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Ahead of Twilight - Wenn die Nacht sich senkt (2)

von Texxas Rose

Kapitel 2

Sonntag, 7.27 Uhr

Sylvia Stiles sah von ihrer Kaffeetasse auf, als die Hintertür ihres Farmhauses geöffnet wurde. Sie hatte das Haus und das angehörige Land geerbt, nachdem ihre Mutter verstorben war. Zuerst hatte sie hier mit ihrem Ehemann Alfred gelebt und dann allein, nachdem Alfred vor sechs Jahren gegangen war. Das Gut war schon über hundert Jahre in ihrem Familienbesitz, und Sylvia hatte sich geschworen, in demselben Haus zu sterben, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte.

Ihr Bruder Justin kam gerade herein und schenkte sich wortlos einen Kaffee aus der Kanne auf der Anrichte ein. Seit Justins Entlassung aus dem Gefängnis vor einigen Monaten, hatten sie nur hier und da einen kargen Wortwechsel geführt, wenn sie sich hin und wieder sahen. Sie waren sich nie sehr nahe gewesen, auch als Kinder nicht. Sylvia war acht Jahre älter als Justin, sie hatten nichts gemeinsam und nichts, worüber sie sich unterhalten könnten. Aber heute Morgen schien Justin irgendwie anders zu sein.

"Wo warst du?" fragte sie und hob ihre Tasse, um daraus zu trinken.

"Sylvie, wie würde es dir gefallen, von hier weg zu gehen?" fragte er und die Aufregung lag eher in seinen leuchtenden Augen als in seiner Stimme.

Sie zuckte mit den Schultern. "Ich wohne hier schon mein ganzes Leben", sagte sie zu dem Kaffee in ihrer Tasse. "Hab hier Wurzeln geschlagen. Hab hier viele Erinnerungen. Un' ich seh' kein' Grund, von hier weg zu gehen."

Dulexy nahm den nächsten Stuhl neben ihr, drehte ihn um und setzte sich verkehrt herum drauf.

"Was wäre, wenn ich einen Ort wüsste, wo wir eine Menge Geld herkriegen könnten?" fragte er sie und beobachtete zufrieden, wie er das Interesse seiner Schwester weckte. Sie war immer recht knapp bei Kasse gewesen, das wusste er, nachdem das Arschloch von ihrem Ehemann sie wegen dieser Schlampe von Verkäuferin unten im Haushaltswarengeschäft verlassen hatte.
"Geld?" fragte sie. "Wo? Und wie viel?"

"Drei Millionen Dollar", sagte er betont.

Sylvia verschluckte sich an ihrem Kaffee und hustete. Sie faltete die Hände auf ihrem Schoß und wartete, bis er weiter sprach.

"Ich habe etwas, das uns die drei Millionen Dollar beschaffen könnte", bekräftigte er und sah, wie sie nachdenklich wurde. "Ich brauche nur ein bisschen Hilfe von dir."

"Was soll ich machen?" fragte sie nach einem Augenblick. Wenn Justin sie um etwas bat, war es nie einfach. Er war schon immer jemand mit hohen Anforderungen gewesen, und mit den Jahren war es sogar noch mehr als das geworden—es war zu etwas geworden, dass immens erschreckend war, je älter er wurde. Er war ein groß-gewachsener Junge mit kräftiger Statur gewesen. Als er siebzehn war, hatte er einen Mann mit bloßen Fäusten zu Tode geprügelt. Nach dreißig Jahren Gefängnis war er entlassen worden und soweit Sylvia wusste, hatte er sich nur zum Schlechten hin geändert.

Dulexy stand auf und hielt ihr seine Hand hin.

"Komm mit", sagte er und sie folgte ihm trotz ihres unguten Gefühls.

Sie stiegen in Justins Truck, einen sechzehn Jahre alten Ford, den er nach seiner Entlassung Gott weiß woher hatte. Sylvia war überrascht, als er den Wagen wieder in Richtung ihrer Farm lenkte, nachdem er ein ganzes Stück auf dem Feldweg, der von der Farm weg führte, gefahren war. Er nahm einen selten benutzen Pfad, der kaum breit genug für seinen Truck war.

"Wohin fahren wir?" fragte sie und hielt sich am Türgriff fest, weil der Pickup ziemlich auf dem holprigen Weg ins Schaukeln geriet.

"Zu Großmutters und Großvaters altem Haus", sagte er gerissen mit einem Seitenblick. Er wusste nicht genau, wie Sylvia auf die Neuigkeiten reagieren würde, dass er jemanden für Lösegeld entführt hatte und ihn auf ihrem Land versteckt hielt. Aber er hatte sowieso schon geplant, die Alte wegzusperren, wenn sie ihm quer kam. Sie hatte ihm in letzter Zeit ohnehin immer nur Probleme gemacht. Als er nach seiner Entlassung aus dem Knast auf ihrer Türschwelle aufgetaucht war, hatte sie ihm etwas Geld gegeben und ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Sie hatte ihn nur während des letzten Monats soweit akzeptiert, dass er ihr Haus betreten durfte. Aber so gut und mächtig sie auch tat, überlegte er, sie war auch keine Heilige. Er hatte herausgefunden, dass sie nicht eine einzige Steuererklärung gemacht hatte, seit Alfred die Fliege gemacht hatte. Die alte Schreckschraube wusste bestimmt nicht mal wie man so etwas macht.

Dulexy hielt den Wagen vor dem kleinen, baufälligen Farmhaus an, das einmal der Stolz ihres ganzen Besitzes gewesen war. Sein Urgroßvater hatte das Haus vor der Jahrhundertwende bauen lassen, und während Dulexys gesamter Kindheit war dies das Haus gewesen, in dem seine Großeltern mütterlicherseits gelebt hatten. Als seine Eltern geheiratet hatten, hatte sein alter Großvater seiner Tochter ein weiteres Haus eine halbe Meile weit weg gebaut. Teils als Hochzeitsgeschenk, teils um seine Tochter in der Nähe zu wissen. Anne Conklin Dulexy war die Lieblingstochter ihres Vaters gewesen, mehr noch als die meisten Leute wussten. So viel, dass Justin sich manchmal fragte, wer eigentlich sein biologischer Vater war. Anne und ihr Vater waren sich *so* nahe gewesen. Selbstverständlich war das ein gut behütetes Geheimnis der Familie, das niemals zur Sprache kam und dem augenblicklich mit eisiger Wortlosigkeit begegnet wurde, wagte es ein Familienmitglied anzusprechen. Aber Justin wusste Bescheid. Es gehörte nicht viel dazu, und als er erst einmal das Teenageralter erreicht hatte, hatte er kapiert, was die Blicke wirklich aussagten, die sein Großvater seiner Mutter immer zuwarf. Nachdem Justins Vater, James Dulexy, bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war, (bei dem sich der damals vierzehnjährige Justin übrigens gefragt hatte, ob sein Großvater nicht seine Hand im Spiel gehabt hatte), haben sich Anne und ihr Vater sogar noch näher verbündet.

Leider war der alte Mann mit der Zeit der Ansicht, dass seine jahrelangen alkoholischen Exzesse ihm endlich zusetzten, und er wurde eines Morgens tot in seiner Scheune aufgefunden, auf einen Heuhaufen geworfen, eine leere Whiskyflasche locker in seiner Hand hängend. Nicht lange danach musste Anne ihre Mutter einem Altersheim übergeben, und die Familie war sehr knapp bei Kasse. Justin war dreiundzwanzig gewesen und schon im Gefängnis, als seine Mutter an Lungenkrebs gestorben war. Zu der Zeit war die Farm bereits in den Ruin gegangen. Sylvia hatte weiter in dem Haus gewohnt, dass ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und 'Großmutters und Großvaters Haus' stand leer. Es lag verlassen und den Launen der Natur ausgesetzt auf dem Land.

"Was machen wir hier, Justin?" fragte Sylvia misstrauisch, als sie aufmerksam die Treppen zur Haustür hinaufstieg. Sie war schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen, und es war ersichtlich, dass das Haus stellenweise schon zusammenfiel. Die vordere Veranda sackte schon gefährlich in sich zusammen, und eine der fünf Treppen war total zerfallen.

"Ich will dir was zeigen", antwortete er und hielt ihren Arm fest, um sie zu stützen, als sie ausrutschte. "Komm mit. Drinnen ist der Boden stabiler."

Sylvia folgte ihm in das Zimmer, das das Schlafzimmer ihrer Großeltern gewesen war. Es lag direkt gegenüber dem Wohnzimmer, durch das sie das Haus betreten hatten, auf der anderen Seite der Diele. Der Großteil der Möbel und persönlichen Gegenstände waren schon vor vielen Jahren aus dem Haus entfernt worden, aber jetzt gab es immer noch das ein oder andere hier und da. Der große Lehnstuhl seines Großvaters stand immer noch auf seinem Platz, ganz allein in dem Wohnzimmer. Sylvia bekam eine Gänsehaut, als sie ihn entdeckte. Eine vage Erinnerung, wie sie als kleines Mädchen auf dem Schoß ihres Großvaters gesessen hatte, dessen Hand unter ihrem Kleid, flackerte durch ihr Gedächtnis. Anne war nicht die einzige Conklin Nachkomme gewesen, mit der ihr Großvater intim gewesen war.

Als sie das Schlafzimmer betraten, blieb sie stehen, erschrocken über den Anblick, der sich ihr bot. Ein Mann, anscheinend etwas älter als Justin, aber kleiner als er, saß gefesselt auf dem Boden vor ihr. Seine Arme wurden hinter seinem Rücken streng mit einem Seil zurück gehalten und sein Kopf fiel vornüber auf seine Brust. Sylvia konnte das trockene Blut sehen, dass die grauenden Haare des Mannes verklebten. Es war über sein Gesicht zu seinem Mund gesickert und die jetzt trockene Kruste verlieh ihm eine clownähnliche Maske. Mit aufgerissenen Augen wandte sie sich zu ihrem Bruder.

"Wer ist das?" fragte sie eingeschüchtert.

Dulexy grinste. "Ein alter Freund von mir aus dem Knast", erklärte er und beobachtete sie, um ihre Reaktion zu erfassen.

"Er sieht mir gar nicht wie ein ehemaliger Sträfling aus."

Er schnaubte. "Na logisch nicht, Sylvia. Er ist ja auch schon zehn Jahre draußen."
"Und er hat den Kontakt zu dir aufrecht erhalten?"

Jetzt lachte Dulexy aus vollem Hals. "Nicht wirklich. Lass es mich einfach so sagen: wir haben uns wieder getroffen. Der Punkt ist, Sylvie, dass er stinkreich ist. Millionen. Und wenn wir unsere Karten gut ausspielen, können einige dieser Millionen uns gehören."

Mulder, der Dulexys Lachen durch den Nebel in seinem Gehirn mitbekam, regte sich und stöhnte leise.

"Justin.... Kidnapping?" Erschrocken sah sie ihn an. "Dafür gehst du wieder in den Bau!"

Dulexys Geduld hing an einem seidenen Faden. Wenn er das durchziehen wollte, würde er ihre Hilfe brauchen.

"Sylvia, so lange du dicht hältst, werde ich nirgendwo hingehen. Außer vielleicht nach Kalifornien, wenn ich das Geld von Mr. Millionär hier habe."
"Was genau soll ich tun, Justin?"

"Dich ruhig verhalten", antwortete er prompt. "Alles, was du tun musst, ist die Klappe halten. Wenn die Polizei kommt und dumme Fragen stellt, kooperiere mit ihnen, aber denk dran—du weißt von nichts. Und du musst überzeugend sein. Gib ihnen keinen Grund, Haus und Hof zu durchsuchen."

Sie nickte. Sie hoffte, dass ihre schauspielerischen Fähigkeiten gut genug waren, um das durchzuziehen. Ihr Blick fiel wieder auf den Mann am Boden.

Mulder stöhnte wieder und versuchte, seinen Kopf zu heben. Als Dulexy sah, wie seine Schwester begann, sich Sorgen um ihn zu machen, musste er schnell nachdenken. Sein Plan beinhaltete keineswegs, dass Sylvie diesen Hundesohn auf welche Art auch immer verwöhnt. Wenn sie erst einmal die Gelegenheit dazu bekäme, würde sie seine Wunden versorgen und ihm etwas zu essen geben wollen. Aber da hatte Dulexy andere Vorstellungen.

"Er ist der Grund, warum ich in dem einen Jahr so lange in Einzelhaft musste, Sylvie", sagte er in seinem besten Kleiner-Bruder-Ton. Er wusste, dass man Sylvia gesagt hatte, dass er wochenlang ohne Gesellschaft in einer Zelle hocken musste, nachdem er einem Wärter geholfen hatte, Mulder zusammenzuschlagen. Er hatte den kleineren Mann festgehalten, der in seinem stählernen Griff völlig wehrlos gewesen war, während der Wärter ihn mit einem Stahlrohr bearbeitet hatte. Wenn damals alles nach Plan gegangen wäre, wäre Mulder jetzt tot und Dulexy um 500 Dollar reicher. Aber sie waren unterbrochen worden, bevor sie es beenden konnten.

Sylvia starrte Justin an, dann wieder Mulder. Dann ging sie entschlossen rüber zu Mulder und trat den am Bett gefesselten Mann gehörig in die Rippen, so dass er wieder in Bewusstlosigkeit verfiel. Egal, wie ungefährlich der Mann aussah, Familie war Familie, und wenn ihr Gefangener der Grund für Justins lange Zeit in Einzelhaft, dann war er auch ihr Feind.

 

Sonntag, 11.03 Uhr

Mulder öffnete langsam die Augen. Irgendetwas stimmte nicht, aber er konnte es nicht so richtig erfassen. Sein Hals fühlte sich an wie Sandpapier, als er schluckte. Als er sich umsehen wollte, ergriff ihn eine plötzliche Welle von Übelkeit und Schmerz, die ihm jegliche weitere Bewegung untersagten. Also sah er sich um ohne den Kopf zu bewegen.

Er war in einem spärlich möblierten Schlafzimmer, das modrig und staubig roch, so dass er annahm, dass es schon sehr lange nicht mehr benutzt worden war. Ein riesiges Bettgestell stand in der Mitte des Zimmers, dessen feines Holz schon vor Ewigkeiten durch den Regen, der zweifellos durch die kaputten Fenster eindringen konnte, ruiniert worden war. Auf dem Gestell lag immer noch eine Matratze und ein Lattenrost und Mulder fragte sich, ob Mäuse darin nisteten. Es sah aus wie ein schönes Plätzchen für Mäuse.

Er bewegte den Kopf, um den Nebel um ihn herum zu lichten und biss sich auf die Lippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Irgendjemand hatte eine Kanonenkugel in seinen Kopf geschossen, als er weg gewesen war, grübelte er. Er sollte sich besser langsam und vorsichtig bewegen, wenn er sich nicht die Seele aus dem Leib kotzen wollte. Er war außerdem in die Rippen geschlagen oder getreten worden, denn seine linke Seite fühlte sich danach an und das Atmen tat verdammt weh. Er kämpfte gegen das Übelkeitsgefühl an und atmete langsam und tief durch, bis er zuversichtlich war, dass der spärliche Inhalt seines Magens auch dort bleiben würde. Zumindest fürs erste.

Er untersuchte seine Lage weiter und stellte fest, dass die Schmerzen in seinem Kopf und Rippen nicht das einzige war, das man ihm angetan hatte. Es war bloß das, was ihm am ehesten auffiel. Seine Arme waren fest auf seinem Rücken an eines der schweren Füße des Bettes gefesselt und er saß, seine Füße ebenfalls zusammengebunden, auf dem kalten Boden. Er hatte keinen Knebel im Mund, was ihn zu der Annahme brachte, dass wahrscheinlich niemand in der Nähe war, den er um Hilfe anrufen könnte.

Um einiges langsamer bemühte er sich noch einmal, seinen Kopf zu heben und versuchte, aus dem nächst gelegenen Fenster zu gucken. Doch das Fenster war zu hoch für seine Position, so konnte er nichts weiter als bloßes Feld und die Kronen einiger Bäume draußen sehen, die keine zweihundert Meter weit weg standen. Er sah kein Lebenszeichen und als er angestrengt lauschte, hörte er nichts weiter als Vogelgezwitscher.

Er setzte sich wieder zurück an das Bett und versuchte, etwas von der Spannung in seinen Schultern zu lösen und sein benebeltes Gehirn zum Nachdenken zu bewegen, um aus dieser misslichen Lage herauszukommen.

Sie hatten versucht, den Kidnapper, der sich obendrein als Justin Dulexy entpuppt hatte, zu täuschen. Mit einem Seufzen fragte sich Mulder, ob ihn seine Vergangenheit jemals in Ruhe lassen würde. Skinner war da gewesen; konnte er fliehen? Und, was noch wichtiger war, war Ellery in Sicherheit?  Wenn Skinner den Verdächtigen festgenommen hätte, wäre er jetzt sicherlich nicht in dieser Zwickmühle. Also lag es nahe, dass Skinner verletzt worden war. Oder schlimmer. Mulder dachte diesen Gedanken gar nicht erst zu Ende, bevor er ihn verdrängte. Wenn Walter getötet worden wäre, und er es irgendwie geschafft hatte zu überleben, würde Jess Skinner ihn Stück für Stück auseinandernehmen, bis nichts mehr an ihm übrig war. Das wusste er ohne Zweifel. Jess war ohnehin bestimmt schon stocksauer auf ihn, weil er Walter in diesen ganzen Mist verwickelt hatte. Wenn Skinner es lebend da raus geschafft hatte, bestand die Möglichkeit, dass man ihn retten würde. Aber wenn nicht—Dulexy hatte gesagt, dass jemand dafür büßen würde, wenn er sein Geld nicht bekam. Wie sehr würde Dulexy ihn quälen wollen? Und würde er Mulder frei lassen, wenn Scully zahlte, oder war er jetzt wirklich am Ende seiner Straße angelangt?  Als das Hämmern in seiner Seite und seinem Kopf nicht aufhören wollte, stellte Mulder sich die Frage, wie er sich entscheiden würde, wenn er die Wahl hätte.

Mulder wusste nicht, wie lange er da schon saß. Er streckte sich unbehaglich, bevor er Schritte näher kommen hörte. Vorsichtig drehte er seinen Kopf zur Tür und wartete auf seinen Geiselnehmer.

Dulexy hatte stundenlang über sein großes Glück nachgedacht. Alles in allem, sagte er sich, hielt er sich für einen guten Typen. Er hatte dem Mädchen nie weh tun wollen, selbst als es sich heraus gestellt hatte, dass sie die falsche war. Er wollte nur sein Lösegeld und er hätte sie unversehrt gehen lassen. Aber jetzt seinen alten Knastkumpel zu haben, stand auf einem ganz anderen Blatt. Fox Mulder war Dulexy mit seinen Klugscheißer-Sprüchen, Agentengetue und seiner nervtötenden Art immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Jetzt sah Dulexy seine Chance, auch einen Treffer zu landen. Er wollte das Geld immer noch, und er würde es auch verdammt noch mal bekommen, aber die Gelegenheit, ein wenig Spaß mit seinem Preis zu haben war zu gut, um sie verstreichen zu lassen.

Jetzt näherte er sich dem Schlafzimmer. Mulder war wahrscheinlich inzwischen wach geworden und wunderte sich, wo er gelandet war. Dulexy hörte gedämpftes Ächzen aus dem Zimmer, wo sein Gefangener lag und er grinste in sich hinein. Mr. Reich-oh-so-toll-Mulder hatte keine Ahnung, welche Wendung sein Leben jetzt nehmen würde.

"Dulexy", raspelte Mulders Stimme, als der große Mann im Türrahmen stand.  "Wie schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Wir sollten uns mal zum Mittagessen treffen."

Dulexys Grinsen wurde breiter und er ging zum Fenster. Ohne ein Wort zu verlieren riss er die metallene Gardinenstange herunter, entfernte die modernden Fetzen, die noch daran hingen und drehte sich zu Mulder um. Ohne Vorwarnung schlug er ihm mit voller Wucht mit der Stange in den Bauch.

Es hätte vielleicht nicht so weh getan, wenn seine Rippen nicht schon vorher einen abbekommen hätten, aber so brannte der Schlag wie Feuer.  "Oof", machte Mulder und schnappte nach Luft. Er wartete auf den nächsten Schlag, doch der kam nicht.

"Ich wollte schon immer mit deinem Klugscheißer-Arsch den Boden wischen, Mulder", sagte Dulexy. "Sieht aus, als ob ich jetzt dazu komme."

"Ich dachte, du bist hinter meinem Geld her". Mulder versuchte seine Stimme standhaft zu halten, aber er bekam immer mehr Angst. Wenn Skinner oder Scully nicht bald kämen und ihn hier rausschaffen würden, könnte niemand sagen, was Dulexy alles mit ihm machen würde. //Ich bin zu alt für so was// flüsterte sein Unterbewusstsein. //Zu alt um den Launen eines Verrückten ausgeliefert zu sein.//

Dulexy lachte. "Oh, aber ich will das Geld ja. Viel davon. Die Nachfrage ist sogar noch gestiegen. Ich bin mir sicher, dass deine kleine Frau für dich mehr zahlen möchte." Er platzierte ein Ende der Stange an Mulders Hals und fuhr langsam damit an seinem Körper herunter. "Ich glaube, dass sie es in bar bereithalten wird, um dich zurückzukriegen.... was denkst du, hm?"

Mulder verzog innerlich das Gesicht, als die Stange seinen Unterleib erreichte, äußerlich aber ließ er sich nichts anmerken. Plötzlich durchfuhr es ihn wie der Blitz, als Dulexy das Metall in seinen Schritt bohrte.

"Ich habe dich gefragt, wie du darüber denkst", zischte Dulexy und Mulder kämpfte um seine Selbstkontrolle.

"Ich denke, dass du mich besser unversehrt wieder zurück bringst, du elender Hurensohn, oder sie reißt dir den Sack ab und steckt ihn dir in den Arsch", brachte er hervor. Dulexy schwang die Stange und prügelte einmal dermaßen auf Mulders Magen ein, dass es ihm den Atem raubte.

"Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir deine schlauen Sprüche schenken, Arschloch", hörte Mulder ihn im Schmerzenstaumel grollen.

Mulder antwortete nicht, er was zu sehr damit beschäftigt, krampfhaft Luft zu bekommen. Dulexy schmiss die Stange in eine Ecke und ging. Als er weg war, bearbeitete Mulder frenetisch die Knoten, die ihn fest hielten. Er drehte seine Hände hin und her in dem Versuch sie soweit zu lösen, dass er sich befreien konnte. Es wurde immer klarer, dass er die Begegnung mit diesem Teil seiner Vergangenheit wahrscheinlich nicht überleben würde.

 

Sonntag, 14.52 Uhr

Scully steckte ihren Kopf in Skinners Krankenhauszimmer. Jess döste neben ihm auf dem einzigen Stuhl in dem Raum, ihr dunkles Haar fiel in Wellen auf die Kopfstütze.

"Jess?" fragte Scully leise und berührte sie am Arm. Jess wachte auf und rieb sich schläfrig die Augen.

"Hi, Dana", sagte sie gähnend.

"Es tut mir Leid, dich zu wecken."

Jess schüttelte den Kopf. "Ist nicht schlimm, ich schlafe schon eine ganze Weile."
Scully nickte mit dem Kopf zu dem Mann auf dem Bett. "Wie geht es ihm?"

Ein kleines Lächeln huschte über Jess' Gesicht, nur um gleich darauf von Sorgenfalten ersetzt zu werden. "Nicht schlecht", sagte sie. "Die Ärzte sagen, dass er es schaffen wird, aber ich mache mir ein wenig Sorgen, weil er noch nicht aufgewacht ist."

"Das ist ganz normal, Jess. Er ist schwer getroffen worden, und mit den Medikamenten, die er zusammen mit den Schmerzmitteln bekommen hat, wird er wahrscheinlich noch einige Stunden schlafen."

Jess lächelte diesmal wirklich. "Ich weiß, Dana. Es ist nur.... sehr schwer zu warten."

Scully umarmte die Frau kurz, wobei sie Jess die Umarmung schutzsuchend erwidern fühlte.

"Ich habe ein paar Neuigkeiten", sagte Scully, als sie los ließ. "Ellery konnte den Entführer auf Fotos wiedererkennen."

Jess' Augenbrauen schossen fragend in die Höhe.

"Es ist jemand, der Mulder aus dem Gefängnis kennt. Er hat mit ihm für kurze Zeit eine Zelle geteilt."

Jess schüttelte den Kopf. "Was glaubst du wird er tun?" fragte sie. "Wird er Mulder...."

Scully sah ernst aus. "Ich muss ihn finden, Jess, und zwar bald. Dieser Mann, Justin Dulexy, er ist nicht einfach nur ein Zellengenosse von Mulder gewesen." Sie hielt einen Moment inne und kämpfte gegen die schreckliche Bedeutung ihrer nächsten Worte. "Es ist der Mann, der ihn fest gehalten hatte, als der Wärter ihn verprügelt hat. Dieser Mann hatte schon einmal bei einem Mordversuch an Mulder geholfen. Ich fürchte, dass...."  Sie biss sich auf die Lippe. "Die Polizei will die Sache auf ihre Art lösen, aber ich fürchte, dass sie ihn nur wütender machen werden, und dass Mulder dafür bezahlen muss."

Jess sah zu ihrem schlafenden Mann herüber. "Gibt es jemandem beim FBI, an den du dich wenden kannst, Dana?" fragte sie langsam. "Jemand, der dir helfen kann?"

Scully seufzte. "Ich weiß nicht, Jess. Vielleicht kann ich ein wenig recherchieren und versuchen, etwas Hilfreiches zu finden, aber ohne die Quellen des FBI zu meiner Verfügung.... wie auch immer, ich werde mich gleich mal umsehen. Ich wollte nur eben nach euch beiden sehen."

Jess lächelte müde. "Es geht uns gut", versicherte sie ihrer Freundin.  "Mein Mann lebt Gott sei Dank noch. Geh jetzt und versuche deinen zu finden, bevor es zu spät ist."

Scully nickte, umarmte Jess noch einmal freundschaftlich und verließ das Krankenhaus. Ihr erstes Ziel war die nächste Bücherei, um nach alten Zeitungsartikeln zu suchen.

Zwei Stunden später lehnte sich Scully gähnend auf ihrem Stuhl zurück und streckte ihre eingeschlafenen Glieder. Sylvia Styles. Justin Dulexy, dessen Entlassung aus dem Gefängnis ein kleiner Artikel in der Lokalzeitung gewidmet war, hatte eine Schwester namens Sylvia Styles, die immer noch hier in der Gegend lebte. Scully brauchte nur ein paar Minuten, um ein Telefonbuch zu finden und die Adresse der Frau ausfindig zu machen.

Es brauchte allerdings ein wenig länger, um das Gut der Styles zu finden, das weit draußen in einer ländlichen Gegend zwanzig Meilen von der nächsten Stadt entfernt lag. Als sie an dem Haus ankam, von dem sie sich relativ sicher war, dass es das richtig war, parkte sie ihren Wagen und sah sich aufmerksam um, bevor sie ausstieg. Das Haus war alt und ungepflegt, aber die Wiese war gemäht und jemand hatte ein Blumenbeet neben der durchgebogenen Treppe zur Veranda gepflanzt. Es sah aus, als ob die Anwohner zumindest versuchten, es schön auszusehen lassen. Scully fragte sich, ob Mrs. Styles einen Ehemann hatte, der ihr bei der Arbeit half.

Sie wurde gesehen, bevor sie überhaupt die Veranda erreicht hatte. Eine Frau in einem verblichenen Hauskleid und Sandalen stand vor ihr. Sie erschien sauber und ordentlich, wenn auch arm, und Scully fiel das Paradoxon auf zwischen dem heruntergekommenen Besitz und dem offensichtlich vergeblichen Versuch, dem verwahrlosten Grundstück entgegenzuwirken.

"Ms. Styles?" fragte sie vorsichtig. Sie wusste nicht ob die Frau sie freundlich empfangen oder weglaufen würde.
"Ja?"

"Mein Name ist Dana Mulder. Ich würde gerne ein paar Minuten mit Ihnen sprechen."

"Mulder?" Der Name erregte offenbar die Aufmerksamkeit der Frau. Scullys Herz hüpfte. Es sackte aber einen Moment später wieder zusammen, als die Frau fortfuhr. "Die Polizei war heute Morgen schon wegen Mr. Mulder hier.  Sie haben gesagt, dass mein Bruder ihn vielleicht entführt hat."

"Haben Sie mit der Polizei gesprochen, Ma'am?" fragte Scully höflich, und schrie die Frau innerlich an, sie solle ihr endlich sagen, wo sie ihn finden könnte.

"Klar hab' ich mit denen gesprochen. Hab' denen aber nix sagen können."

"Haben Sie ihren Bruder gesehen, seit er aus dem Gefängnis entlassen wurde?"

Sylvia zuckte die Schultern. "Er kommt und geht. Meistens ist er weg. Ich hab' ihn schon 'ne ganze Weile nich' mehr gesehen." Sie trat ein wenig näher zu Scully und betrachtete sie genau. Sie bemerkte die tiefen Ringe und den Augen der jüngeren Frau und die Sorgenfalten um ihren Mund. "Dieser Mulder.... ist er ihr Mann?"

Scully nickte traurig. "Ja, das ist er. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Bruder ihn letzte Nacht entführt hat. Ich habe gehofft, dass...."

Sylvia nickte verständnisvoll. "Ich weiß, Sie haben gehofft, dass ich Ihnen helfen kann, ihn zu finden. Tja, es tut mir Leid um Ihren Mann, aber ich fürchte ich kann Ihnen nicht helfen."

Scully drehte kurz ihr Gesicht zur Seite und biss die Tränen zurück, die drohten ausbrechen zu wollen. Sie hatte solche Hoffnungen in diesen Besuch gesetzt. Mit einem zitternden Seufzen bedankte sie sich. "Vielen Dank, Ms. Styles. Es war nett, dass Sie mit mir gesprochen haben."

Scully blickte sich um, während Sie das sagte, und als ihr Blick auf eine alte Scheune nicht weit von dem Haus entfernt traf, schöpfte sie neue Hoffnung.

"Ist es möglich, dass sich Ihr Bruder vielleicht ohne Ihr Wissen hier auf ihrem Grundstück versteckt?" wagte sie sich vor.

Sylvia folgte Scullys Blick und entblößte zwei Reihen gelber und krummer, aber intakter Zähne. "Sie glauben, dass Justin Ihren Mann vielleicht in meiner Scheune versteckt?"

Scully erwiderte nichts darauf, hielt aber dem Blick der Frau mit flehenden Augen stand.

Sylvia zuckte wieder die Schultern. "Okay, kommen Sie mit, wir können ja mal nachsehen", schlug sie vor und machte sich in die Richtung auf. "Wissen Sie, es ist lustig, dass sie das ansprechen", gab sie zu, als sie auf die klapprige Hütte zugingen. "Die Polizei hat heute morgen nich' mal gefragt, ob sie sich umsehen kann. Sie ham mich nur gefragt, ob ich weiß, wo Justin is. Dann sind se gegangen."

Scully presste die Lippen zusammen. Das waren unvollständige Ermittlungen, doch sie rief sich streng zur Ordnung. Sie hatte schließlich keine Befugnis mehr zu tun, was sie gerade tat. Walter war ausgefallen und sie waren der Gnade der örtlichen Vollzugsbeamten ausgeliefert.

Die beiden erreichten die Scheune und Sylvia hob den schweren Holzriegel, der die Türen verschlossen hielt. Eine Tür hing schief in den Angeln und quietschte laut, als sie sie aufmachten.

"Ich verwende das hier jetzt nur als Lagerraum", sagte Sylvia. "Ich habe schon seit Jahren kein Vieh mehr."

Scully sah auf die aufgestapelten Kisten und kaputten Möbelstücke, die in dem kleinen Gebäude herumlagen. "Darf ich mich hier ein wenig umsehen?" fragte sie und Sylvia nickte in Zustimmung.

Scully lugte in alle möglichen Ecken und Winkel, stieg vorsichtig die Leiter zum Heuboden auf, wobei sie auf die fehlenden oder locker sitzenden Sprossen achtete. Eine dicke Staubschicht bedeckte alles dort oben. Allem Anschein nach war hier schon lange niemand mehr gewesen. Enttäuscht stieg sie die Leiter wieder hinab.

"Zufrieden?" fragte Sylvia nicht unfreundlich, und Scully nickte.

"Danke, dass ich mich umsehen konnte", sagte sie und streckte freundlich ihre Hand aus. Sylvia sah sie für einen Moment komisch an, nahm dann aber ihre Hand und drückte sie.

"Ihr Mann... kannte er Justin im Gefängnis?" fragte sie neugierig.

"Ja."

"Das is lustig. Sie sehen gar nich' aus wie die Frau eines ehemaligen Sträflings."

Scullys Schultern sackten in sich zusammen. "Mein Mann wurde fälschlicherweise des Mordes überführt", erklärte sie. "Er wurde frei gelassen, als der wirkliche Mörder gefasst wurde." //Aber nicht bevor Ihr Bruder ihn fast umgebracht hatte!// schrie sie innerlich, aber sie schaffte es, sich nichts anmerken zu lassen. Sie konnte es sich nicht leisten, sich die Frau zur Feindin zu machen.

Scully blieb neben der Veranda stehen und bevor Sylvia die Treppe wieder hochgehen konnte, holte sie ihre Visitenkarte aus der Tasche. "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Ma'am, das ist meine Handynummer. Könnten Sie....  mich anrufen, wenn Sie irgendetwas sehen oder hören?"

Sylvia nahm die Karte und las sie. Dann steckte sie sie in die Tasche ihres Kleides. "Natürlich", bestätigte sie und sah zu, wie Scully über den Hof zurück zur Auffahrt ging.

"Ich hoffe, Sie finden Ihren Mann gesund wieder", rief Sylvia ihr nach, als Scully in ihren Wagen stieg. Scully nickte ihr dankend zu, fuhr rückwärts aus der Einfahrt und schlug den Weg nach Hause ein. Sie musste einen anderen Weg finden zu ermitteln, und zwar bald.

Sylvia sah wieder auf die Karte, als sie hineinging. Die Frau schien sehr nett zu sein. Nur wenige Leute nannten sie heutzutage noch ohne einen sarkastischen Unterton 'Ma'am'. Wenn sie ehrlich war, mochte sie die Frau von Justins Gefangenem sogar. Sehr. Sie dachte über ein Versteck für das Kärtchen nach. Sie öffnete eine der Schubladen in der Küche und legte es unter den Besteckkasten. Sie wollte Justin nicht verraten, konnte die Karte andererseits aber auch nicht einfach so weg werfen. Justin hatte sie gebeten, kein Wort über den Mann zu verlieren, den er versteckt hielt und über die Tatsache, dass es ein weiteres Haus, von der Straße nicht zu sehen und von vielen der hier lebenden Leute vergessen, auf ihrem Grundstück gab.  Und das hatte Sylvia getan. Es reicht nicht aus, um deine Möglichkeiten auszuschöpfen, sagte sie zu sich und widmete sich wieder dem Fernsehprogramm. Besonders wenn man es mit Leuten wie Justin Dulexy zu tun hat.

 

Sonntag, 15.07 Uhr

Mulder rutschte soweit es ging hin und her und versuchte zu ignorieren, dass seine Blase ihm ununterbrochen zusetzte. Er hatte schrecklichen Hunger und noch schlimmeren Durst. Er musste schon über zwölf Stunden hier sitzen, und es war immer noch keine Rettung in Sicht. Er hatte versucht, die Seile, mit denen seine Hände zusammengehalten wurden, loszubekommen, doch es hatte ihm nichts als blutige Handgelenke eingebracht. Einmal hatte er den Eindruck gehabt, dass die Knoten ein wenig nachgaben, doch das war wohl nur Einbildung gewesen.

Dulexy war nur noch einmal zu ihm zurück gekommen. Er hatte Bier aus der Dose getrunken und Mulder hatte sich die Lippen vor Durst geleckt. Wasser wäre natürlich besser, aber in dem Moment wäre ihm alles recht gewesen. Andererseits, dachte er mit Hinblick auf seine volle Blase, wäre Flüssigkeit nicht unbedingt eine gute Idee.

Er hatte Dulexy sogar gebeten, ihn loszumachen, damit er auf Toilette gehen konnte, doch der hatte ihn nur frech angegrinst.

"Mach dir eben in die Hosen", hatte er knapp geantwortet, bevor er wieder verschwunden war. Mulder überlegte, ob er es letztendlich nicht einfach tun sollte.

Seine Muskeln taten unsäglich weh, seinem Bauch, wo Dulexy ihn getroffen hatte, ging es auch nicht besser, was die Blasen-Angelegenheit nicht gerade erleichterte. Mulder begann sich zu fragen, wie lange er es aushalten konnte, bevor Scully und Skinner endlich ankamen. Er war nicht mehr der Jüngste, sagte er sich, und obwohl er immer noch gut in Form war, konnte ein einundfünfzig-jähriger Körper nur tolerieren, was ein einundfünfzig-jähriger Körper aushalten konnte.

Er schloss die Augen und betete, dass er bald erlöst werden würde. Nicht lange und er fiel in einen ruhelosen Schlaf.

 

Sonntag, 16.00 Uhr

Sie riss das Telefon beim ersten Klingeln von der Basis.

"Ja?" bellte sie.

Dulexy lachte. Seine Verzögerungstaktik hatte offensichtlich seine Wirkung -- das Miststück war wütend.

"Ich habe ihn."

Er hörte sie für einige Sekunden schwer atmen.

"Ist er verletzt?"

Dulexy grinste in sich hinein. "Oh, er ist nicht in bester Form, aber er wird's überleben. Wenn Sie sich an die Spielregeln halten."

"Was wollen Sie?" verlangte sie und er war erfreut über ihren Mut.

"Drei Millionen Dollar."

"Drei?" Ihr Ton war kühl. "Ich dachte, es seien zwei."

"Der Preis ist gestiegen, während ich gewartet habe." Er tippte mit dem Finger auf den Tisch, als er auf ihre Antwort wartete.

"Woher weiß ich, dass er lebt? Ich will mit ihm reden."

Seine Augenbrauen schossen bei dieser Antwort in die Höhe. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte gedacht, sie würde ihm alles versprechen, um Mulder wiederzubekommen. Nein, so was hatte er überhaupt nicht erwartet. Sie hatte nicht den Eindruck gemacht, hart wie Stahl zu sein, als er sie aus der Ferne beobachtet hatte. Er hatte sich offenbar geirrt.

"Hören Sie, Lady, ich stelle hier die Regeln. Entweder Sie bezahlen, oder er stirbt, und zwar nicht eines schnellen und einfachen Todes. Wollen Sie wirklich, dass der nette Reiche Mann das durchmachen muss?"

Scullys Hand schloss sich schmerzhaft um den Telefonhörer. Sie sah zu Officer Allen für ein Zeichen, dass der Anruf erfolgreich zurück verfolgt wurde. Er hatte es noch nicht gegeben.

"Ich glaube nicht, dass Sie das machen werden", sagte sie ruhig.  Verzweifelt versuchte sie, ihm am Reden zu halten. "Ich glaube nicht, dass Sie wieder wegen Mord ins Gefängnis wollen. Dieses Mal erwartete Sie die Todesstrafe, das wissen Sie genau."

Er lachte wieder, tief in seiner Kehle.

"Ich weiß, was Sie tun, Lady, aber es funktioniert nicht. Wenn er Ihnen etwas bedeutet, lassen Sie von jetzt an die Polizei und das FBI aus dem Spiel. Ich rufe wieder an, aber ich warne Sie—er wird dafür leiden müssen."

Das Klicken in ihrem Ohr wirkte so endgültig.

 

Sonntag, 18.15 Uhr

Dulexy ging im Zimmer hin und her und warf Mulder wütende Blicke zu. Mulder beobachtete ihn misstrauisch. Die Schmerzen machten ihn fast bewusstlos, doch er weigerte sich nachzugeben, solange sein Entführer so nahe war.

"Deine dreckige kleine Frau wird noch lernen, auf mich zu hören", grollte Dulexy und Mulder unterdrückte ein Zittern. Er hatte durch Dulexys Verhalten geschlossen, dass er Geld gefordert hatte und Scully sich nicht kooperativ gezeigt hatte. Während ein Teil von ihm erkannte, dass Scully das Geld nicht zahlen wollte, weil sie befürchtete, dass Dulexy ihn tötete, sobald es übergeben war, wünschte sich ein anderer Teil von ihm, sie möge das verdammte Lösegeld bezahlen, damit er endlich hier raus kam. Egal wie sie sich entscheiden würde, er konnte ihr ihre Planung nicht verübeln. Sie versuchte nur, Zeit zu gewinnen, was Mulder zeigte, dass sie alles tat, um ihn zu finden.

"Du bedeutest ihr am Ende wohl doch nicht so viel, Reicher Mann", spottete Dulexy. "Hat dich wegen deinem Bankkonto geheiratet, was? Ich wette, dass du eine Frau wie sie nicht mal flach legen kannst. Vielleicht werd' ich der Alten mal zeigen, wie sich ein richtiger Mann anfühlt, wenn ich mit dir fertig bin."

Mulder presste wütend die Lippen zusammen, aber er war fest entschlossen, sich nicht von Dulexys psychischen Provokationen aus der Ruhe bringen zu lassen. Er versuchte, nicht zu wimmern, als Dulexy wieder mit der Stange auf ihn zukam, aber der Blick in seinen Augen war fürchterlich. Er schloss die Augen und wartete auf den ersten Schlag. Als er fiel, konnte Mulder unmöglich einen -Aufschrei unterdrücken. Es dauerte nicht lange und seine Mitte war vollkommen grün und blau geschlagen—ein einziger Klumpen gefolterter Nervenenden—und er wusste beim besten Willen nicht, wie viel er davon noch ertragen konnte. In seinem Schritt pulsierte es immer noch von dem Schlag in den Morgenstunden. Glücklicherweise schien Dulexy jetzt die Gnade zu haben, diese Stelle zu meiden.

"Ich will dich winseln hören, Mulder." Dulexy grinste er, als die metallene Stange unbarmherzig wieder und wieder auf dieselbe Stelle fiel, bis Mulder sicher war, dass er von diesen Höllenqualen verrecken würde. Seine Innereien müssten inzwischen nutzlose Matsche geworden sein, so oft wie Dulexy seinen Unterleib attackierte, und er fragte sich, warum er ihn nicht woanders hin schlug. "Jetzt gehen dir deine Klugscheißersprüche aus, was, Mister Reicher Hurenbock, der in seiner eigenen Pisse liegt? Bettele mich an aufzuhören und ich werd' drüber nachdenken."

"Lieber.... sterb ich.... bevor ich.... dich um.... irgendwas.... bitte, du sadistischer Bastard!" brachte Mulder zwischen den Schlägen hervor. Seine Handgelenke ruckten jedes Mal gegen seine Fesseln, und seine Hände verlangten danach, sich zu Fäusten zu ballen und sich geradewegs in Dulexys hässliche Fratze zu bohren. Aber er konnte nichts weiter tun, als sich zu winden in einem fruchtlosen Versuch, der Stange auszuweichen, die auf seine Mitte niederprasselte.

Endlich, endlich schien Dulexy seines Spiels müde zu werden. Er warf die Stange beiseite, fasste mit den Händen rechts und links von Mulders Gesicht an und riss seinen Kopf hoch, bis sie Nase an Nase waren. Mulder spürte, wie sich die Muskeln in seine Armen vehement gegen diese Position wehrten, sagte aber nichts und starrte mit allem Mut, den er aufbringen konnte, in Dulexys schwarze Augen.

"Du wirst winseln wie ein Hund, solange ich noch nicht mit dir fertig bin", sagte Dulexy zuversichtlich mit dem Anflug eines kalten Lächelns. "Du wirst alles tun, was ich sage."

Er ließ los und Mulders Kopf fiel zurück gegen das hölzerne Bettgestell.  Schwer atmend sah Mulder hoch zu ihm, und weigerte sich darauf irgendetwas zu antworten.

"Vielleicht überzeugt es deine Schlampe, wenn ich anfange, dich in Stücke zu teilen und sie ihr zuschicke. Ein Finger vielleicht, oder ein Zeh für den Anfang", überlegte er. Dieses Mal bekam es Mulder wirklich mit der Angst zu tun. Dulexy grinste wieder.

"Ja, ich glaub' das ist eine hervorragende Idee", prahlte er. "Ich muss ihr nur klar machen, dass ich keine Spielchen spiele."

"Wenn sie dich bezahlt, und ich nicht lebend zurück komme, wird sie dich jagen und umlegen", keuchte Mulder trotz des brennenden Schmerzes fast überall an seinem Körper.

"Sie bekommt dich lebend wieder", gab Dulexy zurück und ging zur Tür. "Es liegt bloß an ihr, wie viel von dir übrig sein wird."

Gellend vor Lachen verschwand er im Flur.

Mulder fühlte das feuchte Blut an seinen Händen und Handgelenken. Wie Feuer schoss der Schmerz dadurch, als er erneut resolut an seinen Fesseln rupfte.  Er musste einfach weg hier. Selbst wenn Scully und Skinner nach ihm suchten, würden sie ihn vielleicht nicht finden, bevor es zu spät ist.  Dulexy war viel durchtriebener als im Gefängnis, und damals war er schon furchterregend gewesen.

Wenigstens ging es seiner Blase wieder besser, wenn auch nicht seine Kleidung. Beschämt dachte er daran, wie er endlich dem enormen Druck nachgegeben hatte und erinnerte sich an die Mischung aus Erleichterung und Ekel, die er empfunden hatte. Dulexy hatte die ganze Sache natürlich äußerst belustigend gefunden, aber was Mulder noch viel mehr Sorgen machte als die Erniedrigung sich selbst zu benetzen wie ein Baby, war der Hunger und vor allem der unglaubliche Durst, der ihn plagte. Er hatte seit vierundzwanzig Stunden weder etwas zu essen noch zu trinken bekommen, so dass ihm seine innere Stimme inzwischen permanent wegen dieser Tatsache anschrie.

Er war sich außerdem der zahlreichen Blutergüsse und Prellungen bewusst, die Dulexy ihm mit dieser verdammten Gardinenstange beigefügt hat. Es war schon erstaunlich, dass man jemandem mit einem solch leicht aussehenden Gegenstand derartige Schmerzen zufügen kann. Andrerseits war die Stange nicht stark genug, um ernsthaften Schaden anzurichten—zumindest dachte er so... sein Unterleib war immer noch sehr empfindlich und Mulder hoffte, dass es nur von den äußerlichen Verletzungen herrührte, anstatt von Schlimmerem auszugehen. Er war sich ziemlich sicher, dass er zudem eine gebrochene Rippe hatte von was auch immer ihm passiert war, bevor er aufgewacht war. Es fühlte sich an, als ob ihn jemand in die Seite getreten hätte, und er war sich ziemlich sicher, dass es so gewesen war.

Mulder ignorierte die Schmerzen in seinen zerrissenen Handgelenken und bemühte sich grimmig wieder darum, sich zu befreien. Er musste weg, bevor Dulexy seine letzte Drohung wahr machte.

 

Sonntag, 23.32 Uhr

Er hörte, wie sich Schritte näherten. Dieses Mal waren es leichtere als Dulexys und für einen Moment glaubte er, dass Scully kam, um ihn zu retten.  Doch es waren nicht ihre Schritte—er würde sie überall heraus erkennen.  Scully ging leichtfüßig, rasch und bestimmt. Diese Person hatte einen schwereren Gang als Scully (obwohl nicht so schwer wie Dulexys Schlurfen) und bewegte sich langsam und vorsichtig. Diese Person, erkannte Mulder, schlich sich an.

Es dauerte ganze zwei Minuten, bis er das Gesicht in der Türe sah, erleuchtet vom hellen Mondschein. Es war eine Frau, Mitte fünfzig, ihr langes graues Haar in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Mulder fuhr lautlos zusammen, als sie sich ihm näherte. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen und er nickte leicht, um ihr zu bedeuten, dass er verstand. Sehr leicht. Das Hämmern in seinem Kopf war schwächer geworden, aber es war noch lange nicht weg, und er wollte es nicht provozieren.

Äußerlich verhielt er sich ruhig, aber sein Herz begann zu rasen; endlich Rettung! Die vielen Stunden des Reißens an seinen Fesseln hatten nur dazu geführt, dass sich seine Handgelenke verdreht hatten. Er zog vergeblich daran und bat sie im Stillen, ihn loszubinden. Sie kniete sich langsam neben ihn, bis sie sich Auge in Auge gegenüber waren. Bevor er sein Flehen in Worte fassen konnte, sah er ein Stück von Himmel in ihrer Hand. Ein Glas Wasser.

"Justin ist eingenickt", flüsterte sie grimmig. "Ich wollte Ihnen das bringen. Wenn er es herausfindet, ist der Teufel los."

"Bitte", flüsterte er schwach zurück, seine Augen klebten immer noch an dem Glas, "könnten Sie mich losbinden?"

Seine Hoffnung sank, als sie ihren Kopf wild hin und her schüttelte. "Das geht nicht!" sagte sie, und ihre kaum hörbare Stimme klang ängstlich.  "Justin würde mich umbringen!"

"Bitte, Ma'am", flehte er und seine Augen füllten sich mit Tränen der Verzweiflung. "Bitte, er wird *mich* umbringen."

Sie führte das Glas an seine Lippen und hielt seinen Hinterkopf mit ihrer anderen Hand, während er begierig das Wasser schlürfte. Als das Glas halb-leer war, zog sie es weg.

"Nich...." stöhnte er und lehnte sich vor.

"Schhhh!" flüsterte sie heftig. "Wenn er aufwacht...."

Mulder biss sich frustriert auf die Lippen. Sie setzte das Glas wieder an und er konnte zu Ende trinken. Als er auch den letzten Tropfen daraus geleert hatte, zog sie es wieder weg und wischte ihm den Mund ab.

"Danke", murmelte er leise.

"Ich mache das nur, weil Ihre Frau heute Nachmittag sehr nett zu mir war."

Mulder verschluckte sich fast vor Schreck. "Scully war hier?"

Sie hob den Kopf. "Den Namen kenne ich nicht. Sie war rothaarig und sie sagte, ihr Name sei Mulder. So wie Ihrer."

Er nickte einmal heftig und kniff dann die Augen zusammen, um gegen das Stechen in seinem Kopf zu kämpfen.

"Bitte....bitte sagen Sie ihr, wo sie mich finden kann."

Er erhielt keine Antwort. Als er seine Augen wieder aufmachte, sah er, dass die Frau aufgestanden war. Sie war bereits wieder heimlich auf dem Weg aus dem Zimmer, als seine Stimme sie aufhielt.
"Ma'am?"

Sie drehte sich um.

"Könnte ich bitte etwas zu Essen haben?" er achtete darauf, dass er leise sprach aus Angst, Dulexy könnte wach werden und seine Wohltäterin entdecken.

Sie sah ihn für einen Moment an und schüttelte dann bedauernd den Kopf.  "Das kann ich nicht riskieren", sagte sie und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

 

Montag, 8.04 Uhr

"Sagen Sie Ja zu allem, was er fordert", wies Officer Allen sie an und übergab ihr den Telefonhörer. "Wir werden rechtzeitig eingreifen."

Scully nickte. Sie war nicht sehr überzeugt von dieser Strategie, aber ihr fiel momentan auch keine bessere ein. Walter war immer noch bewusstlos und die Männer hier waren nicht im Geringsten beeindruckt, dass sie vor zehn Jahren eine geschätzte FBI-Agentin gewesen war. Für sie war sie lediglich die Frau eines Entführungsopfers, zwar weniger hysterisch als die meisten, aber dennoch eine normale Bürgerin.

"Hallo?" meldete sie sich leise und wartete das schwere Atmen am anderen Ende ab. Sie musste Dulexy dieses Mal länger in der Leitung halten, damit sie endlich den Anruf zurück verfolgen konnten.

"Sie wollen ihn wiedersehen?" Die Stimme war harsch und etwas lallend und Scully fiel auf, dass Dulexy getrunken haben musste. Das könnte ihre Aufgabe erleichtern—das erste Mal in dieser ganzen Sache, dass etwas einfacher wurde, sagte sie sich und schöpfte neue Hoffnung.

"Ja. Geht es ihm gut?" Sie versuchte, nur bedingt besorgt zu klingen—

Dulexy musste ja nicht wissen, dass sie vor Sorge fast umkam. So viel Stress lag ihr einfach nicht. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der sie darüber gestanden hätte, weil es ein Teil der Gefahren waren, mit der sie jeden Tag fertig werden musste, aber in den letzten zehn Jahren hatte sich Scully an Normalität gewöhnt.

"Hmmm.... er ist nicht glücklich, aber er lebt."

"Was haben Sie mit ihm gemacht?" wollte sie wissen.

Er ging nicht auf sie ein. "Wenn Sie ihn wiederhaben wollen, müssen Sie meine Befehle befolgen. Und keine Tricks diesmal. Ich will immer noch drei Millionen."

Sie zögerte so lange sie sich traute. "Okay", hauchte sie, "drei Millionen."

"Bringen Sie es zu demselben Ort wie letztes Mal. Unterm Pavillon im Soldier Park, heute Mittag. Bei diesem Regen sollte niemand draußen sein.  Wenn ich auch nur einen Bullen in der Nähe sehe, muss dein süßer Junge dafür büßen."

Er legte auf bevor sie antworten konnte, und Officer Allen schüttelte auf ihren fragenden Blick hin bedauernd den Kopf. Scully verkniff sich das obszöne Wort, das ihr beinahe entwichen wäre. Jetzt die Beherrschung zu verlieren würde Mulder auch nicht weiterhelfen.

"Die gleiche Übergabestelle. Heute Mittag", sagte sie kurz angebunden.
"Mittag?" fragte Allen mit einem Lacher. "Ist der bescheuert, der Idiot?"

Scully warf ihm einen bösen Blick zu. "Was immer er auch ist, er hat meinen Mann", erinnerte sie ihn kalt. "Dieses Mal dürfen wir es nicht vermasseln."

Allen nickte und begann sofort, seine Leute anzuweisen, sich im Soldier Park zu postieren.

 

Aus der Ferne sah Dulexy zu, wie die Undercover-Agenten unauffällig ihre Plätze einnahmen. Dulexy war schon im Park gewesen, als er den Anruf gemacht hatte. Jetzt schüttelte er den Kopf über die Blödheit, die manche Leute an den Tag legten. Er kroch leise zurück zu der Stelle, wo er seinen Truck abgestellt hatte. Diese dumme Kuh würde entweder lernen, seine Anweisungen zu befolgen, oder er würde sogar noch mehr Spaß mit Mulder haben, als er eigentlich geplant hatte.

 

Montag, 13.05 Uhr

Dulexy kam zurück.

Mulder hörte, wie die Eingangstür zugeschlagen wurde und das ganze Haus dadurch erschütterte. Er zitterte. Langsam ließ er seine Finger über die Seile gleiten, die immer noch seine ausgemergelten Hände zusammen hielten und zog halb-herzig daran. Es hatte keinen Sinn. Er hatte sowieso keine Kraft mehr für Befreiungsversuche. Er ertappte sich bei der Hoffnung, dass worüber Dulexy auch wütend war, er wütend genug war, um seinen Gefangenen umzubringen.

Er schloss die Augen, weil er nicht sehen wollte, wie Dulexy in das Zimmer stürmte, aber seine Lider flogen wieder auf, als er ihn an den Haaren packte und schmerzhaft seinen Kopf zurück riss.

"Dieses Drecksstück!" Seine kalten, schwarzen Augen blitzten, als er Mulder, hilflos und erschöpft, von oben herab ansah.

Mulder sah im einfach nur zu, denn was immer er sagen könnte, es würde ihm noch  mehr Torturen einbringen.

"Dieses *Drecksweib*!" fluchte er abermals, doch dieses Mal brachte er Mulder zum Schreien, als er zur Betonung des Schimpfwortes mit voller Wucht auf Mulders zermarterten Brustkorb schlug.

Dulexy besah sich seinen Gefangenen und ein wissendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Mulder starrte benebelt zurück. Er rang nach Atem und bekam es mit der Angst zu tun, weil das kalte Lächeln alles Mögliche bedeuten konnte—alles erdenklich Grausame.

"Ich glaube", sagte Dulexy dann mit zur Seite gelegtem Kopf, "dass sie langsam etwas bekommen sollte, das sie immer an dich erinnert."

Schnell verließ er den Raum und Mulder fand plötzlich neue Kräfte, um seine Fesseln zu bearbeiten. Das klang nicht gut. Nein, das klang überhaupt nicht gut. Mit wachsenden Kräften und gestärkt durch eine Scheißangst erkannte Mulder, dass er nicht bereit war zu sterben. Noch nicht.

Dulexy kam gleich darauf zurück, bevor Mulder überhaupt die Gelegenheit hatte, seine Hände noch blutiger zu reißen, was vermutlich gut war, dachte er rückblickend. Wenn Dulexy sah, dass er versuchte zu entkommen, würde er die Schere, mit der er zurückkam, womöglich geradewegs in sein Herz rammen, anstatt seine Haare abzuschneiden.

Der Ex-Sträfling hielt Mulders Kopf fest, indem er eine große Hand auf sein Kinn presste und ihn somit gegen das Bett drückte. Mulder konnte kaum atmen, so stark war der Druck, aber seine größte Sorge war die scharfe Schere in Dulexys anderer Hand, die er näher und näher an seinen Kopf bewegte. Für einen schrecklichen Moment dachte Mulder, Dulexy würde ihm ein Auge ausstechen, doch der grinste wieder so eiskalt und begann, ihm ungleichmäßig die Haare abzuschneiden.

Mulder hielt vollkommen still, denn wenn er sich bewegen würde, und Dulexy ihm in den Kopf schneiden würde, würde die Wunde keinesfalls medizinisch versorgt werden. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine blutende Kopfwunde auf der Liste seiner Verletzungen. Dulexy drehte seinen Kopf hin und her und schnitt ihm so viele Haare wie möglich ab—manchmal direkt an seinem Schädel, manchmal ließ er einen oder zwei Zentimeter stehen. Mulder seufzte innerlich. Der kleine Teil in ihm, der noch daran glaubte, dass er lebend hier rauskommen würde wusste, wie empört Scully hierüber sein würde. Sie war vor ein paar Monaten schon durchgedreht, als er sich einen Igel hatte schneiden lassen. Seine Haare waren gerade erst wieder zu ihrer Zufriedenheit gewachsen, und jetzt das! Er hatte sich den Igel nur schneiden lassen, weil es im Sommer so heiß war, hatte er ihr erklärt. Sie hatte geantwortet, dass sie es mochte, mit den Fingern durch seine Haare zu streichen, während sie sich liebten (eine Beobachtung, die im Übrigen geradewegs Auswirkungen in südlicher Richtung gezeigt hatte). Als er das gehört hatte, hatte er geschworen, dass er sich die Haare nie wieder so kurz schneiden lassen würde.

Jetzt saß er still und sah zu, wie Dulexy die mit grau durchzogenen braunen Strähnen vom Boden aufsammelte. Dulexy ging kurz weg und kam dann mit einem kleinen Karton wieder.

//Eine Verpackungsbox von Church's Fried Chicken, Mulder. Deine Haare werden nach abgestandenem Fett stinken, wenn Scully sie das letzte Mal sieht.//

Dulexy legte alle Haare in den Karton und ging mit einem weiteren kalten Lächeln zur Tür.

Dort angekommen hielt er inne und drehte sich zu seinem Gefangenen um. Er schüttelte den Kasten in seiner Hand und Mulder konnte fast die Haare an dem Karton kratzen hören.

"Wenn sie das nicht überzeugt, das Geld rauszurücken, wird wohl ein Finger als nächstes an der Reihe sein", sagte er beiläufig. Er wartete auf eine Reaktion, aber der gleichgültige Gesichtsausdruck seines Gefangenen fand in dieser Hinsicht nicht seine Zufriedenheit. Er schüttelte die Box noch einmal und verließ den Raum. Er musste sein Geschenk versandfertig machen.

Mulder behielt seinen Blick aufmerksam auf seinen Entführer, bis er durch die Tür verschwunden war. Erst dann erlaubte er sich, neben sich auf den Boden zu gucken.

Dulexy hatte die Schere vergessen.

Sie lag verlockend auf dem Boden, das Chrom glänzte im Sonnenlicht. Rasch überlegte Mulder, was er tun könnte. Wenn er sie unter dem Bett versteckte, würde Dulexy sie sofort sehen. Das Bett war altmodisch und stand mindestens 40 cm über dem Boden. Es gab keine Decken oder Laken, die sie verdecken könnten. Wenn er es schaffen würde, sie in die Nähe seiner Hände hinter seinem Rücken zu schieben, würde Dulexy sie womöglich ebenfalls sehen. Das einzige, was funktionieren konnte war, sich auf sie zu setzen. Mit ein wenig Glück (und das musste er doch endlich mal bekommen, oder nicht?) würde er sie gut versteckt vor Dulexys oftmals glasigem Blick halten können.

Als erstes stellte sich jedoch die Frage, wie er sie am besten unter seine Hände oder Füße oder was auch immer kriegen könnte. Dulexy war Rechtshänder, und er hatte sich zu Mulders Linken auf den Boden gekniet, als er ihm die Haare abgeschnitten hatte. Als er damit fertig geworden war, hatte er sie zu seiner Rechten abgelegt, was bedeutete, dass sie ungefähr einen halben Meter von ihm weg lag. Fünf kleine Dezimeter, die unüberwindbar schienen. Für einen Moment entmutigt, zog er es fast in Betracht aufzugeben. Doch dann schlug die Wirklichkeit auf ihn ein.

//Du wirst hier verrecken, Mulder!// hämmerte sein Unterbewusstsein. //Du wirst Scully nie wieder sehen, und Emmie auch nicht, wirst nie wieder aus diesem dreckigen, dunklen, einsamen Loch kommen. Es sei denn, mein Freund, du nutzt die Gelegenheit.//

Mulder schluckte hart und musste zugeben, dass sein Unterbewusstsein recht hatte. Dulexy hatte nicht vor, ihn wieder frei zu lassen, selbst wenn Scully das Lösegeld zahlte. Der Mann hatte schon einmal getötet—er würde wieder töten, und Mulder vermutete, dass es Dulexy großen Spaß machen würde, *ihn* umzubringen.

Also, jetzt oder nie.

Weil seine Hände ganz taub und seine Schultern vom vielen Reißen an dem Strick mürbe geworden waren, waren seine Beine wohl seine einzige Hoffnung.  Seine Füße waren zusammengebunden, aber sonst waren sie nicht festgemacht.  Er konnte sie immer noch bewegen. Um sie zu testen, bewegte er sie ein wenig und verbiss sich ein Aufstöhnen, als die Schmerzen in seiner Seite aufloderten. Seine restlichen Verletzungen waren oberflächlich, das wusste er, obgleich sie keineswegs weniger weh taten. Aber jetzt hatte er keinen Zweifel daran, dass er eine gebrochene Rippe hatte. Er konnte es bei jeder Bewegung fühlen.

Langsam, und schwer und gleichmäßig atmend behielt Mulder die Tür im Auge und drehte sich zur Seite, um an das Objekt heranzukommen. Er würde seine Beine Stück um Stück gleichmäßig bewegen müssen. Er schaffte es sowieso nur in kurzen, heftigen Rutschbewegungen, so schwach war er vom Hunger, Durst und seinen Verletzungen geworden. Stück um Stück rückte er näher zu seinem Preis.

Endlich, nach vielen kleinen Fortschritten berührten seine Füße die Schere.  Mulder streckte sich, dass er praktisch auf der Seite lag. Doch sein Freudentaumel starb einen schnellen Tod, als er Schritte hörte. Dulexy näherte sich dem Schlafzimmer. Er würde ihn in dieser verräterischen Position sehen, zudem verdeckten seine Beine kaum die Schere! Er unterdrückte ein Wimmern. Er hatte keine Zeit mehr, sich in seine Ausgangslage zu bringen. Wenn Dulexy ihn jetzt sehen würde, würde er teuer dafür bezahlen müssen.

Die Schritte kamen näher. Mulder hielt den Atem an und kniff die Augen zusammen. Plötzlich war das Geräusch verschwunden. Er öffnete einen Spalt breit die Augen und erwartete, Dulexy wutschnaubend im Türrahmen stehen zu sehen. Doch er war immer noch allein. Jetzt hörte er die Schritte wieder, aber dieses Mal wurden sie leiser. Mulder ließ erleichtert die Luft aus den Lungen. Er hatte ein paar Minuten gewonnen.

Er strengte sich weiter an und schaffte es, wieder stückchenweise die Schere mit seinem rechten Fuß zu sich zu ziehen. Er verzog das Gesicht, als sie über den Boden kratzte und hielt lauschend inne. Dulexy schien nichts bemerkt zu haben. Noch ein kräftiger Zug und die Klingen waren fast unter ihm. Er konnte seine Beine nicht enger an seinen Rumpf ziehen, also versuchte er, nachdem er sich mühevoll in seine Ausgangposition gehechtet hatte, die Schere mit seinen Fingern zu erreichen.

Sie lag zu weit. Ihm fehlten keine fünf Zentimeter.

Mulder versuchte nun, mit seinem Hintern zur Schere zu rutschen und dieses Mal entwich ihm ein lautes Keuchen. Die Anstrengungen hatten die Schmerzen in seiner gebrochenen Rippe verschlimmert, und er musste sich zurück an das Bettgestell lehnen, um auszuruhen und hungrig so viel Luft wie möglich einzusaugen. Er warf einen Blick zurück zu der Schere, die immer noch von allen Seiten sichtbar auf dem Boden lag. Er nahm sich vor, die brennenden Stiche auszuhalten und biss sich fest auf die Unterlippe, denn vielleicht würde der Schmerz dort ihn von dem in seiner Seite ablenken, und zwang seinen Rumpf einen kleinen Hüpfer in Richtung der Schere zu tun.

Er konnte seinen Aufschrei verdrängen, als er auf dem harten Boden aufkam, aber er spürte, wie sich Tränen in seinen Augen formten. Allerdings hatte er Fortschritte gemacht - er war seinem Ziel näher als zuvor. Mulder erlaubte sich ein paar Sekunden Pause und hüpfte noch einmal. Fast hätte er aufgejault, als sein Hintern geradewegs auf den metallenen Klingen landete.  Der plötzliche Adrenalinschub, den sein Erfolg ihm einbrachte, gab ihm die Kraft, sich wieder zurück in die Position zu manövrieren, in der Dulexy ihn das letzte Mal gesehen hatte. Dort fiel er völlig erschöpft in sich zusammen.

Kurz bevor er das Bewusstsein verlor, spürte er Feuchtigkeit von seinen Handgelenken tropfen. Sie hatten wieder zu bluten angefangen.

 

Montag, 20.57 Uhr

Mulder hob schwächlich den Kopf, als Dulexy zurückkehrte. Er fragte sich, was jetzt wieder passiert war, und was er dieses Mal mit ihm vor hatte. Das Wasser, das er letzte Nacht trinken durfte, war viel zu wenig gewesen, und sein Durst und Hunger tobten wieder. Erschrocken riss er die Augen auf, als er erkannte, dass Dulexy betrunken und rasend vor Wut war. Offenbar war er die Gardinenstange leid, denn jetzt hatte er ein schweres Stahlrohr, etwa einen halben Meter lang, in der Hand. Es sah fast so aus, wie das....

Als Dulexy sich ihm mit dieser Waffe näherte, schossen Mulder Bilder aus seiner Gefängniszeit durch den Kopf. Dulexy war ein großer Mann, viel größer als er selbst, und er war so vollkommen hilflos in seinem Griff gewesen. Der Wärter, der auch nicht gerade schmächtig gebaut war, war so richtig schadenfroh gewesen. Dulexy hatte ihm den Mund mit seiner Riesenpranke zugehalten, und Mulder hatte in Horror zusehen müssen, wie das Rohr wieder und wieder auf seinen wehrlosen Körper prasselte, bis er schließlich bewusstlos gegen Dulexy zusammengebrochen war. Er war sich sicher gewesen, dass er es hinter sich hatte.

Jetzt kam er sich genauso vor. Mühsam schluckte er das letzte Bisschen Spucke, das sein Mund vor lauter Angst noch produzieren konnte. Er würde das nicht noch einmal durchstehen können. Es ging einfach nicht.

Dulexy türmte sich mit vor Wut glänzenden Augen über ihm auf und sein Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, als er das Rohr in seiner Hand wiegte.

"Sieht ganz so aus, als wären wir wieder am Anfang unserer Reise, alter Freund", sagte er schmeichelnd und hob das Rohr über seinen Kopf.

Mulder zuckte zurück und versuchte verzweifelt sich aus dem Weg zu winden, als der Stahl auf ihn herab sauste. Doch jegliche Bewegung war untersagt.  Er war ein perfektes Ziel für Dulexys Zorn.

Der erste Schlag traf ihn auf seinen bereits arg mitgenommenen Unterleib.  Der Schrei, der ihm eigentlich hätte entweichen müssen, wurde gestillt, weil ihm sämtliche Luft aus den Lungen gerissen wurde. Bevor Mulder einatmen konnte, fiel das Rohr wieder, dieses Mal über seine Oberschenkel.  Reflexartig warf er den Kopf zurück und knallte gegen das Bettgestell.  Seine Augen füllten sich mit Tränen, die ungehindert fielen, während sich Dulexy wieder seinem Bauch widmete und wieder und wieder auf seinen lodernden Unterleib prügelte.

Der letzte Schlag, den Mulder noch mitbekam, bevor er die Besinnung verlor, war geradewegs auf seine Leiste. Wieder kam kein Ton, nur ein stiller Schrei der Höllenqualen, als er in den willkommenen Abgrund glitt.

 

Dienstag, 07.33 Uhr

Langsam öffnete Skinner die Augen und blinzelte gegen das Licht. Er stöhnte leise auf und spürte augenblicklich eine kühle Hand auf seiner Stirn.
"Walter?"

Er zwang seine Lider weiter auf und blickte in das lächelnde Gesicht seiner Frau.

"Jess?" drang es schwach durch seine ausgedörrte Kehle.

"Schhhh", flüsterte sie. "Es ist schön, dich wiederzusehen."

Er lächelte sie an und verzog dann das Gesicht, als seine Nerven begannen, den Schmerz zu registrieren, den sein Körper aushalten musste.

Er fühlte, wie Jess seine Hand drückte und wie sie leicht seine Finger streichelte. Alles, was er wollte, war wieder zurück in die dunklen Fluten zu sinken, in denen er gewesen war, wo er das Feuer in seinem Bauch nicht fühlen konnte. Aber zuerst musste er wissen, was los war.

"Ellery?"

"Sie ist wieder bei ihrer Familie", versicherte Jess ihm.

Wieder musste er zwanghaft seine Augen öffnen. "Mulder?"

Skinner wusste, dass etwas passiert sein musste, denn das Gesicht seiner Frau sprach Bände. Andererseits musste etwas wirklich Schlimmes passiert sein, erinnerte er sich, denn sonst würde er nicht hier liegen.

"Mulder?" fragte er nochmals, dieses Mal etwas schärfer.

"Der Entführer hat ihn ", gestand Jess. "Wir haben ihn noch nicht gefunden."
"Wie lange?"

"Walter...."

"Wie lange?" forderte er und sie seufzte bei seinem barschen Ton. Sie kannte Walter—er würde nicht wieder einschlafen, bevor sie ihm nicht alles erzählte.

"Drei Tage."

"Verdammt!" grummelte Skinner. "Dieser Hund soll zur Hölle fahren, und ich gleich mit, weil ich es nicht verhindern konnte. Ich hätte wissen müssen, dass...."

"Nicht, Walter. Gib dir nicht die Schuld dafür. Wir alle wissen, wie stur Mulder sein kann. Wenn du nicht einverstanden gewesen wärst, ihm zu helfen, hätte er die Sache alleine durchgezogen. Und wo wäre er jetzt in dem Fall?  Du hättest ihn auf keinen Fall aufhalten können."

"Ich hätte Scully sagen sollen, ihn unter Beruhigungsmittel zu stellen und ihn ans Bett zu binden", nörgelte er.

"Ja, das hätte vielleicht geholfen", stimmte sie zu und drückte den Knopf für die Schwester. "Das werden wir das nächste Mal versuchen."
"Wer ist es?"

Jess starrte ihn perplex an, bis sie merkte, dass er von dem Entführer sprach.

"Du hattest recht, Walter. Es ist jemand, den Mulder aus dem Gefängnis kennt. Ein Justin Dulexy. Er hat sich offenbar mit Mulder eine Zeit lang eine Zelle geteilt."

Skinner schnitt eine Grimasse. Er kannte den Namen, aber so vollgedröhnt mit Medikamenten wie er im Moment war, wollten ihm keine Details dazu einfallen.

Die Krankenschwester kam mit einer Spritze mit Schmerzmitteln herein.

"Ich habe mir gedacht, dass Sie das hier brauchen werden, Mr. Skinner", lächelte sie. "Geht es Ihnen gut, ausgenommen von dem Loch in ihrem Bauch?"

Er grinste fast und nickte einmal. Er sah zu, wie sie das Medikament an den Tropf anschloss und dann fiel es ihm ein. Er musste Scully warnen.

"Warten Sie", sagte er zu der Schwester, die in ihren Bewegungen inne hielt. Skinner sah zu seiner besorgt aussehenden Frau. "Scully", sagte er schwach. "Dulexy. Ich kenne diesen Namen. Das ist er."

In Jess Skinners Gesicht stand für einen Moment der Schrecken geschrieben, der sie bei der Erkenntnis durchfuhr, als sie verstand. Dann beruhigte sie sich, nickte und strich mit den Fingern leicht über seine Wange. "Ich werde es Dana wissen lassen", versprach sie. "Sie wird ihn finden, Walter." Sie setzte ihre Lippen anstelle ihrer Finger und gab ihm einen sanften Kuss.  "Jetzt lass sie dir bitte schnell das Medikament geben, damit du ruhig schlafen kannst."

Unfähig, dem flehenden Blick seiner Frau zu widersprechen, murmelte er ein "'kay", und Sekunden später wurde es schwarz um ihn.

 

Dienstag, 12.00 Uhr

Sie spitzte die Ohren für jegliche Anzeichen von Schwierigkeiten, und siehe da, sie konnte die Schritte schon über den Boden schlurfen hören, bevor die Türklingel ging. Scully hatte sich die letzte Nacht auf der Couch ununterbrochen hin und her geworfen—auf der alten Ledercouch, die seit sie ihn kannte Teil von Mulders Habseligkeiten war. Sie hatte sich irgendwann nach Mitternacht in die Polster gekuschelt, nachdem sich Emmie endlich beruhigt hatte und sie war mit Gedanken an Mulder eingeschlafen.

Emmie hatte eine schwere letzte Nacht gehabt. Schuldgefühle lasteten auf ihren jungen Schultern wie eine Bürde, und es hatte sie einfach mitgenommen. Sie hatte ihr Gesicht in Scullys Schulter vergraben, genauso wie damals, als sie noch klein gewesen war, und hatte bitterlich geweint.

"Schhhh", hatte Scully versucht, sie zu beruhigen. "Nichts von alle dem ist deine Schuld, Emmie."

"Doch, das ist es!" hatte Emmie darauf bestanden. "Wenn ich ihm nicht diese Vorwürfe gemacht hätte.... Mom, ich habe so schlimme Sachen zu ihm gesagt!"

"Emmie Mulder, du weißt wie Fox sein kann. Er hat nicht versucht, Ellery zu helfen, weil du das zu ihm gesagt hast. Er wusste, dass du einfach sauer und traurig warst. Er hat es getan, weil er es tun musste. In all den Jahren, in denen ich ihn kenne, habe ich nie gesehen, wie er sich zurück gelehnt und nichts getan hat, wenn jemand Hilfe brauchte—nicht einmal, wenn es bedeutete, selbst dafür den Kopf hinzuhalten. Er ist ein ganz besonderer Mann, und er hat dich sehr, sehr lieb."

"Erzähle mir von dir und ihm, Mom", hatte Emmie nach einer Weile gesagt, als ihr Schluchzen weniger geworden war. Sie hielt ihre Mutter immer noch fest in den Armen und benetzte ihre Bluse mit ihren Tränen.
Scully lächelte traurig. "Was möchtest du denn wissen?"

"Ich möchte wissen, wann ihr euch ineinander verliebt habt."

Scully sagte eine ganze Zeit nichts. "Ich weiß gar nicht so recht, wann ich mich in Mulder verliebt habe", sagte sie dann. "Es hat sich einfach so entwickelt und irgendwann habe ich erkannt, dass es keinen anderen auf der Welt für mich geben kann."

"Aber du hast meinen Vater geheiratet."

Ihre Arme schlossen sich fester um Emmie. "Ja, das habe ich. Ich hätte es wahrscheinlich besser nicht tun sollen, aber in dem Fall wärst du jetzt nicht hier, stimmts?"
"Und was ist mit Fox? Wann hat er sich in dich verliebt?"

Scully kniff ihre Augen zusammen, als sie der alte Schmerz urplötzlich wieder einholte. "Ich weiß nicht", schaffte sie. "Das musst du ihn selbst fragen."

Emmies Atem ging ruhig und gleichmäßig neben ihr, und Scully dachte schon, dass sie eingeschlafen war, doch dann sprach sie erneut.
"Ihr zwei seid nicht sehr romantisch, oder?"

"Wie meinst du das?" fragte Scully überrascht. Sie hatte darüber noch nie so nachgedacht.

"Naja", sagte Emmie vorsichtig, "Jessicas Eltern machen immer so romantische Sachen zusammen. Sie gehen aus und so. Er bringt ihr oft Blumen und kauft ihr schöne Geschenke. Aber meistens streiten sie sich. Du und Fox vergesst beide euren Hochzeitstag, wenn ich euch nicht daran erinnere."

Scully lächelte wieder, denn da hatte ihre Tochter den Nagel auf den Kopf getroffen.

"Er würde dir nie Blumen bringen und ihr zwei redet auch nicht so schnulzig miteinander wie andere Paare."

"Hm, kann sein, dass du recht hast. Wir sind nicht sehr romantisch. Aber wir lieben uns sehr, das weißt du, stimmts?"

"Ja, klar", sagte Emmie und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. "Das ist ziemlich offensichtlich."

"Ich möchte keine Blumen von Mulder, ich möchte nur, dass er hier ist."

Emmie drückte sie fest. "Er kommt wieder zurück, Mom. Ich bin mir ganz sicher."

"Du hast recht", gab Scully zurück und versuchte ihrer wachsenden Verzweiflung zum Trotz zuversichtlich zu klingen. "Er wird bald wieder hier bei uns zu Hause sein."

Daraufhin hatte sie das Licht ausgemacht und war aufgestanden. Emmie schlief schon fast. Das war, als sie sich entschlossen hatte, sich auf Mulders Couch zu legen und den Tränen freien Lauf zu lassen. Nicht vielen, denn Scully war keine Frau, die unbändig weinte, aber einigen, die das Zeichen ihrer Angst und Frustration waren.

Sie hatte Emmie an dem Tag zuvor erlaubt, von der Schule fern zu bleiben, aber heute wollte sie unbedingt hingehen. Emmie hatte gesagt, dass sie nicht noch mehr Stunden verpassen könne, aber Scully vermutete, dass die Atmosphäre im Haus Schuld daran war, gekoppelt mit Langeweile, die sie zum Trost ihrer Freunde gezogen hatte.

Jetzt ist es doch gut, dass Emmie nicht zu Hause ist, dachte sie, als sie das kleine braune Päckchen in den Händen hielt. Der junge Mann, der es geliefert hatte, war eingängig von Officer Allen befragt worden, der praktisch schon im Haus eingezogen war, doch er hatte nichts Nützliches sagen können. Ein Typ habe ihm zwanzig Dollar gegeben, damit er das Päckchen zu diesem Haus bringt. Er hatte den Jungen vor einem Einkaufszentrum angesprochen (er hatte nämlich die Schule geschwänzt) und ihm diese Adresse gegeben. Dann war er in einem großen schwarzen Pick-Up weg gefahren. Natürlich war es Dulexy gewesen, daran bestand kein Zweifel, aber sie hatten immer noch keine Ahnung, wo Mulder sein könnte.

Sie hatten auf dem Päckchen keine Fingerabdrücke finden können, und obwohl Officer Allen erwähnt hatte, dass im Päckchen welche sein könnten, zweifelte Scully daran. Was würde es ihnen schon nützen? Sie wussten, nach wem sie suchten. Scully hielt das Päckchen schon ganze zehn Minuten in ihren Händen, sie traute sich nicht so recht, es zu öffnen. Sie hatte keine Ahnung, was darin sein könnte, aber es war klar, dass der Kidnapper sie terrorisieren wollte, damit sie seinen Forderungen nachkam. Was auch immer in diesem Päckchen war, Scully war sich sicher, dass es zu Mulders Leidwesen beschaffen worden war.

Schließlich konnte sie die Spannung nicht länger ertragen, durchschnitt behutsam mit zittrigen Fingern das Klebeband und holte die kleine, gelbe Box hervor. Sie ergriff es an beiden Seiten und befreite es von der Verpackung. Es war eine Pappbehälter von Church's Fried Chicken. Der Täter aß bei Church's Fried Chicken.

"Officer Allen?" rief sie.

Er kam um die Ecke, wo er mit seinem Handy telefoniert hatte.

"Wir sollten herausfinden, wie viele Church's Fried Chicken Restaurants es in der Gegend gibt. Vielleicht kann sich jemand an Dulexy währen der letzten Tage als Kunden erinnern." Es war ein schwacher Hinweis, fast überhaupt keiner, aber es war alles, was sie jetzt hatten.

Sie holte tief Luft, weil sie merkte, dass sie das Unvermeidliche herauszögern wollte, und öffnete den Deckel.

Sie starrte auf die Haarsträhnen, die darin waren und fühlte die Tränen wieder hochkommen. Sie schloss die Augen. Mulders Haare. Seine schönen Haare, die sie so liebte anzufassen, nach denen sie sich sehnte, in dieser Sekunde, ihre Finger hindurch gleiten zu lassen. Diese Haare waren geschändet von einem Verrückten. Sie zwang sich zur Räson und machte den Karton wieder auf. Sie untersuchte die Haare näher und biss sich auf die Lippe, als sie Blut an einigen kleben sah.

"Das könnte davon stammen, wo Dulexy ihn geschlagen hat", offerierte Allen, und sie nickte. "Es könnte sein, dass er nicht allzu schlimm verletzt ist."

Sie nickte wieder und stand schnell auf, um sich einen Schluck kaltes Wasser zu holen. Es stimmte—Mulder könnte es zur Zeit wirklich relativ gut gehen, aber irgendwie glaubte sie nicht daran. Das war eine Warnung, sogar eine sehr klare.

Sie hatte gerade den letzten Schluck getrunken, als sie Officer Allen aus dem anderen Zimmer nach ihr rufen hörte.

"Ja?" antwortete sie und ging zurück zu ihm. Sie sah absichtlich nicht auf das Blatt Papier auf dem Tisch, wo Allen die Haare ihres Mannes ausgebreitet hatte.

"Da ist noch etwas", informierte er sie widerstrebend. "Ein Zettel."
"Ein Zettel? Was steht da drauf?"

Mit einer Pinzette hielt er ein kleines Stück Papier an der Ecke fest und hob es hoch. Scully beugte sich näher heran, um die kleine, gekritzelte Handschrift lesen zu können. Es stand nur ein Satz darauf.

'Nächstes Mal gibt's Stücke von ihm.'

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