World of X

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Familienbande

von Dawn

Kapitel 3

Eagle Rock

Sonntag

13:05 Uhr



Scully blickte ihren Partner während des Fahrens aus den Augenwinkeln an und versuchte seinen emotionale Temperatur zu nehmen. Bis in die frühen Morgenstunden hatte sie seinen Fernseher und seine Rumwälzerei gehört und so lag die Vermutung nicht fern, dass er immer noch nicht schlief. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen, nachdem sie Greys Haus verlassen hatten und im Motel hatte Mulder sich sofort in sein Zimmer zurückgezogen, wobei er allerdings die Verbindungstür wie gewöhnlich einen Spalt offen ließ.



Es fiel ihr schwer ihn nicht nach seinen Gefühlen zu fragen. Sie wollte so sehr, dass er sich ihr gegenüber öffnete und ihr mitteilte, was in seinem Inneren vor sich ging. Sie konnte sehen, was er für eine Last mit sich trug, nicht nur wegen des Todes seiner Mutter, sondern auch wegen seines neu gewonnenen Bruders, der bis jetzt kaum mehr als ein Fremder war. Aber so sehr sie sich auch danach sehnte, ihn zu trösten, sie respektierte sein Bedürf­nis nach Abstand. Sie konnte nur hoffen, dass, wenn die Zeit reif war, er sich an sie wenden würde.



Scully dachte über Grey nach, über die subtilen Ähnlichkeiten zu Mulder, die sie bereits entdeckt hat – die troc­kene Art seines Humors, die Art wie er seinen Finger durch die Haare fuhr wenn er frustriert war, das Tempera­ment, dass doch mit viel Sanftheit und Mitgefühl gekoppelt war. Und trotz all der ähnlichen Züge, der körperli­chen Ähnlichkeit, gab es doch klaffende Unterschiede. Er lachte schnell und locker. Sein Leben war erschrec­kend normal – ein normaler (zugegebenermaßen gefährlicher) Job, ein Haus in einer ruhigen Nachbarschaft, Basketball spielen im Park. Er strahlte eine friedvolle Aura aus die sehr mit Mulders nervöser Unruhe im Kon­trast stand. Ein Blick auf Grey warf in Scully die Frage auf, ob Mulder auch so wäre, wenn die Sache mit Sa­mantha und die Betrügereien seines Vaters nie passiert wären. Obwohl dieser Gedanke sie sehnsüchtig machte, konnte sie nicht umhin sich auch zu fragen, wie viel von Mulder entstanden war, weil die Umstände so waren wie sie waren.



„Sind Sie sicher, dass Sie nicht bleiben wollen, Scully?“, fragte Mulder plötzlich, sein Ton täuschend locker, als er aus dem Fenster sah.



Da sie wusste, was ihm auf der Seele lag, lächelte sie. „Ich bin nicht wirklich für Basketball gekleidet, Mulder“, erinnerte sie ihn und deutete auf ihre schwarzen Hosen und ihre grüne Seidenbluse.



„Ich meinte nicht, dass Sie spielen sollen, das ist für uns mannhafte Männer. Sie könnten der Cheerleader sein.“, sagte er in seiner besten He-Man-Stimme und blickte sie listig durch seine dunklen Wimpern an.



„Ich passe.“ Scully weigerte sich den Köder zu schlucken. „Das wäre ein bisschen zu viel Aufregung für mein kleines Herz.“



Sie bog in Greys Einfahrt ein und drehte sich dann zu ihrem Partner um. „Ich bin für Sie da, Mulder. Das wissen Sie. Aber Sie und Grey brauchen etwas Zeit alleine.“



„Ich hoffe, wir werden beide noch stehen, wenn Sie wiederkommen.“, murmelte Mulder sarkastisch.



„Ich auch. Denn ich weiß nicht, wie ich Sie sonst zurück zum Motel kriegen soll.“



Mulder schmollte und seine Lippe schob sich vor. „Warum gehen Sie davon aus, dass ich derjenige am Boden sein werde? Wollen Sie etwa darauf anspielen, dass er mich in den Sack stecken könnte?“



„Sie weichen aus, Mulder.“, meinte Scully und umging sauber seine Frage. Dann wurde sie ernst. „Kommen Sie zurecht? Sie haben nicht viel gesagt und ich hab mir geschworen Sie nicht zu drängen.“



Mulder seufzte, lehnte sich zurück und starrte das Autodach an. „Ich weiß es nicht, Scully. Ich weiß nicht, ob ich das alles auf die Reihe bekomme. Meine Gefühle sind total durcheinander und ich weiß nicht, ob ich es schaffe sie zu entwirren. Ich habe meine Mutter geliebt, und es tut weh zu wissen, dass sie fort ist. Aber diese Empfin­dungen sind vermengt mit Wut und Misstrauen und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Warum hat sie mir nichts gesagt, Scully? Ich war ihr *Sohn*. Ich hätte das verdient gehabt. Warum hinterließ sie mir, wie einer flüchtigen Bekanntschaft, einen verdammten Brief? Hätte sie mich nicht einfach einweihen können?“



Scullys Hals schnürte sich zu. „Ich denke sie hat Sie so geliebt wie sie es konnte, Mulder – vielleicht kannte sie es nicht anders.“



Mulder klimperte schnell mit den Augen. „Ich weiß, er kann nichts dafür“, fuhr er mit heiserer Stimme fort und nickte gen Greys Haus, „aber es stört mich gewaltig, dass er es wusste. Er wusste von mir und von Sam und ich wusste *nichts*. Und doch, Seite an Seite mit dieser Wut ist der Wunsch ihn kennen zu lernen, ihn Bruder zu nennen und diesem Wort Bedeutung zu erteilen – dass ich nicht alleine bin.“ Er blies einen Schwall Luft aus. „Erbärmlich, huh?“



Scully reichte mit ihrer Hand rüber zu seiner und legte ihre in seine. „Es ist nicht erbärmlich. Und Sie sind nicht alleine.“



Er drückte ihre Hand dankbar gerade als Grey, gekleidet in einer Sporthose und einen Basketball unter den Arm geklemmt, beschwingt auf ihr Auto zuging. Mulder öffnete die Tür und stieg aus aber Grey lehnte sich durch das Fenster und lächelte seiner Partnerin zu.



„Hi Dana. Sie sehen gut aus, heute.“



„Danke, Grey. Ich hoffe ihr zwei benehmt euch, okay? Keine wilden Spiele.“ Sie lachte ihm warm zu und be­dachte Mulder mit ihrem *sei-nett*-Blick. Er verdrehte die Augen, offensichtlich genervt von der Aufmerksam­keit seines Bruders für Scully.


„Wilde Spiele? Wir doch nicht!“, sagte Grey und sein Akzent wurde etwas deutlicher als er eine Augenbraue hochzog.



Scully schaute Mulder direkt in die Augen und schenkte ihm ein breites Lachen. „Nun, ich habe gesehen wie Mulder Basketball spielt. Sagen wir mal so, er kann sich da intensiv reinsteigern. Ich setz aber mal voraus, dass das nicht familiär bedingt ist.“



„Keine Chance“, versicherte Grey ihr. „Wir sind hier ja schließlich im Süden. Wir hier sind zivilisiert.“



„Komm schon Rhett. Du hältst Scarlett vom Power-Shopping ab“, warf Mulder trocken ein.



Sie sahen Scully zu wie sie abfuhr, dann drehte Grey sich um und ging in die andere Richtung. Mulder ging neben ihm her.



„Sie ist was besonderes, Fox“, sagte er bewundernd. „Wenn sie als Agentin nur halb so gut ist wie sie schön ist, dann muss sie eine großartige Partnerin sein.“



„Sie ist all das und noch mehr.“, murmelte Mulder und konnte sich gerade noch zurückhalten, bevor er noch etwas anderes sagte.



Er merkte, dass Grey ihn unverwandt anstarrte, aber er ignorierte es. Er wollte wirklich nicht über Scully reden, vor allen Dingen, weil seiner Meinung nach sein Bruder viel zu freundlich zu ihr war.



„Also... wie ist dein Verhältnis zu Dana?“, fragte Grey, offensichtlich nicht durch Mulders Versuche, das Thema zu umgehen, abgeschreckt. Er spielte mit dem Basketball herum während sie gingen, mal ließ er ihn auf seinem Finger drehen, mal titschte er ihn auf den Boden.



„Wir sind Partner. Und wir sind Freunde.“, erklärte Mulder durch verärgert zusammen gepresste Lippen.



„*Nur* Freunde?“



„Beste Freunde!“ Mulder blickte finster drein als er den skeptischen Blick seines Bruders sah. „Was?“



„Sieh mal, du schuldest mir keine Erklärung“, sagte Grey forsch-fröhlich. „Wenn du lieber nicht über sie spre­chen willst, dann ist das ok. Aber versuch nicht mir nen Bären aufzubinden.“



„Was zum Teufel soll das denn heißen? Das war die Wahrheit!“



Greys Skepsis verwandelte sich in Unglauben. „Willst du damit sagen, das zwischen euch ist streng platonisch?“



Mulder sah weg, unfähig darauf zu antworten. Bilder des düsteren Flurs vor seinem Apartment erschienen vor seinem inneren Auge – ihr tränenverschmiertes Gesicht, die lange überfällige Erklärung aus den Tiefen seiner Seele, wie sie sich tief in die Augen schauten, ihr Gesicht in seinen Hände als er sich langsam vorbeugte um....



Er hasste Bienen.



„Ich weiß ja nicht wie die Dinge im Raleigher Polizeipräsidium laufen, aber das FBI hat ein Problem damit, wenn sich Partner auf eine romantische Ebene begeben“, sagte er stattdessen und ärgerte sich über den defensi­ven Ton in seiner Stimme. „Und ich werde den Teufel tun und die beste Partnerschaft, die ich je hatte, zu ver­derben.“



Grey hob beschwichtigend seine Hände. „Reg dich nicht auf. Tut mir Leid, dass ich davon angefangen habe. Es ist nur... wenn ich euch so sehe hätte ich gedacht, dass da mehr im Busch ist. Ihr habt dieses wortlose Kommuni­kationsding laufen... irgendwie spooky.“



Mulder zuckte mit den Schultern und verdränge seinen Ärger, als sie sich den Basketballplätzen näherten. „Wir arbeiten seit 6 Jahren zusammen. Das ist doch normal, oder?“ Er klaute Grey den Ball und legte einen sauberen Korbleger hin.



„Ja ja. Einbildung ist auch ne Bildung“, murmelte Grey vor sich hin, schnappte sich den Rebound und machte ebenfalls nen Korb.



Trotz des schönen Wetters waren sie die einzigen auf dem Platz. Sie wechselten sich eine Zeit lang ab, wobei die Würfe immer exotischer wurden. Mulder zeigte sein Markenzeichen – Rückwärts-Korbleger mit Schraube – und Grey versenkte tatsächlich einen am Boden liegend mit den Füßen.


„Eins gegen eins“, schlug er letztendlich vor. „Fünfzig Punkte.“



„Du fängst an – wenn du die Luft dafür hast. Immerhin hast du 5 Jahre mehr auf dem Buckel als ich.“



Grey grinste ihn verwegen an. „Keine Angst, kleiner Bruder. Ich denke das halte ich aus.“



Nach drei Vierteln des Spiels, als Grey nur 4 Punkte zurück lag, gelangte ihr nebenbei geführtes Gespräch auf steinigen Boden. Mulder hatte den Ball und dribbelte ihn langsam, während Grey sich vornübergebeugt auf seine Knie stützte. Beide atmeten schwer und waren total verschwitzt von ihren Anstrengungen.



„Glaubst du wirklich an all das, was du mir letzte Nacht erzählt hast?“, keuchte Grey.



Mulder täuschte links an und wich nach rechts aus und strebte dem Korb zu. Seine Schulter erwischte seinen Bruder hart zwischen den Rippen und rempelte ihn weg. Er legte den Korb und drehte sich zu Grey um, seine Miene neutral. „44-38. Und die Antwort ist ja.“



„Diese Männer, das Konsortium, stecken mit Außerirdischen unter einer Decke?“ Grey bewegte seinen Körper hin und her um ihn zwischen Mulder und dem Ball zu haben. „Sind verantwortlich für Danas Entführung? Ha­ben ihr den Krebs gegeben?“ Er betonte diese Worte durch schnelles herumdrehen wobei er seinen Ellbogen Mulder in die Seite rammte, dann hochsprang und den Korb legte. „44-40.“



Mulders Augen wurden dunkel vor Wut, aber er nahm den Ball an. „Ja. All das. Sie haben versucht einen Handel mit dem Teufel zu machen, egal wen sie dafür opfern müssen.“



Er machte seinen Angriff und pflügte Grey einfach um. „46-40.“, sagte er fest und rieb sich seine Seite, während sein Bruder sich wieder aufrappelte.



„Wenn all das wahr ist“, spottete Grey, „was läßt dich daran glauben, es stoppen zu können? Was macht Fox Mulder zur einzigen Hoffnung für die Welt?“



Er bewegte sich samt Ball das Spielfeld hinunter und dieses Mal versteckte er den Ellbogen zur Abwehr von Mulders Verteidigungsversuch nicht. Mulder wankte aber behielt seine Balance als der Ball den Weg ins Netz fand. Greys Arm hatte ihn mit voller Wucht im Gesicht erwischt und er wischte sich das Blut von den Lippen.



Sie funkelten sich gegenseitig an, schwer atmend, das Spiel vergessen.



„Weil es jemand tun muss.“, blaffte Mulder, seine Stimme erhoben mit kaum kontrollierter Wut. „Weil ich die nicht gewinnen lassen werde. Ich hab zu viel verloren, und Scully... sie haben es mehr als einmal fast geschafft sie umzubringen. Meinst du das kann ich einfach so ignorieren? Weißt du wie das war, sie im Krankenhaus zu sehen, umgeben von Maschinen, die das einzige waren, was sie am Leben erhielt? Sie hatte so schlimmes Na­senbluten, dass sie Transfusionen brauchte. Weißt du wie es war zu sehen, wie sie langsam vom Krebs zerfres­sen wurde, den *die* ihr gegeben hatten und unfähig zu sein, irgendetwas dagegen zu tun? Hast du auch nur die geringste Ahnung wie das war?“



„Ja!“, schrie Grey, sein Gesicht vor Wut verzerrt. „Das weiß ich! Meine Frau ist vor 2 Jahren an Krebs gestor­ben. Es ging langsam, es war schmerzhaft, und als es soweit war konnte ich die Frau, die ich geheiratet hatte, kaum noch erkennen. Und es gab keinen Wunder-Computerchip der sie geheilt hat.“



Als er Mulders entsetzten Gesichtsausdruck sah, ließ seine Wut nach. „Du bist nicht der Einzige auf dieser Welt der leiden musste, Fox“, sagte er müde. „Sogar wir gewöhnlichen Deppen können das verlieren, was uns am meisten bedeutet.“


„Es tut mir Leid. Ich wusste das nicht.“


Grey nahm den Basketball und begann nach Hause zu gehen.



„Jetzt weißt du es.“







127 S. Cambridge

Eagle Rock

Sonntag

15:10 Uhr



Mulder lehnte am Küchentresen und beobachtete Grey dabei, wie er den Kühlschrank durchwühlte. Er war müde – nicht nur das wohlige Gefühl müder Muskeln nach getaner Arbeit, sondern auch geistig ermüdet. Sie waren schweigend zurück zu Greys Haus gegangen, eine Mauer hatte die Brücke zwischen ihnen ersetzt. Mulder fragte sich immer noch wie er es so schnell geschafft hatte, einen Mann zu vergraulen, den er angefangen hatte zu mögen und hoffte zu respektieren. Den Gesichtsausdruck seines Bruders als er ihm von seiner Frau erzählte kannte er nur zu gut aus seinem eigenen Spiegel. Er wollte die Worte, die er im Zorn gesprochen hatte, zurück­nehmen, aber das war nicht möglich.



„Hey.“



Er sah auf, aus seinen Gedanken gerissen, um zu sehen wie sein Bruder ihm zwei Dinge zuwarf. Eine Flasche Wasser und ein Kühlpack.



„Tu das auf deine Lippe, damit die nicht so anschwillt“, sagte Grey schroff.



Zuerst biss die Kälte, dann war sie wohltuend. „Danke“, sagte er leise. Und nach einem Moment fügte er hinzu: „Scully wird mich umbringen.“



„Ich wette, sie kann ein richtiger Drachen sein“, sagte Grey zu seiner Erleichterung.



Mulder verdrehte die Augen. „Du hast *keine* Ahnung.“



„Kate war auch so“, erzählte Grey mit Sehnsucht in seiner Stimme. „Das bisschen, was ich von Dana gesehen habe, erinnert mich an sie. Sie war die sanfteste Person die ich jemals gekannt habe, aber die Hölle auf Erden wenn du dich mit ihr angelegt hast.“



„Wie lange wart ihr verheiratet bevor...?“



„Vier Jahre. Manchmal bedaure ich es, dass wir niemals Kinder bekommen haben. Aber meistens denke ich, es war so am Besten.“ Er seufzte. „Wir dachten, wir hätten jede Menge Zeit.“



„Scully kann keine Kinder haben“, sagte Mulder, legte das Kühlpack weg und öffnete die Wasserflasche. „Sie haben irgendwas mit ihr gemacht als sie sie entführt hatten.“



Er war sich der Bedeutung seiner Worte nicht bewusst, aber Grey schon.



„Ich muss das jetzt mal sagen, Fox, und dann lass ich es ruhen. Das Leben ist zu kurz um auf den perfekten Mo­ment zu warten. Sag es ihr.“



Mulder blickte ihn scharf an, tat aber nicht so, als wisse er nicht wovon Grey sprach. „Es ist kompliziert.“



Grey gluckste. „*Du* machst es kompliziert, kleiner Bruder. Eigentlich ist es sehr einfach.“



„Tut mir leid was ich vorhin gesagt habe“, sagte Mulder in einem Versuch das Thema zu wechseln. „Ich wollte keine alten Wunden öffnen.“



Grey zuckte mit den Schultern. „Ist schon okay. Ich komme jetzt zurecht.“



„Ich habe gar keine Bilder von ihr bemerkt.“



Die Traurigkeit kehrte in die Augen seines Bruders zurück. „*So* okay auch wieder nicht.“ Er trank ein paar Schlucke Wasser bevor er fortfuhr. „Ich hab ein Bild von ihr oben im Schlafzimmer. Ich bin noch nicht so weit sie hier überall zu sehen.“



Er legte die leere Flasche ins Spülbecken, entledigte sich seines Shirts und rollte es zu einem Ball zusammen. „Ich geh jetzt duschen. Fühl dich wie zu Hause. Ich denke mal Dana wird so schnell nicht hier auftauchen.“



Damit ging er den Flur entlang und Mulder konnte seine Fußtritte hören, als er die Treppe emporstieg. Sein Wasser trinkend ging Mulder rüber ins Wohnzimmer, wobei er das Mobilar in Augenschein nahm, welches überraschenderweise frei von Schnick-Schnack war. Eine innere Stimme sagte ihm, dass die Bilder nicht alles waren, was nach Kate’s Tod weggepackt worden war.



Ein großer Kaffeetisch stand vor dem Sofa und er bemerkte, dass er über und über mit Aktenordner bedeckt war, deren Inhalt sich über den ganzen Tisch verstreute. Er wurde neugierig und war nicht wirklich überrascht zu sehen, dass es Akten zu einem Fall waren. Ohne groß nachzudenken, setzte er sich hin und begann zu lesen, wobei er Tatortfotos und Autopsieberichte ausbreitete.



Ein Serienkiller mit derzeit vier Opfern. Bei allen Tod durch Blutverlust verursacht durch tiefe Schnitte vom Ellbogen bis zum Handgelenk. Die Körper waren post-mortem verstümmelt worden, ausgeweidet um das Herz entfernen zu können. Die Auswahl der Opfer schien kein Muster zu haben – Männer und Frauen, verschiedene ethnische Zugehörigkeit und Berufe im Alter von siebenundzwanzig bis achtundfünfzig. Das Raleigher Polizei­präsidium hatte beim hiesigen FBI ein Täterprofil angefordert und im Moment war ein Verdächtiger in U-Haft.



Vollständig darin versunken hörte Mulder Greys Tritte auf der Treppe nicht.



„Hey Fox, ich kann dir ne Jogginghose leihen, falls du duschen möchtest.“



Grey unterbrach sich und erstarrte in der Tür als er sah womit sein Bruder sich die Zeit vertrieben hatte. Für einen Augenblick sah man den Ärger in seiner Gestalt aufblitzen, dann ging er hinüber zur Couch und ließ sich fallen.



„Ich weiß ja nicht wie ethisch es von dir ist das zu tun.“, sagte er dann.



„Ich bin beim FBI. Ist ja nicht so als ob ich Zivilist wäre.“, murmelte Mulder, ohne den Blick von dem Bericht zu heben, den er gerade las.



„Ist eh egal. Wir haben den Kerl gestern geschnappt. Ich war in der Stadt und habe den Papierkram erledigt bevor du zum ersten Mal hier aufgetaucht bist.“



„Ihr habt den Falschen.“ In Mulders Stimme war kein Zögern, keine Unsicherheit. Er blätterte weiterhin durch die Akten ohne das Donnerwetter, das sich zusammenbraute, zu bemerken.



„Das Raleigher FBI hat uns das Täterprofil gestellt. Er passt genau darauf.“, sagte Grey knapp.



„Ich weiß. Das Profil ist falsch.“



„Es ist falsch, huh? Und das kannst du einfach so entscheiden, wo du dir gerade mal 20 Minuten lang die Akten angeguckt hast? Wir haben *drei Monate* an diesem Fall gearbeitet. Ich denke, du solltest bei deinen Außerirdi­schen bleiben.“



*Das* erfasste Mulders Aufmerksamkeit wie eine körperliche Attacke. Sein Kopf schnellte herum und er starrte Grey wütend an, seine Hände ballten sich zusammen so dass man das Papier knistern hören konnte. Aber sein Bruder scheute davor nicht zurück, sondern hielt Mulders Blick stand und kreuzte trotzig die Arme vor der Brust.


„Ich bin kein Idiot. Ich habe früher als Profiler gearbeitet“, presste Mulder durch zusammengebissene Zähne, so dass seine Worte wie Eis klangen.



„Und wir sind auch keine Gruppe alter Knacker, die nicht wissen, wie man eine Ermittlung leiten muss“, ent­gegnete Grey, sein Akzent durch seine Wut deutlich hörbar. „Du arbeitest nicht mehr als Profiler, Fox, und es übersteigt deine Zuständigkeit. Lass es sein.“



Er begann die Papiere wieder einzusammeln und mit groben Bewegungen zurück in die Ordner zu sortieren. Mulder verkniff sich eine weitere Bemerkung und atmete tief durch um sich zu beruhigen. Als er wieder sprach war seine Stimme vernünftig und gelöst.



„Grey, hör mir zu. Es tut mir Leid, wenn ich meine Grenzen überschritten habe, aber diese Akten sind mir gera­dezu ins Auge gesprungen. Du musst mir glauben, wenn ich sage, dass ich weiß wovon ich spreche. Der Mann, den ihr festgenommen habt, hat diese Verbrechen nicht begangen. Euer Mörder ist noch auf freiem Fuß und er wird wieder töten.“



Grey betrachtete ihn, Augen immer noch verärgert zusammengekniffen, aber seine Wut unter Kontrolle. „Weil das Täterprofil falsch ist?“, fragte er sarkastisch.



Mulder ignorierte seine Skepsis und nickte. „Schau mal, das Profil besagt, dass der Killer ein Mann ist, mittelalt, ungefähr 35 bis 45, der keinen Schulabschluss hat und einer körperlichen Arbeit nachgeht. Es deutet auch an, dass seine Motivation daher stammt, dass er sich inadequat fühlt, dass er die Opfer aussucht, weil sie gebildet und in ihren Karrieren erfolgreich sind – etwas, was er für sich auch wollte, aber niemals erreicht hat.“



„Ich kenne das Profil.“



„Und so hab ihr...“, er verstummte und nahm eine Akte hoch, die er kurz betrachtete. „Patrick Booker, 39, ver­haftet. Einen Fließbandarbeiter der für eine hiesige Firma arbeitet, die Plastikbehälter herstellt.“


„Das stimmt. In einem 8 Kilometer Radius um diese Firma wohnten drei der vier Opfer und sie liegt nur 3 Kilo­meter von der Stelle entfernt, wo die Opfer gefunden wurden“, verteidigte sich Grey. „Er hat keinen Schulab­schluss und seine Kollegen sagen, dass er ständig über die gebildeten Leute herzieht, weil er meint, sie denken sie seien was Besseres als er. Und er kannte zwei der Opfer persönlich. Er hatte zum Beispiel Janet Langs Visi­tenkarte in seiner Tasche.“



„Die Autopsieberichte sagen aber, dass alle Opfer große Mengen Ativan im Blut hatten, wahrscheinlich durch Injektion. Aber Patrick Booker hätte weder Zugang zu dieser Droge gehabt noch das Wissen sie zu gebrauchen. Sein IQ ist kaum höher als 100. Und obendrein sagt das Profil, dass der Täter in Rage gehandelt hat. Das zeigt sich aber nicht in den Leichen. Die Opfer wurden regelrecht betäubt bevor ihnen die Arme aufgeschlitzt wurden, und die Verstümmelungen wurden erst nachdem der Tod eingetreten war, vorgenommen.“



„Und wie sieht *deine* Theorie aus?“ fragte Grey spöttisch.



Mulder zügelte sein Temperament und seine Stimme wurde abgeklärter und nüchterner je länger er sprach. Scully hätte das als Zeichen dafür erkannt, dass er sich von dem Horror distanzierte, in die Gedanken des Killers einzutauchen.



„Der Täter ist jünger, wahrscheinlich in den Zwanzigern. Er wurde schwer missbraucht – körperlich? Sexuell? Ich bin mir nicht sicher, aber da keine der Opfer sexuell missbraucht wurden, gehe ich vom Ersten aus. Wie dem auch sei, das System hat in seinem Fall versagt und der Missbrauch wurde nie aufgedeckt oder gestoppt. Er hat das jetzt hinter sich, aber er kann sich nicht davon lösen. Die Opfer repräsentieren die Leute, die ihn hätten be­schützen können, die das Ganze hätten stoppen können, es aber nicht getan haben. Ein Lehrer. Ein Arzt. Ein Schulpsychologe. Und ein Sozialarbeiter. All diese Berufe beinhalten die Pflicht, Kindesmissbrauch zu melden. Sogar seine Vorgehensweise reflektiert seine Gemütsverfassung während der Jahre des Missbrauchs. Denk mal nach, es ist die klassische Art um Selbstmord zu begehen, sich die Handgelenke aufzuschlitzen. Vertikal, damit das Blut nicht so schnell gerinnt. Es drückt meine Verzweiflung, meine Hoffnungslosigkeit aus. Ich bin gefangen und allein, und dies ist mein einziger Ausweg. Das Herz aus dem Körper zu entfernen ist die ultimative Me­thode, meine Mutlosigkeit darzustellen.“



Er wurde sich klar, dass er sich hatte treiben lassen, gefangen auf der Zwischenebene, wo nur seine Gedanken und die des Killers existierten. Er brachte sich hart zurück und fokussierte seinen Bruder um zu sehen, dass die­ser ihn anstarrte, als ob ihm ein zweiter Kopf gewachsen wäre. Mulder wurde rot und trat sich in Gedanken sel­ber in den Hintern, dafür, dass er sich so weit in das alles hineinversetzt hatte. Doch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, klingelte es.



Grey stand auf um zu öffnen, wobei er Mulder immer noch wie einen speziell interessanten Käfer betrachtete, und kehrte kurz darauf mit Scully zurück. Ihr entspanntes Lächeln erstarrte, als sie die Spannung zwischen den beiden und Mulders gesprungene Lippe bemerkte.



„Ich dachte, ich hätte euch gesagt ihr sollt euch benehmen“, sagte sie wobei ihre Augen zwischen den beiden hin und her wanderten.



Grey hatte den Anstand zu erröten und blickte auf seine Füße. „Sieht so aus, als ob es doch in der Familie liegt. Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen, Dana?“



„Grey...“, begann Mulder, die Akte noch immer in seiner Hand haltend.



„Ich hab dir gesagt, du sollst es lassen, Fox“, unterbrach Grey ihn, klaubte die Ordner vom Tisch und nahm ihm die Akte aus der Hand. „Wir haben genug Unterstützung vom Raleigher FBI. Deine Meinung ist weder er­wünscht noch wird sie gebraucht.“



Mulders Geduldsfaden riss und er sprang auf die Füße. „Warum bist du nur so dickköpfig? Warum kannst du dir nicht anhören, was ich zu sagen habe? Hast du Angst, dass dein kleiner Bruder dich bloßstellen könnte?“



„Ich habe zugehört. Und alles was ich gehört habe, war eine unausgegorene Idee, die zwanzig Minuten Zeit hatte sich zu entwickeln und komplett gegenteilig zu dem Profil ist, welches wir über drei Monate hinweg entwickelt haben. Bleib bei deinen X-Akten, Fox, und überlass das wirkliche Leben mir.“



Diese Worte hingen im Raum, der urplötzlich mucksmäuschenstill wurde. Mulders Augen glänzten überdeutlich in seinem Gesicht, das jegliche Farbe verloren hatte. Scully streckte ihre Hand nach seinem Arm aus, aber er schüttelte sie ab.



„Ich wusste, dass das nicht klappen würde“, sagte er verbittert und stakste aus dem Haus ohne sich umzudrehen.



Scully richtete einen wütenden Blick auf Grey um zu sehen, wie dieser die Augen zusammen kniff und sein Gesicht in seinen Händen vergrub. „Ich kann es nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe“, stöhnte er in ehrlichem Bedauern.



Scullys Ausdruck wurde weicher, aber ihre Stimme war wie Stahl. „Ich auch nicht.“



Grey seufzte und ließ die Hände sinken. Dann warf er einen fragenden Blick an die Zimmerdecke. „Er kann einen auf die Palme treiben. Irgendwie schafft er es alle falschen Knöpfe in mir zu drücken, wissen Sie. was ich meine?“



„Ich bin seit sechs Jahren sein Partner, Grey. Ich verstehe das Konzept.“



„Und warum tun Sie sich das an?“, fragte er und sie wusste, dass das keine rhetorische Frage war.



Die Antwort kam erstaunlich einfach über ihre Lippen und sie fragte sich, was das wohl über sie aussagte. „Weil er mich braucht. Und trotz seines Dickschädels und seiner gelegentlichen Unvernunft, verblüfft er einen immer wieder mit völlig selbstlosen und mitfühlenden Aktionen. Er ist im Grunde ein guter Kerl, Grey, und ich bin ein besserer Mensch dadurch, dass ich ihn kenne. Geben Sie ihm ne Chance.“



Grey fuhr sich mit den Händen durch die Haare und ging zur Tür. „Ich muss mich bei ihm entschuldigen.“



„Nein.“



Dieses einzelne Wort stoppte ihn durch seine Intensität und er drehte sich perplex um. „Nicht?“



„Geben Sie ihm Zeit sich abzuregen und rufen Sie ihn dann morgen früh an. Sie wissen, in welchem Hotel wir sind, nicht wahr?“ Er nickte und sie fuhr fort. „Wir haben geplant morgen Abend zurück zu fliegen, also haben Sie einen weiteren Tag um die Dinge zurecht zu rücken. Er will, dass es klappt, Grey.“

„Ich auch, Dana. Aber es wird nicht leicht werden.“



Sie lächelte und drückte seinen Arm als sie an ihm vorbei zur Tür ging. „Nun, Sie kennen das Sprichwort: Wer nichts wagt, der nicht gewinnt.“



Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und er stand mitten im Wohnzimmer und starrte die Akten in seiner Hand an. Mulders Worte, in seiner monotonen Art gesprochen, hallten in seinem Kopf wider und er schüttelte sich. Er fühlte sich etwas töricht und begab sich in die Küche, um sich ein Sandwich zu machen.







Holiday Inn

Raleigh

Sonntag

18:00Uhr



„Nur dass ich das richtig verstehe“, sagte Scully während sie versuchte aus dem Karton eine weitere Krabbe zu fischen. „Sie haben dem Mann gesagt, dass im Grunde die letzten drei Monate seines Lebens für die Katz gewe­sen sind? Zumindest beruflich? Und nach dieser Enthüllung haben Sie ihn mit dem erleuchtet, was er hätte tun sollen? Und all das nachdem Sie sich die Akte weniger als eine halbe Stunde angesehen haben?“ Sie beförderte die Krabbe in ihren Mund und kaute nachdenklich. „Hab ich was vergessen?“



„Scullee“, stöhnte Mulder aus seiner Position, quer über dem Bett liegend. „Das hört sich so... so...“



„Unsensibel, rücksichtslos und taktlos an?“, beendete sie den Satz für ihn, legte den Karton zur Seite und lehnte sich zurück.



„Aber es ist die Wahrheit“, sagte Mulder gereizt und schob seine Lippe trotzig vor. „Alles was ich ihm gesagt habe, Scully. Ich bin mir sicher.“



Scully seufzte schwer. „Mulder. Die Leidenschaft für die Wahrheit macht einfache Höflichkeit nicht überflüssig. Sie haben ihn überrumpelt. Kein Wunder, dass er sich zu allem verschlossen hat, was Sie gesagt haben.“

Mulder knurrte und warf sich auf den Rücken, einen Arm über die Augen gelegt. Scully erwartete einen Wider­spruch oder wenigstens eine vorsichtig durchdachte Rechtfertigung. Die Antwort jedoch, die sie erhielt, versetzte sie in Erstaunen und ihre Kinnlade fiel runter.



„Ich hasse es, wenn Sie Recht haben.“



Scully lächelte leise und ließ Zuneigung in ihrer Stimme mitschwingen, als sie wieder sprach. „Er wird Sie mor­gen anrufen, Mulder. Ihr müsst das irgendwie regeln. Was den Fall betrifft hat Grey recht. Sie müssen ihn liegen lassen und darauf hoffen, dass die wissen, was sie tun. Ihr Verhältnis mit Ihrem Bruder könnte davon abhängen ob Sie es tun oder nicht.“



Das schrille Klingeln des Telefons verhinderte Mulders Antwort als beide von ihnen hastig nach dem Telefon griffen, bevor Mulder sich daran erinnerte, dass er sich in ihrem Zimmer befand. Er beobachtete amüsiert, wie Scullys relaxter Körper Haltung annahm und wusste, dass Skinner der Anrufer sein musste. Die Unterhaltung war kurz und einseitig, wobei ihr Boss den Großteil zu dieser beisteuerte. Im Großen und Ganzen war alles klar – Skinner brauchte sie in DC mit dem nächsten erhältlichen Flug.



„Er braucht uns wieder“, stellte Mulder fest und betrachtete ihr Gesicht, als sie den Hörer auflegte.



„Nicht uns. Mich. Er möchte, dass ich eine Autopsie übernehme. Er hat die Details nur angerissen, aber er faxt den Bericht jetzt rüber damit ich ihn im Flieger lesen kann. Kim hat mir nen Flug um halb 8 gebucht.“ Sie klet­terte vom Bett und begann, ihre Tasche zu packen.



Mulder setzte sich auf und schwang die Beine vom Bett. „Ich denke ich buch mir auch ein Ticket für den Flug. Dann können wir zusammen zurückfliegen.“



Er war verdutzt, als sie ihr Packen unterbrach und ihn eingehend ansah. „Nicht, Mulder. Sie müssen die Sache mit Grey in Ordnung bringen. Wenn Sie heute Abend in den Flieger steigen, kommen Sie nicht hierher zurück. Das wissen wir beide.“



Mulder hielt ihrem Blick einige Momente stand bevor er die angehaltene Luft scharf ausstieß. „Sie sind heute ein Glückspilz, Scully. Packen Sie weiter, ich hol Ihnen das Fax.“



Eine Stunde später standen sie vor dem Gate am Flughafen und warteten darauf, dass Scullys Flugnummer auf­gerufen wurde. Sie ging noch mal ihre mentale Checkliste durch und versicherte sich, dass sie an alles gedacht hatte als ihr auffiel, dass Mulder Löcher in die Luft starrte. Sie kannte diesen Blick.



„Mulder.“



Er klimperte mit den Augen und sah sie an, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis er voll da war. „Hmm?“



„Wo waren Sie gerade mit Ihren Gedanken?“



Sein Blick glitt von ihr weg, ein sicheres Zeichen dafür, dass er versuchte, etwas zu verbergen. „Ich war hier, Scully. War nur etwas abgelenkt.“



„Sie haben über den Fall nachgedacht.“

Sie versteckte ihre Belustigung als er anfing von einem Fuß auf den anderen zu treten und aussah wie ein kleiner Junger, der mit der Hand in der Plätzchendose erwischt worden war.



„Mulderrrr...“



„Ich weiß was Sie gesagt haben. Es fällt mir nur schwer nicht daran zu denken.“



Sie dachte über seine Worte nach und war etwas überrascht über seine Aufrichtigkeit. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Bild ihres Partners beim Mostow-Fall auf – Wangen eingefallen, weil er seine Mahlzeiten ausließ, Augenringe vom Schlafmangel aber feurig mit einer Entschlossenheit, die fast zur Besessenheit wurde. Sein letzter Satz gerade war pure Untertreibung.



Der Aufruf ihres Fluges unterbrach ihre Gedanken und sie streckte ihre Hand nach seiner aus, um sie kurz zu drücken. „Viel Glück mit Grey. Ich hole Sie morgen am Flughafen ab.“



Zu ihrer Überraschung zog er sie rasch zu sich hin und umarmte sie, sein Kinn auf ihrem Kopf ruhend. Für einen Augenblick erstarrte sie, doch dann entspannte sie sich in seiner Umarmung und lehnte ihren Kopf an seine Brust, fühlte das weiche T-Shirt und hörte seinen beruhigenden Herzschlag.



„Danke, Scully“, sagte er leise, seine Worte ein sanftes Rauschen in dem an seine Brust gelehnten Ohr. „Ich weiß nicht, was ich diese Woche ohne Sie gemacht hätte. Sie sind mein Anker.“



Es war ganz und gar nicht seine Art, sich auf diese Weise zu bedanken und es machte sie etwas nervös. „Dafür sind Partner doch da“, antwortete sie leichtfertig.



Mulder überraschte sie wieder, diesmal indem er etwas Abstand zwischen sie brachte und ihr in die Augen sah. Seine Augen waren leuchtend grün vor Emotionen. Langsam schüttelte er den Kopf. „Grey hatte recht. Das ging und geht immer noch über den normalen Dienst hinaus. Und ich möchte, dass Sie wissen, Scully, wie viel es mir bedeutet, dass Sie an meiner Seite waren.“



Scully musste auf einmal heftig schlucken. „Es war mir ein Vergnügen.“



Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch, aber bevor er dazu Stellung nehmen konnte, rief der Flugbegleiter er­neut ihren Flug auf. Jetzt war Mulder es, der überrascht war als Scully eine Hand an seine Wange legte und auf seiner Hand einen zarten Kuss plazierte. Sie ließ ihre Hand einen Moment dort verharren, dann nahm sie ihren Laptop und stellte sich in der Passagierschlange an.



Scully war seinen Augen längst entschwunden als er bemerkte, dass er immer noch in der Lounge stand, mit einem blöden Grinsen im Gesicht. Schnell riss er sich zusammen und widerstand dem Bedürfnis sich umzuse­hen, ob es jemand bemerkt hatte.



Da Scully auf dem Rückweg nicht neben ihm saß, gerieten seine Gedanken doch wieder an Grey und seinen Fall. Mulders Überzeugung, dass sie den falschen Mann hatten, hatte sich mit der Zeit nur verstärkt, genauso wie seine Vorahnung, dass der Killer bald wieder zuschlagen würde. Wer würde das nächste Opfer sein? Eine Mut­ter? Ein Polizist? Vor seinen Augen sah er Grey in einer Blutlache liegen, das Herz entfernt. Es lief ihm kalt den Rücken runter. Er schüttelte den Kopf um den Gedanken loszuwerden und startete das Auto.





Polizeirevier Raleigh

Sonntag

19:45 Uhr





Der Beamte hinter dem Empfang las Zeitung und hatte die Füße auf einem Stuhl hochgelegt. Er stand widerwil­lig auf als er Mulder entdeckte.



„Kann ich Ihnen helfen?“



Das leichte Grollen seiner Stimme deutete an, dass er es lieber nicht tun würde. Mulder tat so als ob er es nicht bemerkt hatte, zog seinen FBI Ausweis hervor und hielt ihn dem Polizisten unter die Nase.



„Special Agent Fox Mulder vom Washingtoner FBI. Ich würde gerne alle Informationen über einen momentanen Fall einsehen – der Serienkiller.“



„Meinen Sie den San Francisco-Slasher?“



Als er Mulders verdutzten Blick sah, zuckte er mit den Schultern. „Hey, hab ich mir nicht ausgedacht. Jemand von der Mordkommission war das. Wegen der Art wie der Killer die Herzen rausschneidet.“



Als Mulder ihn immer noch verständnislos ansah, fügte er hinzu: „Sie wissen schon, der alte Tony Bennett Song... ‚I left my heart...‘“



„... in San Francisco“, beendete Mulder den Satz. „Sehr lustig. Könnten Sie mir die Akten bringen, Officer...“, er schielte auf das Namensschild. „Gardner?“



Gardner zog die Augenbrauen zusammen. „Versteh ich nicht. Es ist doch ein Verdächtiger in U-Haft. Warum hat das FBI daran Interesse?“



Mulder kämpfte gegen seine Ungeduld an. „Verdächtiger. Das ist das Schlüsselwort. Ich möchte mir das alles noch einmal ansehen um sicher zu gehen, dass wir auf der richtigen Spur sind.“ Er betonte das „wir“ absichtlich um vorzugeben, dass er zum Team gehörte. Als Gardner immer noch zögerte sagte Mulder: „Schaun Sie... ich hab schon mit Grey McKenzie darüber gesprochen.“



Das schlechte Gewissen, das er bei dieser Halbwahrheit verspürte wurde von der schnellen Kapitulation von Gardner besänftigt. Er murmelte etwas wie „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt“ und brachte Mulder in einen Verhörraum, wo diverse Ordner vor ihm ausgebreitet wurden.



Je mehr er las, desto sicherer war Mulder sich, dass Booker nicht der Killer war. Der Mann zeigte keines der klassischen Zeichen, die typisch für einen Serienkiller waren. Seine Kindheit – obwohl in Armut – zeigte kei­nerlei Hinweise darauf, dass er misshandelt worden war. Der Kontakt mit zweien der Opfer war verdächtig, aber konnte auch Zufall sein.



Mulder arbeitete sich gewissenhaft durch Autopsieberichte, Tatortphotos und Zeugenberichte und machte sich Notizen auf einem gelben Block, den ihm Officer Gardner zur Verfügung gestellt hatte. Er kaute auf seiner Lippe und sein konzentrierter Gesichtsausdruck verdunkelte seine Züge. Schnell wurde alles um ihn herum un­wichtig und er sah nur noch die Akten und seine Notizen. Der Rest der Welt existierte buchstäblich nicht mehr und das einzige Geräusch in dem Raum war das Kratzen seines Bleistiftes auf dem Papier.



Als er die Informationen wieder und wieder durchging, gab es einen Namen, der jedesmal auftauchte. Jackson Ross. Als Sanitäter war er am Tatort gewesen, wo das erste Opfer gefunden worden war. Er arbeitete gelegent­lich mit Karen Abbot, Ärztin und drittes Opfer. Davon fasziniert zog Mulder sein Handy hervor und wählte eine Nummer um sich Hilfe zu verschaffen.



„Ich bin’s, Mulder. Macht das Band aus.“



„Mulder. Wir haben schon geglaubt du wärst vom Erdboden verschwunden“, sagte Frohike. Dann zögerte er. „Tut mir Leid mit deiner Mutter.“



„Danke. Ich hab hier jemanden, für den ich einen Background-Check brauche und zwar am Besten gestern.“



„No problemo. Um wen handelt es sich?“



„Jackson Ross. Ein Sanitäter aus Raleigh.“



„Raleigh? Wo steckst du? Ich dachte du wärst in Greenwich.“



„Vergiss es. Besorg mir nur alle Infos über ihn. Und ruf mich auf dem Handy an“, sagte Mulder abrupt und war mit seinen Gedanken schon wieder bei den Akten.



„Ist gebongt.“



Als das Telefon wieder klingelte hatte Mulder alle Infos aus den Akten absorbiert und sich sein eigenes Profil gemacht. Er schüttelte einen Krampf aus seiner Hand und wünschte sich seinen Laptop als er beim schrillen Läuten des Telefons seinen Bleistift fallen ließ. Er fluchte verhalten, klappte das Handy auf und bewegte seine verkrampften Finger noch etwas.



„Mulder.“



Er lauschte aufmerksam, der Schmerz in der Hand vergessen als diese nur so über das Papier flog um Frohikes Informationen zu notieren. Die Falte zwischen seinen Augen vertiefte sich und sein Mund wurde zu einem grimmigen Strich. Als der Schütze fertig war, schloss er die Augen und in seinem Inneren kämpften Bestätigung und Abscheu miteinander.



„Danke Frohike. Ich bin dir was schuldig.“



Frohike musste etwas in seiner Stimme gehört haben was ihn selber vorsichtig werden ließ. „Mulder, alles okay? Ist Scully bei dir?“



„Mir geht’s prima, Frohike. Und ob du’s glaubst oder nicht, aber Scully und mich gibt’s auch einzeln zu kau­fen.“ Sein Sarkasmus war nicht angebracht nach allem was sein Freund für ihn getan hatte, aber Mulder war zu abgekämpft um sich darum zu scheren.



Glücklicherweise schien Frohike es zu ignorieren. „Geh es ruhig an, Kumpel. Lass uns wissen, wenn wir noch etwas für dich tun können.“



Etwas beschämt ließ Mulder Dankbarkeit in seine Stimme fließen. „Werd ich.“



Er ließ das Handy wieder in seine Tasche gleiten und strich sich mit den Händen durch’s Gesicht. Seine Augen fühlten sich klebrig an, sein Nacken war steif und jemand spielte Schlagzeug in seinem Kopf. Aber die Informa­tionen auf seinem Notizblock überspielten seine läppischen körperlichen Unannehmlichkeiten. Jackson Ross war der San Francisco-Slasher. Er war sich sicher.



Mulder verschränkte die Arme auf dem Tisch, lehnte seinen Kopf in diese und wünschte sich eine Tasse Kaffee sowie Scullys Rückenmassagen. Seine Befriedigung den Täter identifiziert zu haben mischte sich mit dem Wis­sen, was als nächstes kommen würde. Es würde wie gegen den Strom schwimmen werden – gegen einen kalten Strom mit vielen scharfen Steinen. Er bezweifelte, dass er ungeschoren davonkommen würde.



Die Tür zu seinem Raum wurde förmlich aufgesprengt, so heftig, dass sie gegen die Wand schlug und sich in der Stille des Raumes anhörte als ob eine Pistole abgefeuert wurde. Mulders Kopf schoss hoch und er drehte sich um, um den Eindringling zu betrachten und fuhr zusammen, als sich der Schmerz in seinem Kopf verdoppelte. Grey stand im Eingang, Gesicht wutverzerrt, die Hände zu Fäusten geballt und seine Stimme war ein lautes Grollen.



„Was *zum Teufel* denkst du was du da machst?“







Polizeirevier Raleigh

Montag

7:00 Uhr



Mulder fand sich plötzlich in einer ungewohnten Position wieder – er war sprachlos. Sein Bruder betrat den Raum, knallte die Tür zu und funkelte ihn an. Greys Hände zuckten an seiner Seite, als ob er sie gerne benutzen würde, am liebsten wahrscheinlich dazu sie Mulder um den Hals zu legen. Er ging langsam hinüber dahin wo Mulder saß und ließ seine Augen absichtlich über die Akten und Mulders Notizen wandern. Mulder zwang sich dazu nicht zu zucken und schluckte das Gefühl runter, beim Klauen erwischt worden zu sein.



„Nun?“



Dieses eine Wort hörte sich an als ob Grey auf Stahl biss. Mulder zuckte unwillkürlich zusammen und spürte dann seinen eigenen Ärger entflammen. *Es ist nicht so als ob ich hinter seinem Rücken mit seiner Freundin rummache* dachte er zu seiner Verteidigung. *Wenn sie nicht den richtigen Killer verhaften, wird noch jemand sterben*.



Richtige Wut jedoch blieb ihm verwehrt, denn er wusste, dass er Grey entgegen dessen Wunsch umgangen hatte. Es war eine Art Vertrauensmissbrauch, und die Notwendigkeit dessen in dieser Situation änderte das kaum.


„Grey, es tut mir Leid. Ich weiß, du wolltest nicht, dass ich mich dahinter klemme, aber ich musste es.“ Die Reue in seiner Stimme war echt, aber das beeindruckte Grey nicht im Geringsten.



„Es tut dir nicht Leid. Das würdest du in jeder Situation wieder machen. Gib es zu.“


Was sollte er darauf nur antworten? Er hatte Recht. Und das Schlimme daran war, dass ihm weder seine Hand­lung Leid tat, noch die Auswirkungen, die diese auf seinen Bruder hatten.


„Ich kann nicht einfach da stehen und zusehen, wie noch jemand stirbt“, sagte er laut und er hasste den bittenden Ton, der sich in seine Stimme geschlichen hatte. „Ich musste was unternehmen.“



Grey sah ihn an, als ob er ein Kind sei, das außergewöhnlich schwer von Begriff sei. „Wir haben den Killer gefasst“, knurrte er und sprach dabei jedes einzelne Wort langsam und deutlich. „Niemand wird mehr sterben.“



„Hör mir doch bitte zu. Ich weiß, wer der Killer ist, und es ist nicht Booker. Gib mir fünf Minuten, und ich be­weise dir, dass ich recht habe.“



„Ich werde dir keine fünf Minuten geben, noch nicht einmal fünf Sekunden. Glaubst du wirklich ich will das noch hören was du zu sagen hast nachdem du hinter meinem Rücken hier rumgeschnüffelt hast?“



Mulders Temperament entfachte. „Ich hab nicht *rumgeschnüffelt*! Ich habe ein Recht darauf die Akten einzu­sehen wenn ich es für notwendig halte. Oder hast du vergessen, dass das FBI über den lokalen Polizeirevieren steht?“



Er konnte fast schon Scullys Stöhnen hören als die Worte seinen Mund verlassen hatten. *Die Wahrheit macht einfache Höflichkeit nicht überflüssig, Mulder*.



Wenn es möglich gewesen wäre, wäre Grey noch wütender geworden. Aber er hob seine Stimme nicht an, son­dern sie wurde leise und kontrolliert. Mulder fühlte sich unheimlich an seinen Vater erinnert. „Raus. Wenn du vorhast deine Autorität hier auszuüben, bittest du am besten deinen A.D. mich anzurufen. Und für jetzt will ich dich aus diesem Revier und aus meinen Leben haben.“



Mulder, der im Begriff stand, sich zu entschuldigen, starrte seinen Bruder stumm an. Greys Augen waren eisig und seine Zähne zusammengekniffen, als ob er verhindern wollte noch mehr zu sagen.



„Grey...“



„Du hast es doch selber gesagt, Fox. Es funktioniert nicht. Wir haben beide so lange ohne Bruder existiert, das wird schon gehen. Lass die Akten auf dem Tisch, ich werde jemanden dafür schicken.“



Er verließ den Raum bevor Mulders gelähmtes Hirn eine Antwort formulieren konnte. Er starrte die Tür an und sein Magen drehte sich rum. Er fühlte eine Traurigkeit über ihn kommen, die so dicht und undurchdringlich war, dass er kaum atmen konnte. In diesem Moment wurde ihm einiges Klar. Er hatte es nicht nur einfach *gewollt*, dass das mit Grey funktionierte. Ein Teil von ihm, der Teil der seit sechsundzwanzig Jahren jeden Tag um seine Schwester trauerte, hatte es verzweifelt *gebraucht* dass es klappte.



Müde richtete Mulder sich auf wobei seine Muskeln, die lange in dieser Position verharrt hatten, protestierten. Als seine Augen auf die Uhr an der Wand fielen, bemerkte er erstaunt, dass er die ganze Nacht über diesen Ak­ten zugebracht hatte. Der Verlust die Zeit einschätzen zu können, machte ihn unruhig, aber die Dringlichkeit dessen, was er herausgefunden hatte erlaubte ihm nicht einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Er hatte sich seinen Bruder abspenstig gemacht, aber da draußen war immer noch ein Killer. Der Trieb einen weite­ren Tod zu verhindern überlagerte seinen Kummer und verbannte ihn in die Tiefen seines Gehirns.



Er nahm sein Profil und verließ entschlossen den Raum, ignorierte die fragenden Blicke, die er auf jeder seiner Bewegungen spürte. Wenn Grey nicht zuhören wollte, dann würde er das halt alleine regeln.







1616 Merton Avenue

Montag

10:00 Uhr





Mulder stieg aus dem Auto und starrte das Haus an, wobei er sich den Schutz seines Anzuges wünschte. Nach­dem der das Polizeipräsidium in Raleigh verlassen hatte, war er zurück zum Motel gefahren, hatte geduscht und sich rasiert, aber seine Garderobe für diese Reise war ausschließlich zivil gewesen. Er fühlte sich seltsam ver­wundbar in seiner Jeans und dem marineblauen Pullover, die Waffe von seiner Lederjacke verdeckt.


Das Haus war absurd normal in einer Nachbarschaft wie Tausende in diesem Land. Aber diese Tatsache über­raschte Mulder nicht. Er hatte seit langem gelernt, dass sich ein Monster hinter einer ganz normalen Fassade verbergen konnte. Er erinnerte sich an seine Tage beim VCS – eine sechsjährige hatte ihren Bruder, ein Baby, aus seinem Bettchen genommen, ihn erwürgt und seinen Körper im Wald hinter dem Haus versteckt. Er schüt­telte sich, als er sich an den emotionslosen Ausdruck in ihrem Engelsgesicht als die Leiche unter einigen Blättern versteckt entdeckt wurde. Sie hatte die Polizei nach einem Entführer suchen lassen, der durch die Tür zum Hin­terhof eingedrungen sein sollte, bis sie entdeckten, dass ihre Fingerabdrücke am Hals des Säuglings und unter ihren Fingernägeln Hautfetzen desselben waren. Es hatte sich herausgestellt, dass das Mädchen von seinem ent­täuschten Vater, der lieber einen Sohn hatte haben wollen, schwer misshandelt worden war.



Eine Zeile aus einem Stephen King Roman materialisierte sich in Mulders Kopf: „Dieser unmenschliche Platz bringt menschliche Monster hervor.“ Laut Frohikes Informationen hatte sich genau so etwas auch in 1616 Mer­ton Avenue abgespielt.



Als er langsam zur Tür ging fiel ihm auf, dass das Haus weit von der Straße weg lag, und dass Nachbarhäuser meilenweit entfernt lagen. Diese Abgeschiedenheit zusammen mit dem Altbau, der tendenziell dickere Wände hatte und somit Geräusche absorbierte, machte es sehr wahrscheinlich, dass in diesem Hause Morde begangen werden konnten, die unentdeckt blieben. Er bereitete sich mental auf alles vor und drückte dann die Klingel.



Eine junge Frau Anfang zwanzig mit einen wachsamen Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht öffnete ihm. Ihr Haar war blond und kurz, ihre Augen ein tiefes grün. Diese Augen betrachteten Mulder von oben bis unten und richteten sich dann auf sein Gesicht.



„Ja?“



Mulder zeigte seinen Ausweis und bemühte sich so beruhigend wie möglich zu klingen. „Mein Name ist Fox Mulder. Ich bin ein Special Agent vom FBI. Ich untersuche einen Serienmord und habe gehofft, mit Jackson Ross sprechen zu können.“



Die Wachsamkeit wurde von Unsicherheit ersetzt. „Das ist mein Bruder. Hat er irgendein Problem?“



„Ich muss ihm nur ein paar Fragen stellen“, sagte Mulder in einem, wie er hoffte, beruhigenden Ton. „Ist er zuhause?“



Sie schüttelte den Kopf. „Er ist noch arbeiten. Normalerweise ist er jetzt schon zuhause, wenn er die Friedhofs­schicht hatte, aber manchmal passieren echt schlimme Unfälle und er wird aufgehalten.“



„Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich ein paar Augenblicke warte, falls er auftaucht. Es ist wirklich wichtig.“



Ihre Augen tanzten über ihn, immer noch vorsichtig, aber dann lächelte sie nervös. „Ich denke nicht. Ich heiße übrigens Sara. Kommen Sie rein.“



Sie führte ihn in ein großes Wohnzimmer und bedeutete ihm, auf einer Couch zu sitzen, die definitiv dazu ge­macht war, gut auszusehen und nicht dazu, bequem zu sein. Er betrachtete sie, wie sie sich behutsam auf die Kante eines Stuhls setzte und bemerkte, dass ihre Arme und Beine trotz ihrer geringen Größe sehr muskulös waren.



„Sie haben mich beim Trainieren erwischt“, lachte Sara als ob sie seine Gedanken lesen könnte. „Jackson hat im Keller ein paar Body Building Geräte und ich leih mir die manchmal aus.“



„Es ist gut in Form zu bleiben. Jackson muss ziemlich stark sein, huh?“, antwortete Mulder.



„Nun, dass muss er auch. Manche Sachen, die seine Einheit erledigen muss, sind ziemlich zermürbend. Sie sag­ten sie untersuchen Morde?“



Mulder nickte. „Jacksons Einheit war als erste vor Ort bei einem der Opfer. Und er arbeitete mit einem anderen Opfer, einer Ärztin namens Karen Abbot.“



Sara guckte traurig. „Ich erinnere mich. Jackson fühlte sich so schlecht deswegen. Er hatte gerne mit ihr zusam­men gearbeitet. Sie gab ihm nie das Gefühl, weniger Wert zu sein, wissen Sie. Manche Ärzte tun das. Abe Jack­son ist dazu schon befragt worden, also, warum sind Sie hier?“



Mulder hob seine Hände abwehrend. „Das darf ich nicht mit Ihnen besprechen, Sara. Das ist vertraulich. Das können Sie doch verstehen, oder?“



Für einen Augenblick sah er Ärger über ihr Gesicht huschen, aber dann lachte sie und nickte, und er war sich sicher, dass er sich getäuscht hatte. Er hatte sehr wenig geschlafen, sogar für seine Verhältnisse und es über­raschte ihn nicht, dass seine Wahrnehmung etwas darunter litt.



„Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Agent Mulder?“



Er zögerte einen Moment, nickte dann aber und dachte, dass ein wenig Koffein ihn wieder etwas aufnahmefähi­ger machen würde. „Ich danke Ihnen, Sara. Das hört sich gut an.“



Sie verschwand aus dem Zimmer und er blickte sich um und betrachtete das steife, förmliche Mobilar und den großen offenen Kamin. Auf dem Kaminsims stand eine kleine Sammlung Fotos und er erhob sich um sie sich genauer anzugucken.



Ein Foto war offenbar neu, Sara sah genauso aus wie jetzt auch und hatte ihren Arm um einen jungen Mann mit langen blonden Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, gelegt. Seine Augen waren hart und un­berührt von dem Lachen in seinem Gesicht. Jacksons Arme waren dick und muskulös, er war sicher fähig, den schweren Körper eines Toten zu tragen.



Ein anderes Bild zeigte ein Familienportrait auf dem Sara nicht älter als drei war. Sie saß auf den Schultern eines Mannes, wahrscheinlich ihr Vater, und lächelte schelmisch zu ihm runter. Jackson stand vor seiner Mutter, die ihre Arme locker um ihn gelegt hatte, und er guckte ernst.



„Das ist das einzige Foto, was wir von meinem Vater haben“, sagte Sara und erschreckte ihn mit ihrer leisen Rückkehr. „Er starb als ich drei war.“



Mulder kehrte zum Sofa zurück und nahm den Becher, den sie ihm hinhielt. Der Kaffee war stark und etwas süß, aber er schlürfte ihn dankbar.



„Tut mir Leid, aber bevor ich es bemerkt hatte, hatte ich schon Zucker rein getan“, entschuldigte Sara sich. „Ich bin so daran gewöhnt den Kaffee für Jackson so zu machen, da hab ich wohl automatisch gehandelt.“



„Solange da Koffein drin ist, beschwere ich mich nicht“, lachte Mulder. Er nahm einen weiteren Schluck und sah, wie sie sich entspannte und der besorgte Ausdruck verschwand.



„Was machen Sie denn, Sara?“



„Nichts so spannendes wie für das FBI zu arbeiten, fürchte ich. Telemarketing von zu Hause aus. Man bekommt zwar nicht viel Geld dafür, aber ich kann mir die Arbeit selber einteilen. Sind Sie schon lange beim FBI?“



Mulder unterdrückte ein Gähnen, welches plötzlich über ihn kam und nahm noch einen Schluck aus dem Becher, bereit gegen den Nebel in seinem Kopf anzukämpfen. „Ungefähr zwölf Jahre jetzt. Haben Sie und Jackson im­mer in diesem Haus gelebt?“



„Ja, wir sind hier aufgewachsen. Jackson sprach davon umziehen zu wollen, aber ich habe es geschafft, ihn zu überreden, hierzubleiben. Hier sind jede Menge Erinnerungen, gute und schlechte.“ Ihre Stirn krauste sich un­willkürlich bei dem Gedanken. „Viele schlechte, glaub ich. Aber all die guten Zeiten mit meinem Vater waren in diesem Haus. Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke immer, wenn ich dieses Haus verlasse, verlasse ich ihn, verstehen Sie?“



Mulder blinzelte und fühlte sich seltsam getrennt von seinem Körper. Während Sara sprach schien sie sich weiter und weiter durch einen dunklen, langen Tunnel von ihm zu entfernen. Der Nebel hatte sich in eine schwere Le­thargie verwandelt, seine Glieder fühlten sich schwer an und seine Zunge lag schwer und unbeholfen in seinem Mund. Seine Augen schlossen sich und er konnte sie nur mit einer ungeheuren Anstrengung wieder öffnen. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass ihm der leere Becher aus den Händen rutschte. Eine kleine Stimme in sei­nem Kopf schrie in Panik, aber die Baumwolle in demselben dämpfte das Geschrei.



„Wa’hamsemidmirg‘machd?“, lallte er während er den Kampf mit seinen Augenlidern verlor.



Sara lehnte sich über ihn, ihr Gesicht verschwommen, weil seine Augen nicht mehr fokussieren konnten. „Sie haben nach dem falschen Ross gesucht, Agent Mulder“, sagte sie und ihre Stimme schwankte in seinem Kopf, als ob jemand mit dem Lautstärkeregler spielte. „Aber Sie haben den richtigen gefunden.“



Ein Blitz der Erkenntnis durchdrang die dichte Decke die drohte, ihn zu erdrücken, kurz bevor alles um ihn herum schwarz wurde.





Dulles International Airport

Montag

19:00 Uhr



Scully sah, wie der letzte Passagier das Flugzeug verließ und wusste nicht, ob sie besorgt oder verärgert sein sollte. Müde nach dem langen Tag in der Gerichtsmedizin war sie zum Flughafen gefahren um dann herauszu­finden, dass Mulder nicht im Flugzeug war. Ohne großartigen Kampf gewann die Sorge und sie zog ihr Handy aus ihrer Jackentasche.



Zwei Anrufe später war ihre Sorge gewachsen. Sein Handy war ausgeschaltet und in seinem Motelzimmer ging keiner ran. Darüber hinaus hatte er auch nicht wie geplant ausgecheckt.



Zurück im Auto durchwühlte Scully ihre Handtasche nach dem Stück Papier, auf dem sie Greys Nummer nie­dergeschrieben hatte. Sie tippte sie in ihr Handy und versuchte das ungute Gefühl zu verdrängen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Grey nahm beim ersten Klingeln schon ab.



„Hallo?“



„Hi Grey, hier ist Dana Scully.“



„Hi Dana, was gibt’s?“



Scully runzelte die Stirn als sie etwas in Greys Stimme hörte was sie nicht identifizieren konnte und doch wusste, dass es da nicht hingehörte. Sie fühlte, wie er eine Wand hochzog, etwas, was er ihr gegenüber noch nie getan hatte.



„Es geht um Mulder...“



„Moment, Dana, ich will Ihnen nicht zu Nahe treten, aber ich denke am Besten halten Sie sich daraus. Was heute morgen passiert ist, ist eine Sache zwischen Fox und mir und ich würde es begrüßen, wenn das auch so bleibt.“



Sie suchte nach einer Antwort während ihr Hirn vergeblich versuchte den Sinn hinter Greys Worten zu verste­hen. Irgendetwas war zwischen den beiden passiert und aus irgendeinem Grund dachte Grey, sie wisse darüber Bescheid. Und sein verteidigender Tonfall ließ darauf schließen, dass es nichts Gutes war.



„Grey, ich habe nicht die geringste Ahnung worum es geht. Ich rufe an, weil Mulder nicht im Flugzeug war. Ich hatte gehofft, Sie wüssten wo er sei.“



Stille. Sie war sich bewusst, dass er es jetzt war, der nach einer Antwort suchte.



„Dana, ich habe Fox seit 7 heute morgen nicht mehr gesehen.“

Der Alarm in ihrem Kopf, der immer dann losging, wenn Mulder in Schwierigkeiten war, läutete schrill und laut. Er würde sich erbarmungslos über sie lustig machen, wenn er von ihrem sechsten Sinn diesbezüglich wüsste, den sie über die Jahre hinweg entwickelt hatte und der niemals falsch lag.



„Ich denke, Sie erzählen mir besser alles.“



Es überraschte sie nicht wirklich zu hören, dass Mulder vom Flughafen aus direkt ins Präsidium gefahren war. Sie hatte gesehen, wie sehr der Fall ihn mitnahm. Die Tatsache, dass er die Nacht damit verbracht hatte, goss Öl ins Feuer ihrer Sorgen. Genau wie beim Mostow-Fall wurde Mulder vollkommen davon konsumiert und er schaltete alle anderen Bedürfnisse außer den Killer zu fangen aus. Greys Wut verstehend wusste sie aber auch, dass seine Weigerung Mulder nur noch entschlossener gemacht hatte. Sie wusste ohne jeden Zweifel, was er gemacht hatte.


„Er ist hinter dem Killer her“, teilte sie Grey in einer täuschend ruhigen Stimme mit. „Sie wollten nicht hören, also ist er allein gegangen.“



„Ich wollte nicht hören, weil wir den Killer schon haben“, entgegnete Grey scharf.



„Grey, Sie müssen mich anhören, weil das Leben Ihres Bruders davon abhängen kann. Ich weiß nicht, wen ihr verhaftet habt, aber wenn Mulder sagt, ihr habt den falschen Mann, dann würde ich um Himmels Willen das Ganze noch mal durchsehen“, fauchte Scully fast, ihre Angst die Überhand gewinnend. Sie holte tief Luft und fuhr fort. „Es ist egal was Sie von dem denken an was er glaubt, seine Fähigkeit einen Killer zu enttarnen ist unvergleichbar. Ich weiß, dass das VCS ihn mit Kusshand zurücknehmen würde.“ Skinner hatte ihr das mal gesagt, nachdem Mulder bei einem Profil assistiert hatte.



„Glauben Sie wirklich, dass er in Schwierigkeiten stecken könnte?“, fragte Grey erschüttert. „Mein Gott, Dana, wenn er Recht hatte und ich...“



„Ich nehme den nächsten Flug“, unterbrach Scully ihn, dankbar dafür, dass sie wie immer Sachen für die Nacht im Kofferraum hatte. „Ich rufe Sie an wenn ich weiß, wann ich lande, damit Sie mich abholen können. In der Zwischenzeit möchte ich, dass Sie in Mulders Motelzimmer gehen und seine Notizen an Land ziehen. Er hatte keinen Laptop, also wird er sie irgendwo niedergeschrieben haben. Suchen Sie nach einem Block.“



„Hat er“, sagte Grey leise. „Das hab ich heute Morgen gesehen.“



„Sammeln Sie alles, was mit dem Fall zu tun hat. Mulder schreibt Sachen auf alles, was ihm in die Finger kommt. Sie würden nicht glauben auf was ich alles schon fallrelevante Notizen gefunden habe.“



Als Grey nicht antwortete brachte sie sich dazu autoritär zu klingen. „*Nicht*, Grey. Sie können sich Vorwürfe machen so viel Sie wollen wenn der Fall vorbei ist, wenn Sie sich dann besser fühlen. Aber jetzt brauche ich Ihre Hilfe.“



Sie konnte fast hören, wie er die Schultern straffte. „Ja. Ich bin dran. Bis bald.“



Scully steckte das Handy zurück in die Jackentasche und schnappte sich ihre Tasche, schwang sie über die Schulter und ging wieder in den Terminal. Eine nörgelnde Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass sie zusammen mit Grey dafür verantwortlich war, dass sie Mulder zu gut kannte um das nicht kommen gesehen zu haben. Ihre Mahnung die Schuldgefühle zur Seite zu stellen war wohlbegründet. Wenn sie nur ihren eigenen Rat befolgen könnte.
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