World of X

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Familienbande

von Dawn

Kapitel 2

Keller von Teena Mulders Haus

Freitag

9:00 Uhr





Lieber Fox,



wenn du diesen Brief liest sind vermutlich zwei Dinge eingetreten: erstens, dass ich nicht länger am Leben bin; und zweitens, dass ich erfolgreich verhindert habe dass dieser Brief in die falschen Hände fällt. Erst kürzlich bin ich an meine eigene Sterblichkeit erinnert worden, und der einstweilige Aufschub, den ich erhalten habe, brachte einige Verantwortungen mit sich, daher dieser Brief.



Unser Verhältnis war nie das was wir beide uns erhofft hatten. Ich weiß, du hast Fragen – über die Arbeit dei­nes Vaters und das Verschwinden deiner Schwester – die ich mich geweigert habe zu beantworten. Ja, ich sagte „geweigert“. Wenn du es nicht übers Herz bringen kannst, mir diese Weigerung zu vergeben, dann versuche bitte zu akzeptieren dass ich nur das Beste für dich im Sinn hatte. Das Schweigen in dieser Hinsicht werde ich weiter halten, in jedem Belang bis auf einen. Du hast doch immer eine gute Geschichte zu schätzen gewusst, nicht wahr, Fox?



1955 nahm die Arbeit deines Vaters für das State Department eine Richtung ein, die unerwartet und nicht voll­kommen erwünscht war. Ich werde nicht ins Detail gehen – es genügt zu sagen, dass dein Vater eine zuneh­mende Manipulation seiner Arbeit und unseres Familienlebens bemerkte. Während dieser kritischen Zeit pas­sierte es, dass ich ungewollt schwanger wurde. Bill bekam Panik. Er sah das Baby als ein Werkzeug, welches seine Arbeitskollegen benutzen würden um ihre schon beträchtliche Kontrolle über ihn noch zu steigern. Oder noch schlimmer, dass sie unser Kind für ihr Vorhaben benutzen würden.



Nach zahllosen Diskussionen und Tränen fassten wir einen Plan. Über sechs Monate hinweg hielten wir erfolg­reich meinen Zustand geheim, was in jenen Tagen nicht so schwierig war, wie du vielleicht glaubst. Ich bin nie zu einem Arzt gegangen, ein Risiko, welches wir für gerechtfertigt hielten. Schließlich, als die Anzeichen nicht mehr zu verstecken waren, machten wir einen ausgedehnten Urlaub in Europa.



Als es Zeit für die Geburt war, kamen unsere besten und längsten Freunde, Linda und Doug McKenzie. Doug und dein Vater kannten sich seit der Schule, und er war Trauzeuge bei unserer Hochzeit. Wir verbrachten viel Zeit zusammen bis sie drei Jahre zuvor nach North Carolina zogen. Linda war eine anerkannte Krankenschwe­ster.



Linda brachte unser Kind in einem Hotelzimmer in England zur Welt. Ja, Fox, du hast einen Bruder. Ich hielt ihn für fünf Minuten in den Armen, bevor Linda ihn aus diesen und aus unserem Leben nahm. Wir haben ihn erst gut zwei Jahre später wieder gesehen. Die McKenzies zogen ihn als ihren Jungen auf. Das einzige, worauf ich bestanden hatte, war ihm einen Namen zu geben. Ich nannte ihn Grey, nach meinem Großvater.



Zu der Zeit als du und Samantha kamen, war unser Leben nicht mehr in unseren Händen. Sogar eure Empfäng­nis war jenseits unserer Kontrolle. Ironischerweise war keine meiner drei Schwangerschaften geplant. Nach Grey waren Bill und ich uns einig, kinderlos zu bleiben, und doch wurde ich wieder schwanger. Nicht nur ein­mal, nein zweimal. Ich war immer misstrauisch was das betraf.



Warum ich dir das jetzt nach all den Jahren erzähle? Das weiß ich selber nicht genau. So oft wollte ich dass du es erfährst, aber niemals mehr als nachdem ich deinen Schmerz über das Verschwinden deiner Schwester gese­hen habe. Und doch schwieg ich, sogar als sich unsere Familie langsam auflöste. Vielleicht empfandest du mich als kalt und unnahbar all diese Jahre, aber sieh mal: ich hatte zwei Kinder verloren. Eines freiwillig, ein Opfer welches du vielleicht nie verstehen wirst. Das andere wurde mir trotz meiner Versuche es zu verhindern ge­nommen. Vielleicht kannst du verstehen, dass mich das Risiko mich ein drittes Mal emotional zu binden in Schrecken versetzte.



Was Grey betrifft, kennt er Stücke der Wahrheit – Teile des Ganzen. Er weiß, dass er adoptiert ist und dass Bill und ich seine biologischen Eltern sind. Er weiß, dass wir ihn zu Linda und Doug gaben um ihn zu schützen, aber nicht mehr. Er weiß, dass er eine Schwester hat, die verschwunden ist, und einen Bruder in Washington DC. Vor allen Dingen aber weiß er, dass die Enthüllung darüber, wer seine wirklichen Eltern sind, sein Leben in Gefahr bringen kann.



Das ist das Ende meiner Geschichte. Grey lebt in Eagle Rock, einem Vorort von Raleigh. Wie du diese Infor­mation nutzt, ist deine Sache. Ich würde mir wünschen, dass du ihn wenigstens über meinen Tod informieren würdest. Falls du Kontakt zu ihm aufnehmen möchtest, musst du das mit äußerster Vorsicht tun. Es gibt Leute, die dich genau beobachten, Fox, die dich weiterhin unter ihrem Einfluss haben und kontrollieren wollen. Du weißt von wem ich spreche.



Ich bitte dich nicht um Vergebung, ich weiß, dass ich dir wehgetan habe – erst durch das Vorenthalten von Informationen und dann durch diese plötzliche Enthüllung. Ich kann nur sagen, dass ich mich bemüht habe, die richtigen Entscheidungen zu treffen in einer Situation die von Anfang an falsch war. Ich stehe zu diesen Ent­scheidungen.



In Liebe,



Mom





Scully drehte sich um und gab Skinner, der über ihre Schulter guckend las, die Seiten. Ihr Kiefer schmerzte und sie wurde sich bewusst, dass sie die Zähne fest zusammengebissen hatte, als sie die Wirkung der Worte von Teena Mulder an ihren Sohn in sich aufnahm. Ihre eigenen Gedanken gerieten ins Schwanken. Was musste Mul­der da erst fühlen?



Scully durchsuchte den Keller nach ihrem Partner nur um herauszufinden, dass er verschwunden war. Sie war so in den Brief vertieft gewesen, dass sie das Knarzen der hölzernen Treppe überhört hatte. Skinner war mit dem Lesen fertig, seufzte und nahm seine Brille ab um den Nasenrücken zu drücken. Scully nahm die Seiten wieder entgegen, als er ihr sie hinhielt.



„Was denken Sie darüber?“, fragte er leise, nachdem auch er den Keller nach Mulder abgesucht hatte.



„Ich denke die Mulders geben dem Wort dysfunktional eine völlig neue Bedeutung.“, antwortete Scully ohne den giftigen Ton in ihrer Stimme unterdrücken zu können.



„Das steht außer Frage“, entgegnete Skinner trocken. „Ich meinte, was glauben Sie wie er damit umgehen wird?“



Scully schloss die Augen um die heraufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „So, wie er mit all den beschissenen Karten, die das Leben ihm ausgeteilt hat, umgegangen ist. Mulder hat ein unwahrscheinliches Repertoire an Bewältigungsmechanismen, Sir.“



„Sogar ein Fels kann zerbröckeln wenn er zu viel tragen muss.“



Scully öffnete die Augen und grinste Skinner schräg an. „Ich denke das ist der Punkt an dem wir gefragt sind.“



Skinner drückte ihren Arm ermutigend. „Ich glaube ich habe die Hintertür gehört. Ich werde hier unten sein, falls Sie mich brauchen.“



Scully erklomm langsam die Stufen während ihr Hirn schon nach einer Möglichkeit suchte, eine Antwort auf die zerstörende Enthüllung von Teena Mulder zu finden. Es war eine entmutigende Aufgabe. Sie und Mulder hatten immer eine besondere Verbindung, hatten die Fähigkeit intuitiv zu wissen was der andere dachte und wie er sich fühlte. Aber gerade jetzt musste Scully zugeben, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was in Mulders Kopf vorging. Und das machte ihr Angst.



Das Unwetter war vorüber und es hatte aufgehört zu regnen. Mulder stand auf der hinteren Veranda, an das Ge­länder gelehnt und die Hände ineinander verklammert. Sie imitierte seine Haltung und drehte den Kopf um ihn anzusehen. So viele Gefühle standen ihm ins Gesicht geschrieben, wobei mal das eine und mal das andere die Oberhand gewann. Die Emotion, die sie jedoch am wenigsten erwartet hätte, war diejenige, die sich am deutlich­sten darstellte: Wut.



Mulder nahm ihre Anwesenheit erst gar nicht zur Kenntnis und starrte einfach weiter hinaus auf die Wiese. Scully wartete, ein Fetzen der Einsicht in seine Gefühlswelt, der ihr geblieben war, riet ihr abzuwarten, bis er sich dazu entschied sie einzuweihen. Fünf lange Minuten vergingen, jede davon unwahrscheinlich schmerzhaft in der angespannten Stille. Sie bemerkte die körperliche Auswirkung seiner mentalen und emotionalen Aufruhr – die Schultern starr hochgezogen, die Hände ver- und entknoteten sich pausenlos und seine Kiefer waren fest zusammen gepresst. Sogar seine Atmung war schnell und flach, als ob er gerade von einem langen Lauf zurück­gekehrt wäre.



*Sein Blutdruck muss alle Rekorde sprengen* dachte Scully und verfluchte den Doktor in ihr für den medizini­schen Ursprung ihrer Beobachtung.



„Ich sollte gekränkt sein“, sagte er plötzlich, seine Stimme rauh und vorsichtig kontrolliert. „Meine Mutter hat gerade quasi zugegeben, dass sie es unterlassen hat, mich zu lieben. Verdammt, dass sie mich erst überhaupt nicht haben wollte. Nicht zu vergessen das kleine Geheimnis über die Existenz meines Bruders.“



Er schwieg wieder, und Scully fragte sich ob er fortfahren würde oder eine Antwort erwartete. Ihrem Bauchge­fühl folgend, blieb sie still.



„Ich denke mal, der Schmerz wird irgendwann kommen“, fuhr er fort. „Aber alles, was ich jetzt fühle ist Wut, Scully.“ Er lachte kurz, aber es war kein freudiges Lachen, welches über seine rissigen Lippen kam. „Das ist eine ernsthafte Untertreibung. Ich glaube bis heute habe ich gar nicht gewusst was Wut ist. Es ist eine Schwärze, über die man nicht hinweg und herum sehen kann sondern nur durch, so dass sie jeden Gedanken und jedes Ge­fühl färbt. Ich will Sachen zerbrechen. Ich will mir einen Baseballschläger nehmen und ihn schwingen um alles zu zertrümmern und zerstören. Um die Dinge um mich herum zu zermalmen, so wie sie alles in mir zermalmt hat. Und so Gott mir helfe, Scully, ich glaube ich hasse sie für das, was sie getan hat.“



Seine Stimme, die während er sprach stetig lauter geworden war, brach. Der Schluchzer, der folgte, widersprach seinem vorherigen Bestreiten, dass er gekränkt war. Scully zog seinen Kopf runter auf ihre Schulter und ließ ihn einfach weinen, eine Hand an seiner Taille, die andere in seinem Nacken.



Er ließ seinen Emotionen nur kurz freien Lauf, befreite sich und wischte mit seinem Ärmel die Augen ab. Scully erlaubte ihm einen Augenblick um sich zu sammeln bevor sie sprach.



„Mulder, es ist wichtig, dass Sie Ihre berechtigte Wut herauslassen. Sie müssen sie rauslassen. Ob nun durch weinen, fluchen oder Sachen durch die Gegend schmeißen.“ Sie grinste ihn kurz an. „Aber schlagen Sie Skinner diesmal nicht.“



Mulder stieß etwas Luft aus und seine Mundwinkel zuckten kurz. Durch diesen kleinen Erfolg ermutigt, fuhr Scully fort.



„Was Ihre Mutter betrifft... lassen Sie Ihren Gefühlen einfach freien Lauf. Versuchen Sie nicht, sie zu beschrei­ben oder zu benennen, und vor allen Dingen fühlen Sie sich nicht schuldig!“



Mulder nickte zerknirscht und schien jetzt erst wahrzunehmen, dass sie vor Kälte zitterte. Ohne ein Wort nahm er sie beim Ellbogen und führte sie zurück ins Haus. Scully saß auf dem Stuhl in der Küche und Mulder schüttete ihr gerade was von dem übriggebliebenen Kaffee ein als Skinner die Küche mit einer Kiste voll Müll betrat. Er stoppte und lehnte sich gegen den Türrahmen der Garagentür.



„Wird es Ihnen bald besser gehen?“



Die Tatsache dass er „wird“ gesagt hatte war Mulder nicht entgangen. Skinner war und blieb ihm ein Rätsel. Jedesmal wenn er dachte er habe ihn durchschaut tat oder sagte der Mann etwas was ihn überraschte. Es war fast... spooky. Und dieser Gedanke brachte ein leises Lächeln auf Mulders Gesicht.



„Irgendwann mal.“



„Was haben Sie bezüglich Ihres Bruders vor?“



Überlass es Skinner die Sache auf den Punkt zu bringen, der Mann erwartete immer einen Plan. Einmal Soldat, immer Soldat.


„Sie haben keine Angst vor schwierigen Fragen, oder, Sir?“, stellte Mulder bissig fest. Er holte tief Luft und ließ sie dann langsam entweichen. „Ich habe über 25 Jahre nach meiner Schwester mehr oder weniger erfolgreich gesucht. Und jetzt habe ich plötzlich einen Bruder. Ich weiß dass es irrational ist, aber ich bin sauer auf ihn weil er nicht der ist auf den ich gehofft habe. Dafür, dass er nicht Samantha ist. Schräg, huh?“



„Verständlich“, murmelte Scully.



Mulder sandte ihr einen dankbaren Blick bevor er fortfuhr. „Im Moment bedeutet er mir gar nichts – nichts außer einem weiteren Beweis für den Lug und Betrug meiner Eltern. Vielleicht wird er mir nie etwas bedeuten. Aber ich muss ihn sehen, ihn treffen. Sonst werde ich mich das immer fragen.“



Skinner nickte. „Ich habe einen Flug zurück nach DC um vier Uhr bekommen. Ich werde sicherstellen, dass Sie noch mehr Zeit zur Verfügung haben.“ Sein Ton war barsch, aber seine Augen waren voller Mitgefühl. „Ich meine, was ich vorhin gesagt habe, ernst, Mulder. Wenn Sie etwas brauchen, irgendetwas, rufen Sie mich an.“



„Sie könnten dafür sorgen, dass auch Scully mehr Urlaub erhält“, sagte Mulder. Er sah seine Partnerin unsicher an. „Das heißt, wenn...“



Überwältigt davon, dass er sein Bedürfnis äußerte, was er höchst selten tat, schluckte Scully den Knoten runter, der sich in ihrem Hals bilden wollte. Dann lachte sie ihn bedingungslos an. „Versuchen Sie mal mich aufzuhal­ten.“



Mulder hingegen guckte weiterhin grimmig. „Vielleicht wünschen Sie bald ich hätte es getan, Scully. Ich kann nicht versprechen, dass auf dieser Reise viel mit mir anzufangen sein wird.“



Scully streckte ihre Hand aus um seine zu halten. „Ich nehme das als einen Hinweis, Mulder. Aber nach sechs Jahren glaube ich zu wissen worein ich mich begebe. Und es hat mich auch bisher nie aufgehalten.“



Sie hätte keine bessere Antwort aussuchen können. Einige Spannung floß aus Mulders Miene und er schenkte ihr ein richtiges Lachen. „Darauf verlasse ich mich, Partner. Mehr als Sie wissen.“







127 S. Cambridge

Eagle Rock

Samstag

13:30 Uhr





Scully parkte den Mietwagen sicher am Straßenrand und stellte den Motor ab. Mulder saß hölzern auf dem Bei­fahrersitz. Eine seiner Hände fummelte an den aufgeribbelten Seiten des Sicherheitsgurtes rum während die Finger der anderen Hand nervös auf seinem Knie trommelten. Er schaute aus Scullys Fenster hinaus auf das kleine, zweistöckige Haus und presste die Lippen aufeinander. Nach dem der Motor verstummt war, war die Stille im Auto betäubend.



„Sie schaffen das“, sagte Scully leise, nahm seine Hand von seinem Knie und nahm sie zwischen ihre.



Mulder lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. „Sind Sie sich da sicher, Scully?“



„Mulder, Sie haben den Flukeman und leberessende Mutanten überlebt. Ein lang verlorener Bruder ist dagegen ein Kinderspiel.“ Ihre Stimme war leicht und verspielt, aber ihre Augen zeigten viel Einfühlungsvermögen.



„Das hier ist viel gruseliger, Scully.“



„Wovor haben Sie am meisten Angst, Mulder?“, fragte sie sanft.



Er verzog die Lippen und starrte auf das Vorstadthaus. „Meinen Sie abgesehen davon, dass mir auch mein Bru­der sagt, dass ich nicht erwünscht bin?“



Es war ein Jahr her, aber immer noch ein wunder Punkt. Scully erinnerte sich lebhaft daran, wie Mulder stoc­kend von seiner Begegnung mit seiner angeblichen Schwester in dem Diner erzählt hatte. Obwohl neuere Ereig­nisse darauf hin deuteten, dass sie nicht echt war, hatte diese Zurückweisung Mulder tiefer getroffen als ein Messerstich.



*Kein Wunder, dass Sie anderen gegenüber oft verschlossen sind, Mulder. Wie oft wurden Ihre Bemühungen mit Füßen getreten?*



Sie streichelte seine Hand mit ihrem Daumen und sagte nichts. Sie hatte schon lange herausgefunden, dass sie sein Schweigen aushalten musste und nicht mit eigenen Worten füllen, um ihn zu ermutigen weiter zu sprechen. Und so sicher wie das Amen in der Kirche lösten sich seine Augen von dem Gebäude um sich auf ihre zu rich­ten. Sie sah in ihnen eine Offenheit, die ihr den Atem nahm.



„Ich war immer mehr oder weniger eine Enttäuschung für meine Eltern, Scully. Nicht das worauf sie gehofft hatten oder brauchten. Vielleicht habe ich Angst, dass er all das ist was ich nicht bin, und nie sein werde.“



Der Mut für diese Offenbarung zusammen mit seinem herzzerbrechenden Ernst beraubten Scully einige Augen­blicke der Fähigkeit zu antworten. Als sie antwortete war ihre Stimme sehr emotionsgeladen.



„Mulder, unsere Partnerschaft und Freundschaft sind viel mehr als ich je zu hoffen gewagt oder gebraucht hätte. Sie haben mich häufiger wieder zurückgeholt als ich je zählen mag. Spielen Sie nicht das herunter, was Sie sind. Verkaufen Sie sich nicht unter Wert.“



Mulder brachte ihre vereinten Hände zu seinem Mund und küsste sie schnell auf den Handrücken. Dann holte er tief Luft, hielt sie einen Moment an und ließ sie dann in einem Stoß raus. Als er ihre Hand los ließ, war seine Verwundbarkeit verschwunden und durch eine stoische Entschlossenheit ersetzt worden.



„Dann lassen wir die Party mal starten.“



Scully stieg aus dem Wagen und wartete, bis er um diesen herum gekommen war. Obwohl die nur ein paar hun­dert Meilen von Teena Mulders Haus gefahren waren, war Eagle Rock südlich genug um dem Frühling schon Einzug gewährt zu haben. Die Luft, obwohl noch kalt, war wie Balsam nach dem frostigen Connecticut und die Sonne strahlte. Scully verschränkte die Arme vor der Brust und hatte ein wohlwollendes Glitzern in den Augen, als sie Mulder beobachtete, wie er näher kam.



„Was ist?“, fragte er verteidigend. Er streckte die Arme von sich und betrachtete sich kurz von oben bis unten um sie dann verwirrt anzugucken. „Hab ich Ketchup auf meinem Hemd? Steckt was zwischen meinen Zähnen? Was ist?“



„Benehmen Sie sich einfach nur, Mulder. Spielen Sie fair.“ Ihre Stimme war ernst, aber sie konnte das amüsierte Zucken ihrer Mundwinkel nicht unterdrücken.



Mulders Gesicht nahm einen Ausdruck an, den er perfektioniert hatte – den Unschuldsengel mit weit aufgerissen Augen. „Ich? Sie wollen mir doch nicht etwa unterstellen, dass ich ihn an der Nase herum führen würde!“



„Ich sage nur, dass Sie dem Mann eine halbe Chance geben sollten.“, meinte sie und zog dann eine Augenbraue hoch. „Und nennen Sie mich nicht Shirley!“



Er wusste natürlich sofort worauf sie anspielte. Sein ungezügeltes, freudiges Grinsen verdrängte den Trübsinn der letzten Tage und machte ihr Mut für das was vor ihnen lag. Mulder lächelte, grinste blöd, grinste anzüglich – aber ein stinknormales ausgewachsenes Grinsen war eine seltene Erscheinung auf seinem Gesicht, und sie wusste jedes Einzelne zu schätzen.



Langsam gingen sie an der sauber getrimmten Hecke und den Rosenbüschen vorbei zur Tür. In der Nachbar­schaft schien es viele Familien mit kleinen Kindern zu geben. Die Vorgärten waren voll mit Rädern, Bällen und anderem Spielzeug und eine Gruppe von Kindern spielte auf einem unbebauten Grundstück ausgelassen Base­ball. Scully bemerkte, dass auf Greys Grundstück dieser ganze Krimskrams fehlte und fragte sich, ob Mulder eine Schwägerin und Nichten und Neffen hatte. Sie versuchte sich Mulder als liebevollen Onkel vorzustellen und überraschte sich, das ihr das gar nicht schwer fiel.



Mulder blieb auf der ersten Stufe stehen, schien sich für die Folgen seiner nächsten Handlung zu rüsten, und klingelte. Scully stellte fest, dass auch ihr Herz schneller schlug während sie warteten. Sie blickte zu Mulder rüber und sah, wie er ein paar Schweißperlen mit seinem Handrücken von seiner Oberlippe wischte. Er versuchte zuversichtlich zu lächeln, aber es sah eher verbissen aus.



Niemand öffnete die Tür.



Nach einigen Minuten und zwei weiteren Klingelversuchen seufzte Mulder und setzte sich auf die Treppe. Er lehnte sich zurück und stütze sich mit den Händen auf dem Beton ab, streckte das Gesicht in die Sonne und schloß die Augen. Scully setzte sich neben ihn und stupste ihn mit ihrer Schulter an.



„Ich fürchte, wir hätten erst anrufen sollen.“



„Hinterher ist man immer klüger“, murrte er, ohne die Augen zu öffnen.



Einen Augenblick später setzte er sich abrupt auf, eine entschlossene Miene ziehend. „Was ist, wenn er hinten ist und uns nicht hören kann?“



Scully zuckte mit den Achseln. „Dann gehen Sie doch gucken.“



Mulder stand auf und guckte auf sie herunter, wobei er sich absichtlich in die Sonne stellte, bis sie verärgert die Augen öffnete. „Nicht aufstehen, Scully, ich geh schon“, sagte er sarkastisch.



Sie sah, wie er um die Ecke schlenderte. Seine Schultern hielt er allerdings zu starr als dass sie ihm die lockere Art geglaubt hätte, die er ihr vorspielte. Er war gerade verschwunden, als ein schwarzer Geländewagen um die Ecke kam und die Einfahrt hinauf fuhr. Schuldbewusst sprang Scully auf die Füße, ihre Emotionen waren eine Mischung aus Aufregung, Verständnis und Neugierde. Sie klopfte ihre Hose ab und steckte eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.



Der Mann hinter dem Steuer beäugte sie neugierig, als er aus dem Wagen stieg, eine Aktentasche unter den Arm geklemmt. Er war locker so groß wie Mulder, aber schwer und muskulös, wohingegen Mulder eher hager und hochgewachsen wirkte. Er trug Jeans und ein Poloshirt, das dunkle Haar war teilweise von einer Baseballkappe verdeckt, die er verkehrt herum trug. Seine Augen steckten hinter einer Sonnenbrille, welche er abnahm, als er nahe genug war um sie anzusprechen.



„Kann ich Ihnen helfen?“ Er sprach diese Worte mit einem leichten Akzent, den sie aber kaum wahrnahm.


Für einen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben als Scully ihn anstarrte. Sie wusste, sie musste wie ein Vollidiot aussehen, aber sie war einfach nicht in der Lage zu verhindern, dass ihre Kinnlade runter fiel und ihre Augen weit wurden. Sein Gesicht war das eines Fremden, und doch so vertraut. Von der großzügigen Unterlippe hin über die etwas überdurchschnittliche Nase bis hin zu den haselnussbraunen Augen schwebte ihr Blick ver­gleichend hin und her, wieder und wieder. Sicherlich, es gab offensichtliche Unterschiede – kein Muttermal auf der Wange, ein bisschen mehr Silber in den etwas längeren und lockigeren Haaren und die Augen etwas mehr in Richtung braun als die spezielle Farbe ihres Partners. Aber die Familienzugehörigkeit war unverkennbar.



„Miss?“



Scully klappte ihre Kiefer zusammen und spürte die Hitze in ihre Wangen steigen als ihre helle Haut eine rötli­che Farbe annahm. *Reiß dich zusammen, Dana, bevor er die Leute mit den weißen Westen holt*



„Sind Sie Grey McKenzie?“, fragte sie, obwohl diese Frage überflüssig war, aber sie brauchte ein paar Sekunden um sich zu sammeln.



„Ja, das bin ich.“



Sie öffnete ihren Mund während ihr Gehirn noch fieberhaft nach den richtigen Worten suchte, aber ihre Antwort wurde im Keim erstickt als Mulder wieder auftauchte.



„Nichts zu machen, Scully, ich...“



Die beiden nebeneinander zu sehen machte Scully fast verrückt und sie schaute zwischen den beiden hin und her wie jemand, der ein besonders spannendes Tennisspiel verfolgt. Mulders Worte lösten sich in Luft auf als er seinen Bruder erblickte und Scully war dankbar und amüsiert als mit Genugtuung beobachtete, wie Grey das gleiche grenzenlose Erstaunen an den Tag legte, wie sie nur zwei Minuten zuvor.





„Ich bin Dana Scully“, sagte sie und war nicht beleidigt als Grey weiterhin Mulder anstarrte anstatt ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. „Und das hier ist...“



„Fox“, beendete Grey ihren Satz, allerdings mit einer kleinen Prise Unsicherheit in seiner Stimme.



Mulder nickte, schloss die Lücke zwischen ihnen und kam an Scullys Seite zum Stehen. „Fox Mulder. Es geht doch nichts über eine improvisierte Familienvereinigung um den Tag aufzupeppen, huh?“



„Gut, dass ich frische Unterwäsche anhabe“, sagte Grey, aber ihm entging Mulders erst perplexes und dann anerkennendes Grinsen als er sich daran machte, die Haustür aufzuschließen. Er trat ein und bedeutete den bei­den zu folgen.



Das kleine Foyer ging nach links in ein gemütliches Wohnzimmer und nach rechts in das Treppenhaus über. Grey ging an den beiden vorbei den Gang entlang in einen großen Wohnbereich, der eine Küche, eine Essecke und ein kleines Wohnzimmer beherbergte. Er schmiss die Aktentasche auf den Küchentisch, nahm die Baseball­kappe ab und fuhr mit seinen Fingern durch seine Haare in einer Scully nur zu bekannten Weise, so dass sie sich bemühen musste, nicht schon wieder zu starren.



„Ich glaube, ich könnte einen Drink gebrauchen“, sagte Grey und öffnete den Kühlschrank. „Wollt ihr zwei auch einen?“



Fünf Minuten später nach ein wenig Smalltalk saßen Mulder und Scully auf der großen Couch im Wohnzimmer, Grey saß ihnen gegenüber auf einem Stuhl und jeder hatte eine Flasche Bier in der Hand. Sie hatten den Punkt erreicht, wo Nettigkeiten wie „Bitte“ und „Danke“ nicht mehr notwendig waren und es breitete sich eine unbe­holfene und angespannte Stille aus. Mulder seufzte tief.



„Ich glaube es gibt nur eine Art das hier in die Gänge zu bringen“, sagte er und starrte hinaus auf den Innenhof damit er Greys fragenden Blick nicht aushalten musste. „Du fragst dich sicherlich, was ich hier mache. Meine – unsere Mutter ist tot. Sie hatte am Dienstag einen Schlaganfall. Sie hinterließ mir einen Brief in dem sie mir von dir erzählte und wo ich dich finden kann. Es war ihr wichtig, dass ich dich über ihren Tod informiere.“



„Das tut mir Leid. Ich weiß, dass sie schon einen Schlaganfall hatte und habe befürchtet, dass es nochmal passie­ren könnte.“



Greys ruhige Reaktion auf das Ereignis, welches seine Welt auf den Kopf gestellt hatte, durchwühlte Mulders Eingeweide. Der rationelle Psychologe in ihm wusste, dass die Reaktion seines Bruders verständlich war. Teena Mulder war für ihn nur genetisch seine Mutter und nicht diejenige, die seine Tränen getrocknet und ihn ins Bett gebracht hatte. Dieses Wissen jedoch konnte die reflexartige Wut auf den Mann nicht stoppen.



„Ja, ich sehe, es wühlt dich richtig auf.“, fauchte er und empfand wieder das Bedürfnis, etwas zerbrechen zu müssen.



Greys Augen zogen sich zusammen und seine entspannte Haltung wurde starr als er sich vorlehnte. „Sie war nicht *meine* Mutter. *Meine* Mutter lebt keine dreißig Minuten von hier in Bailey – ich besuche sie alle paar Wochen. Teena war eine Freundin die mir Geschenke brachte, als ich klein war und mich zum Essen ausführte, als ich größer war. Nicht mehr.“



Mulder stellte seine halbvolle Bierflasche geräuschvoll und sprang auf. Seine Hände wandten sich ineinander und sein Gesicht war blass und starr.


„Nun, du warst jedenfalls wesentlich mehr für sie. Schade, dass sie nicht deine Distanziertheit besaß.“ Damit verließ er den Raum, murmelte etwas davon Scully am Auto zu treffen und einen Augenblick später hörte man die Haustür ins Schloss fallen.



Scully guckte Grey kühl an. „Tja, das hätte besser laufen können.“



Grey seufzte, ließ sich zurück in den Stuhl fallen und strich mit seiner Hand sein Kinn entlang. „Wie sagten Sie nochmal war Ihr Name? Dana?“



„Dana Scully.“



„Und Sie beide sind...“



„Partner.“, antwortete sie schnell und fragte sich wie oft in ihrem Leben sie diese Frage beantworten musste. „Wir arbeiten zusammen.“



Greys Augen glänzten vor Interesse. „Seid ihr Cops?“



„FBI.“



Grey nickte und nahm diese Information in sich auf. „Geht das hier nicht etwas über den normalen Dienst hin­aus?“



„Er ist mein bester Freund“, sagte Scully etwas gereizt. „Er macht gerade eine Menge durch.“



Mulders Schmollmund an jemand anderem zu sehen brachte sie fast aus der Fassung.


„Ich habe Bill und Teena höchstens einmal im Jahr gesehen. Ich kann nicht so tun, als ob ich etwas empfinde was nicht so ist.“, verteidigte Grey sich.



„Stimmt, aber Sie müssen sich auch nicht wie ein Arschloch benehmen.“



Für einen Moment raubte der Schock ihm jegliche Animation, dann machte sich ein Grinsen auf Greys Gesicht breit. Scullys Herz schlug etwas schneller bei diesem Anblick. Dieser Ausdruck, der Mulders Gesicht nur selten einnahm, schien für Grey an der Tagesordnung zu sein. Daran musste sie sich erst gewöhnen.



„Ich mag Sie, Dana Scully. Wenn Sie Fox’s beste Freundin sind, dann kann er nicht so schlecht sein.“



„Er ist die Mühe wert.“, sagte Scully und ihre Lippen zuckten leicht bei dieser Aussage. Sie stand auf und Grey tat es ihr gleich. „Sie haben alle Karten in der Hand, Grey. Sie wussten vorher schon von ihm. Er hat bis vor 24 Stunden um jemanden getrauert, der bis dahin sein einziger lebender Verwandter war. Sie mögen eine Mutter in Bailey haben, aber Sie sind auch die einzige Familie, die er noch hat.“

„Ich würde ihn gerne besser kennen lernen“, gab Grey leise zu. „Ich habe immer versucht Teena und Bill dazu zu kriegen über ihn zu sprechen. Ich habe zwei Schwestern, aber keinen Bruder. Ich hab mir immer vorgestellt, dass wir Ball spielen oder ein paar Körbe zusammen werfen.“



„Erzählen Sie das nicht *mir*!“ meinte Scully und nickte in Richtung Tür.



Grey schnaufte angesichts ihrer Hartnäckigkeit. „Hattet ihr geplant länger zu bleiben?“



Scully spitzte die Lippen. „Das hing alles davon ab wie’s laufen würde. Wir sind vorbereitet.“


Dieses Mal zeigte Grey zur Tür und Scully folgte ihm raus in den Sonnenschein, der doppelt so hell zu sein schien, nachdem sie drinnen waren. Sie gingen zum Auto, wo Mulder starr saß und stur geradeaus guckte, die Hände fest ums Lenkrad geklammert. Grey öffnete Scully die Tür, schloss sie dann und lehnte sich durch das Fenster hinein. Sein Gesicht wurde hart als er sah, dass Mulder ihm keine Beachtung schenkte, aber er stieß kurz die Luft aus und fing an.



„Fox, es tut mir Leid, dass wir uns so auf dem falschen Fuß erwischt haben. Wenn du’s nochmal mit mir versu­chen willst, würde ich euch gerne zum Abendessen einladen. Ich bin kein Gourmet aber ich verspreche es wird genießbar sein.“



Scully hielt den Atem an und war erleichtert, als Mulder die Schultern sinken ließ und Grey endlich ansah. „Wann?“, fragte er barsch.



„Wie wärs um sechs? Dann hab ich genug Zeit die Pizza zu bestellen.“



Die Anspannung löste sich und Mulder grinste blöd. „Wie ich sehe haben wir den gleichen Kochlehrer. Wir werden hier sein.“



„Um sechs dann.“



Grey ging einen Schritt zurück und sah zu, wie Mulder losfuhr. Er guckte immer noch als Mulder abbog und ausser Sichtweite kam.



Plötzlich entkräftet lehnte Scully sich zurück. „Hab ich doch gesagt, Mulder“, sagte sie reumütig uns schloss ihre Augen. „Ein Kinderspiel.“





127, S. Cambridge

Eagle Rock

Samstag

18:15 Uhr



Die „Pizza“ entpuppte sich als selbstgemachte Lasagne. Auf Scullys Vorschlag hin hatten sie angehalten und eine Flasche Wein mitgebracht, an welchem sie nun an den Tresen gelehnt nippten, während sie Grey dabei beobachteten, wie er Knoblauchbrot und einen Salat vorbereitete. Der Duft von Tomatensauce und Kräutern durchflutete die Küche und zu Scullys Erleichterung hatte sich die vorherige Feindseligkeit zwischen Mulder und seinem Bruder in eine einfache Vorsicht umgewandelt.



Mulder war den Nachmittag über launisch, eine Kombination von Schlafmangel, Anspannung und rauhen Emo­tionen offenbart durch heftige Stimmungsumschwünge. Auf dem Weg ins Motel war er distanziert und ableh­nend gegenüber ihren Versuchen ihn aus der Reserve zu locken gewesen, nur um gereizt und schnippisch zu werden nachdem sie eingecheckt hatten. Bis dahin hatte Scully es geschafft ihr Temperament zu zügeln, aber dann wies sie ihm die Tür – wenn auch nur die Verbindungstür zwischen ihren Räumen – und kündigte an eine Dusche zu nehmen. Er war offensichtlich ausgedehnt joggen gewesen und danach auf seinem Bett eingeschlafen, wo sie ihn zwei Stunden später fand völlig weggetreten, seine Füße, die noch in Turnschuhen steckten, von der Bettkante hängend.



Als sie bemerkte, dass sie träumte, gab Scully sich einen mentalen Ruck. Grey lachte leise vor sich hin während er eine Mischung aus Knoblauchpulver und Butter auf zwei Scheiben Brot verteilte. Mulders Ausdruck war irgendwo zwischen bockig und amüsiert.



„Nein, ich werde dich nicht *Mulder* nennen“, rief Grey gespielt entrüstet. „Warum die Nachnamen? Du nennst sie Scully, sie nennt dich Mulder. Was soll das?“



Mulder zuckte kurz mit den Achseln und guckte kurz zu Scully rüber bevor er antwortete. „Wir sind Partner. Wir arbeiten fürs FBI.“



Grey erwiderte zunächst nichts, sondern schmierte noch etwas Butter auf die Brote. „Na und?“



„Huh?“



Grey sah auf, ein Grinsen spielte um seine Lippen und er zeigte mit dem Messer auf die beiden, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Schaut, jeder kann sehen, dass ihr mehr als nur Arbeitskollegen seid. Ihr seid offensichtlich gute Freunde, sonst wäre Dana nicht hier. Und ich nenn meinen Partner nicht *Preston* wenn wir Basketball spielen. Benutzt ihr wirklich nie eure Vornamen?“



Auf Mulders stummen Hilferuf hin zog Scully nur eine Augenbraue hoch. Als er bemerkte, dass sie ihm nicht helfen würde, fing er an mit dem Weinglas zu spielen während er nach einer Antwort suchte.



„Ich hasse den Namen Fox. Und Scully... sie... ich weiß nicht. Für ihre Familie ist sie Dana, für ihre Freunde auch, aber für mich ist sie Scully.“ Seine Verwirrung schlug abrupt in Ärger um. „Willst du mir etwa erzählen dir *gefällt* der Name Grey?“



Sein Bruder zuckte mit den Achseln. „Er ist originell. Ich musste jedenfalls nie meinen Nachnamen oder die Initialie auf die Arbeitspapiere in der Grundschule schreiben.“


Er schob das Brot in den Ofen und nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Ich muss zugeben, es gab Zeiten, da wäre ich lieber ein Michael oder Chris gewesen. Aber ich denke, ich hab mich damit abgefunden. Und ich nenne dich nicht Mulder. Wenn ich mit Grey leben muss, dann musst du mit Fox leben!“



„Sie sagten was von einem Partner“, warf Scully ein. „Was machen *Sie* denn beruflich?“



Grey grinste. „Ich hab mich schon gefragt, wann Sie darauf zu sprechen kommen. Ich glaube Strafverfolgung liegt in der Familie. Ich bin Kriminalbeamter im Raleigher Polizeipräsidium – Mordkommission.“



Er deutete auf eine Glasschiebetür und führte die beiden hinaus auf eine geräumige Dachterrasse. Der Abend war kühl und klar und ein kleiner Garten, der tadellos gestaltet war, bildete die Aussicht.



„Ich habe ab und zu Kontakt mit dem FBI. In welcher Abteilung arbeitet ihr denn?“, fragte Grey als er sich in einen Gartenstuhl niederließ.



Scully setzte sich auf eine Bank, aber Mulder blieb stehen und betrachtete ein Beet mit Krokussen und Narzis­sen. Sie wartete darauf, dass er die Frage beantworten würde, spürte seine Anspannung noch etwas ansteigen.



„Sie nennt sich die ‚X-Akten‘. Es geht um Fälle, die das FBI nicht mit konventionellen Ermittlungsmethoden lösen konnte. Fälle, die normalerweise einen paranormalen Touch haben.“ Mulders lockere Miene war irrefüh­rend und er verwarf seine Studie der Blumen und blickte in Greys Gesicht.



Dieser hatte beide Augenbrauen so hoch gezogen, dass sie unter seinem dunklen Schopf verschwanden. „Para­normal? Du meinst Geister, Gedankenleser und so’n Stephen King Zeug?“



Mulders Lippen wurden schmal und seine Augen glänzten gefährlich. „Du hast die Außerirdischen vergessen.“, sagte er sarkastisch. „Die Welt vor der Invasion der Außerirdischen zu bewahren ist ein großer Teil unserer Ar­beit.“



Grey gluckste und bemerkte die versteckte Bitterkeit nicht. „Sehr lustig. Wenn du nicht Klartext reden willst, dann sag es einfach. Ich guck mal nach dem Essen.“ Er schüttelte den Kopf und murmelte amüsiert was von Außerirdischen, als er in die Küche ging.



„Sie sind nicht fair, Mulder.“, sagte Scully leise. Sie stand auf und ging an seine Seite, ohne ihn zu berühren, aber sie stand dicht neben ihm. „Was haben Sie geglaubt, wie er reagieren wird? Abgesehen von den Umständen seiner Geburt war sein Leben der Inbegriff der Normalität. Düstere Verschwörungen und kleine, graue Männ­chen befinden sich nicht auf seinem Radar.“



„Im Gegensatz zu seinem Bruder, dem Monsterjungen – Spooky für seine Freunde.“, gab Mulder sauer zurück.



„Mulder...“



„Essen ist fertig.“, rief Grey fröhlich, die Spannung nicht bemerkend.



Und das war das Problem, vermutete Scully als sie um den kleinen Küchentisch saßen und zu essen begannen. Grey hatte bisher in einer Blase von glückseliger Unwissenheit gelebt, während Mulder die Hauptlast der Ent­scheidungen seines Vaters ausgesetzt war.


„Das ist wunderbar“, sagte sie zwischen den Happen. „Kochen Sie so des Öfteren?“



„Man hat nicht oft Gelegenheit dazu, wenn man alleine lebt“, gab Grey zu und nahm sich noch etwas Salat. „Aber ich koche gerne. Meine Mutter hat mich immer helfen lassen als ich klein war. Am liebsten habe ich Eier aufgeschlagen.“ Er lächelte bei der Erinnerung daran. „Meine Schwestern und ich haben die Plätzchen fast schneller gegessen als sie sie backen konnte. Wie dem auch sei, sie war diejenige, die die Küche zu einem ver­trauten Platz gemacht hat. Sie hat selten ein Rezept benutzt, aber konnte viele leckere Gerichte.“



„Ich weiß, was Sie meinen mit den Plätzchen“, sagte Scully als Mulder sich weiterhin mit gesenktem Kopf damit beschäftigte eine Nudel zu sezieren. „Nur dass meine Mutter Glück hatte, wenn sie überhaupt in den Ofen ka­men. Wann immer sie uns den Rücken zudrehte haben wir nämlich vom Teig genascht.“



Ws herrschte eine erwartungsvolle Stille bis Mulder endlich den Kopf hob. „Ich steh mehr auf Take-aways“, sagte er trocken. „Frag Scully.“



„Teena hat nicht viel gekocht?“



Ein Ausdruck von tiefer Traurigkeit gekoppelt mit Bitterkeit festigte sich in Mulders Gesicht und seine Augen wurden düster.



„Noch nicht mal bevor Samantha verschwand. Danach... sagen wir mal, ihr Lieblingsessen waren ein paar Vali­umtabletten. Hat sich gut ergänzt, denn mein Vater hatte am liebsten eine Flasche Chivas.“



Greys Gesicht verlor jegliche Animation und er legte die Gabel nieder, beugte sich über den Tisch und richtete seine Augen auf die seines Bruders. „Es tut mir Leid, Fox. Das wusste ich nicht.“


Etwas geschah in diesem Augenblick – ein fast spürbares wenn auch dünnes Band, dass sie zum ersten Mal wie richtige Brüder verband. Bis die Verbindung riss.



„Nein, du hattest keine Ahnung. Und die hast du immer noch nicht.“


Scully kannte ihren Partner gut genug um den tiefen Schmerz, der hinter den sarkastischen Worten verborgen blieb, wahrzunehmen. Zum Glück konnte Grey das nicht.



„Was soll das denn bedeuten?“



„Vergiss es.“



„Nein, ich will es hören.“, forderte Grey, seine Augenbrauen ärgerlich zusammengezogen.



„Ich kann mit dir nicht darüber reden, okay? Ich hätte es gar nicht erwähnen sollen.“


„Hast du aber. Du kannst nicht einfach ne Bombe legen und dann so tun als ob sie nicht explodieren wird.“



Mulder riss seine Serviette vom Schoß, stand auf und schmiss sie auf den Tisch. „Du kapierst es nicht! Du wirst nie verstehen können, wie es war in diesem Haus aufzuwachsen. Du und deine perfekte kleine Welt, wo alle scharfen Kanten abgepolstert waren. Während du mit deinen Schwestern Plätzchen gegessen hast, ist meine vor meiner Nase entführt worden. Während du in der Küche mit deiner Mutter gematscht hast, war meine so vollge­dröhnt, dass ich Glück hatte, wenn überhaupt etwas Essbares im Hause war. Manchmal war ich jedoch froh darüber, denn wenigstens konnten sie nicht streiten, wenn sie weggetreten war.“



Grey sprang ebenfalls auf und ignorierte die Tatsache, dass er dabei fast den Stuhl umwarf. „Meinst du ich habe es genossen wie ein Welpe weggegeben worden zu sein?“, fauchte er auch stieß seinen Zeigefinger auf Mulders Brust. „Wie meinst du hab ich mich gefühlt, als ich erfahren habe, dass meine eigene Mutter und mein eigener Vater mich aus Gründen, die sie nicht erklären konnten, nicht großziehen wollten? Gefahr? So ein Blödsinn! *Dich* haben sie ja schließlich trotz dieser angeblichen Gefahr behalten, wie ich feststellen musste. Meinst du es war einfach da zu sitzen und zu hören wie Bill – mein richtiger Vater – damit angegeben hat wie klug du doch seist und was für ein toller Athlet du doch wärst und wie sich in Oxford alle nach dir die Finger leckten? Meinst du die Kanten waren nicht scharf genug um blutende Wunden zu hinterlassen? Dann denk lieber noch mal nach, kleiner Bruder!“



Scully beobachtete diesen Wortwechsel und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie erinnerte sich an mehr als nur ein Wortduell zwischen ihren Brüdern, die mit einer Prügelei geendet hatten und hoffte, dass es keinen ähnlichen Vorfall geben würde. Stattdessen sah sie wie Mulder sich an der Lehne seines Stuhls festhielt, sein Gesicht bleich und ausdruckslos bis auf etwas, was verdächtig nach Schock aussah. Diese seltsame Reaktion entging auch Grey nicht und er verlor etwas von dem Feuer in seinen Augen.



„Mulder, was ist los?“, fragte Scully leise.



Er reagierte nicht auf die Frage, schien sie noch nicht mal zu hören. Seine Augen klebten auf Greys Gesicht und er leckte über seine trockenen Lippen.



„Was hast du da über Dad gesagt?“



Diese Worte waren kaum lauter als ein Flüstern, ein starker Kontrast zu dem Geschrei vorher. Grey guckte per­plex und diese Verwirrung minderte seinen Ärger. Er blinzelte Mulder an als ob er ein besonders schweres Rät­sel entziffern wollte.


„Über Dad? Das er mir immer erzählt hatte wie toll du wärst? Jedermann hätte geglaubt du wärst das perfekteste Kind der Welt, so wie er immer sprach.“



Mulder biss sich heftig auf die Lippe und drehte sich um, aber nicht schnell genug, denn sowohl Scully als auch Grey entgingen die Tränen in seinen Augen nicht. Er kniff die Augen fest zusammen in dem vergeblichen Ver­such sie zu verstecken und seine Hand packte den Stuhl so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Grey öffnete den Mund zum Sprechen, aber ein stechender Blick von Scully hielt ihn davon ab.



„Er hat nie...“, Mulders Stimme war voller Tränen. „Ich habe mich so bemüht ihn stolz zu machen, die Sache mit Sam wieder gut zu machen. Nichts war jemals gut genug für ihn. Das einzige Mal, wo er etwas näher daran kam mir zu sagen er sei stolz auf mich war in der Nacht in der er starb.“



Grey legte zögerlich eine Hand auf Mulders Schulter, sichtlich besorgt, er würde eine Abfuhr erhalten. Aber Mulder zeigte weder Ärger noch Dankbarkeit für diese Geste, wischte sich nur mit dem Handrücken die Augen ab und holte zittrig Luft.



„Dann lass mich es tun“, sagte Grey sanft, die Spur eines schlechten Gewissens in seiner Stimme. „Ich weiß nicht, warum er es mir sagen konnte und dir nicht, Fox. Aber ich weiß, dass er stolz auf dich war. Zweifel nie­mals daran.“



Mulder drehte sich langsam um und sandte Scully einen beruhigenden Blick. Das Mitgefühl und die Liebe in ihren tiefblauen Augen brachten fast wieder Tränen in seine und er sah schnell weg um seine fragile Fassung zu bewahren. Als seine Augen Grey fanden stellte er fast verwundert fest, dass er diesen Mann eigentlich mochte, diesen Bruder, der ihn gleichzeitig faszinierte und in Schrecken versetzte.



„Dann musst du mir auch etwas glauben. Mom und Dad hätten dich nie weggegeben, wenn es nicht der einzige Weg gewesen wäre, dich in Sicherheit zu wissen. Die Gefahr von der sie sprachen ist wirklich, Grey. Du wirst die Wahrheit nicht mögen, aber ich denke, es ist Zeit, dass du sie erfährst.“ Mulder blickte Scully zur Bestäti­gung an, und nach einem kleinen Moment des Zögerns nickte sie.


„Warum habe ich das Gefühl, dass ich das nicht glauben werde?“, fragte Grey trocken und schob die beiden wieder auf die Dachterrasse.



Mulder grinste. „Sorry, aber das ist Scullys Job.“





127, S. Cambridge

Eagle Rock

Samstag

21:48 Uhr



Stille. Wie eine schwere Decke an einem Sommertag war sie erdrückend. Mulder lehnte sich zurück in dem gepolsterten Stuhl und blickte in den Himmel, nachdem seine Stimme vom Sprechen über fast zwei Stunden hinweg heiser war. Die Sterne leuchteten hell und die Mondsichel linste durch die Äste einer alten Eiche. Wie immer, wenn er über das All nachdachte, fragte Mulder sich, ob Samantha irgendwo da draußen in der Weite des Alls sei. Der nur allzu bekannte Schmerz drückte auf seine Brust und er seufzte.



Sie hatten Grey alles erzählt. Scully hatte Mulder die meiste Zeit reden lassen, hatte hin und wieder einen Kom­mentar eingeworfen oder spezifische Details erläutert. Grey hatte die meiste Zeit ruhig zugehört bis auf die ein oder andere Frage. Seine Miene verriet nichts und Scully dachte amüsiert, dass Mulders trockener Humor ein weiteres Markenzeichen war, welches die Brüder gemein hatten.


„Außerirdische, Entführungen, genetisch manipulierter Krebs, Blattern übertragende Bienen, Klone, schwarzes Öl und eine finstere Gruppe von alten Männern, die die Welt regieren wollen. Hab ich irgendwas vergessen?“



„Du hast die Gabe alles zu Vereinfachen.“, sagte Mulder sardonisch.


Grey stöhnte und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Entweder seid ihr beide verrückt oder ich bin es dafür, dass ich überhaupt in Erwägung ziehe, dass irgendetwas von dem, was ihr gesagt habt, wahr sein könnte. Ich geh mal nicht davon aus, dass ihr Beweise habt? Irgendwas Konkretes?“



Scully und Mulder tauschten einen Blick aus. „Beweise haben leider die Eigenschaft zu... verschwinden.“, gab Scully bedauernd zu.



„Mit etwas Nachhilfe.“, grunzte Mulder.


Grey lehnte sich nach vorne, parkte die Hände auf den Knien und begutachtete Scullys Miene. „Wie viel von dem was Fox mir erzählt hat, akzeptieren Sie denn?“



Mulder beendete seine Sternenguckerei abrupt um seinen Bruder anzustarren. „Was willst du damit sagen? Warum fragst du sie das?“



„Weil sie Wissenschaftlerin ist.“, antwortete er mit einer Ruhe, die Mulders Ärger nur schürte. „Das hast du selbst gesagt. Du hast gesagt sie wurde dir zugeteilt um deine Arbeit bloßzustellen. Sie wurde dazu ausgebildet, die Tatsachen von einem technischen Standpunkt aus zu betrachten. Und...“, er zögerte, als ob er nicht zum Ende kommen wolle.



„Was?“



„Ich muss kein Hellseher sein um zu sehen wie emotional du damit verbunden bist, Fox. Ich sage nicht, dass Dana das nicht ist. Gott weiß, sie hat ihre eigenen Verluste erlitten. Aber das ganze hat über 25 Jahre deines Lebens ausgemacht. Das alles ist untrennbar mit dem verbunden, wer du bist.“



„Du glaubst ich kann nicht objektiv sein.“



Viele Emotionen schwangen in diesen paar Worten mit – Wut, Zynismus, Frustration, Enttäuschung. Grey war­tete darauf, dass er damit aufhörte, einen Plastikbecher zu zerpflücken und ihm in die Augen sah.



„Ich glaube nicht, dass *ich* objektiv sein könnte.“ Er drehte sich zu Scully. „Nun?“



Sie schürzte ihre Lippen und fühlte Mulders Blick in ihrem Rücken. „Ich glaube, dass es eine Verschwörung gegen das amerikanische Volk gibt. Ich weiß, dass es Entführungen gab um Tests an unwilligen Subjekten durchzuführen. Ich war Teil dieser Agenda.“ Sie pausierte und fasste sich unwillkürlich in den Nacken. „Im Bezug auf die Existenz außerirdischen Lebens... ich denke ich kann sagen, dass die Jury darüber noch nicht abgestimmt hat.“

„Also denken Sie es ist denkbar?“

Scully blickte zu Mulder hinüber und ihre Lippen krümmten sich leicht. „Ich denke ich bin offen für extreme Möglichkeiten“, murmelte sie.



Mulders Augen glitzerten. „Scully, ich glaube, das törnt mich unheimlich an.“, sagte er mit tiefer Stimme. Er stand auf und reckte sich, bevor er zur Tür ging. „Ich brauch nen Schluck Wasser.“



„Bedien dich“, sagte Grey locker, schaute ihm nach, wie er in die dunkle Küche ging und drehte sich dann wie­der zu Scully.



„Das ist Ihre Chance“, sagte sie amüsiert.



„Meine Chance?“



„Mich das zu fragen, was Sie nicht in Anwesenheit Ihres Bruders fragen wollten. Ich weiß, dass Sie noch etwas auf dem Herzen haben, und er weiß es auch. Was meinen Sie, warum er Ihnen sonst diese Möglichkeit in den Schoß legt.“



Grey warf einen unruhigen Blick auf das Haus und leckte sich über die Lippen. „Dana, ich weiß dass er um Teena trauert und erschüttert über meine Existenz ist. Aber... Sind Sie sicher, dass Sie seinem Urteilsvermögen was das hier betrifft trauen können? Tut mir Leid, aber er erscheint mir nicht die stabilste Verfassung zu haben. Sind Sie sicher, dass Sie nicht getäuscht werden?“



Ein rätselhaftes Lächeln zierte ihr Gesicht. „Sie meinen eine Folie à deux?“, fragte sie, und als er etwas verblüfft guckte, fügte sie hinzu: „Eine Verrücktheit, die von zweien geteilt wird?“



Grey nickte und sah etwas betreten aus.


„Seien Sie sich darüber im Klaren, Grey. Jeder Stolz, den euer Vater in Mulders Intellekt hatte, war gerechtfer­tigt. Er hat ohne Frage das brillianteste Hirn dem ich je begegnet bin. Das FBI hat ihn direkt aus Oxford ange­stellt – keine geringe Ehre. Er wurde der Top-Profiler für VICAP und soweit ich weiß, nutzen sie immer noch einige seiner Fälle als Lehrmaterial an der Akademie. Er kann unglaubliche Mengen an Daten durchschauen und eine stichhaltige Lösung präsentieren in einem Fall, der andere zum Verzweifeln bringt. Und obendrein hat er noch den Mut gehabt mich mehr als einmal zu retten, obwohl es für ihn tödlich hätte enden können.“



„Hat er noch alle Tassen im Schrank? Grey, *nichts* im Leben dieses Mannes war jemals stabil. Trotz dieser Umstände ist er auf den Füßen geblieben, wo manch anderer in die Knie gegangen wäre. Er wird niemals das Aushängeschild für emotionale Stabilität sein. Aber ich vertraue ihm. Ich vertraue ihm mit meinem Leben. Ich mag nicht an alles glauben, was er tut, aber ich glaube an *ihn*.“



Mulder kam zurück während Grey noch über Scullys Worte grübelte. Er bemühte sich, lässig zu wirken, aber sie konnte sehen, dass er trotz seines ruhigen Äußeren sehr skeptisch war. Seine Hände waren rastlos, erst fummel­ten sie an dem Reißverschluss seiner Lederjacke herum, dann spiele er mit einer Topfblume, die in einer Ecke der Dachterrasse stand. Die Unruhe ihres Partners und das Schweigen seines Bruders brachten Scully dazu über­trieben zu gähnen.



„Fertig zum Abflug, Mulder? Ich bin hundemüde.“



„Ja“, stimmte Mulder ihr leise zu und warf seinem Bruder einen verstohlenen Blick zu. „Ich auch.“



Scully bemerkte die Schatten unter seinen Augen und die Mattigkeit in seinem Gesicht und wusste, dass er die Müdigkeit nicht vortäuschte. Der Stress sich seinem Bruder so vollständig zu öffnen hatte seinen Tribut gefor­dert, und auch Grey sah noch etwas mitgenommen aus. Sie brauchten alle etwas Zeit um die Enthüllungen des Tages zu verarbeiten.



Grey erhob sich und folgte den beiden ins Haus wo Scully ihre Handtasche einsammelte. Er blieb still bis sie an der Haustür angekommen waren und erschreckte Mulder, als er ihm eine Hand auf die Schulter legte um ihn zurückzuhalten bevor er diese öffnen konnte.



„Es hat ne Menge Mumm gekostet das zu tun was du heute Abend getan hast“, sagte er anerkennend. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich dir das hoch anrechne. Ich brauche nur ne Chance mir das alles durch den Kopf gehen zu lassen. Ich hoffe, du verstehst das.“



Mulder nickte.



„Am Ende der Straße ist ein Park mit ein paar Basketballfeldern. Wenn das Wetter gut ist, gehe ich am Wochen­ende oft dahin um ein paar Körbe zu werfen und manchmal ne kleine Partie zu spielen. Interesse?“



Mulder war über das Angebot zu irritiert um Scullys Grinsen zu bemerken. *Ich frag mich welches Gen für die Liebe zu Basketball verantwortlich ist* dachte sie sich.



„Klar“, antwortete ihr Partner unfähig eine seiner trockenen Antworten zu geben. „Wann?“



„Komm einfach nach dem Mittagessen vorbei“, plötzlich schien Grey sich an Scullys Anwesenheit zu erinnern. „Dana, Sie sind natürlich auch willkommen.“



Sie strahlte ihn auf diese Einladung hin an, zu der er sich verpflichtet fühlte, bemerkte Greys dankbaren Blick und das Mulder sich sträubte. „Danke aber ich denke, ich passe. Ich denke ich werde Mulder hier absetzen und mir dann Raleigh angucken.“



„Einverstanden. Aber wenn Sie Ihre Meinung ändern...“



„Wir sehen uns morgen“, sagte sie schnell, nahm Mulders Arm und zog ihn nach draußen.



Sie hatte die Anzeichen dafür, dass Mulder sein Revier verteidigen wollte, bemerkt, legte aber keinen Wert auf eine kostenlose Vorstellung eines Kampfes um den Rang des Alphamännchen. Es machte keinen Sinn einen gut gelaufenen Abend zu ruinieren. Murmelnd verabschiedete sich auch Mulder, die Augenbrauen immer noch leicht verärgert zusammengezogen, und folgte ihr zum Auto.



„Ich glaube es besteht die leise Möglichkeit, dass er Sie heiß findet“, sagte er, als er hinterm Steuer Platz nahm.



Scully rollte ihre Augen. „Keine Angst, Mulder. Sie sind Mann genug für mich.“



Sie wurde mit einem spielerischen Lechzen seinerseits belohnt. „Oh Scully. Können wir diese Theorie im Motel testen?“



Sie hielt ihr Gelächter zurück, grinste nur und zeigte geradeaus. „Fahren Sie einfach, Mulder!“



„Ja, m’am!“
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