seinem Blick ohne mit der Wimper zu zucken.



„Sie sind ja endlich wach. Ich denke ich habe mich mit der Menge Ativan verschätzt, die ich brauchte. Die ande­ren waren nur etwa sechs Stunden weg.“



Erschüttert durch die Erkenntnis, dass er so lange bewusstlos war, ließ Mulder davon ab nach der Zeit zu fragen. Er musste etwas Unvorhersehbares tun um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und sie von ihrer Routine abzubringen, sonst war er ein toter Mann.



„Ich muss zugeben, dass es mir nicht in den Sinn gekommen ist, dass Sie der Killer sein könnten. Die meisten Serienmörder sind männlich, wissen Sie, und so hab ich natürlich Ihren Bruder verdächtigt. Und dann noch der Umstand, dass er mit einigen der Opfer Kontakt hatte und Zugang zu medizinischen Mitteln... nun, ich denke Sie können sehen, warum mir dieser Fehler unterlaufen ist.“ Wie durch ein Wunder gelang es ihm, seine Stimme leicht und locker klingen zu lassen.



Saras Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln. „Jackson hätte dazu niemals den Mumm gehabt. Er tut lieber so als ob gewisse Dinge nicht existieren anstatt ihnen die Stirn zu bieten.“



„So wie ihre Kindheit? Die guten Zeiten waren vorüber als Ihr Vater starb, nicht wahr, Sara.“ Er betonte es als Feststellung und nicht als Frage und beobachtete ihre Reaktion.



Sara schaute etwas irritiert und zog dann die Augenbrauen zusammen. „Ich hätte mir denken können, dass Sie das wissen. Ihr Bullen kommt an alle Informationen über jeden ran. Ihr könnt alles über alle herausfinden. Ihr *handelt* nur nicht immer nach dem, was ihr rausfindet.“



„Ich weiß, warum Sie das hier machen, Sara“, fuhr Mulder fort. *Benutze ihren Namen um eine Verbindung herzustellen. Lass sie dich als eine Person sehen und nicht als ein Objekt*. „Ich weiß, was er Ihnen und Jackson angetan hat und ich weiß, das diejenigen, die ihn hätten stoppen können, Sie im Stich gelassen haben. Das ist verletzend und Sie sind wütend und wollen sie dafür bezahlen lassen.“


„Sie wissen gar nichts! Waren Sie je gezwungen im Sommer mit langen Ärmeln herumzulaufen damit niemand die Narben von den Zigaretten sehen konnte, die auf Ihrem Arm ausgedrückt wurden? Hat Ihr Vater sie jemals die Treppe herunter gestoßen, so dass Sie sich das Bein gebrochen haben? Oder Sie zwei Tage im Schrank ein­gesperrt und sich geweigert Ihnen Essen oder Trinken zukommen oder die Toilette benutzten zu lassen? Der Hurensohn hat mich auch noch sauber machen lassen, nachdem er mich endlich raus gelassen hat. Sie wissen all das, Mr. „Bigshot“ FBI Agent?“ Sie spuckte diese Worte förmlich aus und ihre grünen Augen waren wild und unfokussiert.



„Nein, ich kann nicht wissen wie es war, jeden Tag gequält zu werden und unfähig zu sein sich zu verteidigen. Aber ich weiß, dass andere dafür zu quälen den Schmerz nicht wegnehmen wird“, sagte Mulder absichtlich leise um einen Kontrast zu ihrer Stimme herzustellen.



Auf Saras Gesicht machte sich ein Lächeln breit, welches aber nicht in ihren Augen zu finden war. „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie dazu übergehen würden nicht nur Ihre eigene Haut retten zu wollen. Keiner der anderen wollte darüber reden, die haben bloß um Hilfe gerufen und mich gebeten ihnen nichts zu tun.“ Sie sagte das völlig emotionslos. „Nicht, dass es was geändert hätte. Wissen Sie, als das Haus hier gebaut wurde, wurden viele Keller bombensicher gemacht, Agent Mulder. Sie könnten sich die Seele aus dem Leib schreien und nie­mand würde Sie hören.“



„Vielleicht niemand da draußen, aber Jackson...“ Mulder verstummte als er sah, wie sie zufrieden die Lippen verzog. Er hatte gehofft, dass es ihm möglich wäre Saras Bruder auf ihn aufmerksam zu machen, aber ihr Ge­sichtsausdruck ließ ihn eine schreckliche Vorahnung haben.



„Jackson ist *weg*, Agent Mulder, und er wird nicht wiederkommen. Ich habe Sie angelogen, als ich sagte, dass ich ihn jeden Augenblick erwarten würde.“



Mulders Mund wurde ganz trocken. „Wo ist er, Sara?“



Zum ersten Mal schaffte er es sie aus der Fassung zu bringen und in ihren Augen sah er etwas wie Schuld, oder Reue. Sie schüttelte es ab und starrte ihn an. „Jackson war nutzlos als Kind und genau so nutzlos als Erwachse­ner! Er hat sich geweigert darüber zu reden, was dieser Bastard uns angetan hatte, er wollte es nur vergessen. ‚Lass es hinter dir, Saras. Es ist vorbei‘“, äffte sie ihn nach. „Das hat er mir dauernd gesagt.“



Mulder versuchte sich über die Lippen zu lecken aber er hatte nicht genug Spucke im Mund dafür. Saras Hände wurden zu Klauen und sie fletschte ihre Zähne. Sie sah mehr wie ein wildes Tier als wie ein menschliches We­sen aus, gefährlich und unberechenbar.



„Wo ist er, Sara?“



„Es war nicht mein Fehler. Er hat herausgefunden, was ich gemacht habe und wollte mich ausliefern. Er wollte seine eigene Schwester betrügen, können Sie das glauben? Hat er wirklich gedacht, dass ich das zulassen würde?“



Mulder schloss die Augen gegen die Verzweiflung, die ihn überkam. „Haben Sie Jackson getötet? Ist es das, was Sie mir gerade sagen wollen, Sara?“



„Ich hatte keine Wahl.“ Im Bruchteil einer Sekunde wurde sie unheimlich ruhig, ihr Gesicht glättete sich, bis es fast gelassen war. „Ich habe die Opferrolle hinter mir. Ich werde niemandem mehr erlauben, mir dieses Gefühl zu geben.“



Ein kreischendes Geräusch unterbrach seine Antwort. Sara guckte verdutzt, blieb aber ruhig. „Das ist die Tür­klingel. Meine Mutter hat hier unten einen Summer installiert, damit sie hören konnte, wenn jemand an der Tür war während sie die Wäsche machte.“



Während sie sprach ging sie entschlossen zum Tisch hinüber und nahm eine der Spritzen. „Ich glaube ich muss das Hühnchen mit Ihnen etwas später zuende rupfen. Zeit für ein Nickerchen.“



„Das brauchen Sie nicht, Sara. Ich werde keinen Mucks von mir geben, und überhaupt haben Sie gesagt, dass der Raum schalldicht ist. Tun Sie das nicht, bitte, ich verspreche ich werde mich benehmen. Bitte nur keine Dro­gen.“



Ihm war klar dass er plapperte aber er konnte nicht aufhören. Seine Bitten prallten von Sara ab als ob sie ihn nicht gehört hätte. Sie schob einfach seinen Ärmel hoch, versenkte die Nadel in seinem Arm und drückte Kolben runter. Die Droge traf seinen Kreislauf wie ein Lastwagen. Sein Kopf fiel zurück auf die Matratze und seine Augen waren geschlossen, bevor sie die Tür erreicht hatte.



„Keine Angst, Agent Mulder“, hörte er sie vom anderen Ende der Schlucht, die ihn verschlang, sagen. „Ich komme wieder.“





1616 Merton Avenue

Montag

22:00 Uhr



Grey drehte den Schlüssel um und betrachtete das Haus während er spekulativ die Lippen schürzte. Er konnte in dem Haus keinerlei Bewegungen wahrnehmen, aber im ersten Stock schien Licht durch die Fenster. Er blickte nach rechts und sah wie Scully ihre Waffe zur Hand nahm, den Clip checkte und sie wieder an ihren Platz beför­derte. Ihr Ausdruck war vorsichtig neutral, aber Grey wusste, dass das nur Show war. Ihre Hände waren den ganzen Weg vom Flughafen zu dem Haus unruhig gewesen, sie hatte Mulders Notizen durchblättert, ihre Haare sortiert und ihren Boss angerufen. Sie war ständig in Bewegung gewesen, was ihre Furcht deutlicher als Worte zum Ausdruck brachte.



„Sind Sie bereit?“, fragte er leise. Als sie nickte fuhr er fort. „Wir können ihn nicht zwingen uns reinzulassen, wissen Sie. Wenn wir einen Durchsuchungsbefehl haben wollen, brauchen wir mehr Beweise, auch wenn Sie Recht haben und Fox eine lebende Legende *ist*.



Sie wollte lächeln um die Anspannung zu lösen, aber es misslang ihr. Scully begann die Tür zu öffnen, hielt dann aber inne und legte eine Hand auf Greys Arm. „Ich weiß Sie haben noch immer Ihre Zweifel, Grey. Danke, dass Sie mir dennoch in diesem Punkt vertrauen.“



Es gab nicht viel darauf zu antworten, deshalb stieg er einfach aus dem Auto aus und folgte ihr die Einfahrt hoch. Scully klingelte und sah sich dann um, erst nach links und dann nach rechts. Die Lichter von den Nachbar­häusern waren gerade eben so sichtbar.



„Abgelegen“, murmelte Grey als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. „Es gibt genügend Bäume auf diesem An­wesen, die das Haus vor den Blicken der Nachbarn schützt.“



Scully biss sich auf die Lippe und drehte sich wieder der Tür zu und tappte rhythmisch mit dem Fuß. Eine Mi­nute verging und sie war drauf und dran erneut zu klingeln, als die Tür sich einen Spalt öffnete. Sie konnte nur blonde Haare und grüne Augen in einem weiblichen Gesicht erkennen.



„Ja?“



„Ich bin Agent Scully vom FBI und dies ist Detective McKenzie vom Raleigher Polizeipräsidium. Es tut uns Leid Sie so spät noch stören zu müssen, aber wir müssen dringend mit Jackson Ross sprechen.“



Der Spalt wurde groß genug um ihre Ausweise begutachten zu lassen, dann schwang die Tür weit auf. Scully blickte sich schnell um, verbarg ihren suchenden Blick aber hinter einem freundlichen Lächeln. Die junge Frau war Mitte zwanzig, durchschnittlich groß und stämmig gebaut. Sie schien von ihren Abzeichen sowohl fasziniert als auch verschüchtert zu sein und Scully fühlte sich ein bisschen traurig, dass sie in einer Situation gefangen worden war die böse enden könnte.



„Ich bin Sara Ross. Jackson ist mein älterer Bruder, aber er ist im Moment nicht zu Hause. Stimmt etwas nicht?“



Grey trat unbehaglich auf der Stelle und warf Scully einen fragenden Blick zu.



„Wir suchen nach meinem Partner, Agent Mulder“, erklärte Scully vorsichtig. „Er hatte vor Jackson einige Fra­gen zu stellen im Bezug auf eine Morduntersuchung. Wir hoffen Ihr Bruder kann uns sagen ob er Agent Mulder getroffen hat und ob Agent Mulder angedeutet hat, was er als nächstes tun wollte.“



Auf Saras Gesicht machte sich Verwirrung breit. „Möchten Sie einen Augenblick hereinkommen? Es ist etwas frisch draußen.“



Sie wich zurück um sie einzulassen und schlang ihre Arme eng um sich. „Ich war den ganzen Tag zu Hause – ich betreibe Telemarketing von zu Hause aus – und ich habe Ihren Agent Mulder nicht gesehen. Ich hätte es mitbekommen, wenn er da gewesen wäre.“



Das war nicht das, was Scully hören wollte. Grey sah, wie sie Sara einen zweifelnden Blick zuwarf und dann schnell zur Seite blickte, ihre Lippen fest aufeinander gepresst. Sara blickte vom ihm zu Scully und wieder zu­rück und machte den Eindruck, als ob sie Angst hatte die falsche Antwort gegeben zu haben.



„Sie sagten Jackson wäre nicht zu Hause. Können Sie uns sagen, wann er es sein wird? Wo er ist?“, fragte er und lächelte beruhigend.



„Er hat heute Abend Dienst. Er ist Sanitäter. Wussten Sie das? Wie dem auch sei, ich habe ihn früher am Abend angerufen und da sagte er, dass er heute eine Doppelschicht übernommen hat, weil jemand krank geworden ist. Er wird nicht vor dem Morgen zu Hause sein, aber Sie können dann ja wieder kommen.“



Grey blickte Scully an und nickte in Richtung Tür. Sie nickte widerwillig, blickte sich noch einmal um und sah dann Sara an.



„Danke für Ihre Hilfe, Sara“, sagte sie und zog eine Karte aus ihrer Tasche. „Falls Jackson früher nach Hause kommt oder Ihnen noch etwas einfällt, können Sie mich unter dieser Nummer erreichen.“



Die junge Frau nahm die Karte als ob sie ein seltenes Juwel wäre und betrachtete sie eingehend bevor sie sie in ihre eigene Tasche schob. „Das werde ich, Agent Scully. Und ich hoffe Sie finden Agent Mulder sehr bald.“



Wieder im Auto zog Scully Papiere und Ordner hervor und hielt sie in das Licht, dass durch das Dachfenster in den Wagen schien. Grey sah ihr einen Moment zu und bemerkte, dass ihre Hand leicht zitterte und ihr Gesucht wie versteinert war.



„Was machen Sie, Dana?“



„Ich suche nach der Adresse der Feuerwache, auf der Jackson stationiert ist. Das wird unser nächster Stopp.“



Grey holte tief Luft und ließ diese dann langsam entweichen. „Dana, es ist fast halb elf nachts. Er könnte auf einem Einsatz sein, oder sogar schlafen. Wir können morgen früh wiederkommen.“



Wütend fuhr sie ihn an. „Morgen früh könnte es zu spät sein! Wenn Jackson Mulder hat...“



„Ich glaube nicht, dass Jackson Mulder hat“, sagte Grey ruhig. „Dana, Sie gehen allein Ihrem Instinkt nach. Es gibt nichts, dass darauf hinweist, dass Fox überhaupt hier war, außer seinen gekritzelten Notizen. Sara wusste nicht wovon wir sprachen. Und was das betrifft, glauben Sie wirklich, dass der Typ die Leute in seinem Haus aufschlitzt wo seine Schwester lebt? Wie würde er das geheim halten können? Sie müssen in Betracht ziehen, dass Fox sich ganz einfach geirrt hat.“



Scully biss die Zähne zusammen. „Wo. Ist. Er. Dann?“ Jedes ihrer Worte war messerscharf.



Grey zuckte etwas zusammen, blieb aber hartnäckig. „Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, er war sauer. Vielleicht ist er irgendwo und versucht, alles wieder zu Recht zu rücken. Ist er noch nie abgehauen ohne Ihnen etwas zu sagen?“



Er hatte offensichtlich einen wunden Punkt getroffen, denn sie schloss ihre Augen und wandte sich von ihm ab. Er starrte ein paar Minuten ihren Rücken an und wusste nicht, ob er etwas sagen sollte.



Scully starrte aus dem Fenster ins Leere. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Mulder sie nicht hatte sitzen lassen und ernsthaft in Schwierigkeiten war. Sie konnte es in jeder Zelle, jedem Molekül ihres Körpers fühlen. Aber Grey hatte Recht, sie handelte intuitiv, ohne Beweise. Plötzlich sah sie Mulders Gesicht vor ihrem und seine Augen leuchteten amüsiert. Sie konnte fast das leise Necken in seiner Stimme hören. „Ist das die *plausibelste* Erklärung, Agent Scully?“



*Ist das, wie es für Sie ist, Mulder? So sicher, die Wahrheit zu kennen aber nicht in der Lage sein, es beweisen zu können?*



„Dana?“



Greys Stimme holte sie zurück in die Gegenwart und sie drehte sich ihm wieder zu. Sie sah bedauern in seinen Augen und wusste, dass er sich schlecht fühlte, weil er ihr widersprach. Sie wusste, was sie als nächstes sagen musste und hoffte, dass er es einsehen würde.



„Grey, ich höre was Sie sagen und ich weiß, dass es Sinn macht. Aber ich kenne Mulder. Und ich weiß dass wenn er geglaubt hat die Identität Ihres Killers zu kennen, dann hätte ihn nichts davon abgehalten, dieses Wissen zu verfolgen – noch nicht einmal Sie. Ich brauche Ihr Vertrauen in diesem Fall. Ich würde es bevorzugen, wenn Sie mit mir zur Feuerwache kämen, aber ich werde auch allein gehen, wenn es sein muss.



Zu ihrer Erleichterung wurde Grey nicht böse. Stattdessen schüttelte er reumütig seinen Kopf. „Sie benutzen das Wort Vertrauen häufig, wissen Sie das, Dana? Sie bitten mich nicht Ihnen zu glauben sondern nur Ihnen zu ver­trauen.“



„Manchmal ist der einzige Weg ein Kompromiss“, sagte sie, einen enigmatischen Ausdruck im Gesicht.



Grey seufzte schwer und startete das Auto. „Dann mal los. Ich war krank an dem Tag, an dem meine Klasse die Feuerwache besichtigt hat. Ich denke mal, es ist Zeit, dass ich das nachhole.“





Cary Feuerwache

Montag

23:38 Uhr



Greys Bedenken waren unbegründet. Auf der Feuerwache war alles am Laufen. Manche der Männer sahen fern wohingegen andere Karten spielten. Der Mann, der ihnen öffnete, Tim Reed, schaute erstaunt, als Scully bat mit Jackson Ross sprechen zu dürfen.



„Jackson ist heute Nacht nicht hier“, sagte er und sein Blick blieb kurz auf Scully hängen, bevor er über die Schulter guckte. „Greg und Connie haben diese Schicht.“



Als ihre Namen genannt wurden, schauten die beiden Sanitäter fragend vom Fernseher auf.



„Jackson war heute nicht eingeplant, oder?“, rief Tim.



Die Frau, Connie, schüttelte den Kopf. „Ich habe Jackson wenigstens seit einer Woche nicht mehr gesehen.“



„Seine Schwester sagte uns, er wäre heute Nacht hier“, sagte Grey. „Sind Sie sicher, dass er nicht da gewesen ist?“



Tim deutete in den Raum. „Das sind alle hier. Es ist nicht so, als ob er sich verstecken würde.“



Scully sah Grey an und ein Verdacht verwurzelte sich in ihrem Kopf. Sie sah Tim intensiv an. „Können wir mit demjenigen sprechen, der diese Schicht leitet? Ich glaube, wir haben ein Problem.“



„Der Captain ist in seinem Büro. Folgen Sie mir.“



Captain Jim Bradshaw hatte stahlgraue Haare und leuchtend blaue Augen, die die beiden vorsichtig betrachteten, als sie sich die Hände schüttelten. Tim lungerte im Gang herum, bis ihn ein strenger Blick von Bradshaw dazu veranlasste, sich zu entfernen.



„Setzen Sie sich“, bedeutete er Scully und Grey, schloss die Tür und nahm dann in seinem Stuhl Platz. „Um was geht es mit Jackson Ross? Steckt er in Schwierigkeiten?“



„Wir müssen nur mit ihm im Zusammenhang mit einer laufenden Ermittlung sprechen“, erklärte Grey.



„Das muss ja eine *wichtige* Ermittlung sein, wenn Sie um Mitternacht noch hier auftauchen“, beobachtete Bradshaw geschickt, und spielte mit seinem Stift auf seinem Dienstbuch.



„Da ist noch etwas“, gab Scully zu, sehend, dass der Mann sich nicht mit der halben Wahrheit abspeisen ließ. „Wir glauben, mein Partner hat Jackson heute Morgen aufgesucht. Seit dem hat niemand mehr was von ihm gesehen oder gehört.“



Bradshaw schien ihre Sorge und ihren Frust zu spüren. Seine Stirn glättete sich und seine Augen wurden weich. „Jackson ist seit einer Woche nicht mehr zum Dienst erschienen. Wir haben versucht, ihn anzurufen, aber immer nur den AB erreicht. Wenn ich nicht bald von ihm höre, wird er keinen Job mehr haben, in den er zurückkehren kann.“ Er pausierte kurz, nachdenklich. „Warum waren Sie so sicher ihn hier zu finden?“



„Seine Schwester sagte uns, dass er eine Doppelschicht hätte, weil jemand krank geworden war“, sagte Grey, die Lippen verächtlich geschürzt.



Bradshaw strich sich mit der Hand am Kinn entlang und suchte seine nächsten Worte sorgfältig aus. „Sara Ross ist... anders. Sie war ziemlich oft hier seit Jackson an Bord war. Man kann sich nur schwer einen Reim auf sie machen – süß und freundlich den einen Tag, nachdenklich und zurückgezogen den nächsten. Ich würde nichts, was sie sagt, für bare Münze nahmen. Ich denke nicht, dass sie eine besonders gefestigte junge Frau ist.“ Er seufzte. „Tut mir Leid, dass ich nicht mehr helfen kann.“

Scully stand auf und reichte ihm ihre Hand, wobei ihre Gedanken jedoch schon einer anderen Richtung folgten. „Vielen Dank, Sir. Tatsächlich waren Sie sehr hilfreich.“



Bradshaw zog die Augenbrauen hoch und geleitete sie zur Tür. Scully schwieg bis sie am Auto waren, dann drehte sie sich zu Grey um.



„Ich weiß, was Sie denken“, kam er ihr zuvor. „Ich tu mich nur etwas schwer es zu glauben.“



„Es mach Sinn, Grey. Mulder ging dorthin in dem Glauben Jackson sei der Killer, traf aber nur Sara an. Er wurde unvorsichtig und das hat sie ausgenutzt. Alles, was Mulder Jackson verdächtigen ließ, trifft auch auf Sara zu – Zugang zu Drogen und medizinischer Ausrüstung, die Misshandlungsgeschichte. Er hat nur nicht damit gerechnet, dass der Killer eine Frau sein könnte. Wer sollte ihm einen Vorwurf machen? Die meisten Serien­mörder sind männlich.“



„Dann denke ich mal sollte wir uns beeilen“, antwortete Grey und warf ihr die Schlüssel zu. „Sie fahren und ich telefoniere, um einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen.“ Er zog eine Grimasse. „Niemand wird sich darüber freuen, zu dieser Stunde geweckt zu werden.“



Scully kletterte hinter das Lenkrad, ihr Gesicht blass in der Dunkelheit. „Sagen Sie denen, sie sollen sich sputen, sonst geh ich ohne rein. Wenn ich recht vermute, hat Sara es so eingerichtet, dass sie ein Einzelkind ist. Ich denke nicht, dass wir viel Zeit haben.“





1616 Merton Avenue

Dienstag

2:30 Uhr



Mulder fühlte sich, als ob er sich in einem schwarzen, kalten See befände und verzweifelt versuchte zur Oberflä­che zu gelangen. Ein Teil von ihm wurde sich langsam der Fesseln, dem muffigen Geruch nach Schimmel und der kalten, feuchten Luft bewußt. Dieses Bewußtsein schrie, dass er Angst empfinden und versuchen sollte sich zu befreien. Aber die Droge in seinem Blut machte es schwierig sich um irgendwas zu scheren, drängte ihn, passiv in diesen dunklen Wassern zu treiben. Sich auf irgendeinen Gedanken zu konzentrieren war unwahr­scheinlich mühsam.



Er sank schon wieder in die Tiefe, dem Schlaf in die Arme, als er ihre Stimme so klar hörte, als ob sie in sein Ohr spräche.



*Mulder, Sie müssen weiter kämpfen. Ich komme.*



„Scully.“



Seine eigene Stimme klang fremd, ihr Name so dumpf und verschwommen durch seine schwerfällige Zunge, dass er kaum verständlich war. Er riss seine schweren Lider auf und erwartete fast schon einen Blick auf ihre kupferroten Haare oder das frohe Lächeln, welches sie für die Augenblicke reservierte, in denen er dem Tod knapp entkommen war, zu erhaschen. Stattdessen erblickte sein Auge die trostlosen, traurigen Wände seines Gefängnisses. Seine Nase juckte, aber konnte sich nicht kratzen.



Mulder empfand ein plötzliches, kribbelndes Gefühl, als ob er beobachtet würde und drehte den Kopf scharf nach rechts. Sara stand neben dem Tisch, ihre leeren, grünen Augen fixierten sein Gesicht und sie hielt ein Mes­ser in der Hand. Sie bewegte ihren Daumen stetig die Klinge entlang, wie eine Liebkosung und ungeachtet der Tatsache, dass sie selber anfing zu bluten. Mit einem Schauern musste Mulder erkennen, dass dieser Blick ihn an seinen Vater erinnerte, nachdem er ihm beim Arbeiten Fragen gestellt hatte. Seine Augen waren auf seinen Sohn gerichtet gewesen, aber sein Fokus war ganz woanders gewesen.



„Was machen Sie, Sara?“, fragte er leise.



„Es ist bald vorbei“, murmelte sie, ihre Stimme so weit entfernt wie ihr Blick. „Sie werden wiederkommen und sie werden mich fort bringen, einsperren. Ich muss es beenden, bevor sie kommen.“



Mulders Herz fasste neue Hoffnung. „Wer? Wer wird zurückkommen, Sara?“



Ihre Augen verloren etwas von der Leere und sie schien ihn jetzt zum ersten Mal richtig zu sehen. „Ihr Partner und der Polizist. Die waren hier und haben nach Jackson gefragt, genau wie Sie. Ich habe sie getäuscht, aber sie werden morgen früh zurück sein. Ich muss vorher fertig sein.“



*Scully und Grey!*



„Es gibt noch einen anderen Weg, Sara. Es gibt Leute, die Ihnen helfen können, die erreichen können, dass Sie nicht dauernd leiden müssen. Sie müssen das hier nicht machen.“ Er bemühte sich, die Panik aus seiner Stimme zu verbannen und beruhigend zu klingen.



Sara schüttelte den Kopf, nahm das Messer in die linke Hand und wischte ihre rechte Hand abwesend an ihrer Jeans ab. Mulder versuchte nicht auf die rostfarbenen Streifen zu blicken, die sie dort hinterließ. Sara knirschte verärgert mit den Zähnen als sie ihr Messer wieder in die rechte Hand nahm und damit auf Mulder zeigte.



„Ihnen bin *ich* egal. Sie wollen nur nicht sterben. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was ich fühle. Das sehe ich, wenn ich Sie angucke – gutaussehend, netter Job. Sie haben sogar eine hübsche Partnerin, die sich um Sie sorgt und nach Ihnen sucht. Niemand hat Ihnen jemals das Gefühl gegeben, wertlos und allein zu sein, so als ob sie wünschten, Sie würden einfach verschwinden.“



Die Flut der vergrabenen Gefühle, die ihre Worte lösten, überraschte ihn vollständig. Sie musste es in seinem Gesicht sehen können, denn sie kam näher um seine Reaktion besser abschätzen zu können.



„Was ist los? An was erinnern Sie sich?“, forderte sie und brannte ihre Augen in seine.



Mulder zwang sich dazu ihrem intensiven Blick nicht auszuweichen. „Niemand hat ein perfektes Leben, Sara. Wir alle haben unser Päckchen zu tragen, das wir scheinbar nicht ablegen können.“



Sie schloss kurz ihre Augen und als sie sie wieder öffnete, sah er für einen kleinen Moment die wirkliche Sara, die Seele in ihrem Inneren, versteckt unter den Lagen von Schmerz und Misshandlungen. In ihren Augen glänz­ten Tränen und ihre Stimme war sehr sanft.



„Ich bin zu diesem Päckchen geworden, Agent Mulder. Ich kann mich nicht mehr davon trennen.“



Mulder verspürte einen Funken Hoffnung bei ihrem Geständnis und tastete sich vorsichtig weiter. „Dann lassen Sie mich helfen. Ich kann dafür sorgen, dass Sie mit jemandem reden, der Sie verstehen kann. Sie müssen nicht das, was ihr Stiefvater..."



Saras Reaktion auf dieses Wort war schnell und brutal. Ihre Züge verzerrten sich in Rage und sie sprang vor­wärts und drückte ihm das Messer an die Kehle bis er spürte, wie das warme Blut seinen Hals hinunter lief.



„Benutzen Sie *niemals* dieses Wort um ihn zu beschreiben! Dieser Abschaum war *nicht* mein Vater – mein Vater war gutmütig und nett und er liebte mich. Dieses... dieses *Ding*, das meine Mutter geheiratet hat, war noch nicht einmal menschlich!“



„Sara, es tut mir Leid. Ich wollte nicht...“



„Schnauze! Nicht sprechen! Ich werde nicht mehr auf Sie hören!“



Sie kehrte ihm den Rücken zu und legte das Messer nieder. Dann füllte sie mit vor Wut zitternden Händen eine Spritze. Die Panik, die Mulder sorgfältig unter Kontrolle gehalten hatte, brach frei und er zog hilflos an den Stoffriemen, die ihn an die Trage fesselten. Dieses Mal hatte die Injektion keine Bewußtlosigkeit zur Folge, nahm ihm aber jegliche Fähigkeit sich zu bewegen. Sein Kopf sank wieder zurück auf die Matratze und er sah mit glasigen Augen, wie sie das Messer dazu benutzte an jedem seiner Arme drei tiefe Schnitte vom Ellbogen bis zum Handgelenk zu machen. Der Schmerz war intensiv, kam aber aus weiter Ferne und er konnte nur dabei zugucken, wie sein eigenes Blut ins Laken sickerte und dann auf den Boden tropfte. Sara trat einen Schritt zu­rück und beobachtete den Blutfluss mit neugierigem Gesichtsausdruck.



Innerhalb von Minuten wurde Mulder schwindelig und übel und er zitterte unkontrollierbar wegen der Kälte, die jede Zelle seines Körpers zu durchdringen schien. Er fühlte eine schwere Lethargie über sich kommen, die nichts mit der Droge zu tun hatte, welche sie ihm verabreicht hatte und er versuchte Worte zu formen, damit sie ihn nicht verschlang.



„Sara... `s ist nicht zu spät. Hören Sie auf... jetzt!“



Das harte Geräusch des Summers unterbrach seine Bitte und Sara sprang auf als ob sie einen elektrischen Schlag erhalten habe. Ihre Augen wurden wild und sie murmelte leise, wie in einem Selbstgespräch vor sich hin.



„Zu früh. Sie sind zu früh zurück. Keine Zeit das zu beenden. Kann nicht zulassen, dass sie mich aufhalten oder ich werde nie frei sein. Werde kein Opfer sein. Niemals. Niemals wieder.“



Diese Litanei wiederholte sich als sie aufstand und durch die Tür verschwand ohne Mulder eines weiteren Blic­kes zu würdigen. Er kämpfte gegen die bleischweren Lider und war sich sicher, dass Scully und Grey an der Türe waren. Wieder schien er die süße Stimme seiner Partnerin zu hören, die ihn antrieb.



*Ich bin fast da, Mulder. Wenn Sie jetzt aufgeben, bin ich stinksauer.*



„Beeilung“, flüsterte er durch taube Lippen mit klappernden Zähnen. „Beeilung.“







Vor dem Haus

Dienstag

2:45 Uhr



Scully zwang sich dazu ruhig zur Tür zu gehen und zu läuten. Ihr Herz pochte zu wild in ihrer Brust, welche fast zu eng zum Atmen schien. Grey war es in Rekordzeit gelungen einen Durchsuchungsbefehl zu erhalten, aber ihr hatte es dennoch zu lange gedauert. Grey drückte die Klingel ein zweites Mal und an seiner grimmigen Miene konnte sie sehen, dass er genau so ungeduldig war wie sie.



Als niemand öffnete, winkte Grey sie zur Seite, schoss das Schloss auf und schob die Tür dann ganz leicht auf. In der Ferne begann ein Hund aufgeregt zu bellen und Scully zog eine Augenbraue hoch, einen gezielten Blick auf Greys Pistole werfend.



„Wissen Sie wie robust man die Haustüren gemacht hat als dieses Haus gebaut wurde?“, sagte er dazu. „Das Ding hier ist solide Eiche! Ich bin doch nicht blöd.“



Sie hätte fast gekichert, aber der Trieb ihren Partner zu finden kehrte zurück und sie ging vorsichtig in den Flur, Waffe im Anschlag. Grey nickte nach links, sie nickte und bewegte sich dann nach rechts. Sie fand sich in einem leeren Wohnzimmer mit Möbeln wieder, die wenigstens fünfundzwanzig Jahre alt waren. Zwei Bilder standen auf dem Kaminsims und sie warf einen kurzen Blick darauf bevor sie sich weiter durch den Raum bewegte. Fast wäre sie in die Küche gegangen, wären ihr Blick nicht an etwas auf der Treppe hängengeblieben. Vorsichtig ging sie hinüber, wobei sie den Raum mit ihren Augen durchsuchte. Als ihr bewusst wurde, was sie gesehen hatte, steckte sie ihre Waffe weg und ging vorsichtig die Sachen durch, Tränen in den Augen. Eine Hand packte ihre Schulter. Sie drehte sich um und konnte so gerade noch den Schrei unterdrücken, der ihrer Kehle entkommen wollte. Grey trat einen Schritt zurück, beide Hände erhoben.



„Tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht so erschrecken. Was haben Sie gefunden?“



Sie hasste das Zittern in ihrer Stimme. „Einen Haufen Kleidung – eine Lederjacke, einen Pullover, Socken und Schuhe. Die gehören Mulder.“



Grey nickte und bearbeitete seine Unterlippe mit den Zähnen. „Diese Etage ist verlassen. In der Küche ist eine Tür die zum Keller führen muss. Gehen wir hoch oder runter?“



„Runter“, sagte Scully sofort. Sie versuchte zu lächeln, aber es sah aus wie eine Grimasse. „Sehen Sie keine Krimis? Der Mörder ist immer im Keller.“



Grey prustete und folgte ihr dann durch die Küche. Sie nahm ihre Waffe wieder zur Hand, öffnete die Tür und schaltete das Licht an. Langsam stieg sie die hölzerne Treppe hinab, beruhigt Grey hinter sich zu wissen. Der Keller war voll von Kartons und Möbelstücken. In der Luft lag ein schwerer Geruch nach Schimmel. Sie fand einen Weg durch den Irrgarten von Kartons, Nerven zum zerreißen angespannt, die Ohren gespitzt um das leise­ste Geräusch von Sara wahrnehmen zu können. Als sie schon glaubte, der Keller sei leer und sie die Enttäu­schung aufsteigen fühlte, rief Grey ihr scharf etwas zu.



„Dana! Kommen Sie sofort hierher!“



Sie flog förmlich durch den Keller, angetrieben von der Verzweiflung in seiner Stimme. In ihrer Eile stieß sie einen Stapel Kisten um, die mit dem Klirren zerbrochener Gläser zu Boden fielen.



Greys Stimme kam aus einer Tür welche in einen anderen Raum führte. Sie rannte hinein, alle Vorsicht verges­sen, und erstarrte bei dem Anblick, der auf sie wartete.



Mulder lag vollkommen festgeschnallt auf einer Trage, sein Gesicht so weiß wie das Laken unter seinem Kopf. Überall war Blut, beide Arme waren voll davon, das Laken rot durchtränkt, eine Lache auf dem Boden. Grey schnappte sich ein paar Tücher und war im Begriff sie um Mulders aufgeschlitzte Arme zu wickeln.



Scully schüttelte den Schock ab, der sie gelähmt hatte, riss ihr Handy aus der Tasche und drückte es Grey in die Hand während sie sich zwischen ihn und seinen Bruder schob.



„Rufen Sie den Notarzt. Sagen Sie ihnen, sie solle Blutkonserven mitbringen, 0 negativ, und zwar viele.“



Sie zuckte auf dem glitschigen Boden kurz zusammen, machte aber da weiter wo Grey aufgehört hatte. Sie brauchte einen Augenblick um ihren Blick von Mulders zerfetzten Armen zu lösen und in sein Gesicht zu schauen, erstaunt zu sehen, dass er halbwegs bei Bewusstsein war. Seine Augen waren glasig und halb geschlos­sen, aber sie sah, dass er sich ihrer Anwesenheit bewusst war und zu sprechen versuchte.



„Shhh“, ermahnte sie ihn sanft, ihre Kehle wie zugeschnürt von den Tränen, die sie in seiner Gegenwart nicht zeigen wollte. „Nicht versuchen zu sprechen, Mulder. Alles wird gut, der Notarzt ist auf dem Weg.“



Ein Zittern durchlief seinen Körper und entgegen ihrer Mahnung öffnete er die Lippen um zu sprechen. „Kalt.“



Er sprach so leise und tonlos, dass Scully ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie biss sich fest auf die Lippen und drehte sich zu Grey um, während sie ihren Mantel auszog.



„Grey, wir brauchen unbedingt Decken. Er hat einen Schock.“



Grey verschwendete keine Zeit mit einer Antwort, sondern schoss zur Tür hinaus und die Treppe rauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Scully wandte sich wieder ihrem Partner zu und bedeckte seinen Oberkörper mit ihrem Mantel. Besorgt sah sie, wie seine Augen langsam zu fielen.



„Mulder! Bleiben Sie bei mir!“, befahl sie ihm scharf und streckte eine zitternde Hand aus um ihm sanft über die Wange zu streichen.



Seine Lider bebten einen Moment und öffneten sich dann wieder halb. Mit seiner Zunge benetzte er seine blut­leeren Lippen und er versucht erneut zu sprechen. Sie lehnte sich vor, damit ihr Ohr das geatmete Flüstern wahr­nehmen konnte.



„Wusste... Sie würden... kommen.“



Ein unterdrückter Schluchzer löste sich aus ihrer Brust und sie drückte ihre Lippen auf seine Stirn bevor sie sich aufrichtete und hörte, wie Grey hinter ihr in den Raum stürmte.



„Hier sind zwei Decken, die Sanitäter sind auf dem Weg hier rein“, sagte er brüsk, kam zu ihr und legte eine Decke über die Füße seines Bruders.



Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie mehr Fußtritte auf der Treppe hörte und zwei Sanitäter in den Raum eilten. Mulder hatte seine Augen wieder geschlossen und obwohl es ihr das Herz zerriss, trat sie zurück um ihnen Platz zu lassen. Sie beobachtete, wie sie wirkungsvoll ihre Aufgaben erfüllten, begriff aber nur die Hälfte von dem, was sie sagten.



„Schließ sofort den Tropf an!“



„Versuch ich ja. Seine Venen sind kollabiert!“



„Dann schneid sie auf. Lass die Konserve endlich laufen sonst stirbt er uns weg!“



„Blutdruck ist schon fast nicht mehr existent. Er braucht auch Plasma.“



„Auf drei bewegen wir ihn! Eins, zwei...“



Grey riss seine Augen von der Szene los und drehte sich zu Scully hin. Sie starrte Mulders Gesicht an und Trä­nen rannen ihr über die Wangen, die Finger hatte sie auf ihrer bebenden Lippen gepresst. Nach kurzem Zögern zog er sie an sich und umarmte sie. Sie erwiderte die Geste, ihr Körper wurde durch leise Schluchzer erschüttert und ihre Tränen drangen heiß durch das Material seines Hemdes.



„Es wird alles gut, Dana“, murmelte er beruhigend. „Niemand, der so stur ist, wird jetzt einfach aufgeben.“



Er spürte den Moment in dem sie ihre Fassung wieder erlangte und ließ sie gehen. Ihr Gesicht war rot und flec­kig vom Weinen, aber sie war trotzdem noch wunderschön und ihm fiel auf, dass er seinen Bruder etwas benei­dete.



„Er hat mir gesagt, er hätte gewusst, dass ich kommen würde“, sagte sie, ihre Stimme noch immer gebrochen. „Ich kann mir nicht helfen, aber ich fühle mich als ob ich ihn im Stich gelassen hätte, dass ich nicht früh genug gekommen bin.“



„Sie sind der Grund, dass er noch lebt, der Grund, dass diese Leute jetzt hier sind und ihm helfen“, sagte Grey ernst. „Sie haben ihm geglaubt, als ich es nicht tat.“



Seine Worte schienen sie an etwas zu erinnern und sie runzelte die Stirn, wischte dann ihre Augen mit ihrer Bluse ab. „Wir müssen Sara finden, sie...“



Grey hielt sie am Arm zurück und schüttelte den Kopf. „Sie müssen sich um Sara keine Gedanken machen, Dana. Ich hab sie gefunden, als ich oben nach einer Decke gesucht habe. Ich vermute als ihr klar wurde, dass wir kommen würden, hat sie sich selber gerichtet. Sie ist tot. Einige hiesige Polizisten sind jetzt bei ihr da oben.“



Scully verdaute die Worte und fühlte sich zu betäubt um antworten zu können. Also nickte sie einfach. Die Sa­nitäter hatten Mulder auf ihrer Trage und waren auf dem Weg nach draußen. „Wir bringen ihn ins Northwestern Memorial Hospital“, rief einer von ihnen über seine Schulter. „Sie können uns dort treffen.“



„Ich komme mit. Ich bin Ärztin“, antwortete Scully, schon in Bewegung.



Sie warf Grey einen entschuldigenden Blick zu aber er winkte ab.



„Miss, es wäre am Besten, wenn Sie...“



„Ich komme mit“, fuhr Scully im dazwischen, und ihre Stimme hatte einen Unterton, der jedes Argument aus­schloss.



Trotz des Horrors der letzten halben Stunde und seiner eigenen Sorge schaffte Grey es zu lächeln. „Ich würde nicht versuchen sie aufzuhalten, Jungs. Es könnte gesundheitsgefährdend sein.“



Scully warf ihm einen irritierten Blick zum aber er folgte ihr einfach nur die Treppe hoch.





Northwestern Memorial Intensivstation

Dienstag

10:08 Uhr



„Nach sechs Monaten war das Vorkommen der CMV-Krankheit bei 45% der Empfänger des Placebos im Serum negativ und...“



Scully seufzte tief und klappte die Zeitschrift zu, legte sie zur Seite und nahm ihre Brille ab. Sie musste sich gestehen, dass, obwohl die Idee endlich ihre Magazine zu lesen theoretisch gut war, ihre Gedanken sich mit anderen Sachen beschäftigten.



Der Grund dieser Sorgen lag bewegungslos in einem Krankenhausbett neben ihr, angeschlossen an einen Herz­monitor und zwei Tröpfe – einer mit Blut und der andere mit Kochsalzlösung und Antibiotika – die in seinen Arm führten. Seine Haut war so blass, dass sie beinahe durchsichtig erschien und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Scully schüttelte reumütig den Kopf. Das Erstaunliche war, dass er 100% besser aussah als sechs Stunden zuvor, als sie im Krankenhaus angekommen waren.



Sie dachte wieder zurück an die furchtbare Fahrt im Rettungswagen, der Sanitäter, der in Windeseile versuchte, die Aderpresse an Mulders linkem Arm zu erneuern, während sie den Beutel mit der Blutkonserve hielt und ihn zusammen presste um möglichst schnell möglichst viel Flüssigkeit in ihn zu bekommen. Sein Herz hatte ausge­setzt als sie gerade an der Klinik angekommen waren und Scully war sich sicher, dass auch ihr Herz ausgesetzt hatte. Das Traumateam war unglaublich, arbeitete sehr effektiv und schaffte es, ihn zurück zu bringen, seine Arterien zu versorgen und seine Arme zuzunähen.



Beide Arme waren nun vom Ellbogen bis zum Handgelenk verbunden – ihr hatte der Mut gefehlt zu fragen, wie viele Stiche sie benötigt hatten, um die langen, tiefen Schnitte zu schließen. Mulder hatte noch nicht wieder das volle Bewusstsein erlangt, jedoch war er zweimal nahe dran gewesen, aber wieder zurück in seinen Tiefschlaf gefallen, nachdem er sie kurz angeschaut und sie ihm versichert hatte, dass er in Sicherheit sei. Scully zuckte bei dem Gedanken an die Schmerzen, die er haben würde, wenn er endlich zu sich kam, zusammen. Der Arzt war sich nicht sicher wie viel Ativan sich noch in Mulders Kreislauf befand und hatte sich entschlossen, mit dem Morphium zu warten, bis er vollständig wach und klar war.



Eine Krankenschwester betrat das Zimmer und Scully bemühte sich, ihre Gefühle zu verbergen. Die meisten Schwestern auf der Intensivstation waren großartig, hatte ihr eine Dusche und frische Kleidung angeboten. Sie hatten ihr einen Lehnstuhl gebracht und diesen gegen den Standart-Besucherstuhl ausgetauscht. Bis auf einen Ausnahme – Schwester Attila der Hunne, die sich jetzt räusperte und Scully ungeduldig ansah.



Die Frau hieß Helen Eggerton und Scully hatte viele wie sie während ihres Medizinstudiums kennengelernt. Sie war um die 60, hatte graue Haare und ständig einen miesepetrigen Ausdruck im Gesicht. Schwerstern wie Helen hatten die Freude an ihrem Beruf verloren und hielten nur noch durch, damit sie ihre Rente bekamen. Helen war die Einzige, die die Regel, welche Scully normal nur fünf Minuten Besuchszeit pro Stunde erlaubte, nicht bre­chen wollte. Sie hatte letztendlich zerknirscht nachgegeben, aber nicht ohne Scully einen giftigen Blick zuzuwer­fen, der bedeuten sollte, dass Scully ja acht geben solle wo sie hintrat.



„Hallo Helen“, grüßte Scully und bemühte sich, die offensichtliche Feindseligkeit im Blick dieser Frau zu igno­rieren.



„Agent Scully.“ Helen war auch die Einzige Schwester, die Scully lieber bei ihrem FBI-Titel als bei ihrem Dok­tortitel nannte. „Ich muss Agent Mulders Vitalwerte prüfen und die Wunden neu verbinden. Am besten gehen Sie einen Kaffee trinken oder warten draußen. Ich werde in einer Viertelstunde fertig sein.“



Scully biss die Zähne zusammen und zählte in Gedanken bis zehn. „Ich würde lieber bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Falls er aufwacht...“



„Tatsächlich *macht* es mir aber etwas aus, Agent Scully. Ich weiß, Sie haben es geschafft spezielle Privilegien zu erhalten, aber ich muss diese Prozedur erledigen und würde es bevorzugen, wenn Sie draußen warten wür­den.“ Helens Stimme war kühl und sei blickte Scully herausfordernd an.



Einen Augenblick lang empfand Scully die Lust, sich mit Helen anzulegen, aber sie war geistig und körperlich zu erschöpft und brauchte tatsächlich etwas Koffein. Grey war vor einer Stunde gegangen, um den Fall abzuwic­keln, und wenn sie nun Kaffee haben wollte, musste sie schon selber gehen.



„Natürlich, gerne, ganz wie Sie wünschen“, nuschelte Scully. Sie ließ sich von Helens ungeduldigem Seufzer nicht hetzen, lehnte sich zu Mulder und küsste ihn auf die Wange. „Ich bin gleich wieder da, Partner. Helen wird gut auf Sie aufpassen:“ Sie sah hoch in die Augen der Schwester und zog warnend die Augenbrauen zusammen.



Helen schnaubte wütend, sagte aber nichts. Scully verharrte einen Moment in der Tür und ging dann den Gang entlang zu den Fahrstühlen.



Fünfzehn Minuten später befand sie sich auf dem Weg zurück zu Mulders Zimmer, einen Becher dampfenden Kaffee in der Hand, als die Schreie anfingen. Es war keine Frage wer da schrie und Scully flog nur so den Gang entlang, stellte den Becher auf dem Empfang ab und stürmte in das Zimmer. Helen und eine Schwester namens Amber versuchten vergeblich, den um sich schlagenden Mulder festzuhalten, damit Helen den Inhalt einer Spritze in seinen Tropf entleeren konnte. Wie ein Bulldozer bahnte Scully sich einen Weg zwischen Helen und ihren Partner. Sie scherte sich nicht um den wütenden Blick, den sie deswegen erhielt.



Mulders Augen waren weit und blank vor Terror, als er versuchte, sich aufzusetzen. Tränen liefen sein Gesicht hinab und sein Haar war nass geschwitzt. Scully erblickte sofort die Ursache seiner Panik – beide Handgelenke waren mit Fixierungsgurten an seine Seiten gefesselt. Dieser Anblick brachte sie zur Weißglut, vermischt mit einer Traurigkeit, aber sie verdrängte beides. Mulders Worte zerrissen ihr das Herz.



„Nein! Neinneinnein! Stop! Scully! Scully!“



„Nicht“, sagte sie bissig, als sie sah, dass Helen im Begriff war, das Beruhigungsmittel zu spritzen. „Sie gehen beide weg und lassen mir eine Minute mit ihm!“

„Er wird die Nähte wieder aufreißen, nicht zu vergessen, dass dieses Verhalten sein Herz zum Aussetzen bringen kann“, sagte Helen, ließ aber die Hand mit der Spritze an ihre Seite sinken.



Scully drehte ihr den Rücken zu und lehnte sich so weit vor, dass ihr Gesicht nur Zentimeter von Mulders ent­fernt war und zwang ihn dazu, sie anzusehen.



„Mulder, ich bin’s Scully. Es ist alles in Ordnung, Mulder. Sie sind in Sicherheit. Sara ist weg – hören Sie mich, Mulder? Sie ist tot, sie kann Ihnen nichts mehr tun. Ich bin hier. Sie sind jetzt in Sicherheit.“



Sie murmelte dieselben Worte wieder und wieder, und kombinierte diese Versicherungen mit Berührungen. Endlich gewannen seine Augen wieder an Klarheit, seine Schreie verebbten, aber er keuchte immer noch heftig aus Angst und vor Schmerz. Scully arbeitete ihre Finger in seine verkrampften Fäuste und öffnete diese weit genug um seine Hände festhalten zu können.



„Mulder, ich werde jetzt die Gurte lösen. Sie müssen still liegen bleiben, sonst platzen die Nähte wieder auf, okay? Können Sie das für mich tun?“



Er nickte kaum merklich, Augen immer noch groß, Pupillen weit mit noch nicht verarbeitetem Horror. Scully befreite erst eine Hand, dann die andere, wobei sie sanft seine Handgelenke massierte. Unermüdlich fuhr sie damit fort, bis sein Atem langsam ruhiger ging und er entspannte.



„Ist alles okay?“, fragte Scully leise in dem Bewusstsein, dass Helen und Amber immer noch hinter ihr standen.



Mulder leckte sich über seine trockenen Lippen und nickte, diesmal etwas deutlicher. Sie konnte ihm ansehen, dass er sich darauf konzentrierte, seine Atmung zu verlangsamen und strahlte ihn ermutigend an.



„Mulder, ich muss einen Moment mit den Schwestern sprechen. Ich bin nur kurz draußen, okay?“



Dieses Mal wurde sie mit seiner Stimme belohnt. „Yeah.“



Sie drückte seine Hand kurz und wandte sich dann an Helen und Amber, und ihr Lächeln verschwand als ihre Brauen sich im Ärger zusammen zogen. „Könnte ich Sie beide bitte draußen sprechen?“



Im Gang war es mit ihrer Zurückhaltung vorbei und sie entlud all ihre Wut, die sie so sorgfältig vor Mulder verborgen hatte. „Wer hat ihm die Gurte angelegt? Ich habe ausdrückliche Anweisung erteilt, dass das unter *keinen* Umständen passieren darf und dass ich gerufen werden soll falls es ein Problem gibt.“



Amber, eine junge und stille Frau, sah von Scullys Ausbruch mitgenommen aus. „Ich bin erst herein gerannt, als ich ihn habe schreien hören, Dr. Scully. Die Gurte waren schon dran.“



„Ich habe sie angelegt“; sagte Helen angriffslustig. „Er wurde immer unruhiger und es war klar, dass er jeden Moment aufwachen würde. Ich war besorgt, dass er die Nähte beschädigen könnte, so wie er um sich schlug. Und was Ihre Anweisung angeht, Agent Scully, Sie sind nicht sein Arzt und...“



„Amber, würden Sie uns bitte entschuldigen?“ bat Scully leise und wartete ab, bis die junge Frau zum Schwe­sternzimmer zurückgekehrt war bevor sie sich wider der älteren Frau zuwandte. „Haben Sie nur die geringste Ahnung, was Sie gemacht haben? Was Sie ihm angetan haben?? Würden Sie gerne wissen *warum* er so rea­giert hat? Dieser Mann wurde von einer Serienmörderin festgehalten und hat fast sein Leben dabei verloren. Vielleicht interessiert es Sie, wie das fast passiert wäre, Schwester Eggerton. Sie hat ihn auf eine Trage, ähnlich wie dieses Bett hier, vollkommen festgeschnallt! Dann hat sie ihm ein Sedativum gespritzt, nicht so viel, dass er nicht bei Bewusstsein wäre, das hätte den ganzen Spaß verdorben. Nein, sie hat ihm gerade genug gespritzt, dass er sich nicht wehren konnte und dann hat sie ein Messer genommen und ihm die Schnitte zugefügt, die Sie eben frisch verbunden haben. Er lag da, unfähig sich zu bewegen oder zu kämpfen und sah sich selber ausbluten. Stellen Sie sich vor was er jetzt empfunden haben muss, als er aufwachte, verwirrt und desorientiert, nur um sich wieder in *diesem* Bett in *diesen* Gurten zu finden. Haben Sie vielleicht *jetzt* eine Ahnung, warum *zum Teufel* ich diese Anweisung hinterlassen habe?“



Helen war sehr blass geworden als sie Scullys Worte hörte und ihre selbstgefällige Entrüstung war komplett aus ihrem Gesicht verschwunden. „Ich... ich hab nicht nachgedacht.“



„Nein, das haben Sie nicht. Und ich würde es begrüßen, wenn Sie es einrichten könnten, dass die anderen Schwestern sich um Agent Mulder kümmern würden, denn ich möchte diesen Vorfall nur ungern melden.“ Scullys Ton war eisig, ihre Augen unnachgiebig.



Helen schluckte und nickte, auf einmal sprachlos.



Da Scully nicht das Bedürfnis hatte eine bestenfalls nicht ernst gemeinte Entschuldigung zu hören, drehte sie sich auf dem Absatz rum und kehrte in Mulders Zimmer zurück.



Seine Augen waren auf die Tür gerichtet und warteten darauf, dass sie wiederkam. Das schwache Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien als sie eintrat, verursachte bei ihr einen Klumpen im Hals und verbannte die letzten Reste ihres Ärgers aus ihrem Körper. Sie sank in den Stuhl und nahm seine Hand in ihre, wobei sie vorsichtig um die Tropfnadel herum kleine Kreise auf seinem Handrücken zog.



„Tut mir Leid“, sagte er leise, seine Stimme noch heiser vom Schreien. „Ich glaube ich hab für einen Moment die Kontrolle verloren.“


„Verständlich“, antwortete Scully locker. „Wird nicht wieder vorkommen.“



Mulder grinste. „Darauf könnte ich wetten.“

Er versuchte, seine Position etwas zu ändern und zog eine Grimasse als seine Arme zu schmerzen begannen. Scully tat so als ob es ihr nicht aufgefallen wäre, da sie wusste, wie sehr er es hasste, verwundbar zu sein. Statt­dessen begann sie ihre normale Konversation, die immer stattfand, wenn er nach einer Verletzung wieder auf­wachte.



„Wie fühlen Sie sich?“



Das leichte Glitzern in seinen Augen sagte ihr, dass er sie durchschaut hatte. „Als ob mir ein paar Liter fehlen.“

„Wir füllen Sie wieder auf“, sagte sie und deutete mit ihrem Kopf auf den Beutel mit der Blutkonserve. „Sie werden in Null-Komma-Nix wieder voll sein.“



„Danke.“ Der Humor verschwand aus seiner Stimme und er sah sie testend an. „Sie sind wegen mir gekommen. Ich wusste, dass Sie das tun würden.“



Scully unterdrückte die Tränen, die kommen wollten.



„Ich hätte eher da sein sollen, Mulder. Ich wünschte, ich hätte sie aufhalten können.“



„Sie *waren* da“, sagte er leise. Auf ihren verwirrten Blick hin sprach er weiter. „Ich konnte Sie hören, wann immer die Lage hoffnungslos aussah. Es war als ob Sie bei mir warne und mich nicht haben aufgeben lassen. Sie haben mich durchhalten lassen, Scully.“



„Sara ist tot“, entgegnete sie, die Stimme voll von Emotionen, und versuchte, die Unterhaltung vom emotionalen Standpunkt aus auf sicheren Boden zu steuern. „Sie hat sich erstochen – hat sich das Messer mitten durchs Herz gestoßen.“



Zu ihrer Überraschung machte Mulder einen traurigen Eindruck. „Sie war auch ein Opfer“, sagte er und seine Augen blickten in die Ferne. „Sie hat mir gesagt, dass sie zu der Misshandlung wurde, die sie erfahren hat, dass sie sich nicht davon lösen konnte, wie Jackson es getan hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir seine Leiche nahe am Haus vergraben finden werden.“



„Das haben wir schon.“



Die tiefe Stimme erschreckte sie beide und sie sahen auf und erblickten Skinner in der Tür. Er kam vorsichtig herein und beäugte die ganzen Maschinen und das blasse Gesicht seines Agenten. Die echte Besorgnis in seinen Augen verschlug Mulder die Sprache.



„Scully hat mich angerufen, als Sie überm Berg waren“, erklärte sein Boss und stellte sich neben sie ans Bett. „Ich bin gekommen um zu sehen, dass der Fall abgeschlossen wird und dass man Sie richtig behandelt.“ Auf seinem Gesicht formte sich ein Lächeln. „Nicht, dass Scully sich mit weniger zufrieden geben würde.“



„Mir geht’s gut, Sir“, sagte Mulder, woraufhin er von beiden *den Blick* zugeworfen bekam, was ihm etwas unangenehm war. „Naja, mir wird es gut gehen“, fügte er hastig hinzu.



Er unterdrückte ein Gähnen und Skinner fiel auf, dass seine Lider schwer vor Müdigkeit wurden. Scully schien es auch bemerkt zu haben, denn sie fing an, mit der Hand, die nicht die seinige hielt, beruhigend über seinen Arm zu streichen. Skinner versteckte sein Lächeln und fragte sich, ob Mulder Scullys Methode durchschaut hatte, die sie benutzte um ihn in den Schlaf zu lullen, wenn er nicht wirklich wollte.



„Ich muss nochmal an den Tatort“, sagte er laut. „Ich will sichergehen, dass das Forensische Team auch gründ­lich ist. Sie scheinen sehr kompetent zu sein, aber ihre Ausrüstung ist begrenzt. Ich komme später noch einmal vorbei und gucke, wie es Ihnen geht.“



Mulder antwortete nicht. Er war schon halb am Schlafen, aber Scully nickte. Ihre Augen drückten deutlich ihre Dankbarkeit für seine Unterstützung und Sorge aus.



Skinner trat auf den Gang hinaus und ging schnurstracks zu den Aufzügen. Als er an dem kleinen Aufenthalts­raum zu seiner Linken vorbei kam, fiel sein Auge auf jemanden, der ihm gleichzeitig bekannt und fremd vor­kam. Er hielt an und ging dorthin um die Person genauer betrachten zu können, die, Hände in den Taschen ver­graben, ziellos auf und ab lief. Der Mann spürte Skinners Anwesenheit und blickte auf. Skinners Mund öffnete sich überrascht. Ein Blick in das Gesicht des Mannes ließ alle Zweifel an seiner Identität verfliegen.



„Sie müssen Grey McKenzie sein“, sagte er und kam näher. Grey runzelte die Stirn und fragte sich, woher und warum der Fremde seinen Namen kannte.



„Ja. Tut mir Leid, aber kennen wir uns?“



„Wir haben uns noch nicht gesehen, aber ich habe von Ihnen gehört“, erklärte Skinner und streckte ihm seine Hand entgegen. „Ich bin Walter Skinner, Assistant Director beim FBI in DC. Ihr Bruder und Agent Scully ar­beiten für mich.“



Grey schlug ein und grinste leicht. „Ahh, Sie sind derjenige, der Dana Haltung annehmen lässt, wann immer sie Sie an der Strippe hat.“



Skinner erlaubte sich ein kurzes Lächeln. „Gut zu wissen, dass es funktioniert.“



„Ich vermute, Sie kommen gerade von Fox. Wie geht es ihm?“, fragte Grey lässig.



„Er sieht zum Fürchten aus, aber ich hab schon schlimmeres gesehen. Dana sagte, mit den Transfusionen und etwas Ruhe wird es ihm schnell besser gehen.“



„Er hatte über 2/3 seines Blutvolumens verloren, hat sie Ihnen das gesagt?“, fragte Grey gegen die Wand gelehnt und die Bodenfliesen interessiert betrachtend. „Mehr als 5 Liter. Er hatte einen hypovolemischen Schock als wir ihn gefunden haben.“



Skinner nahm die Worte in sich auf und bemerkte, wie Grey seinem Blick auswich. „Wissen Sie, dass Mulder eben wach war? Er wird aber nicht lange durchhalten. Sie sollten jetzt hingehen, wenn Sie ihn noch erwischen wollen.“



Grey nickte wenig enthusiastisch. „Ja, Das sollte ich.“



Skinner sah ihn scharfsinnig an. Er war sich ziemlich sicher zu wissen, was Grey auf dem Herzen hatte. Scully war während der ganzen Geschichte mit ihm in Kontakt geblieben – hatte erklärt, dass Mulder glaubte, die Ra­leigher Polizei habe den falschen Killer, wie er darauf bestand sein eigenes Profil zu schreiben und Greys darauf­folgende Zurückweisung. Er hatte sich selbst einmal in einer ähnlichen Situation befunden und er erkannte Schuldgefühle, wenn er sie sah.



„Er wird Ihnen nichts vorwerfen“, sagte er laut, aber mit ausdruckslosem Gesicht. „Ich sollte das wissen. Sie sind nicht der Einzige, der an ihm gezweifelt hat nur um herauszufinden, dass er recht hatte.“



Greys anfängliches Misstrauen verwandelte sich in Interesse. „Sie?“



Skinner nickte, überflutet von seiner Erinnerung daran, wie er den kämpfenden Mulder gegen einen Tisch ge­drückte und seine Proteste, dass Pincus ein Killer war, nicht angehört hatte. „Ich werde Ihnen die Details erspa­ren, aber ich habe ihn tatsächlich in eine Anstalt sperren lassen. Dachte, er hätte komplett durchgedreht, jegli­chen Realitätssinn verloren. Später hab ich herausgefunden, dass alles, was er behauptete, wahr war – aber nicht bevor er fast umgekommen wäre.“



Grey fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte tief, bevor er eine Augenbraue hochzog. „Sie denken sich das jetzt nicht nur aus damit ich mich besser fühle, oder?“



Skinner schnaubte und ging zu den Aufzügen. „Ich? Ich bin derjenige, der sie Haltung annehmen lässt, wissen Sie noch? Seh ich aus als ob ich sowas tun würde?“ Die Türen öffneten sich und er trat ein, drehte sich aber noch rechtzeitig um, um zu sehen, dass Grey amüsiert den Kopf schüttelte.



„Gehen Sie zu ihm! Es wird Ihnen nicht Leid tun.“



Die Türen schlossen sich und entbanden Grey von einer Antwort.
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