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Ahead of Twilight - Wenn die Nacht sich senkt (2)

von Texxas Rose

Kapitel 1

Dienstag, 02.47 Uhr

Mulder zuckte, als die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Er wusste, dass es so enden würde. Er hatte versucht, sie zu warnen, aber sie hatten nicht auf ihn hören wollen. Stattdessen hatten sie töricht behauptet, dass sie ihn nie für die Tötung Zachary Morrows verhaften würden, nachdem Mulder ihn erschossen hatte. Kaltblütig erschossen, hämmerte es in seinem Gehirn, doch Mulder weigerte sich, seine Gedanken soweit gehen zu lassen. Der Mann war immerhin im Begriff gewesen, seine Frau zu vergewaltigen und sie dann womöglich beide umzubringen. Andererseits, wenn sie es geschafft hätten, Zach noch ein paar Minuten aufzuhalten, wäre Walter eingetroffen und vielleicht hätte niemand sterben müssen. Vielleicht.

Sie hatten während der Fahrt zur Wache immer wieder beteuert, dass er nicht festgenommen werden würde, aber Mulder kannte die Wahrheit. Er wusste, wie das Rechtssystem arbeitete, wenn man sogar nur fälschlicherweise eines Mordes überführt worden war. Jetzt war es anders. Jetzt lag tatsächlich ein toter Mann auf dem Fußboden von Mulders Schlafzimmer—mit einer Kugel aus Mulders Waffe im reglosen Körper. Sie würden Scully um ihre Aussage bitten, und was könnte sie ihnen schon anderes sagen außer der Wahrheit? Er hatte ihren Ex-Mann in den Kopf geschossen. Es sah nicht gut für ihn aus. Egal, wie die Umstände waren, es sah einfach nicht gut für ihn aus.

Mulder drehte seinen Kopf und sah Scully, wie sie ihn besorgt betrachtete, bevor er—in Handfesseln—einen langen Korridor mit Einzelzellen rechts und links hinunter geführt wurde. Bevor sie um die Ecke bogen, erhaschte er noch einmal einen letzten Blick auf sie. Er hatte diesen Ausdruck auf ihrem Gesicht schon einmal auf ihrem hübschen Gesicht gesehen: es war an dem Tag vor so vielen Jahren, als er das erste Mal schuldig gesprochen worden war.

Oh ja—er war schon einmal an diesem Punkt gewesen, oh richtig.

Jetzt wurde er—die Hände hinter seinem Rücken gefesselt—Stück für Stück von seiner eigenen Seele weg geführt. Ein Mensch muss verrückt sein, freiwillig seine Seele aufzugeben, und was auch immer man Mulder vorwerfen konnte zu sein, er war in jedem Fall noch vollkommen richtig im Kopf. Mit einer plötzlichen Bewegung, mit der er sich von dem Wächter losriss, der seinen Oberarm festgehalten hatte, machte Mulder auf dem Absatz kehrt. Er wollte zu ihr. Zu dem Gesicht, dem Trost, dem Leben, das ihn, so lange er sich erinnern konnte, unterstützt hatte. Er konnte einfach nicht noch einmal von ihr getrennt sein. Er sah, wie sie auf ihn wartete und ihre Arme mit einem willkommenen Lächeln für ihn aufhielt, und er spürte, wie seine Füße schneller rannten, je näher er ihr kam.

Und dann, ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, wurde er von—fünf? sechs?  sieben? er konnte sie nicht zählen—Wächtern gepackt und zu Boden gebracht. Sie drehten ihn auf den Rücken und Mulder kämpfte schreiend, doch er konnte ihren festen Griffen einfach nicht entkommen. Sie hielten ihn fest, hielten ihn unten. Er hörte abrupt auf sich zu wehren, als er aufsah und in ein sadistisches Augenpaar blickte. Mit rasendem Herzen erkannte er den Wächter, der ihn im Gefängnis zusammengeschlagen hatte. Eiskalter Schock überfiel ihn und jeglicher Widerstand entwich seinem Körper.

Erst als er den Mund öffnete und wieder zu schreien begann, empfand er für einen winzigen Moment große Erleichterung, weil er erkannte hatte, dass es nur ein Traum gewesen war.

"Mulder!"

Seine Augenlider flogen auf und er sah in ein vom Mondlicht erhelltes Gesicht, das durch die halb-geschlossenen Vorhänge in das Zimmer fiel.

"Häh?" brachte er hervor. Er merkte, dass er zitterte und schwer atmete.  "Was? Oh, Scheiße." Er konnte sich in der nächsten Sekunde an alles erinnern und wischte sich mit den Händen über das Gesicht, als ob er die letzten Reste des Alptraumes dadurch verbannen könnte.

"Bist du okay?" fragte sie und strich ihm die verschwitzten Haare aus der Stirn. "Du hast dich herum geworfen und irgendetwas im Schlaf gesagt."

"Es geht mir gut, Scully", antwortete er und setzte sich auf, Beine aus dem Bett, und suchte nach seinen Boxershorts, die auf schnellem Wege von seinen Beinen auf dem Boden gelangt waren, als sie letzte Nacht ins Bett gegangen waren. "Nur die üblichen Träume. Nichts, um das man sich Sorgen machen müsste."

"Ich dachte, dass du nach dem Training gestern wie ein Baby schlafen würdest", neckte sie ihn und sah zu, wie er die Shorts anzog.

Er grinste. Das 'Training' hatte darin bestanden, an zu vielen Tagen aufgestauten Frust herauszulassen. Emmie hatte ein paar von ihren Freundinnen eingeladen, um das letzte Wochenende, bevor die Schule wieder anfing, gemeinsam zu verbringen, und nach drei Tagen mit vier fünfzehn-jährigen Mädchen war Scully einfach erledigt gewesen. Mulder hatte andererseits genauso hart gearbeitet, um sein Arbeitszimmer und seine Aufzeichnungen für den 'ersten Schultag' fertig zu bekommen, und sie hatten in der letzten Woche lediglich die Energie dazu gehabt, sich gegenseitig lustvolle Blicke zuzuwerfen. Als sie sich schließlich nach all dem in ihr Schlafzimmer zurückziehen konnten, war die Szene schnell, wild und immens befriedigend für beide gewesen.

"Ich hole mir einen Schluck Wasser", sagte er. "Ich hab das Gefühl, ich vertrockne. Schlaf einfach weiter."

Doch sie dachte gar nicht daran sich wieder hinzulegen. Sie folgte ihm kichernd in die Küche, nachdem sie ihren Bademantel übergestreift hatte.  Sie sah zu, wie Mulder mit zitternden Händen Eis in ein Glas tat und schüttelte reuevoll den Kopf. Es war nun schon zehn Jahre her. Würde er für den Rest seines Lebens unter den schrecklichen Erinnerungen leiden müssen?

Scully wartete, bis er das Glas gefüllt hatte und setzte sich neben ihn auf den Küchenstuhl. Sie streckte ihre Hand aus und umfasste fest seine Finger.

"Das war ein schlimmer, hab ich Recht?" fragte sie ihn, doch er sagte nichts, trank stattdessen das Glas in einem Zug aus. "Möchtest du darüber reden?"

"Nein", murmelte er und lächelte sie dann an, um das Ruppige aus seiner Antwort zu nehmen. "Es war nichts Besonderes, Scully. Nur einer meiner standardmäßigen. Er handelte von.... dem Tag."

Scully seufzte. Selbst jetzt, nach all den Jahren, tat sich Mulder immer noch schwer, jemanden in Uniform zu vertrauen. Seine Angst vor Vollzugsbeamten ist fast zu einem Insider zwischen ihren Freunden und Familien geworden. Fast ein Joke, bis etwas wie jetzt passierte, dachte sie mit einem Anflug von Wut. Sie würde diejenige sein, die ihn wieder aufbauen musste.

"Mulder, du hattest schon lange keinen mehr wie diesen gehabt. Wenn du jetzt wieder regelmäßig diese Alpträume bekommst, glaube ich wirklich, dass Jess...."

"Ich brauche Jess nicht, Scully. Ich weiß genau, was die Träume hervorruft." Jess Coslow Skinner war nach Mulders Entlassung seine Therapeutin gewesen, und Scullys auch für eine Weile. Vor neun Jahren hatte sie Walter Skinner geheiratet und ist mit der Zeit zu einer guten Freundin der Familie geworden. Mulder wusste, dass er nur anrufen musste, wenn er Jess' Hilfe brauchte, und dafür war er ihr auch ewig dankbar, aber dieser Traum hatte einen bestimmten Auslöser, den Mulder ohne Zweifel identifizieren konnte.

Als Scully ihn fragend anblickte, fuhr er verschmitzt fort, "Ich bin heute wegen zu schnellen Fahrens angehalten worden. Ich wollte es dir nicht erzählen, aber offensichtlich kann ich ein Geheimnis nicht für mich behalten."

Sie lachte in heiterer Verzweiflung. "Schnell fahren! Mulder, du bist einundfünfzig Jahre alt. Wann wirst du es endlich lernen?"

"Ich bin vielleicht einundfünfzig, aber ich schaffe es immer noch, dich glücklich zu machen", grinste er, und sie lachte fast laut los, bevor sie sich zusammenriss, um Emmie nicht zu wecken.

"Ja, aber ich werde auch alt", ärgerte sie ihn, "vielleicht braucht es nicht mehr viel, um mich heutzutage zufrieden zu stellen."

Scully hatte nicht bemerkt, dass sie ihm damit eine Herausforderung entgegen warf, bis er sie angenommen hatte.

"Ich zeig dir, wer hier alt wird", verkündete er, stand von seinem Stuhl auf und zog sie mit einer geschmeidigen Bewegung an seine warme, nackte Brust.

Bevor Scully wusste, wie ihr geschah, wurde sie rücklings an die nächste Wand gedrängt, dass sie zwischen ihm und der Wand gefangen war. Sie starrte ihn mit großen, leuchtenden Augen an, als er entschlossen mit seinen Fingern durch ihre Haare strich und sie näher zu sich zog. Sie wusste, dass er sie küssen würde, sie wollte, dass er sie küsste, und nach einem nervösen Blick in den Flur, wo die Schlafzimmer lagen, ließ sie sich gehen und schmolz vor ihm hin. Er kam näher und näher, doch anstatt sie zu küssen ärgerte er sie, indem er viele kleine Küsse über ihre Lippen verteilte, bis sie hätte schreien können. Sie wollte mehr und drückte ihren Unterleib gegen seinen, als er sie noch enger an die Wand manövrierte. Sie war gefangen zwischen der harten Kühle der Wand und Mulders festem Körper -- ein großer, schlanker Körper, der sich offensichtlich auch nach ihr verzehrte.

Sie stöhnte und versuchte, mit den Zähnen seine Unterlippe festzuhalten, doch Mulder war in spielerischer Laune heute und wich ihr mit einem leisen Lachen aus.

"Geduld, Scully", neckte er sie und fing jetzt an, ihren Hals zu quälen.  Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass sie dort ganz besonders empfindlich war und sie binnen Sekunden vor Verlangen anfing zu wimmern. "Du musst....  auf die.... besten Dinge.... warten."

Dieses Spiel können auch zwei spielen, dachte sie und sie begann, ihre Hände langsam über seine Hüften kreisen zu lassen. Dann glitten ihre Finger am Gummiband seiner Boxershorts vorbei, das einzige Kleidungsstück, das er trug. Scully wusste genau, wie sie ihren Mann kriegen konnte. Sie strich mit einem Fingernagel ganz leicht über seinen Po und er quietschte.

"Verdammt, Kitzeln ist nicht fair!" beschwerte er sich mit der dunklen, verführerischen Stimme, von der sie immer eine Gänsehaut bekam. Mit einem Ruck nahm er ihre Handgelenkte und heftete sie über ihren Kopf an die Wand.  Sie wehrte sich nicht wirklich, denn sie brachte vor lauter Lachen kaum etwas zustande. Sie würde sowieso nicht gegen ihn ankommen. Seine freie Hand schlüpfte in ihren Bademantel und umfasste erst die eine, dann die andere Brust, während sein Mund ihrem Hals weiterhin die verbotensten Dinge antat—hier leckend, da beißend, erst einen sanften Kuss setzend, dann gierig an ihrer Haut saugend, so dass sie an der Stelle gebrandmarkt wurde.

Mulder konnte sie immer in seiner, wie sie es nannte, "Master Mode" in einen Zustand bringen, in dem sie glaubte, einfach so hinwegschmelzen zu können. Dann, als er endlich nachgab und einen richtigen Kuss gewährte, hatte sich ihr Lachen längst in Stöhnen des Verlangens gewandelt. Scully wand sich unter seinem Überfall, ließ jeglichen Widerstand bleiben und drängte sich ihm entgegen. Sein Daumen umkreiste ihre Brustwarze, während seine Zunge ihren Mund durchforschte und verzweifelt nach der Süße suchte, die er immer dort fand.

"Mulder!" keuchte sie, als er sich zurück zog, um sie zu Atem kommen zu lassen.

"Ja?" schnurrte er, während er sie weiter an die Wand gedrückt hielt, bis Scully dachte sie würde schreien, wenn er sie nicht jetzt und sofort nehmen würde. "Willst du irgendetwas von diesem alten Mann?"

"Mulder, wir werden auf *keinen* Fall hier in der Küche Sex haben!"

Er grinste an ihrem Hals. "Ich glaube, den haben wir schon, Scully", widersprach er und fing an, zärtlich an ihrem Schlüsselbein herum zu beißen.

"Emmie...."

".... würde eine Atombombe verschlafen, und das weißt du auch", endete er, öffnete rasch ihren Mantel und zog ihn ihr über die Schultern.

Sie antworte ihm mit einem Stöhnen. Vorsichtig senkte er sie beide auf den Boden und breitete hastig den Frotteemantel auf den Fliesen aus.

"Mulder", unterbrach ihn Scully, die gerade etwas von ihrem Verstande zurück erlangt hatte, als er mit dem Mantel fummelte. "Wenn wir es hier tun, liegst *du* aber auf dem kalten Boden."

Sie schubste ihn ein wenig zurück, und er fing sich mit einem Grinsen. Er ließ sie sich auf ihn setzten, nachdem er sich mit Kopf und Rücken auf den Mantel gelegt hatte. Ein wenig verspannte er sich, als die Kühle des Bodens durch den Stoff gelangte, und Scully legte sich auf ihn, um ihn zu wärmen.

Er hob seine Hüften, damit sie ihn leichter von seinen Shorts befreien konnte, und offenbarte ihr sein Verlangen nach ihr. Scully betastete ihn und führte sich noch einmal jede Ecke und Glätte auf seinem Körper vor Augen, während er da weitermachte, wo er aufgehört hatte: sie weiter und weiter zu erregen. Ihre Lippen nippten an seiner Haut, ihre Zunge kitzelte seinen Hals und zufrieden vernahm sie sein scharfes Einatmen.

"Jetzt!" verlangte sie, und Mulder, der in mehr als zehn Jahren viel Übung darin hatte, seine Frau zu verwöhnen, lenkte augenblicklich ein. Er positionierte sie über sich und schon bald vergaßen sie die Zeit, den Raum, die Tatsache, dass ihre Tochter am anderen Ende des Korridors schlief.

"Komm mit mir, Scully, jetzt!" kommandierte er leise. Scully schickte mit dem letzten Rest ihres klaren Verstandes ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass niemand sie jetzt sah. Dann war auch dieser Rest verschwunden und er zog sie mit sich über die Klippe.

Weil er ihre Angewohnheiten kannte, dämpfte Mulder ihr Schreien, als sich alle ihre Muskeln zusammenzogen, indem er sie abermals küsste. Schon vor vielen Jahren hatte er zu seinem größten Vergnügen festgestellt, dass Scully ziemlich geräuschvoll in den Fängen der Leidenschaft war. Nichts gab ihm mehr Befriedigung als die Gewissheit, seine sonst so ruhige und bemessene Frau zu solchen Äußerungen bringen zu können.

Jetzt schaute sie selig auf ihn hinunter, befriedigt und träge.  Widerstrebend bewegte er sie zur Seite, stand auf und half ihr auf die Füße. Beide reckten und streckten sich und mussten dabei grinsen. Sie waren beide älter geworden, aber sie hatten es immer noch drauf, reflektierte er verschmitzt.

"Verdammt, Scully", flüsterte er, "Du weißt genau, wie man solche Albträume wieder los wird!"

Scully lächelte selbst-zufrieden als sie den Gürtel ihres Mantels wieder zumachte. Wie viele fünfzigjährige Männer konnten das schon zwei Mal in einer Nacht, dachte sie stolz. Er hatte natürlich ein paar Stunden Zeit gehabt, sich nach dem ersten Mal wieder zu erholen, aber trotzdem.  Vielleicht würde sie morgen Abend sehen, ob er die Aufgabe wieder bewältigen könnte.

 

Dienstag, 7.23 Uhr

Emmie stolperte verschlafen in die Küche. Sie warf ihren Eltern einen spottenden Blick zu, weil sie heute einen viel zu gutgelaunten Eindruck machten. Seufzend öffnete sie den Kühlschrank und griff nach ihrem allmorgendlichen Joghurt und fettarmer Milch für die Cornflakes. Ein Mädchen musste schließlich auf seine Linie achten antwortete sie Fox immer, wenn er ihr vorwarf, nicht genug zu essen, und dann spöttelte sie über seine Essensgewohnheiten, die sich mit ihren absolut nicht vereinbaren ließen.

Sie holte ihr Frühstück heraus und wandte sich zum Küchentisch. Plötzlich klebte etwas an ihrem Fuß. Sie hob ihn an und sah nach.

"Was ist?" fragte Scully, die sich fragte, warum sich ihre Tochter so komisch benahm.

"Da ist irgend so ein klebriges Zeug auf dem Boden", sagte Emmie, während sie sich daran machte, ihr Essen vorzubereiten. Sie angelte sich ein Papiertaschentuch und fragte,  "Hat Mrs. Hankins gestern nicht geputzt?"

"Ich mach das schon", sagte Scully schnell im Aufstehen und nahm Emmie das Tuch aus der Hand. Emmie sah sie komisch an. "Du musst frühstücken, sonst verpasst du den Bus", erklärte Scully.

Emmie setzte sich und warf Fox einen misstrauischen Blick zu, der große Mühe hatte, sich das Lachen zu verkneifen.

"Was ist los mit euch?" wollte sie wissen, während sie den Deckel vom Joghurt öffnete.

"Nichts", zwitscherte Scully und erhob sich vom Boden, wo sie gerade das 'klebrige Zeug' weg gewischt hatte. Sie wagte es nicht Mulder anzusehen, weil sie genau wusste, dass er, wie sie, gemerkt hatte, dass der Fleck genau die Stelle war, wo sie sich letzte Nacht geliebt hatten.

"Was ist denn so witzig?" wollte Emmie wissen, weil sie Mulder immer noch über den Rand ihrer Cornflakes-Schüssel beobachtete.

"Die Comics", wich er aus und versuchte krampfhaft, sich zusammenzureißen.

"Du hast die Zeitung doch gar nicht aufgeschlagen, Fox", bemerkte sie geduldig.

Mulder grinste sie strahlend an und zwinkerte ihr zu. "Mir sind nur gerade wieder die eingefallen, die ich gestern gelesen habe", log er und griff nach seiner Morgenzeitung.

Emmie verdrehte die Augen in typischer Teenager-Manier und aß einfach weiter. Scully setzte sich wieder zu ihrem Kaffee.

"Mom, kann ich am Freitag eine Pool-Party machen?" fragte sie plötzlich, nachdem sie den letzten Löffel aus ihrer Schüssel genommen hatte.

Scully sah überrascht auf. "Ist das nicht ein bisschen kurzfristig?" fragte sie.

Emmie, die ihrer Mutter schon ansah, dass sie es ihr nicht erlauben würde, wandte sich sogleich zu dem Mann, der zeit ihres Lebens ihr persönlicher Sklave gewesen war. "Bitte, Fox", säuselte sie. "Ich mache auch keinen großen Aufwand. Ich lade einfach ein paar Freunde ein und wir grillen Hamburger oder so was. Ihr werdet keinen Finger rühren müssen."

Emmie sah Mulder mit ihren braunen Augen bettelnd an. Er wurde augenblicklich weich—und so hatte sie es auch gehofft. "Scully", sagte er und wandte sich an seine Frau, "das wäre doch kein Problem, oder?"

Scully blickte von ihrem Mann zu ihrer Tochter und wusste, dass sie umzingelt war.

"Von wie vielen Freunden reden wir hier?" fragte sie.

"Ähm.... zehn?" fragte Emmie hoffnungsvoll.

"Mach fünf daraus und die Sache geht in Ordnung."

Emmie schmollte für einen Moment und Scully fragte sich, ob sie das vor dem Spiegel geübt hatte—ihr Schmollmund sah Mulders so ähnlich, dass es schon fast lustig war.

"Aber ist es okay, wenn Ellery hier schläft?" wagte sie sich weiter vor.

Scully lächelte. Sie wusste, dass das die nächste Frage sein würde. Emmie und ihre beste Freundin, Ellery Monroe, waren seit der dritten Klasse fast unzertrennlich gewesen. Durch ihre ähnlichen Namen haben die Lehrer sie oft nebeneinander gesetzt, weil sie im Alphabet hintereinander kamen. Zudem sahen sie sich sehr ähnlich. Beide hatten dunkelbraune Augen und Haare, die sie wellig im gleichen Haarschnitt trugen. Sie kleideten sich oft gleich und hatten sich den Spitznamen 'Fast Zwillinge' gegeben. Beide Mädchen waren so oft hier, dass Scully und Mulder praktisch annehmen konnten, sie hätten zwei anstatt nur eine Tochter.

"In Ordnung, Ellery kann hier schlafen, aber alle anderen sind um zehn Uhr weg, verstanden?" stellte Scully klar und stand auf, um ihre leere Tasse in die Spülmaschine zu stellen.

"Klar. Danke, Mom", strahlte Emmie und sprang auf. "Ich glaub, ich höre den Bus kommen."

Sie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und erwiderte Fox' dicke Umarmung.

"Einen schönen ersten Tag in der Schule!" rief er ihr hinterher.

"Dir auch", gab sie über ihre Schulter zurück.

"Ich werde versuchen, dich nicht vor deinen Freunden zu blamieren", schrie Mulder ihr nach und lachte über das gedämpfte "Oh, Fox!", das noch durch die Haustür dringen konnte, bevor sie von außen geschlossen wurde.

"Sie ist ein Schatz", murmelte Scully leise und berührte mit den Fingern die Stelle, wo Emmie ihr den Kuss gegeben hatte. "Wie viele fünfzehn-jährige Mädchen küssen noch ihre Mutter?"

"Vielleicht ist ihr als kleines Kind nicht so viel vergönnt worden, so dass sie es jetzt zu schätzen weiß", überlegte er, faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. "Aber die wichtigere Frage heute Morgen ist ja wohl: sollen wir Mrs. Hankins feuern und eine bessere Haushälterin einstellen?"

Sie ignorierte sein Lachen und schüttelte nur still den Kopf. Dann machte sie sich auf den Weg zur Dusche. Mrs. Hankins kam schon seit drei Jahren einmal die Woche und machte sauber, und ihre Arbeit war immer sehr ordentlich gewesen.

"Es ist nicht Mrs. Hankins Schuld, dass du wie ein wildes Tier bist", gab sie zurück, als er das Badezimmer betrat. "Wir können schlecht von ihr erwarten, dass sie hinter uns herläuft und jedes Mal aufräumt, wenn dich die Lust packt."

Mulder schnaubte. "*Ich* bin ein wildes Tier?" sagte er entrüstet. "Ich meine mich zu erinnern, dass du darauf bestanden hast, es hier und da zu treiben."

"Quatsch", sagte sie hinter der geschlossenen Duschwand, und eine Sekunde später hörte Mulder wie das Wasser anging. "Ich habe lediglich versucht, dich von deinem Alptraum abzulenken", erinnerte sie ihn und steckte ihren Kopf aus der Dusche, um ihm ein schelmisches Grinsen zuzuwerfen.

"Sei vorsichtig, oder du findest dich gleich an die Wand gedrückt wieder, Frau", drohte er, steckte den Stöpsel in die Badewanne und ließ sein Badewasser ein.

"Immer diese leeren Versprechungen, Mulder!"

"Und verbrauch nicht das ganze heiße Wasser!" rief er weiter und ignorierte ihren Seitenhieb.

"Ich war zuerst hier!"

Es war ein Kabbeln, das sie jeden Morgen veranstalteten. Mulder weigerte sich immer noch, regelmäßig zu duschen—obwohl er hier und da zusammen mit Scully eine Dusche genommen hatte—denn er zog bei weitem den zweifelhaften Komfort eines Bades vor. Für Scully, auf der anderen Seite, gehörten zu einem Bad auch Kerzen, duftender Schaum, ein gutes Buch und viel Zeit zum Genießen. Morgens schaffte sie die Dusche in genau fünfzehn Minuten. Vor ein paar Jahren hatten sie das Badezimmer renoviert, eine zusätzliche Dusche eingebaut und einen größeren Boiler, um die Streitigkeiten zu verhindern, wer morgens als erster dran ist. Jetzt waren sie beide zufrieden.

"Glaubst du, dass sie wusste, was da auf dem Boden war?" fragte Mulder, als er in die heiße Wanne stieg und nach dem Shampoo griff.

"Gott, ich hoffe nicht", gab Scully zurück. "Sie ist erst fünfzehn."

"Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie früh Kinder heutzutage sexuell aktiv werden", meinte er. "Es macht mir Angst."

"Aber doch nicht unsere Tochter", sagte Scully gespielt empört und schob ihren Kopf hinter dem Vorhang hervor, um ihn anzusehen. "Ich werde diese Möglichkeit gar nicht erst in Betracht ziehen, hörst du? Wir haben mehr als genug Probleme in unserem Leben gehabt, und ich weigere mich, das auch noch zu ertragen."

Er starrte sie für einen Moment an und brach dann in Gelächter aus. "Ich werde dem Schicksal ausrichten, dass du es so angeordnet hast", verkündete er und taucht unter.

"Mach das", brummte sie grimmig.

 

Freitag, 16.02 Uhr

"Was ist los?"

Die Frage lag offen in dem sonst geräuschlosen Innenraum des Wagens. Es war sein vorsichtiger Versuch, durch die Mauer zu kommen, die Emmie seit letzter Nacht um sich herum aufgebaut zu haben schien. Sie hatte am Abend zuvor am Telefon mit ihren Großeltern gesprochen, und seit diesem Gespräch war Emmie still und ausweichend in seiner Nähe gewesen. Es lag auf der Hand, dass sie etwas beschäftigte, und obwohl Mulder eigentlich beschlossen hatte zu warten, bis sie von sich aus etwas sagte, sobald sie dazu bereit war, begann das dauernde Anschweigen langsam ihm auf die Nerven zu gehen.

"Nichts", murmelte sie. "Es geht mir gut."

Es war ein verbaler Seitenhieb, denn sie hatte sich während der letzten Jahre schon über mehr als nur einen Streit zwischen Fox und ihrer Mutter, der eben diese Phrase betraf, aufgeregt, und sie wusste genau, dass es ihn sauer machte. Wenn sie sein vergraultes Gesicht gesehen hatte, ignorierte sie es.

Er versuchte, über die Handbremse hinweg ihre Hand zu nehmen, doch sie zog sie zurück. Er legte sie wieder auf das Lenkrad.

"Ich kann mich nicht entschuldigen, wenn ich nicht weiß, was ich falsch gemacht habe", sagte er ruhig.

Sie schwieg missmutig für ein paar weitere Minuten, dann drehte sie sich zu ihm um und sagte betont, "Game, Fox."

Sein Herz begann schneller zu schlagen. Game. Es war seine Erfindung— okay, nicht wirklich, denn das Konzept war alt, aber es in die Form eines Spiels zu setzen, war seine Idee gewesen. Man konnte seinen Gegenüber alles fragen, was man wissen wollte, und er musste aufrichtig und vollständig antworten. Der Haken daran war, dass man gleichsam ehrlich auf alle Fragen antworten musste. Dieses Spiel war ihm eine große Hilfe bei seinen Studenten, und außerdem hatte er gemerkt, dass die Offenbarungen, die er über sich selbst machte, Dinge, die er normalerweise niemandem sagen würde, zu einem vertrauensvolleren Verhältnis zu dem anderen führten. Es hatte ihm dabei geholfen, Emmie weit besser kennenzulernen als die meisten Eltern ihre Kinder kennen.

Man brauchte einfach nur das Wort 'Game' sagen, um das Spiel zu beginnen.  Es bedeutete, dass schwer lastende Geheimnisse im Begriff waren, enthüllt zu werden.

Er schluckte hart und fragte sich, was sie ihm wohl dieses Mal auferlegen würde, und sagte dann, "Okay."

"Denk an die Regeln."

Er nickte. Die einzige Regel in dem Spiel war die der Ehrlichkeit. Alles, was gesagt wurde, musste vollkommen ehrlich sein.

Emmie wandte ihren Blick aus dem Fenster, sie wollte ihn jetzt nicht ansehen. "Großmutter hat mir gestern gesagt, dass heute Dads Geburtstag sein würde."

Mulder erschrak über diese Bemerkung. Von allen Dingen auf einer imaginären Liste, von denen er angenommen hatte, dass sie sie sagen könnte, stand Zach überhaupt nicht drauf. Über Zachary Morrow wurde fast überhaupt nicht gesprochen, und Mulder hatte gehofft, dass sie mittlerweile ihn als ihren Vater sehen würde. Er hatte offensichtlich ihre Zuneigung zu ihrem biologischen Vater unterschätzt.

"Okay", antwortete er und seine Hände schlossen sich unmerklich fester um das Lenkrad. "Und was möchtest du wissen?"

Sie holte tief Luft, sammelte all ihren Mut und blickte ihn dann mutig an, fixierte ihn geradewegs mit ihren dunklen Augen.

"Ich will wissen, wie er gestorben ist. Ich will wissen, was passiert ist."

Ihm stockte der Atem für einen Moment und er wünschte sich, den Wagen irgendwo gegen die Wand zu fahren, so dass er starb, aber Emmie auf wundersame Weise ohne einen Kratzer überleben konnte. Oder dass er einen plötzlichen, tödlichen Herzanfall erleiden würde. Er hoffte genaugenommen auf alle möglichen solcher Sachen, aber nichts davon passierte. Sie wartete wortlos auf seine Antwort.

"Nein, Emmie, bitte", bat er sie sanft. "Frag mich nicht danach."

"Game, Fox", erinnerte sie ihn kalt. "Es ist *dein* Spiel, weißt du noch?  Hast du geglaubt, dass es nur zu deinem Vorteil funktioniert? Du und Mom, ihr seid immer den Fragen ausgewichen, die ich über meinen Vater hatte. Ich bin jetzt fünfzehn. Ich bin kein Kind mehr. Ich will, dass du es mir sagst."

Er hatte keine Wahl.

 

Freitag, 17.50 Uhr

Justin Dulexy fuhr langsam durch die Straßen, hielt die Augen offen nach allem Ungewöhnlichen. Er fuhr schon zum vierten Mal innerhalb der letzten Stunde hier durch, und grübelte nach einem guten Plan, um sein Vorhaben ausführen zu können. Er hatte bereits beschlossen, sich das Mulder-Balg zu holen, jetzt brauchte er bloß noch eine Gelegenheit. Er wusste, wo er sie hinbringen würde, wann er ihre Eltern anrufen und wie viel Geld er für sie verlangen würde. Bloß der Zeitpunkt stand noch nicht fest, wann er seinen Zugriff machen konnte.

Als er um die Ecke fuhr und den Block somit ein weiteres Mal umrundete, sah er sie. Sie musste zu Fuß von der Schule nach Hause gegangen sein, weil sie mit dem Rucksack über einer Schulter auf dem Weg zu Mulders Haus war. Als er näher heranfuhr, konnte er ihre Initialen in grün gehalten auf dem blauen Rucksack lesen: E.M. Er lächelte. Die meisten Leute aus der Nachbarschaft waren noch nicht von ihrer Arbeit zurück und die Straße war ziemlich ruhig. Er konnte sie schnappen, ohne gesehen zu werden, wenn er großes Glück hatte.

Ellery ging in zügigem Tempo mit ihren Schwimmsachen im Rucksack auf Emmies Haus zu. Sie war direkt nach der Schule nach Hause gegangen und hatte ihre Hausarbeiten in Rekordzeit erledigt, doch ihre Mutter hatte dann darauf bestanden, das sie zu Abend aß und abwusch. Also war sie spät dran.  Endlich, endlich hatten ihre Eltern sie ins Wochenende entlassen, und Ellery war auf dem schnellsten Wege gegangen. Die Party sollte in einer halben Stunde losgehen, und sie wollte ihren neuen Badeanzug anhaben, wenn Mark ankam. Dann, später am Abend, würden sie und Emmie sich stundenlang kichernd über den Jungen unterhalten, in den sie beide ein bisschen verknallt waren. Sie freute sich darauf, ihn in Badehosen zu sehen.

Das Geräusch eines Automotors unterbrach sie in ihren Gedanken. Sie blickte hoch und sah, wie ein Truck auf sie zukam. Er verlangsamte und hielt schließlich an. Ellery ging weiter, doch ihr wurde etwas mulmig, als das Beifahrerfenster heruntergefahren wurde.

Sie wollte eigentlich weiter gehen, ohne dem Fahrer überhaupt eines Blickes zu würdigen, doch er rief nach ihr.

"Hallo, junge Dame, kannst du mir mal weiter helfen?"

Seine Stimme klang freundlich und unsicher, und Ellery nahm an, dass er nach dem Weg fragen wollte. Ihre Mutter hatte sie immer davor gewarnt, in das Auto eines Fremden einzusteigen, aber wenn sie hier auf dem Gehweg stehen blieb und mit ihm redete, wäre es doch in Ordnung, oder nicht?

Sie sah zu dem Fahrer. Es war ein großer Mann, größer als ihr Vater, und irgendetwas an ihm störte sie. Etwas, das sie nicht genau benennen konnte.  Sie versuchte, dieses Gefühl abzuschütteln. Es war albern und stammte ganz sicher nur von den Horrorgeschichten ihrer Mutter.

"Ja?" fragte sie mit nur leicht zitternder Stimme.

"Kannst du mir sagen, wo diese Straße ist?" fragte der Mann und zeigte auf die Karte, die auf dem Sitz lag.

"Welche Straße ist es?" fragte sie nervös und trat einen vorsichtigen Schritt auf den Truck zu.

"Ich weiß nicht genau, wie man das ausspricht."

Ellery biss sich unentschlossen in die Lippe.

"Hey, ich verstehe. Du darfst nicht mit fremden Leuten sprechen, und das ist auch klug so. Ich hätte dich nicht fragen sollen." Der Typ wedelte beiläufig mit der Hand und lächelte freundlich. "Ich werde versuchen, jemand erwachsenes...."

Bei diesem Wort blitzte es in Ellery. Erwachsene. Erwachsene dachten, sie wüssten alles. Der Mann würde ihr nichts tun, er war nett. Er braucht einfach nur Hilfe, und sie könnte sie ihm geben. Ellery hatte ihr ganzes Leben in dieser Gegend verbracht und sie kannte jede Straße im Umkreis von einer halben Meile.

"Warten Sie mal", unterbrach sie ihn, trat an den Truck und lugte durch das Fenster, alle Vorsicht vergessen. Ein Bruchteil einer Sekunde später wusste sie, warum ihre Eltern ihr beigebracht hatten, nicht mit Fremden zu reden.

Die Waffe funkelte stählern neben seiner Jeans, als er sie auf sie richtete. Er hielt sie auf seinem Schoß, so dass vorbei gehende Passanten sie nicht bemerken würden. Sie schnappte nach Luft und fühlte, wie ihr vor Angst schwindelig wurde.

"Steig ein. Wenn du schreist, oder versuchst wegzulaufen, bringe ich dich um. Mach einfach die Tür auf und steig ein." Sie zögerte einen Moment, bis er mit dem Lauf der Waffe ihr deutete, sie solle voran machen. Sie gehorchte und kletterte mit kreideweißem Gesicht auf den Beifahrersitz.

"Braves Mädchen", säuselte er, sein Grinsen jetzt nicht mehr so freundlich.  "Leg deine Hände hier auf die Ablage, wo ich sie sehen kann." Er gestikulierte mit der Waffe und sie tat, was er verlangte. Zitternd hielt sie sich an dem Kunststoff der Ablage vor ihr fest.

Er fuhr einhändig, sah sich einige Meilen ständig aufmerksam um, bis sie eine weniger bewohnte Gegend erreichten. Die Häuser waren hier sehr verstreut. Er hielt weit genug von den nächst gelegenen am Straßenrand an.

"Dreh dich um", befahl er, und sie tat es, zitternd am ganzen Körper.

"Bitte", sagte sie, als sie fühlte, wie er ihre Arme hinter ihren Rücken zog, "tun Sie mir nicht weh."

Rasch band er ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammen und ließ sie dann im Fußraum sitzen. Dieser war so klein, dass sie sich hineinquetschen musste und keine plötzlichen Bewegungen machen konnte, selbst wenn sie den Mut dazu gehabt hätte. Als er sich überzeugte, dass sie sicher da unten saß, startete er den Truck wieder und fuhr los.

"Keine Sorge, Emmie", sagte er versichernd. "Wenn du dich benimmst, verspreche ich dir, dass ich dir nicht weh tue, und in ein paar Tagen wirst du wieder sicher zu Hause bei deinen Eltern sein."

Ellerys riss die Augen auf, als sie hörte, wie er sie mit dem Namen ihrer Freundin ansprach. Er hatte sich vertan! Er war gar nicht hinter ihr her, sondern er wollte Emmie! Sie fragte sich, ob sie ihm das sagen sollte, aber das würde ihn vielleicht sauer machen und er würde ihr weh tun. Wenn er merken würde, dass er das falsche Mädchen hatte, würde er sie gehen lassen?  Oder würde er sie umbringen, so dass sie ihn nicht identifizieren konnte, und dann zurück fahren, um Emmie zu holen? Immer noch zitternd schloss Ellery die Augen und betete um Antworten und um Schutz.

 

Freitag, 19.13 Uhr

Mulder saß unter der Markise neben dem Haus und sah aus der Entfernung zu, wie Emmie und ihre Freunde im Pool tauchten und schwammen. Ellery war noch nicht eingetroffen, aber die anderen Kinder waren da und die Party war in vollem Gange. Scully brachte nach und nach immer mehr Essen und Getränke aus der Küche, aber wie vereinbart, hatten Emmie und ihre Freunde die meiste Arbeit selbst gemacht.

Sein Herz schmerzte, als er die dunkelhaarige Schönheit beobachtete, die er und Scully liebevoll 'Nymphe' nannten. Sie bedeuteten ihm mehr als alles andere auf der Welt, sie und Scully, und er wusste, dass wenn er ihre Liebe und ihren Respekt verlieren sollte, es ihn umbringen würde. Alles würde ihm egal sein, wenn er diese beiden nicht mehr in seinem Leben hätte.

Scully ließ sich neben ihn in den Stuhl fallen und riss ihn damit aus seinen verstreuten Gedanken. Sie reichte ihm einen Pappteller mit Hotdogs, Chips und Soße. Sie machte eine Dose Cola Light auf, nahm einen großen Schluck und seufzte tief. Sie klaute einen Chip von dem Teller, den er auf seinen Knien balancierte und betrachtete aufmerksam sein Gesicht.

"In Ordnung, Mulder, schieß los", sagte sie. Er drehte sich perplex zu ihr um.

"Was? Wovon redest du, Scully?" versuchte er auszuweichen, doch er wusste bereits, dass sie sich nicht zum Narren halten lassen würde. Er hatte recht.

"Hör zu, Mulder", sagte sie kurz. "Ich hatte einen langen Tag, am Ende einer langen Woche und ich bin geschafft. Irgendetwas stört dich offenbar, und ich habe weder die Zeit noch die Geduld, es dir aus der Nase zu ziehen.  Sag mir, was ich wissen will, oder ich werd's auf die harte Tour heraus bekommen. Was ist los?"

Ihre harten Worte wurden gemildert durch die Sorge in ihren Augen, und nachdem Mulder zuerst abstreitend den Kopf geschüttelt hatte, gab er es auf. Es würde sowieso nichts bringen, sich mit ihr zu streiten. Er hatte in den zehn Jahren, in denen sie verheiratet waren, nicht einmal gewonnen.

"Emmie hat mich heute nach Zach gefragt", sagte er endlich.

Scullys Augen wurden groß, als sie noch einen Chip nahm. "Was hast du ihr gesagt?" fragte sie.

Er schnaubte verächtlich. "Alles—gut verpackt in der Version für eine Fünfzehnjährige. Ich musste es tun, Scully. Sie hat mir das Spiel aufgeladen."

"Und du bist in deine eigene Grube gefallen." Scully schüttelte reuevoll ihren Kopf. "Ich habe dir doch geraten, ihr nicht solch eine Macht zu geben", sagte sie mild, "aber du bist hier der Kinder-Psychologe, und du wolltest nicht hören."

"Und ich habe dir gesagt, Scully, dass man Kindern den Glauben geben sollte, dass sie eine gewisse Kontrolle in der Welt haben, auch wenn sie das letztendlich nicht haben." Er lachte kurz und bitter. "Allerdings hat mir mein Doktortitel hier eingebracht, dass sie nicht mehr mit mir redet."

"Mulder." Sie legte ihre Hand tröstend auf seinen Arm. "Du weißt, dass sie nur sauer ist, und du weißt, dass sie darüber hinweg kommen wird. Wenn du ihr gesagt hast, dass du derjenige bist, der Zach getötet hat, ist sie jetzt erst mal geschockt. Sie ist aber ein intelligentes Mädchen, und letztendlich wird sie erkennen, dass du keine andere Wahl gehabt hattest.  Hast du ihr gesagt, was Zach vorhatte? Dass er uns beide umbringen wollte?"

Er nickte, gab ihr den Teller zurück und stand auf. "Ja, das habe ich, und ich weiß, dass du Recht hast, Scully, aber trotzdem...."

"Ich weiß", sagte sie verständnisvoll. "Es ist sehr schwer. Aber Emmie liebt dich immer noch, Mulder. Das wird ihre Gefühle für dich nicht kaputt machen. Tief drinnen, das weißt du."

"Ich weiß. Rein logisch weiß ich das, aber es ist etwas anderes, wenn es deine eigenen Beziehungen sind, um die es geht."

"Ich kenne diesen Unterschied seit du dich das erste Mal verletzt hast, und ich mich um dich als Ärztin, nicht als Partnerin und Freundin kümmern musste. Es ist immer schwierig, eine Situation objektiv zu betrachten, wenn jemand seiner Lieben leidet."

Er öffnete den Mund, um zu antworten, aber das Telefon klingelte und er ließ es bleiben.

"Ich gehe ran", murmelte er und beeilte sich, ins Haus zu kommen, bevor sie ihm weiter predigen konnte. "Vielleicht ist es Ellery." Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine Lektion über das Grundwissen menschlichen Verhaltens. Er wusste das alles, kannte es so genau wie seinen eigenen Namen. Das Schwierige daran war nur, danach zu leben.

Mulder schaffte es, das Telefon beim vierten Klingeln abzuheben, bevor der AB dran ging.

"Hallo?" meldete er sich in der Erwartung, Ellery außer Atem erklären zu hören, warum sie spät dran war. Ellery war seiner Erfahrung nach immer spät und immer außer Atem. Es war etwas, dass er sowohl nervend, als auch niedlich fand.

"Ich habe Ihre Tochter. Wenn sie sie zurück haben wollen, kooperieren Sie lieber."

Mulder starrte auf das Telefon aus dem jetzt nichts mehr kam, weil die Leitung unterbrochen worden ist. Was zur Hölle war das denn?

Schnell sah er auf das Anrufer-Identitäts-Display, doch da stand nur 'Unbekannter Anrufer'. Welch Überraschung.

"War das Ellery?" fragte eine kühle Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und fand Emmie mit einem gleichgültigen Ausdruck auf ihrem Gesicht vor.

"Nein, ich glaube falsch verbunden", sagte er und sie war aus der Tür, bevor er den Satz auch nur zu Ende gesprochen hatte. Er seufzte wieder und biss sich auf die Zunge, um ihr nichts Verärgertes hinterher zu rufen. Dann steckte er seinen Kopf aus der Küchentür. "Scully, kommst du mal bitte?"

Sie kam sofort und ihr Gesichtsausdruck änderte sich von neugierig zu besorgt, als sie Mulders Verwirrtheit sah.

"Was ist los, Mulder? Was ist passiert?"

"Ich bin mir nicht sicher", antwortete er langsam. "Das war ein.... sehr seltsamer Anruf."

Sie sah auf das Display. "Anonym? Was hat er gesagt?"

Er wiederholte den einzigen Satz, den der Anrufer gesagt hatte, und sie blickten sich an. Fast gleichzeitig dämmerte es ihnen.

"Ellery!"

Mulder schnappte sich das Telefon und rief die Murrays an. Niemand hob ab, was ihm umso mehr Sorgen machte. "Ihre Eltern sollten doch zu Hause sein, richtig?" sagte er, und Scully schreckte auf.

"Das habe ich vergessen, dir zu sagen—ihre Eltern haben eine plötzliche Einladung bekommen, übers Wochenende zu Adams Bruder zu fahren. Sie haben gefragt, ob Ellery bis Sonntag hier bleiben könnte, und ich sagte ja. Sie sollte zu Fuß rüber kommen, wenn sie ihre Hausaufgaben erledigt hat.  Mulder, sie sollte längst hier sein!"

"Verdammt!" stieß er aus. "Scully, du bleibst hier bei den Kids. Ich gehe rüber zu Ellerys Haus und sehe nach, ob ich sie finden kann... oder irgendetwas anderes."

"Sollen wir nicht die Polizei rufen, Mulder?" rief sie, als er im Flur verschwand.

"Noch nicht", rief er zurück. "Die können noch nichts machen, und wir wissen nicht mal, was wirklich los ist, oder?"

Sie eilte ihm nach und holte ihn an der Haustür ein. "Wir haben einen Anruf von einem möglichen Kidnapper bekommen", argumentierte sie. "Glaubst du wirklich, dass das ein Zufall ist?"

Er legte die Hände auf ihre Schultern. "Gib mir nur eine halbe Stunde, Scully. Ich werde nach ihr suchen. Wenn wir jetzt die Polizei rufen, könnten wir sie umso mehr in Gefahr bringen. Und", fuhr er fort, während er eine Kopfbewegung in Richtung Hinterausgang machte, "wir können die Kinder nicht in Panik versetzten, bis wir nicht sicher sind."

Widerstrebend nickte sie und sah, wie er sich zu den Murrays davon machte.  Sie schloss die Tür und betete, dass Ellery wohlbehalten und gesund bald aufgefunden würde, und dass der Anruf nur ein schrecklicher Fehler oder dummer Scherz war. Dann ging sie entschlossen zurück zum Pool. Sie musste Emmie sehen und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging.

Mulder lief den ganzen Weg zum Murray-Haus. Er klopfte an, doch niemand machte auf. Er versuchte die Vordertüre, doch die war abgeschlossen. Von Ellery fehlte jede Spur.

 

Freitag, 22.02 Uhr

Als das Telefon dieses Mal läutete, sprang Mulder regelrecht danach.

"Ja?" sagte er angespannt und hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Er konnte sich nicht erklären, warum er sich schuldig fühlte, dass Ellery gekidnappt worden war, und nicht Emmie, aber er tat es.

"Ich habe deine Tochter, Reicher Mann."

Die Stimme am anderen Ende weckte Erinnerungen, und Mulder wurde blass, während er zuhörte. Er kannte diese Stimme, aber woher? Sein Gedächtnis wollte diese Antwort in dem Moment nicht ausspucken, aber es gab ihm das Gefühl, die absolute Sicherheit, dass Ellery in großer Gefahr war.

"Sie haben das falsche Mädchen", sagte er langsam und zwang sich zur Ruhe.

Wenn sie Ellery unverletzt wieder haben wollten, musste er ruhig bleiben.

"Warum lassen Sie sie nicht gehen und wir vergessen das Ganze?"

Die Stimme schwang um in ruppiges Gelächter. "Keine Chance, Reicher Mann. Nicht ohne ein wenig Bares als Anreiz."

"Hören Sie", erklärte Mulder geduldig, "das Mädchen, das Sie entführt haben, ist nicht meine Tochter. Ihre Eltern sind nicht reich, sie können Ihnen nicht geben, was Sie wollen. Wenn Sie sie jetzt gehen lassen, kommen Sie noch davon."

Die Stimme sagte nichts für einige Sekunden. Schließlich grollte sie, "Sie kennen die Kleine, stimmts? Wenn Sie lügen, wird es ihr sehr weh tun."

"Sie ist die Freundin meiner Tochter", antwortete Mulder rasch und ballte hilflos die Fäuste. Er sah, wie Scully nach ihrem Handy griff und hastete, um sie aufzuhalten. Er schüttelte wild den Kopf und ignorierte ihren ärgerlichen, bestürzten Blick.

"Dann werden Sie bezahlen."

"Was?" Das hatte Mulder nicht erwartet.

"Sie werden bezahlen, um sie zurück zu bekommen, Reicher Mann. Ich will zwei Millionen Dollar für die Kleine."

"Sie werden keinen Cent von mir bekommen, Sie Hund!"

Die Stimme lachte wieder, ein Ton, der Mulder Schauer über den Rücken jagte. "Ich gebe Ihnen etwas Zeit, um darüber nachzudenken", sagte der Entführer. "Wenn ich wieder anrufe, haben Sie besser das Geld zusammen, oder die kleine Lady hier beißt ins Gras."

"Nicht...." Er verzog das Gesicht, als er das Klicken in der Leitung hörte.  Mulder stand still und dachte angestrengt nach, bevor Scully ihn unterbrach.

"Warum hast du mich nicht die Polizei rufen lassen?" wollte sie wissen. "Sie hätten den Anruf vielleicht zurückverfolgen können!"

Mulder schüttelte grimmig den Kopf. "Er wäre nicht lange genug in der Leitung geblieben. Wenn er wüsste, dass wir die Polizei informiert haben, wird er Ellery vielleicht weh tun." Oder sie umbringen, nagte eine Stimme in seinem Kopf, aber er wollte es in Emmies Gegenwart nicht aussprechen.

Emmie aber ließ sich nicht hinters Licht führen. "Fox, was wollte der Mann?"

Mulder seufzte. "Er will Lösegeld. Zwei Millionen Dollar."

"Und du hast nein gesagt?" fragte sie ungläubig. Das Unverständnis war ihr am Gesicht abzulesen.

"Emmie...."

"Es ist doch nur Geld, Fox! Wie oft habe ich dich das sagen hören?"

"Emmie, wir können mit Kidnappern nicht verhandeln, wir müssen die Experten rufen", klinkte sich Scully erklärend ein.

"*Ihr* seid die Experten!" schrie sie. "Ihr erzählt mir dauernd irgendwelche heißen FBI-Storys, ihr wisst ganz genau, was ihr tun sollt! Du hättest einfach sagen können, dass du einverstanden bist. Wenn Ellery stirbt, ist es deine Schuld, Fox. Willst du jeden umbringen, der mich wichtig ist?"

Emmie rannte aus dem Zimmer, heulend vor Wut, so dass sie den blanken Schmerz nicht sehen konnte, der Mulder bei ihren Worten befiel.

"Sie kriegt sich wieder ein, Mulder", sagte Scully und hielt ihn am Arm zurück, als er Anstalten machte, ihr zu folgen. "Sie ist nur außer sich.  Sie wird sich später beruhigen, wenn sie die Möglichkeit hatte, darüber nachzudenken."

Mulder seufzte wieder, schwer, und schob die Finger unter seine Brille, um sich die Augen zu reiben.

"Wir sollten Walter anrufen", sagte er. Scully stimmte zu. Sie tätigte den Anruf, während Mulder auf seiner Unterlippe kaute und im Zimmer auf und ab ging.

"Sie sind auf dem Weg", sagte sie, als sie auflegte. Sie stellte sich vor ihren Mann, so dass er gezwungen war, mit der Lauferei aufzuhören. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und er musste sie ansehen.

"Wir kriegen das hin, Mulder", versicherte sie ihm. "Wir vier lassen uns etwas einfallen. Walter kann dafür sorgen, dass alles still verläuft, und mit ein bisschen Glück wird der Typ überhaupt nicht merken, dass das FBI verständigt."

"Ich hoffe stark, dass er das nicht tut", gestand Mulder und zog sie zu sich, dass sie ihre Arme beruhigend um ihn legen konnte. "Es ist nur...."

Scully lehnte sich zurück und sah in sein Gesicht. "Was?"

Er schüttelte rasch den Kopf und biss sich nachdenkend wieder auf die Unterlippe. "Ich kann's nicht genau beschreiben", antwortete er, "aber ich kenne die Stimme."

 

Walter und Jess Skinner brauchten nicht lange, und schon kurz darauf waren sie zu viert in Mulders Arbeitszimmer versammelt. Emmies Gäste waren nach Hause geschickt worden, und Emmie hatte sich im Badezimmer eingeschlossen.  Hin und wieder konnte man Schluchzen aus dem Badezimmer hören, wobei Mulder jedes Mal ein wenig blasser wurde. Skinner, der wusste, dass Mulders Frauen ihn beizeiten richtig aus der Fassung bringen konnten, bemerkte alles davon.

"Mulder", sagte er streng mit seiner besten Vorgesetzten-Stimme, "beruhige dich.  Emmie wird es überleben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Ellery das auch tut."

"Ich weiß, Walter. Ich komme mir nur so hilflos vor."

"Erzähl mir alles, was der Anrufer gesagt hat", ordnete Skinner an.

Mulder schluckte, um seine trockene Kehle zu befeuchten, und dachte zurück an den Anruf.

"Er hat offensichtlich angenommen, dass er Emmie entführt hatte. Er muss uns schon eine ganze Weile beobachtet und das Ganze geplant haben."

Skinner nickte.

"Als ich ihn davon überzeugt hatte, dass er nicht unsere Tochter hat, fragte er, ob wir Ellery kennen. Als ich ja sagte, sagte er, er wolle zwei Millionen Dollar für sie. Ich habe ihm aber schon gesagt, dass ihrer Eltern nicht reich seien."

"Noch etwas?"

"Er nannte mich dauernd 'Reicher Mann'. Und Walter, ich kenne diese Stimme."

Skinners Kopf schoss in die Höhe. "Von wo?"

Mulder schüttelte langsam den Kopf. "Das weiß ich nicht mehr, aber ich weiß, dass es nichts Gutes war."

"Vom Gefängnis?" fragte Jess ruhig vom anderen Ende des Zimmers und Mulder erschrak. Er hatte vergessen, dass sie auch da war.

"Ich bin mir nicht sicher", antwortete er nachdenklich. "Vielleicht. Er klang, als wollte er seine Stimme verstellen, aber das ist ihm nicht sehr gut gelungen."

"Denk zurück", sagte Skinner. "Versuche, die Stimmen von den Leuten, die du kennst, in deinem Kopf zu hören."

"Walter...."

"Jess, es ist vielleicht die einzige Möglichkeit, diese Person zu identifizieren", konterte Skinner. "Unser erster Gedanke sollte Ellerys Sicherheit gelten."

Mulder schloss die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er konzentrierte sich darauf, Stimmen aus seiner Vergangenheit in sein Gedächtnis zu rufen. Er hatte vor Jahren mit Jess viele Probleme bewältigen können, aber einige Dinge vertrugen Erinnerungen immer noch nicht. Er wusste, dass es sowohl schmerzhaft, als auch angsteinflößend werden würde.  Mulder fühlte, wie sich eine Hand über seine schob, und sah auf. Jess hatte sich neben ihn gesetzt und schaute ihn ermutigend an.

"Gut, Mulder, konzentriere dich und schließe deine Augen wieder", sagte sie sanft und er tat es, verbarg die Verzweiflung, die sich in seinen Augen zeigte. Er wollte diesen Weg nicht mehr gehen müssen. "Ich bin hier bei dir", sprach sie weiter, und er fasste ihre Hand fester, eine bekannte, vertraute große Hilfe.

Widerstrebend rief sich Mulder so viele Menschen wie möglich ins Gedächtnis und versuchte, sich an ihre Stimmen zu erinnern. Zellengenossen, die kamen und gingen, und da waren diese Männer, die ihn auf dem Übungsplatz überfallen hatten.... er wagte es nicht, weiter darüber nachzudenken, nicht einmal für Ellery, also verdrängte er diese Erinnerung rasch wieder. Er kannte die Namen der Männer sowieso nicht.

Scully sah besorgt zu, als sich die Torturen auf dem Gesicht ihres Mannes abzeichneten, bis er schließlich die Augen wieder aufmachte und Jess ansah.

"Ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern", sagte er hilflos.

"Mulder, könnte es jemand von davor sein? Jemand, der dich vielleicht ins Gefängnis geschickt hat?" fragte Skinner.

"Vielleicht", stimmte Mulder zu. "Es tut mir leid, Walter, ich weiß, dass ich die Stimme schon einmal gehört habe, aber es will mir jetzt partout nicht einfallen."

Skinner setzt sich enttäuscht zurück. "Es ist okay, Mulder. Möglicherweise fällt es dir später noch ein."

Mulder schüttelte sich innerlich. Er wollte nicht, dass es ihm später wieder einfiel. Er wusste, dass diese Stimme Schreckliches verhieß, und er wollte das nicht wieder ausgraben. Andererseits hatte er keine andere Wahl.  Es war vielleicht Ellerys letzte Hoffnung.

Bevor er sich selbst in den Strom von Erinnerungen stürzte, klingelte das Telefon. Skinner riss sein Handy aus der Tasche und bedeutete Mulder, den Anruf anzunehmen.

"Ich will zwei Millionen Dollar in bar, deponiert unter dem Pavillon im Soldier Park morgen um Mitternacht", sagte die Stimme ohne Vorgeplänkel.  "Keine Mucken, Reicher Mann. Wenn ich irgendjemanden anderes in der Nähe sehe, oder wenn irgendwer außer dir das Geld bringt, stirbt die Kleine. Ich weiß, dass du versuchst, diesen Anruf zurück zu verfolgen, also mache ich es kurz. Zwei Millionen. Morgen um Mitternacht. Soldier Park. Du. Allein."

Der Entführer hing auf bevor Mulder überhaupt antworten konnte.

"Verdammt!" fluchte Skinner und haute auf den Knopf seines Telefons.

"Er wusste, dass wir den Anruf verfolgen", sagte Mulder.

"Das heißt entweder, dass er weiß, dass wir die Polizei gerufen haben, oder dass er uns schon lange beobachtet und weiß, dass wir Freunde von Skinner sind", stellte Scully fest. "Wenn das der Fall ist, wird er gewusst haben, dass das FBI von Anfang an involviert sein wird."

"Aber in dem Fall, warum würde er das falsche Mädchen mitnehmen?" argumentierte Skinner.

Scully zuckte die Schultern. "Du hast Ellery gesehen, Walter. Du weißt, wie sehr sie und Emmie sich ähneln. Wenn er uns von Weitem beobachtet hat, kann es gut sein, dass er sie verwechselt hat."

"Er will, dass ich, und nur ich, zwei Millionen Dollar unterm Pavillon im Soldier Park morgen um Mitternacht deponiere", berichtete Mulder ihnen. "Er hat gesagt, dass wenn er irgendjemanden anderes in der Nähe sieht, oder wenn irgendwer anderes das Geld bringt, er sie umbringen wird."

Seine Worte hingen wie Eis in der Luft.

"Was möchten Sie tun?" fragte Skinner letztendlich.

Mulder fuhr sich mit den Fingern ruhelos durch die Haare. Er wusste, dass Scully nicht glücklich mit dieser Entscheidung sein würde, aber er glaubte in Ellerys Interesse, geschweige denn von seinem weiteren Verhältnis zu Emmie, in dieser Sache seinen Instinkten folgen zu müssen.

"Ich glaube, wir sollten tun, was er verlangt."

Alle drei starrten ihn erschrocken an. Scully fasste sich als erste.

"Mulder", sagte sie sanft, rückte neben ihn und legte einen Arm um seine Hüfte, "ich weiß, was du über Polizei denkst, aber...."

"Das hat damit nichts zu tun", unterbrach er sie. Er wollte sauer auf sie sein, weil sie glaubte er sei so oberflächlich, seine eigenen Ängste über das Leben des kleinen Mädchens zu stellen. Aber ihm war auch klar, dass er in der Vergangenheit einen Eindruck hinterlassen hatte, der eine solche Annahme rechtfertigte.

"Scully, dieser Typ weiß, wer wir sind. Und ich kenne ihn, obwohl ich im Moment nicht weiß woher. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er weiß, dass wir mal FBI-Agenten waren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er weiß, dass einer unserer engsten Freunde eine hohe Position beim FBI hat. Er wird nach allen Anzeichen für eine Falle suchen."

Sie starrte ihn an. Sie wusste, dass er Recht hatte, doch sie wollte ihm nicht erlauben, sich in Reichweite eines Kidnappers zu stellen, besonders nicht, wenn dieser Kidnapper womöglich einen Hass auf ihn hatte. Sie suchte nach einer Möglichkeit, ihn von diesem Vorhaben abzubringen, doch Skinner nahm es ihr von sich aus ab.

"Ich kann Dich das nicht tun lassen, Mulder."

Skinners Tonfall war streng und autoritär. Es war der Tonfall, den er bei seinen Untergebenen verwandte—der Tonfall, der Mulder immer noch nach all den Jahren wirken konnte. Doch heute konnte Mulder das nicht abschrecken.

"Walter, ich habe dich angerufen, weil du mein Freund bist. Ich habe nicht offiziell das FBI angerufen. Du hast nicht das Recht dazu, eine solche Entscheidung zu treffen."

"Du aber auch nicht, Mulder", entgegnete Jess sanft. "Das ist eine Entscheidung, die Ellerys Eltern treffen sollten."

Mulder sah zu Boden und seufzte. "Sie wissen es noch gar nicht", gestand er. Skinner starrte ihn ungläubig an.

"Ihr habt es ihnen noch nicht gesagt?" wetterte er. "Mulder, was zum Teufel...."

"Sie sind nicht in der Stadt, Walter!" sagte Scully scharf. "Sie haben heute Nachmittag angerufen und gefragt, ob Ellery das Wochenende hier verbringen kann, während sie weg sind. Wir haben da angerufen, wo sie hinfahren wollten, aber vor einer Stunde war da noch niemand zu erreichen."

"Versucht es wieder", grummelte Skinner. "Das ist ihre Entscheidung."

Mulder wählte gehorsam die Nummer und wurde zumindest mit Ellerys Vater verbunden.

"Adam, hier ist Fox Mulder. Wir haben versucht, euch zu erreichen."

"Oh, hallo Mulder. Wir sind ein bisschen spät angekommen. Ist alles in Ordnung? Ellery ist doch nichts passiert, oder?"

Die Sorge in seiner Stimme machte Mulder ganz klein. Wie sollte er dem Mann nur sagen, dass seine Tochter versehentlich entführt worden war, dass die Vergangenheit von Mulders Familie wieder einmal anderen Leuten großen Schaden zufügte?

"Ich.... ich glaube, du und deine Frau sollten besser so schnell es geht zurück fahren", sagte er so ruhig er konnte. "Es ist etwas.... es ist etwas passiert."

 

Samstag, 14.13 Uhr

"Mulder, ich werde dahin gehen, ob's dir gefällt oder nicht, und hör auf zu diskutieren", bestand Skinner endgültig darauf. "Ich werde dafür sorgen, dass die Verstärkung weit weg bleibt, wie du gebeten hast, aber ich lasse dich nicht alleine in dieser Sache."

Mulder seufzte tief, setzte seine Brille ab und rieb sich mit den Händen sein mitgenommenes Gesicht. Er hatte die ganze letzte Nacht nicht geschlafen—keiner von ihnen hatte das. Adam und Carolyn Monroe waren in den frühen Morgenstunden angekommen, und die sechs hatten die ganze Nacht diskutiert in der Hoffnung, einen Plan zu finden, dem Mulder und Skinner zustimmten.

"Lass es mich auf seine Weise machen, Walter", hatte Mulder verlangt. "Es ist wichtiger, Ellery gesund wieder zu bekommen. Ich will meine zwei Millionen Dollar nicht verlieren, aber es wird mich sicherlich nicht in den Ruin treiben. Wenn sie den Kerl schnappen, kriege ich es wieder. Wenn nicht...." Er zuckte mit den Schultern.

"Aber wer sagt uns, dass er dein Geld nicht nimmt und sie trotzdem umbringt", konterte Skinner, wobei Carolyn angefangen hatte zu weinen.

Adam umarmte seine Frau und tröstete sie still, während sie Mulder und Skinner zusahen. Sie kannten die Mulder-Familie seit sechs Jahren, seit ihre Töchter die besten Freundinnen geworden sind, und Adam wusste, dass Mulder die beste Lösung finden würde. Das Ehepaar Skinner kannten sie nicht so gut, doch sie vertrauten ihnen dennoch. Momentan war ihm sowohl Skinners Plan, als auch Mulders Geld völlig egal—er wollte einfach nur seine Tochter lebend wieder haben. Er vertraute darauf, dass Mulder die Führung übernehmen würde, weil er sich in der Vergangenheit auch immer sehr kompetent in Notfällen gezeigt hatte. Mulder war einmal beim FBI gewesen, Dana war einmal beim FBI gewesen, Skinner war jetzt immer noch beim FBI.  Das hier war ihre Welt; Adam kannte seine Grenzen.

"Deine Verstärkung wird da sein und dafür sorgen, dass das nicht passiert.  Sie sollen zuschlagen und den Kerl schnappen, sobald er versucht, das Geld zu holen."

"Und was das Geld betrifft", fuhr Skinner fort, "kannst du an einem Samstag überhaupt so viel Geld beschaffen?" Mulders Kiefer zog sich fast unmerklich zusammen. "Ich kann, wenn ich muss", sagte er überzeugt, doch Skinner hatte seine Zweifel.

"Wenn ihr ihn sowieso nicht mit dem Geld weg lasst, warum legen wir ihm nicht irgendetwas anders dahin?" schlug Scully vor. "Stopft einen Koffer mit weißem Papier voll oder mit etwas, das etwa genauso schwer aussieht.  Unsere Einheit sollte sich ihn holen, bevor er es überhaupt zu Gesicht bekommt."

Skinners Vorschlag, seine Einheit in den Bäumen und Büschen um den Pavillon zu verstecken, hatte Mulder strikt weg abgelehnt. "Wenn er sie sieht, traue ich es ihm zu, dass er seine Drohung wahr macht", hatte er entgegnet. "Wir können keine Risiken eingehen. Ich werde alleine hingehen."

Letzten Endes hatten sie sich darauf geeinigt, ein Verstärkungsteam in einiger Entfernung vom Übergabeort zu verstecken. Allerdings leider außer Sichtweite von der Laube, denn die Anordnung des Parks machte es unmöglich, dieses Hindernis zu umgehen. Sobald Mulder den Koffer abgestellt und sich aus dem Staub gemacht hatte, würde die Spezialeinheit sich schnell und unbemerkt nähern und sich auf die Lauer legen.

Skinner konnte schließlich die Dinge zu Mulders Zufriedenheit arrangieren, aber als Mulder sah, wie Skinner sich bereit machen wollte, protestierte er.

"Nur ich, Walter."

"Mulder", sagte Skinner hartnäckig und sah seine Waffe nach. "Ich weigere mich, dich da völlig alleine hingehen zu lassen. Viel zu viele Dinge könnten schief laufen. Ich will jetzt in den Park gehen und mich irgendwo verstecken, wo ich dich im Auge habe. Ich bin nur ein Mann. Er wird nicht wissen, dass ich da bin."

Schließlich hatte Mulder, weil er Skinner sowieso nicht davon abhalten konnte, widerwillig nachgegeben, und Skinner hatte sich auf den Weg gemacht. Jess hatte ihrem Mann mit einer Mischung aus Stolz und Angst nachgesehen; normalerweise arbeitete er an einem gefahrlosen Schreibtischplatz, was sie begrüßte. Sie war es nicht gewöhnt zu sehen, wie er sich in Gefahr begibt.

Scully, die relativ daran gewöhnt war, dass ihr Mann für andere Kopf und Kragen riskierte, umarmte Mulder fest und betete, dass Ellery morgen um diese Zeit wieder zu Hause sein würde, der Entführer gefasst war, und sie alle wieder ihr schönes, normales, langweiliges Leben leben konnten.

 

Samstag, 17.30 Uhr

Dulexy betrat den Raum, in dem das Mädchen gefesselt und zu Tode verängstigt in der Ecke saß. Sie sah mit großen, angstvollen Augen zu ihm hinauf, als er näher kam. Er versuchte zu lächeln, um ihr zu zeigen, dass sie sich nicht fürchten brauchte. Ihm gelang lediglich eine Grimasse.

In einer Hand hielt er ein Glas Wasser, in der anderen eine kleine weiße Tablette. Sie sah zu, wie er sich neben sie kniete, schreckte aber zurück, als er versuchte, ihr die Tablette in den Mund zu stecken.

"Keine Angst, kleines Mädchen, ich werde dir nicht weh tun. Es ist nur eine Schlaftablette. Du musst jetzt ein schönes, langes Nickerchen machen."

Als Ellery ihre Lippen fest zusammengepresst hielt, seufzte Dulexy geduldig, setzte das Glas ab und zwang mit beiden Händen ihre Zähne auseinander. Er warf die Tablette ihren Hals hinunter und schüttelte den Kopf, als sie sich daran verschluckte. Er hielt ihr das Glas an die Lippen und wartete, während sie etwa die Hälfte davon trank. Er stellte erleichtert fest, dass sie die Tablette nach kurzem Husten ohne Probleme zu schlucken schien.

"Ich werde dir nicht weh tun", wiederholte er sanft. "Wenn der Vater deiner Freundin tut, was ich will, dann wirst du heute Abend wieder zu Hause sein.  Schlaf jetzt und hab keine Angst."

"Und was ist, wenn er nicht tut, was Sie wollen?" flüsterte sie.

Er lächelte, dieses Mal ein wirkliches Lächeln und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. "Das wird er", versprach Dulexy.

Sie nickte, verwirrt über die Freundlichkeit ihr gegenüber, wo sie doch erwartet hatte, dass er absolut nicht in ihrem Interesse handelte. Er ist kein guter Mensch, rief sie sich ins Gedächtnis, als er aus dem Zimmer ging, egal wie nett er scheint. Er hatte sie entführt, und er hatte Emmie gewollt, damit er Geld für sie kriegen konnte. Er hatte eine Waffe auf sie gerichtet und sie gefesselt, und er hatte ihr nicht einmal etwas zu Essen gegeben. Wieder liefen ihr Tränen über das Gesicht. Ellery schloss die Augen und lehnte sich zurück gegen die Wand. Weil sie überhaupt nicht an Medikamente gewöhnt war, fiel sie schon bald in einen tiefen Schlaf.

 

Samstag, 19.32 Uhr

Dulexy beobachtete belustigt, wie der Mann um die Büsche kroch, die an die Wiese mit dem Pavillon angrenzten. Er war wohl auf der Suche nach einem guten Versteck. Von seinem Aussichtspunkt, verborgen in den dicht aneinander stehenden Bäumen hatte er den Mann zu Fuß ankommen sehen. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte eine verdächtige Beule unter dem Ärmel des Jacketts, das er trotz der relativ warmen Temperaturen trug.

Zuerst war er wütend gewesen, als er ihn gesehen hatte, und war vorsichtig und so unbemerkt wie möglich durch das Gelände gestreift in dem Glauben, dass da mehr sein könnten. Doch soweit er das beurteilen konnte, war das nicht der Fall. Er wusste natürlich, wer der Mann war. Es war Walter Skinner, Assistant Director des FBI und ein guter Freund von Fox Mulder.  Zuerst hatte er sich gefragt, ob das FBI offiziell eingeschaltet worden war -- ob er gezwungen wurde, seine Geisel zu töten—aber umsichtiges Herumschnüffeln hatte keine weiteren Eindringlinge hervorgebracht. Skinner war hier offensichtlich allein hergeschickt worden, um auf Mulder acht zu geben. Das war in Ordnung. Er würde einfach dafür sorgen, dass Skinner und Mulder ihn nicht zu fassen bekämen. Das sollte nicht allzu schwer sein, da er nun vorgewarnt war.

Er blickte zur Seite auf den Beifahrersitz zu dem Mädchen, das dort schlief. Nur noch ein paar Stunden, dann würde er auf dem Weg sein, dachte er. Allerdings hatte er seinen Plan durch Skinners Auftauchen ein klein wenig ändern müssen. Jetzt musste er, anstatt das Geld einfach zu nehmen, nachdem Mulder weg war, ihm gegenüber treten. Er würde dafür sorgen, dass der Mann in den Büschen keine Gelegenheit dazu haben würde, ihn zu stellen.  So oder so, er würde mit dem Geld davon kommen können.

 

Samstag, 0.00 Uhr, Mitternacht

Ellery war bereits eine halbe Stunde wach. Sie blieb ruhig sitzen, wie der Mann mit der Pistole ihr befohlen hatte. Er hatte Klebeband um ihre Handgelenke gewickelt, und sie saß mit den Händen auf ihrem Schoß. Er hatte ihr gesagt, dass sie nun bald nach Hause gehen könne, und obwohl sie den Gedanken nicht abschütteln konnte, dass er log, wollte sie ihm glauben. Sie wollte ihre Eltern wieder sehen. Sie wollte Emmie sehen. Sie wollte in ihrem eigenen Zimmer schlafen, mit ihren Kuscheltieren auf dem Bett und Postern von Ricky Martin an den Wänden. Und sie wollte nie wieder am anderen Ende einer Waffe sein, solange sie lebte.

Der Entführer, der sie nicht aus den Augen ließ und gleichsam die Umgebung beobachtete, regte sich plötzlich.

"Auf geht's", sagte er, zog sie am Arm aus dem Wagen und half ihr auf den Boden. "Verhalte dich ruhig", grollte er an ihrem Ohr. Sie nickte. Er hielt sie vor sich fest, ein Arm um ihre Hüften, und führte sie aus dem Wäldchen in Richtung des Pavillons.

 

"Er setzt den Koffer gerade ab", sagte Skinner über sein Handy leise zu Scully, die mit dem Leiter des Swat-Teams im Wagen saß. "In ein paar Minuten wird er aus dem Weg sein und die Männer können zuschlagen."

"Gleich geht's los", informierte Scully Frank Rockway, den leitenden Officer. Dieser nickte und bedeutete seinen Männern sich bereit zu machen.

 

Mulder näherte sich vorsichtig dem Unterstand, seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf seine Umgebung gerichtet, falls der Entführer sich in der Nähe aufhielt und ihn beobachtete.

Er hielt die losen Zweige, die ihm im Weg war, mit einer Hand beiseite und steckte den Koffer ganz unter den Pavillon. Als er losließ, flippten die Zweige wieder zurück und vom Koffer war kaum mehr etwas zu sehen. Mulder blickte sich um, sah niemanden, und erhob sich aus der Hocke. Er wischte sich grob den Schmutz von den Hosenbeinen seiner Jeans, drehte sich um und erstarrte. Von allen Leuten, von denen er nie erwartet hätte, dass er sie noch einmal zu Gesicht bekommt, war dieser Mann ganz oben auf der Liste.

"Dulexy", sagte er mit einer Spur Sarkasmus in seiner Stimme. "Bist du ausgebrochen oder hat dich irgend so ein armseliger Idiot frei gelassen?"

Dulexy ignorierte seinen stichelnden Kommentar. Als Mulder einen Schritt auf ihn zu trat, drückte Dulexy seine Pistole in Ellerys Schläfe und zischte, "Bleib da stehen." Ellery versteifte sich und fing leise an zu weinen.

Mulder hielt sofort an, blickte auf Ellerys zu Tode verängstigtes Gesicht.

"Bin froh zu sehen, dass du Befehlen so gut folgen kannst, Reicher Mann", grinste Dulexy. Er hielt Ellery vor sich, so dass ihr Körper ihm als Schutzschild diente. Sie stand genau zwischen Skinner und einem gezielten Schuss. Die Waffe, die Dulexy an Ellerys Kopf hielt, glänzte im hellen Mondlicht. "Halte deine Hände so, dass ich sie sehen kann."

SCHEISSE! schrie Mulder innerlich. Die Tatsache, dass es Justin Dulexy war, mit dem sie es hier zu tun hatten, verkomplizierte die Sache ins Undenkbare. Mulder konnte sich gut an Dulexy erinnern, wusste noch genau, wie ausgeliefert er sich gefühlt hatte, als er sich in dem Griff des großen Mannes gewehrt hatte. Dulexys Arme hatten ihn stark wie Stahl gehalten, während er fast bewusstlos geschlagen worden war. Dieser Mann würde ihn ohne mit der Wimper zu zucken umlegen, und Ellery auch, wenn er sich dazu gedrängt fühlte. Doch jetzt war seine beste Strategie, zu kooperieren und zu beten, dass die Kavallerie bald eintreffe. Er zwang sich nicht zu dem Busch herüber zu sehen, wo sich Walter versteckt hielt.

"Warum lässt du sie nicht einfach gehen?" fragte Mulder, während er seine Arme hob. "Du willst ihr doch nicht weh tun, oder?"

Dulexy studierte ihn für einen Moment, auf der Hut nach Anzeichen für eine Falle.

"Sicher", stimmte er zu und näherte sich Mulder von der Seite, bis seine Waffe auf seine Schläfe gerichtet war. "Sie kann gehen. Im Austausch für dich. Weil wenn da keine zwei Millionen Dollar in diesem Koffer sind, wird das jemandem schrecklich leidtun. Wirst du das sein oder sie?" Mulder nickte und Dulexy ließ Ellery los, während er Mulder bedachtsam zwischen sich und Skinners Waffe hielt.

Mulder bewegte sich langsam, um ihn nicht zu einem Angriff zu reizen und nahm Ellery bei den Schultern. "Du musst jetzt gehen", sagte er ihr sanft und wischte die Tränen von ihren Wangen. "Es wird alles wieder gut."

"Aber Dr. Mulder...."

Mulder ging nicht auf sie ein, drehte sie beiläufig in Richtung Skinners Versteck und betete, dass sie dorthin laufen würde. "Lauf, Ellery", befahl er ihr und nach kurzem Zögern gehorchte sie. Erleichtert sah er, dass sie genau auf Skinner zulief.

"Okay, *Dr.* Mulder", höhnte Dulexy. "Zeig mir das Geld."

Mulder biss die Zähne zusammen, was das einzige Zeichen seiner Nervosität war. Er hoffte, dass Skinner eine Möglichkeit finden würde, Dulexy auszuschalten, bevor er merkte, dass in dem Koffer nichts als unbeschriebenes Papier war.

"Du kannst immer noch aufgeben", sagte Mulder in einem, wie er hoffte, ermutigenden Ton. "Wir haben die Polizei nicht benachrichtigt. Wenn du jetzt in deinen Wagen steigst und fährst, können wir dem Ganzen hier ein Ende setzen."

Dulexy stieß den Lauf seiner Waffe zur Antwort fester gegen Mulders Schläfe, zog zur Bekräftigung an Mulders Arm, den er hinter seinem Rücken festhielt und schubste Mulder ein wenig nach vorne.

"Hol das Geld, Reicher Mann", grollte Dulexy und mit einem weiteren Schlucken ging Mulder langsam zurück dem Versteck. Dulexy achtete ständig darauf, dass Mulder vor ihm her ging.

Mulder hoffte, sich am Pavillon vornüber beugen zu können, um Skinner einen klaren Schuss zu geben, doch er merkte, dass Dulexy um Skinners Versteck wissen musste, denn er hockte sich mit ihm hin, als er den Koffer aus seinem Versteck zog.

"Mach's auf!" befahl Dulexy grob, als Mulder zögerte und mit einem kaum hörbaren Seufzen gehorchte Mulder.

Dulexys erwartungsvolles Augenleuchten wandelte sich in starre Kälte.

"Du verdammtes Arschloch!" zischte er, und bevor Mulder reagieren konnte, wurde ihm schwarz vor den Augen, als Dulexy ihm mit voller Wucht mit der Waffe auf die Schläfe schlug.

Skinner feuerte augenblicklich, aber er hatte nicht bemerkt, dass er entdeckt worden war. Dulexy ließ sich so schnell wie Mulders leblose Gestalt auf den Boden fiel, ebenfalls fallen, so dass Skinners Schuss zu hoch ging.  Skinner zielte abermals, doch er ließ seine Waffe in der nächsten Sekunde fallen, weil Dulexy schneller war und seine Kugel sich durch Skinners Bauch bohrte.

Laut stöhnend ging Skinner zu Boden.

 

"Los!" schrie Scully, als sie den ersten Schuss in der Stille brechen hörte. Fast gleichzeitig knallte ein zweiter Schuss und ein schmerzhaftes Aufstöhnen drang durch die Leitung des Handys. "Walter? Walter, was zur Hölle ist passiert?" schrie sie ins Telefon, doch sie bekam keine Antwort.

Sekunden später hörte sie Sirenen in der Nähe, die zusammen mit den Schreien der Eingriffstruppe die Nacht durchbrachen.

"Macht die Sirenen aus!" schrie Scully, worauf sie sofort ausgeschaltet wurden, doch sie wusste, dass jegliche Taktik vermasselt worden war.

 

Als Dulexy die Sirenen hörte, fluchte er und wuchtete den bewusstlosen Mulder auf seine Schultern. Vergleichsweise schnell, wenn man seine Last auf den Schultern bedachte, warf er Mulder in seinen Truck und setzte sich hinters Steuer. Die Reifen drehten für einen Moment durch, bevor sie Halt fassten, als Dulexy das Gaspedal voll durchtrat. Sekunden später waren sie auf der schmalen Straße verschwunden, bevor die Verstärkung überhaupt auftauchte.

 

Skinner öffnete die Augen und sah Ellery vor sich stehen. Sie hielt seine Waffe in ihrer Hand, die sie auf Dulexy gerichtet hatte.

"Ellery, nein!"

Sein schwacher Ausruf wurde übertönt von dem ohrenbetäubenden Knall, als Ellery den Abzug durchzog. Sie zuckte bei dem unerwarteten Rückschlag zusammen und schrie leise.

Als sie im Begriff war, noch einmal zu feuern, sprach Skinner sie noch einmal an. "Ellery!" Er zuckte vor Schmerz, als es ihn wie messerscharfe Klingen durchbohrte.

Benommen drehte sich Ellery zu Skinner um.

"Hast du schon mal mit einer Waffe geschossen?" fragte er jetzt nicht so laut, er konnte sowieso nicht mehr schreien, selbst wenn er es für nötig betrachtet hätte.

Sie schüttelte langsam den Kopf, als ob sie erst jetzt das Ausmaß der ganzen Situation erkennen würde.

"Dann tu's nicht. Leg sie hin. Sie sind weg, du kannst ihm jetzt nicht mehr helfen, und du könntest vielleicht jemanden verletzen." Seine freundlichen Worte erreichten ihr Bewusstsein. Wie in Trance beugte sie sich vor und legte die Pistole neben ihn auf die Erde.

"So ist es gut. Das machst du sehr gut. Du bist eine mutige junge Frau." Er verzog das Gesicht wieder und fragte, "Bist du in Ordnung?"

Ellery schien plötzlich aus ihrer Trance gerissen und wurde vor seinen Augen wieder zu einem verängstigten Teenager. Ein Riesenschluchzen schüttelte ihren Körper und sie wischte sich mit schmutzigen Händen über das Gesicht. Ihre Hände waren immer noch mit dem Klebeband zusammengebunden. Skinner versuchte, seine Hände zu heben, um sie loszubinden, doch seine Gliedmaßen wollten nicht auf ihn hören.

"Es geht schon wieder, Mr. Skinner." Jetzt bemerkte sie erst, dass er angeschossen war und wurde von Schuldgefühlen überfallen. "Wir müssen Sie in ein Krankenhaus bringen."

Er schaffte ein schwaches Lächeln und kämpfte krampfhaft um sein Bewusstsein. "Scully wird gleich hier sein", flüsterte er.

Ellery sah sich besorgt um. Wo war Mrs. Mulder und warum dachte Skinner, dass sie kommen würde? Sie sah überall nur Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht, aber sie war sich nicht sicher, ob sie sie schon bemerkt hatten.  Sie schob sein zerfetztes Hemd zur Seite und besah die Wunde mit geradezu kritischem Blick. Sie wurde ein wenig blass, aber sie machte weiter, indem sie so gut es ging das Hemd zusammenknüllte und es auf die blutende Wunde in seinem Bauch drückte.

"Ah", grunzte Skinner, als sie zudrückte, denn der Schmerz loderte erneut auf.

"Sorry", murmelte sie und änderte den Behelfsverband ein wenig, um es ihm etwas angenehmer zu machen. "Sie bluten wirklich sehr stark."

"Wann hast du erste Hilfe gelernt?" fragte er und versuchte, nicht nach Luft zu schnappen.

Sie grinste ein wenig und sah ihm kurz in die Augen. "Meine Mutter ist Krankenschwester."

 

"Ein weiterer Schuss! Wo sind sie?" schrie Scully frenetisch, als sie um die Ecke bogen. Sie hatte den Schuss auch über ihr Handy gehört und wollte wissen, wer geschossen hatte. Sie konnte Ellerys Gestalt in dem hellen Mondlicht erkennen, wie sie sich über einen Mann am Boden beugte. Als sie näher heranfuhr erkannte sie, dass Ellery nicht neben ihrem Mann, sondern über Skinner gebeugt war, und Scully kletterte aus dem Polizeiwagen, um zu ihnen zu laufen.

"Wo ist Mulder?" fragte sie, als sie sich neben Ellery kniete. "Geht es dir gut, Ellery? Wo ist Dr. Mulder?"

"Der.... der Mann hat ihn mitgenommen", stammelte Ellery. Scully sah, dass das Mädchen unter Schock stand. Ellery zitterte und Scully legte ihre Arme um sie, um sie zu wärmen.

Scully sah auf und überblickte die Umgebung, aber sie konnte nirgends eine Spur von Dulexy oder seinem Wagen entdecken, in dem er mit ihrem Mann geflohen sein musste. Einige der Officer der Eingreiftruppe durchkämmten die Gegend zu Fuß, während andere versuchten festzustellen, welche der vielen Wege aus dem Park Dulexy genommen hat.

Scully schüttelte den Kopf, teils aus Ärger, weil Mulder sich wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte, teils, weil sie sich die Frage stellte, wieso das Schicksal es immer so schlecht mit ihrem Mann meinte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief einen Rettungswagen.

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