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Ahead of Twilight - Wenn die Nacht sich senkt (2)

von Texxas Rose

Kapitel 3

Dienstag, 21.30 Uhr

"Wie lange bist du jetzt schon hier, Mulder?" fragte Dulexy beiläufig, als er eisgekühltes Wasser aus seinem Glas schlürfte. "Wann hast du das letzte Mal ein richtig schönes kaltes Getränk genossen?"

Schon zwei Tage (zwei *Scheißtage*, du Hurensohn!), aber Mulder wollte Dulexy mit einer Antwort keine Genugtuung verschaffen. Stattdessen schloss er die Augen und drehte seinen Kopf weg, riss sie aber wieder auf, als das Rohr auf seinem brennenden Bauch landete. Dulexy mochte es nicht, wenn Mulder seinem Spott keine Beachtung schenkte. Seine Augen zuzumachen war praktisch eine Einladung zu einem weiteren Angriff. Mulder wusste jetzt erst recht, dass er mehr als nur eine gebrochene Rippe hatte—eine von was auch immer passiert ist, als er bewusstlos gewesen war, und mindestens eine mehr von Dulexys besoffenen Attacken während der letzten Nacht. Er hatte das gewisse Knacken genau gehört und den unerträglichen Schmerz gleich daraufhin gespürt. Es war ein bekannter Schmerz; er hatte sich schon mal die Rippen gebrochen.

Mulders Unbehagen ignorierend nahm Dulexy einen weiteren großen Schluck von seinem Getränk und beobachtete, wie die Augen seines Gefangenen auf dem Glas haften blieben. "Willst du was?" fragte er in einem Ton, der glatt als freundlich durchgehen könnte und hielt das Glas über Mulders sandpapiertrockenen Mund, gerade mal außer Reichweite.

Instinktiv reckte Mulder seinen Kopf in die Höhe, obwohl er wusste, dass Dulexy das Glas wegziehen würde, denn er konnte nicht widerstehen, sich nach der lebensspendenden Flüssigkeit, die ihn so quälte, zu strecken. Ein Film von Kondenswasser bildete sich am Glasboden zu einem Tropfen, der Ewigkeiten dort hängte, bevor es endlich so aussah, als würde er jeden Moment fallen. Mulder starrte ihn wie gebannt an und hörte förmlich die Sekunden vorbeiticken, als er im Stillen den Tropfen anflehte, endlich auf seine aufgesprungenen Lippen zu fallen.

"Ups", sagte Dulexy und wischte Mulders kostbaren Tropfen fort, bevor er die Schwerkraft ihn bezwang. "Wir wollen dich doch nicht nass machen."

Mulders Kopf fiel geschwächt zurück und er kämpfte gegen die Tränen der Verzweiflung an, die ihm ausbrechen wollten. Der Tropfen war fast schon unten gewesen.... nur eine Sekunde....

"Bitte...." hörte er sich selbst flüstern, zwang das Wort durch seine schmerzende Kehle.

Dulexys Gesicht nahm einen Ausdruck der Besorgnis an und er lehnte sich näher.

"Ist das.... ist das ein *Flehen*, das ich da höre?" fragte er spöttisch.

Mulder lag still und hielt seine Tränen im Zaum, bis Dulexy weg war.

"Weißt du, Mulder", redete Dulexy, als er einen weiteren Schluck nahm, "deine Sturheit wird dir nix einbringen. Du, mein Freund, bis vollkommen meinen Launen ausgeliefert—oder hast du das etwa noch nicht gemerkt?"

Er grinste und Mulder sah weg. Ärgerlich packte Dulexy sein Kinn und zwang ihn, ihn anzusehen.

"Du wirst mir geben, was ich will, oder du kriegst gar nichts!" zischte er.

"Und was ich jetzt will, Mulder, ist, dass du mich um Wasser anflehst."

Mulder sah Dulexy für einen langen Moment an. Er wollte Wasser—oh ja, und wie er es wollte! Er würde fast alles dafür tun—aber nicht, wenn es ihm wie vorher in der letzten Sekunde weg genommen würde. Lass mir wenigstens meinen Stolz, flehte er sein Ego an.

//*Stolz!*// kreischte es zurück. //Mein Freund, du hast deine Haare verloren und hast dich bepisst wie ein Baby. Wie viel Stolz, glaubst du, hast du noch übrig? Und was zum Teufel nützt er dir noch? Wenn der Kerl von dir ein paar harmlose Worte hören will, damit er dir etwas zu trinken gibt, dann sag sie doch. Worte bedeuten gar nichts.//

Er versuchte zu schlucken, um seine Stimmbänder zu befeuchten, aber er hatte einfach nicht genug Speichel, das sein Mund mit seiner trockenen Kehle teilen wollte.

"Bitte", wiederholte er mit knackender Stimme. "Bitte.... Wasser."

Dulexy senkte das Glas wieder in Richtung Mulders Lippen und zog es wieder grinsend in der letzten Sekunde weg.

"Ich glaube, das reicht nicht ganz", sagte er milde. "Ich will das Wort mit 'f' hören, Mulder."

"Ich.... ich .... flehe dich an", (du verrotteter Bastard), aber er fügte das letzte nur gedanklich hinzu, denn wenn er es tatsächlich aussprechen würde, wäre das das Ende der Hoffnung auf Wasser.

Dulexy grinste wieder. "Das ist besser."

Und dann, wie durch ein Wunder, hielt er sein Versprechen und ließ Mulder aus dem Glas trinken, dass er an seine zitternden Lippen hielt.

Mulder saugte frenetisch das hieß begehrte Wasser, das durch seine plumpen Versuche in seiner Position teilweise sein Kinn hinunterrann. Er hatte kaum seine Kehle befeuchtet, als Dulexy es ihm nochmals entzog.

"Nein, bitte...." flüsterte Mulder. Dieses Mal kamen ihm wirklich die Tränen, trotz seiner Versuche, sie zurück zu halten. Er konnte die Enttäuschung einfach nicht ertragen. Dulexy hatte unfair gespielt. Er hatte Mulder gerade mal ein kleines Schlückchen gewährt.

"Wenn du mehr willst, würge es einfach wieder hoch", sagte Dulexy und Mulder musste durch seine Tränen der Rage und Enttäuschung zusehen, wie Dulexy die Reste der kostbaren Flüssigkeit auf den Boden ausschüttete. "Du willst dich neben dem Bepissen doch nicht auch noch vollkotzen, oder?"

 

Mittwoch, 20.00 Uhr

"Glauben Sie mir jetzt, dass ich ihm weh tun werde?"

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang kalt und grausam, und Scully schloss die Augen bei dem Gedanken an Mulder in Folter. Dulexy hatte viel Zeit verstreichen lassen, bevor er endlich wieder anrief, und sie hatte keine Ahnung, was Mulder inzwischen durchmachen musste.

"Ja."

Sie hörte ihn atmen, schwer und angestrengt, und sie konnte Schritte ausmachen. Sie nahm an, dass er hin und her ging, wo immer er auch war.

"Das nehme ich Ihnen nicht ab", sagte er schließlich.

"Nein, ich.... ich glaube Ihnen." Sie versuchte, nicht aufgelöst zu klingen, aber Dulexy hatte sie nicht einmal gehört—er hatte das Telefon nieder gelegt. Sie hörte seine Stimme im Hintergrund.

"Willst du mit deiner Alten reden, Mulder? Überzeug' sie davon, dass ich mich nicht verarschen lasse."

Doch anstatt dass Dulexy das Telefon an Mulders Ohr hielt, was sie erwartet hatte, hörte Scully Schlurfen gefolgt von einem gedämpften Schrei, den sie als den ihres Mannes identifizieren konnte.

"Dulexy!" brüllte sie in das Telefon. Sie umfasste den Hörer so fest, dass er Gefahr lief, zerquetscht zu werden.

Wieder Schlurfen, und Dulexy war zurück in der Leitung.

"Willst du wissen, was ich mit ihm gemacht habe?" Das zufriedene Amüsement in seinem Ton war Scullys Untergang.

"Was haben Sie getan, sie Dreckskerl?" keuchte sie und kämpfte um Selbstkontrolle. Sie konnte sich jetzt nicht gehen lassen, denn wenn sie es tat, würde sie Mulder nie finden.

"Ich habe deinem hübschen reichen Mann den Finger gebrochen."

Tränen liefen über ihre Wangen. Sie fragte sich geistesgegenwärtig, ob es derselbe Finger war, den diese Terroristen vor vielen Jahren gebrochen hatten. Doch diesmal konnte sie die Verletzung nicht mit Eis versorgen und Trost spenden. Der Verlust durchschnitt ihr das Herz.

"Ich bringe dich um, du Bastard." Sie zischte die Worte grimmig in die Sprechmuschel, aber Dulexy lachte nur.

"Ich sag' dir was, kleine Lady. Versuchen wir es noch mal. Willst du das Spiel endlich mit *meinen* Regeln spielen?"

Scully biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie fast blutig wurde.  Sie konnte schwaches Stöhnen im Hintergrund hören und ihr inneres Auge bot ihr ein Bild, auf dem Mulder allein und unter Höllenqualen auf sie wartete.  Es war letztendlich nur Geld. Sie hatte vorher schon ohne Geld gelebt, aber sie wusste, dass sie nie, nie wieder ohne Mulder leben könnte.

"Ich gebe Ihnen das Geld", antwortete sie kontrollierter als sie es von sich erwartet hätte. "Wann und wo?"

"Kreuzung Bogoda Drive und Eastern Lake Road."

Sie kannte die Kreuzung, die er nannte. Sie lag verlassen und ohne jegliche Deckung weit draußen im Gelände. Keine Gelegenheit für Verstärkungskräfte, die sich in der Nähe verstecken und helfen könnten. Es würde nur sie und Dulexy sein, egal was komme.
"Ich werde da sein. Wann?"

"Mitternacht. Oh, und Dana? Für jede Stunde, in der ich mein Geld noch nicht habe, werde ich deinem Süßen einen weiteren Knochen brechen. Also, sei pünktlich."

"Warten Sie! Sie können nicht...." Aber er hatte aufgelegt.

Scully sank zurück in ihren Stuhl. Jetzt, wo das Gespräch vorüber war, zitterte sie wie Espenlaub. Bis zur Übergabe waren es noch vier Stunden—

Mulder müsste noch drei weitere Knochenbrüche erleiden. Würden es noch mehr Finger sein? Sie hoffte, dass es das sein würde, und nicht schlimmeres.  Zumindest heilten Finger relativ leicht. Und wer weiß, was Dulexy Mulder bereits angetan hatte? Wenigstens wusste sie, dass er noch lebte. Scully würgte ihr Schluchzen herunter und begab sich an die Vorbereitungen.

 

"Das kannst du nicht alleine machen, Scully, wage es ja nicht!" Skinners schroffer Ton, nur etwas geschwächt durch seine Verfassung, überrollte sie wie eine Wasserflut.

"Ich muss, Walter", beteuerte sie stur. "Jedes Mal, wenn wir uns seinen Befehlen widersetzt haben, hat Mulder dafür bezahlen müssen. Dieses Mal will ich ihm geben, was er will. Das Geld ist mir egal, es ist mir auch egal, ob ihr ihn kriegt oder nicht, und im Moment schere ich mich einen Dreck über jegliche Zuständigkeiten! Ich will Mulder lebend wieder haben."

Er fluchte, als Scully auflegte. Jess nahm ihm das Telefon aus der Hand und legte es auf den Tisch.

"Mach dir um sie keine Sorgen, Walter. Wenn einer weiß, was er in dieser Situation tut, ist es Dana. Konzentriere dich lieber darauf, dass du wieder gesund wirst."

"Wie zur Hölle soll ich das denn machen, Jess?" wollte er wütend wissen.

"Wir werden sie beide verlieren, wenn sie nicht vorsichtig ist."

Jess nahm sein Gesicht in beide Hände und zwang ihn, sie anzusehen. "Wir werden sie nicht verlieren, keinen von beiden. Jetzt beruhige dich, oder ich sage der Schwester, sie soll deinen Arsch so voll Morphium spritzen, dass du für eine Woche weg bist, hast du mich verstanden, Walter Skinner?"

Sie starrten sich für eine lange Zeit eisig an, bevor er nach gab. Er konnte wirklich nichts tun. Nicht, wenn er unter solcher Beobachtung stand.

 

Mulder besah Dulexy misstrauisch, als dieser in das Schlafzimmer kam. Sein gebrochener Finger pochte und trug einen weiteren trommelnden Rhythmus zu der Symphonie in dem Rest seines Körpers bei. Seine Fähigkeit, den Schmerz zu ignorieren hatte ihn schon lange verlassen, seine ganze Welt bestand nur noch aus Pein, Hunger und Durst.

Dulexy hatte etwas in der Hand, das er in der Nähe der Tür abstellte. Es war eine große Uhr, deren Zeiger auf 20.07 Uhr standen.

"Du hast noch knapp eine Stunde, bis ich dir einen weiteren Knochen breche. Hm, welcher wird es wohl diesmal sein?"

Mulder starrte wie in Trance auf die Uhr, während Dulexy pfeifend den Flur entlang ging, zurück zu seinem Sessel und seinem Bier. Weniger als eine Stunde, bevor Dulexy wieder zuschlagen würde. Mulder nahm sich zusammen, versuchte den Schmerz in seiner linken Hand zu ignorieren und tastete nach der Schere. Dieses Mal war es sein Daumen, und Mulder konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass es verdammt mehr weh tut, sich den Daumen von einem wütenden Ex-Sträfling brechen zu lassen, als den kleinen Finger von einem wütenden Terroristen. Er konnte sogar tatsächlich die Stelle fühlen, an der er an dem Seil angefangen hatte.  Vorsichtig brachte er die Klinge der Schere in Position und begann mit entschlossener Miene weiter das Seil aufzutrennen.

 

Um neun Uhr kam Dulexy mit dem Rohr in der Hand in das Zimmer geschlendert.  Mulder hatte die Schere wieder versteckt, und jetzt wartete er total verspannt darauf, dass Dulexy ihn schlug. Er erwartete Spott- und Sticheleien, bevor es passieren würde, doch Dulexy überrascht ihn. Er kniete sich neben Mulders Füße und zog ihm Schuhe und Socken aus. Dann stand er auf und schwang das Rohr ohne zu Zögern und mit aller Kraft auf Mulders rechten Fuß. Mulder fühlte wie seine Knochen knackten und nachgaben zur selben Zeit wie er aufschrie. Dann fiel ein willkommener grauer Schleier.

 

Neun Uhr. Scully sah auf die Uhr an der Wand. Sie hatte die Hände fest zusammengepresst in ihrem Schoß und betete, dass Mulder es überleben würde.  Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie sich vorstellte, wie er malträtiert wurde. Sie hatte Emmie für ein paar Tage zu ihrer Mutter geschickt, und gleich nachdem sie ihre Tochter zum Abschied geküsst und die Haustür abgeschlossen hatte, hatte sie begonnen, einen Plan zu schmieden.  Sie dachte an die Waffe in ihrer Handtasche und fragte sich, ob sie es durchziehen würde.

 

Es war schon fast zehn, als Mulder urplötzlich erwachte, aufgeweckt durch Dulexys Getrampel. Er stank nach Alkohol, als er sich neben ihn kniete.  Mulder verfluchte sich innerlich dafür, dass er ohnmächtig geworden war, denn er hätte während dieser Stunde weiter an dem Seil arbeiten können. Angestrengt versuchte er, Dulexys Blick Stand zu halten, doch er konnte seine fragliche Gelassenheit dahin weichen sehen, als Dulexy das Rohr hervor holte. Er kniff die Augen zusammen, um nicht hinsehen zu müssen, wie Dulexy auf ihn einschlug, und war daher vollkommen unvorbereitet, als das Eisen in die rechte Seite seines Brustkorbes krachte. Dieses Mal durchbohrte eine Rippe seinen rechten Lungenflügel, und Mulder, für den auch das nichts neues war, fühlte den bekannten scharfen Schmerz in Seite und Rücken. Er bekam keine Luft mehr.

Mulder riss den Mund auf, doch der Schrei, der aus ihm brechen wollte, kam gar nicht erst zustande. Das wichtigste war jetzt, genügend Luft zu bekommen, denn es ging ums nackte Überleben.

 

Um zehn Uhr war Scully sich sicher, dass sie Dulexy umbringen würde für das, was er Mulder gerade antun musste. Ihre Tränen waren vertrocknet und von einer glühenden Wut ersetzt worden. Dulexy war ein toter Mann.

 

Die Uhr zeigte elf und Mulder liefen Tränen der Hilflosigkeit und Agonie über die Wangen. Als Dulexy dieses Mal in sein Zimmer kam, blieb er mit Händen in den Hüften vor seinem Gefangenen stehen und beäugte ihn nachdenklich. Mulder sah aus wie Dreck. Es klebte immer noch Blut von vor ein paar Tagen auf seinem asch-grauen Gesicht. Die Kopfverletzung war nicht länger durch seine Haare verdeckt, die jetzt nur hier und da in kurzen Büscheln an Mulders Schädel hingen. Er hechelte durch den Mund in dem Versuch, noch eine weitere Stunde am Leben zu bleiben. Sein Bauch, den man durch das zerfetzte Hemd sehen konnte, war grün und blau angelaufen und geschwollen. Sein rechter Fuß war ebenfalls geschwollen, und zwar nicht zu knapp, und hinter seinem Rücken, wusste Dulexy, war sein linker Daumen in genau derselben Verfassung.

"Wir haben noch Zeit für einmal, Mulder", sagte Dulexy vergnügt und klopfte sich mit einem Finger auf das Kinn. "Wo soll es denn diesmal sein...?"

"Bitte.... nicht mehr...." Mulder versuchte, die Worte zu formen, aber seine Lungen spendeten nicht genügend Luft. Langsam schüttelte er den Kopf von einer Seite zur anderen. Er schämte sich nicht länger für seine Lage oder seine Tränen, er fühlte nichts anderes mehr als seinen seit Stunden geschundenen Körper und das Verlangen, alles—absolut alles—zu sagen oder zu tun, um Dulexy davon abzuhalten, weiteren Schaden anzurichten.

Dulexy kniete sich neben ihn und wischte sacht etwas Schweiß von seiner Braue. "Du siehst Scheiße aus, Kumpel", sagte er freundschaftlich, "aber Schade für dich, denn es ist wieder eine Stunde vorbei."

"....bitte....flehe....nicht...." Die Wörter drängten sich schließlich über seine Lippen, kaum hörbar, aber immer noch auszumachen. Dulexy grinste hämisch.

"Ach, wenn du das so willst", begann er und sah wie Mulder geradezu dankbar und erleichtert aussah. Dann verschwand diese Erleichterung augenblicklich, als er den Satz beendete. "Dann werde ich mal nicht so sein und dir nur einen weiteren Finger brechen. Dieses Mal an der rechten Hand."

Zu seinem Erstaunen zog Dulexy ein Klappmesser aus der Tasche und zerschnitt die Seile, die ihn ans Bett gefesselt hielten.

Mulder fiel augenblicklich auf seine linke Seite. Jegliches Gefühl war aus seinen gerade erst befreiten Gliedmaßen verschwunden und er merkte, was für ein schwerer Fehler das gewesen war.

Die Schere lag jetzt vollkommen offen auf dem Boden. Mulder sah aus dem Augenwinkel, wie Dulexy sie aufhob und sie mal hierhin, mal dorthin drehte. Und dann, zu Mulders völliger Überraschung, begann er lauthals los zu lachen.

Er hob die Seile wieder auf und besah sie sich näher. Er fand die Stellen, wo sie fast zerschnitten waren und malte sich aus, wie es dazu gekommen war.

"Eins muss man dir lassen, Mulder. Du bist ein verdammt hartnäckiger Hurensohn", sagte er fast anerkennend. Jeder andere hätte schon lange aufgegeben, aber du nutzt einfach jede Gelegenheit, stimmts?"

Mulder lag regungslos auf dem Boden und wünschte sich, er könnte sich bewegen. Er wünschte sich, Dulexy die Schere aus den Händen reißen zu können und die scharfen Klingen tief in sein Herz bohren. Er hatte immer noch kein Gefühl in seinen Armen, und die Position, in der er jetzt lag, machte das Atmen noch schwerer. Dankbar dafür, dass Dulexy nicht hochgegangen war, als er sein Geheimnis entdeckt hatte, konzentrierte sich Mulder darauf, am Leben zu bleiben.

Vor lauter Angst vor eventuellen Folgen der Entdeckung seiner Fluchtpläne hatte Mulder ganz vergessen, was ihm eigentlich bevor stand. Bis Dulexy seinen rechten Arm anhob.

Mulder wimmerte und versuchte, seine Hand wegzuziehen, doch er hatte keine Kraft mehr, um es ernsthaft zu versuchen. Er fühlte, wie Dulexy seinen Zeigefinger von den anderen in einem unnatürlichen Winkel weg zog, und bevor er Dulexy noch einmal anflehen konnte, es nicht zu tun, hörte er das deutliche *KNACK*, als der dünne Knochen brach. Wieder konnte er aus Mangel an Sauerstoff nicht schreien. Mittlerweile strömten seine Tränen ungehemmt und Mulder war es scheißegal, welchen Eindruck Dulexy von ihm hatte, ihm war scheißegal, was alle von ihm dachten. Er wollte nur, dass diese endlosen Torturen endlich aufhörten.

"Und jetzt", sagte Dulexy, während er die Schere aufhob, die immer noch neben ihm auf dem Boden lagen und sie weg warf, "treffen wir dein kleines Miststück." Er stand auf, besah sich den Mann zu seinen Füßen einen Augenblick und trat die Schere noch weiter weg in eine Ecke. Dann verschwand Dulexy lachend im Flur.

Mulders Blick fiel auf die Schere. Sie lag gut drei Meter von ihm weg, was in seiner momentanen Verfassung genauso gut drei Meilen hätten sein können.  Er versuchte, eine Hand nach dem Gegenstand auszustrecken, das ihm zur Flucht verhelfen konnte, aber seine Arme wollten nicht auf seine Befehle hören. Die Chance, von diesem Monster frei zu kommen, war so nahe, aber er wusste jetzt sicher, dass er hier sterben würde. Scully hatte ihn nicht finden können, und obwohl Dulexy ihn losgebunden hatte, war ein Entkommen in seiner Verfassung unmöglich. Dulexy würde Scully vergewaltigen und umbringen, sich das Geld schnappen, dann zurück zu Mulder gehen und ihn ebenfalls töten. Er zitterte bei diesem Gedanken am ganzen Körper.

Mit einem Flehen, sie möge ihm verzeihen auf den Lippen wurde es schwarz um Mulder.

 

Um elf Uhr ging Scully aus dem Haus—Koffer mit Geld in der einen Hand, Handtasche über der anderen Schulter. Sie war entschlossen, Dulexy umzubringen, denn um nichts in der Welt würde sie ihn lebend davonkommen lassen.

Doch all ihre Pläne schwanden dahin, als ihr Wagen in ihrem Versuch, einem vor ihr ins Schleudern gekommenen Fahrzeug auszuweichen, von der regennassen Fahrbahn abkam und direkt gegen einen Telefonmast knallte. Wenn sie schneller gefahren wäre, wäre sie womöglich umgekommen. Doch jetzt war sie bewusstlos und bekam nicht mit, wie der andere Fahrer einen Rettungswagen rief, der sie in das nächst gelegene Krankenhaus brachte.

 

Mittwoch, 23.31 Uhr

Das Stechen in seinen Armen weckte ihn. Das Blut, das langsam wieder in seine Gliedmaßen zurück kehrte, wirkte wie tausend kleiner Nadelstiche auf jedem Zentimeter seiner Haut, und es riss Mulder aus dem gemütlichen, dunklen Ort, zu dem er sich zurück gezogen hatte, und in die Wirklichkeit hinein.

Die Wirklichkeit war ein riesengroßer Scheißhaufen.

Mit einem Ächzen öffnete Mulder die Augen und nahm seine augenblickliche Lage wahr. Er lag ausgebreitet auf dem Boden, seine nutzlosen Arme schmerzten wie verrückt, seine Beine waren immer noch an den Fußgelenken zusammen gebunden. Ein gebrochener Fuß, gebrochene Rippen, gebrochener linker Daumen, gebrochener rechter Zeigefinger, ein Bauch, der in Flammen zu stehen schien und höllisch weh tat. Und drei Meter weiter weg, kaum sichtbar in der dunklen Ecke, lag die Schere, die Dulexy da gelassen hatte. Wenn er sie kriegen könnte....

Mulder versuchte, mit Hilfe seiner Hände aufzustehen und fuhr zusammen bei den Schmerzen in seinen Fingern. Beide Hände waren jeweils zu ihrer doppelten Größe angeschwollen, und die linke hatte sich ganz dunkel, fast schwarz, gefärbt. Das konnte er in dem schwachen Mondlicht gerade noch erkennen. Er schaffte es unter relativ starken Schmerzen, sich auf seine Ellbogen aufzustützen, aber er war zu schwach, um sich lange so aufrecht zu halten, also fiel er schon bald in sich zusammen zurück auf den Boden.  Tränen der Verzweiflung benetzten wieder einmal seine Wangen.

Dulexy würde bald wieder zurück sein, entweder mit oder ohne Geld. Mulder konnte nur warten. Egal was passierte, Dulexy plante mit Sicherheit, ihn bald zu erledigen. Er könnte einfach hier liegen bleiben, vielleicht wieder in eine erlösende Ohnmacht fallen, und Dulexy würde ihm schließlich die Bürde, die sein Leben geworden war, für immer von ihm nehmen. Scully würde natürlich um ihn trauern, aber sie hatte schon mal ein Leben ohne ihn geführt. Emmie würde ihn vermissen—sie hatte schon einmal einen Vater verloren—und das tat Mulder aufrichtig leid, aber er konnte nicht mehr. Keine Kraft, kein Mut, nichts mehr.

Aber vielleicht, nur vielleicht, könnte er sich in diese Ecke schleppen, wenn er es langsam anging. Er könnte vielleicht die Schere erreichen, könnte die Seile an seinen Füßen zerschneiden, und vielleicht aus dem Haus kriechen, bevor Dulexy zurück kam. Würde ihm genug Zeit dafür bleiben?

//Nicht wenn du hier liegen bleibst und dich weiter bemitleidest, Arschloch// spottete seine verfluchte innere Stimme. //Los, beweg dich!//

Mulder holte tief Luft, die er aber in Beachtung seiner verletzten Lunge langsam heraus ließ, und er erhob sich kommando-artig auf die Ellbogen. Er ließ seine protestierenden Rippen links liegen und bohrte seinen rechten Ellbogen in den Holzboden, denn dieser war zum Glück alt und morsch, so dass das klappte, und zog sich nach vorne. Er schaffte es, sich etwa 30 cm vorwärts zu bewegen, bevor er anhalten musste, um sich auszuruhen. Er schnappte nach Luft, die nie genug zu sein schien, und könnte beim besten Willen nicht den Körperteil benennen, der am meisten weh tat.

Als er sich etwas erholt hatte, biss er die Zähne zusammen, zog sich wieder hoch und wiederholte die Prozedur mit seinem linken Arm. Wieder ein paar Zentimeter. Entschlossen und vollkommen auf die glänzende Form, die vor ihm lag, konzentriert, befahl er seinen Armen ihren Teil der Rettung beizusteuern. Sie waren das einzige, auf das er sich momentan verlassen konnte. Schweiß brach ihm aus sämtlichen Poren und die Schwellungen in seinen Händen und Fuß brachten ihn fast zum Schreien, aber er bewegte sich weiter vorwärts. Wenigstens weinte er nicht mehr.

 

 

Dulexy wartete für seinen Teil, bis Scully eine Stunde zu spät war und verließ dann den Ort ihres Rendezvous im Dunkeln der Nacht. Mulder würde jetzt den letzten Preis dafür zahlen, nahm er sich vor. Er hatte diese Familie so was von satt. Er würde das Geld vielleicht nicht bekommen, aber er würde eine Menge Spaß haben, Rache für die Schwierigkeiten, die er hatte, zu üben. Oh ja, Mulder, dachte er ausgelassen, als er nach Hause fuhr, du und ich werden die ganze Nacht lang spielen.

 

Donnerstag, 02.26 Uhr

Mulders Augen flogen auf, als er den lauten Knall einer zufallenden Tür hörte. Wieder rüttelte die Wucht das ganze Haus, und Mulder lief der kalte Schweiß über den Rücken, als er sich erinnerte, wann Dulexy das letzte Mal so wütend gewesen war. "Scheiße", flüsterte er und schnappte nach Luft.  "Scheißescheißescheiße!"

Er hatte nur für einen Moment die Augen zugemacht, um sich auszuruhen, aber jetzt bearbeitete er die Seile wieder aufs Heftigste. Er hatte fast zwei Stunden gebraucht, um die Schere zu erreichen. Als er einmal seinen Schatz greifen konnte, war er total erschöpft gewesen und hatte ununterbrochen vor Schmerzen geweint. Er hatte es geschafft, sich aufrecht hinzusetzen und sich daran gemacht, die Seile an seinen Füßen zu zerschneiden.

Eine Schere zu benutzen, wenn man an jeder Hand jeweils einen gebrochenen Finger hat, war geradezu unmöglich, und Mulders unbeholfene Versuche hatten bereits einen tiefen Schnitt in seinem linken Fuß zufolge, der stark blutete. Er hatte versucht, die Blutung mit einem Fetzen aus seinem Hemd zu stillen, doch das hatte nicht viel geholfen. Er hatte gerade Mal die Hälfte der dicken Seile geschafft, als er Dulexys Schritte im Flur näher kommen hörte.

Er stöhnte leise vor Verzweiflung, als er seine Bemühungen erneuerte und dabei die Tür im Auge behielt. Ihm war klar, dass es ein sinnloses Unterfangen war, aber er wollte das Erfolgserlebnis, für das er so lange hart gearbeitet hatte und dem er so nahe war, nicht aufgeben.

Mulder hörte auf, als Dulexy den Raum betrat und sich augenblicklich umsah, bevor er ihn zusammengekauert in der Ecke entdeckte. Er kam zu ihm herüber und kniete sich mit im Mondlicht glänzenden Augen neben ihn hin.

"Soso, du dachtest also, du könntest abhauen, was?" fragte Dulexy und Mulder roch den gewohnten Alkoholgestank in seinem Atem.

Er starrte Dulexy nur wortlos an. Er hatte ihm nichts zu sagen und das Offensichtliche abstreiten zu wollen wäre dumm. Er fragte sich, was dieses Mal wohl falsch gelaufen war, aber das war letztendlich auch egal, oder?  Dulexy war betrunken und wütend und er würde ihn dieses Mal sicherlich erledigen.

Doch zu seiner Verwunderung nahm Dulexy ihm behutsam die Schere aus seiner ruinierten Hand und schnitt vorsichtig, um Mulders Haut nicht durchzuschneiden, die Seile auf. Mulder klappte vor Staunen das Kinn auf, aber bevor er irgendetwas sagen konnte, stand Dulexy auf, packte ihn an seinem gebrochenen Fuß und zog ihn ruppig zurück in die Mitte des Raumes.  Mulder schrie auf.

"Ich bin gleich wieder da", sagte Dulexy zwinkernd, "dann werden wir über dein Benehmen sprechen. Nicht weg gehen."

Mulder versuchte verzweifelt, zurück in die Ecke zu kriechen.  Törichterweise dachte er, er sei dort besser geschützt, doch bevor er sich überhaupt auf den Bauch drehen konnte, war Dulexy wieder da. Mit dem Eisenrohr.

Mulder wimmerte tief in seiner Kehle, seine geschwollenen Hände grabschten auf dem Boden auf der Suche nach Halt. Instinktiv wollte er zurück weichen, aber er konnte sich nicht einen Zentimeter bewegen.

"Sie hat mich zum letzten Mal verarscht", verkündete Dulexy und schwang das Rohr vor und zurück. "Jetzt bringe ich dich um. Und dann bringe ich sie um.  Und dann werde ich ein bisschen Spaß mit eurem hübschen kleinen Mädchen haben, bevor ich deren Hals in zwei Stücke schneide."

Mulder kam die Galle hoch. Der Gedanke daran, dass dieser Hurenbock Hand an Scully oder Emmie anlegen könnte, schickte eine Welle von Adrenalin durch seinen Körper. Doch leider war sein Körper zu kaputt, um Nutzen daraus zu ziehen. Wortlos sah er zu, wie Dulexy das Rohr über seinem Kopf kreisen ließ, und war also nicht völlig überrascht, als er den Stahl in sein rechtes Bein feuerte, so dass die Knochen unter seiner Kniescheibe zu Brei zermalmt wurden.

Er hörte das bekannte Geräusch, bevor er in Dunkelheit gehüllt wurde.

Doch schon einige Minuten später wurde er zurück an die Oberfläche geholt, als Dulexy ihm eine Ladung eiskaltes Wasser ins Gesicht schüttete.

"So leicht kommst du mir nicht davon", zischte Dulexy. "Ich will, dass du siehst, was ich mit deiner Frau und Tochter mache, wenn du stirbst. Dann kannst du vielleicht aus der Hölle zusehen, wie ich die beiden quäle."

Prustend leckte Mulder das Wasser von seinen Lippen und wünschte sich, Dulexy hätte mehr davon in seinen Mund anstatt auf seine Klamotten gekippt.  Er versuchte, sich auf Dulexys Worte zu konzentrieren, doch sie wollten in Mulders durcheinander geworfenem Hirn einfach keinen Sinn ergeben. Es waren lediglich unbedeutende Töne hintereinander, die nur durch die Satzbetonung als Sätze auszumachen waren. Dann waren da keine Sätze mehr, und Mulder schnappte nach Luft, unfähig zu sprechen oder seinen Schmerz und seine Angst heraus zu schreien, als Dulexy das Rohr wieder hob.

Dieses Mal hatte er es auf das andere Bein abgesehen, ungefähr an genau derselben Stelle, und Mulder schaffte es zu schreien, zum Teufel mit der durchbohrten Lunge. Eigentlich war es so etwas wie ein lautes Stöhnen, und er spürte, wie seine Rippen protestierten, als es aus ihm heraus kam.

"Vielleicht werde ich deine Frau fesseln und sie zwingen zuzusehen, wie ich ein bisschen mit Eurer Tochter spiele. Ist sie noch Jungfrau, Mulder? Hat jemand schon mal ihre heiße, feuchte Möse angefasst? Du zum Beispiel, Mulder?"

Wieder ergaben die Worte keinen Sinn, und Mulder ahnte nicht, dass das im Moment ein Vorteil für ihn war. Hätte er Dulexys Sprüche verstanden, hätte es seine hilflose Wut nur noch gefördert.

Dulexy hob das Rohr wieder und Mulder bettelte jetzt nur noch. Ihm war die Erniedrigung so was von egal, genauso wie mögliche Folgen. Er dachte und fühlte nichts anders mehr als die unsäglichen Qualen, in denen er sich konstant befand, und er würde alles, aber auch alles dafür tun, damit es aufhört.

"Bitte... nicht mehr", heulte er schwach. "Bitte erschieß mich.... Dulexy.... ohgottbittenichtmehr!"

Ihm wurden seine kaum zustande gebrachten Worte aus dem Mund gerissen, als Dulexys Rohr unter seinem rechten Ellbogen landete und seinen Unterarmknochen zerschmetterte. Er kreischte hoch und laut. Er hörte es kaum, bevor er das Bewusstsein verlor. Dulexy brachte ihn wieder mit dem kalten Wasser zurück. Er ignorierte Mulders flehendes Wimmern und wiederholte den Schlag auf den anderen Arm seines Opfers. Dann trat er zurück und betrachtete sein Werk.

Der geschundene, gebrochene Mann zu seinen Füßen lag leise stöhnend da. Ein langer, erbärmlicher Schmerzensschrei durchbrach die sonst so stille Nacht, unterbrochen von keuchenden Atemzügen, die nicht genügend Sauerstoff liefern konnten. Mulder würde es nicht mehr lange machen, und für eine Sekunde dachte Dulexy daran, das Rohr in seinen Kopf zu jagen und seinem Leid ein Ende zu machen. Doch dann entschied er sich hämisch grinsend anders. Es könnte ja ganz interessant sein zu beobachten, wie lange genau Mulder brauchen würde, um zu sterben. Er könnte es sich genauso gut ansehen.

 

Donnerstag, 02.53 Uhr

Sylvia Stiles saß zusammengekauert auf ihrem Bett und versuchte, das erbärmliche Wehklagen, das gnadenlos durch die klare Nacht und die Vorhänge an ihren offenen Fenstern zu ihr drang, zu überhören. Justin hatte gesagt, dass er dem Mann nicht sehr weh tun würde, aber es lag auf der Hand, dass er wieder einmal gelogen hatte.a

Sie wollte so sehr zu ihm gehen, ihm helfen und Justin von da weg holen, aber sie traute sich nicht. Wenn Justin erfahren würde, dass sie einen Strich durch seine Pläne ziehen wollte, würde er sie auf der Stelle umbringen—daran hatte sie keine Zweifel. Es war schon schlimm genug, dass sie dem Gefangenen ein Glas Wasser gegeben hatte, aber ihm wirklich helfen zu wollen zu fliehen.... naja, sie hatte Glück, dass Justin das Glas Wasser nicht bemerkt hatte, sonst wäre sie es vielleicht, die vor Schmerz heulte und stöhnte.

Dann, endlich, hörte es auf und Sylvia fragte sich, ob die Geisel zugrunde gegangen war. Sie zog ärgerlich die Nase hoch. Justin hätte ihn nicht umbringen müssen. Er hatte wie ein netter Mensch ausgesehen, selbst wenn er mal im Gefängnis gewesen war, und seine Frau war, seit sie denken konnte, eine der wenigen Menschen gewesen, die sie mit Respekt behandelt hatte. Sie mochte den Gedanken daran nicht, dass die hübsche kleine Frau ohne ihren Ehemann war.

Plötzlich fiel ihr etwas ein und sie stieg aus dem Bett. Sie ertastete sich im Dunkeln den Weg in die Küche, denn sie wollte kein Licht machen, um Justin nicht zu verraten, dass sie wach war. Als sie die Küche erreichte, öffnete sie die oberste Schublade neben dem Kühlschrank und fühlte darin nach der kleinen, weißen Karte, die die Frau des Gefangenen ihr gegeben hatte. Sie wusste noch, dass darauf eine Mobilfunknummer stand. Sie würde diese Nummer gleich morgen früh als erstes anrufen. Es war ihr egal, ob Justin wieder zurück ins Gefängnis musste. Sie wollte nicht den Tod dieses armen Mannes auf dem Gewissen haben.... das würde sie nicht noch einmal aushalten. Ihre Mutter und Justin hatten immer gedacht, dass Großvater an Alkohol gestorben war, und Sylvia hatte keiner Seele erzählt, dass sie mehr wusste—viel mehr, als sie es sich jemals hatte anmerken lassen.  Großvater hatte ihr einfach einmal zuviel weh getan.

Sie tappte langsam zurück in ihr Schlafzimmer und kroch unter die Decken.  Das Heulen fing wieder an. Sylvia hielt sich die Ohren zu und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen.

 

Donnerstag, 03.47 Uhr

Mulder wurde aus seiner seligen Ohnmacht gerissen, als Dulexy ihn mit Wasser übergoss. Wieder schnappte Mulder durstig nach den Tropfen, die auf seinen Lippen landeten. Durch den Schleier aus Schmerzen und Angst war sich Mulder schwach bewusst, dass Dulexy sich auf die Matratze gesetzt hatte, die auf dem Bettgestell lag, und ihn beobachtete. Er ärgerte ihn weiter mit sinnlosen Worten und Phrasen, aber sie alle sagten Mulder nichts. Das einzige, dessen er sich wirklich bewusst war, war die unglaubliche Intensität der Schmerzen, und die Tatsache, dass wann immer er bewusstlos wurde, Dulexy ihn mit kaltem Wasser zurück holte.

Irgendwann gewöhnte sich Mulder soweit an die Schmerzen, dass er wieder halbwegs zusammenhängend denken konnte. Er bewunderte die Standhaftigkeit des Lebens. Wenn er die Szene von außen hätte ansehen müssen, hätte er die Farm darauf verwettet, dass der Mann dort am Boden die Nacht nicht überleben würde, aber als das Morgenlicht langsam durch die kaputten Fenster kroch, merkte er, dass er noch am Leben war—wider aller Wahrscheinlichkeiten.

Das Wasser, das Dulexy fortwährend auf ihn warf, hatte seine Lage tatsächlich etwas verbessert. Doch obwohl er ihn dadurch vor dem Verdursten bewahrte, bewirkte das Wasser auch, dass die Nerven in seinen Extremitäten wieder erwachten. Mulder hatte sich schon mal den ein oder anderen Knochen gebrochen, und es war ihm gar nicht so schlimm vorgekommen, sobald er über den Anfangsschmerz hinaus war, aber das hier.... fasziniert stellte er fest, dass es mit jedem weiteren gebrochenen Knochen mehr und mehr weh tat.

Er versuchte, all seine gebrochenen Knochen zusammen zu rechnen und die Summe mal, hm, sagen wir zehn zu multiplizieren, aber er konnte sich nicht lange genug konzentrieren, um auf die eigentliche Rechnung zu kommen. Jeder einzelne zermarterte Knochen schrie ihn um Aufmerksamkeit an, und sobald er sich erst lange genug einem zuwandte, um ihn hinzuzuzählen, war Mulder unfähig, seine Gedanken von seinen Schmerzen abzulenken. Nach einer Weile gab er es auf und vertiefte sich in dem Versuch, einfach noch ein wenig länger am Leben zu bleiben. Vielleicht, wenn Dulexy ging.... vielleicht könnte er sich dann ein wenig bewegen.... vielleicht....

 

Donnerstag, 06.14 Uhr

Das pausenlose Klingeln ihres Handys brachte Scully zurück ins Bewusstsein.  Sie öffnete die Augen und blickte sich konfus um, bevor sie erkannte, dass sie sich in einem Krankenhausbett befand.

Ihre Mutter saß an ihrer Seite. Allem Anschein nach war sie die ganze Nacht da gewesen. Sie wachte gerade durch das Klingeln des Telefons auf.

"Mom", krächzte Scully. "Mom", versuchte sie es noch mal.

Maggie öffnete die Augen und sah müde aber glücklich in das Gesicht ihrer Tochter.

"Du bist wach", stellte sie mit sanfter, zufriedener Stimme fest.

Scully bemühte sich um Klarheit in ihrem benebelten Hirn. Was war passiert?  Sie versuchte, die Stücke zu einem Ganzen zusammen zu puzzeln, als es sie wie der Blitz traf. Mulder. Dulexy. Ihr Wagen, der von der Straße abkam.  Dulexy, der wartete und sicherlich mit jeder Minute wütender wurde, weil sie nicht erschien. Und Mulder in seiner Gewalt....

"Mom, könntest du mir bitte mein Telefon aus der Tasche bringen? Es könnte um Mulder gehen." Scully versuchte, nicht hysterisch zu klingen, aber sie fürchtete die Konsequenzen, die Mulder betreffen könnten, weil sie das Treffen mit Dulexy nicht einhalten hatte können. Was wäre, wenn er Mulder verletzt hatte.... oder schlimmeres?

Endlich fand ihre Mutter das klingelnde Handy, aber als Scully dran gehen wollte, hörte es auf. Erleichtert sah sie einen Moment später das Display aufleuchten, das ihr zeigte, dass jemand eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte. Hastig drückte Scully die Nummer zu ihrer Mailbox.

"Mrs. Mulder, hier ist Sylvia Stiles", meldete sich die ängstliche Stimme.  "Es geht um ihren Mann. Ich glaube.... Sie kommen besser her, ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich glaube, dass Justin ihn... naja, ich kann hier am Telefon nicht reden. Kommen Sie heute her, so schnell sie können."

Alle Farbe floss aus Scullys Gesicht, als sie die Nachricht hörte und sie brauchte all ihre Selbstkontrolle, um das Handy nicht an die Wand am anderen Ende des Zimmers zu werfen. Sie war sich natürlich sicher gewesen, dass Sylvia gelogen hatte, als sie behauptet hatte, sie wisse nichts über Mulder, aber sie hatte ihr nichts nachweisen können und sie hatte nicht gewollt, sich die Frau zum Gegner zu machen, indem sie ihr ihren Verdacht sagte. Im Nachhinein, dachte sie nach, als sie ihre zerbeulte Gestalt auf dem Bett aufrichtete, war es gut, dass sie Sylvia nicht gegen sich gerichtet hatte. Es sei denn Mulder war bereits tot.

"Dana, was tust du da?" wollte Mrs. Scully erschrocken wissen, als ihre Tochter sich den Tropf aus ihrer linken Hand zog. "Das kannst du nicht machen!"

"Ich muss gehen, Mom", sagte Scully geduldig und drückte einen Waschlappen auf ihre Wunde, um die Blutung zu stillen. Langsam schaffte sie es zum Kleiderschrank, in dem sie zu ihrer Zufriedenheit ihre Kleidung säuberlich aufgehängt vorfand. "Es ist vielleicht schon zu spät."

"Zu spät für was?" fragte ihre Mutter durcheinander.

"Für Mulder." Als sie sah, wie verängstigt ihre Mutter aussah, fügte sie sanft hinzu, "Ich bin okay, Mom. Ich habe nur ein paar blaue Flecken, das ist alles. Ich werde wieder gesund. Ich muss jetzt meinen Mann finden."

Sie stützte sich an das Bett, als sie ihre Jeans anzog, und schenkte der Krankenschwester, die durch das piepsende Injektionsgerät alarmiert worden war, keine Beachtung. Im Hintergrund hörte sie, wie ihre Mutter versuchte, der Schwester die Situation zu erklären, denn sie war schon voll mit sich selbst beschäftigt, sammelte all ihre Kräfte, um sich auf das vorzubereiten, was sie fürchtete vorzufinden.

Sie nahm ihre persönlichen Sachen und ging zum Aufzug. Als ihre Mutter lauthals nach ihr rief, hielt sie die Aufzugtüren auf, bevor sie sich schließen konnten. Maggie kam den Korridor herunter gelaufen.

"Du kannst nicht fahren, dein Wagen ist Totalschaden", informierte Maggie sie. "Wo auch immer du hin willst, ich muss dich fahren."

"Leih mir einfach dein Auto, Mom. Es geht mir gut", antwortete Scully ungeduldig und hielt ihre Hand nach den Schlüsseln aus, die Maggie aber absichtlich hinter ihrem Rücken fest hielt.

"Ich werde dich nicht in dieser Verfassung fahren lassen", bekräftigte sie mit der festen Entschlossenheit in der Stimme, die Scully noch aus ihrer Kindheit kannte. "Du stehst immer noch unter Beruhigungsmitteln, und das letzte, was du brauchst, ist noch ein Unfall, bei dem du womöglich umkommst. Also, wo fahren wir hin?"

"Wir müssen zu Walter", sagte Scully, als sie ihrer Mutter in die Tiefgarage folgte. "Ich werde nicht gehen, ohne ihm wenigstens Bescheid zu sagen."

"Gute Idee", stimmte ihre Mutter zu und half Dana beim Einsteigen. Sie fuhr vorsichtig aber flink zu dem nahegelegenen Krankenhaus, wo Skinner für den Großteil der letzten Woche gelegen hatte. Scully war die ganze Fahrt über still und gespannt gewesen und hatte über Sylvias Nachricht nachgedacht. Sollte das heißen, dass die Frau wusste, wo Mulder war? Oder hatte sie nur einen Verdacht? Egal, das war mehr, als sie je zuvor hatten.

Sie versuchte, ihre Hoffnungen nicht zu hoch zu schrauben, als sie im Fahrstuhl zu Skinners Krankenzimmer hoch fuhren, aber es war unmöglich, sich nicht an den Glauben zu klammern, Mulder lebendig und gesund wieder zu finden. Ausgenommen die gebrochenen Knochen, erinnerte sie sich. Dulexy würde dafür immer noch sterben müssen.

 

Als Mulder die Augen wieder aufschlug, war Dulexy fort. Er blickte sich soweit es ging um, denn sein Folterer konnte womöglich in einer der dunklen Ecken sitzen. Doch er war wirklich allein. Langsam beurteilte er die Situation. Er war vollkommen hilflos, dessen war er sich sicher. Er konnte nicht gehen, er konnte sich nicht einmal ohne höllische Schmerzen bewegen.  Niemand wusste, wo er war, er war praktisch schon verhungert und verdurstet, obgleich er sich durch Dulexys Wasserfolter ein wenig wiederbeleben konnte.

Er war hilflos und trotzdem wies er sich an, wenn er nicht irgendetwas tat, würde Dulexy erst ihn umbringen und dann hinter Scully und Emmie her sein. Er hatte keine Angst mehr vor seinem eigenen Tod, den er im Grunde sogar willkommen hieß, aber seine Familie musste beschützt werden. Es war alles, was er ihnen noch geben konnte. Sie durften nicht wegen ihm und seiner Vergangenheit leiden.

Mit Anstrengungen, die ihre Energie aus schierer Willenskraft schöpften, schaffte Mulder es, sich nach einigen peinigenden Versuchen auf den Bauch zu rollen. Seine gebrochenen und geschwollenen Gliedmaßen brannten gnadenlos und der Druck auf seinen Rippen, der bei der Landung auf seinem Bauch entstand, raubte ihm das letzte bisschen Luft, das noch in seinen Lungen war. Er blieb liegen und fuchtelte schwächlich für einige Minuten, bis er sich genügend erholt hatte, um seinen Kopf heben zu können und seinen Erfolg zu begutachten. Die Schlafzimmertür lag einen Meter vor ihm.

Dulexy war nur für ein paar Minuten weg gewesen, aber Mulder wusste, dass er jeden Moment zurück kommen konnte. Wenn er sich mitten im Flur befinden würde, wenn sein Geiselnehmer zurück kam, würde er Mulder höchstwahrscheinlich umbringen. Vielleicht würde Dulexy ihm dieses Mal den Schädel mit dem Rohr spalten, oder seine Wirbelsäule in zwei Teile zersägen. Wie auch immer, er hatte nichts zu verlieren. Er würde sowieso sterben. Wenn er doch nur an ein Telefon käme und Scully warnen könnte, dann könnte er wenigstens in Frieden sterben.

Mulder zwang sich wie zuvor auf seine Ellbogen, stöhnte auf bei dem stechenden Schmerz seine Arme überhaupt zu bewegen und zog sich stur vorwärts.

 

Dulexy hatte die ganze Zeit zugesehen, wie Mulder zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein hin und her rutschte, bis es ihm schließlich zu langweilig geworden war. Er hatte sein hilfloses Opfer vier oder fünf Mal aus der Bewusstlosigkeit geholt, das bei jeder Ladung Wasser in sein Gesicht spuckte und röchelte. Dulexy hatte schadenfroh gegrinst, als er Mulders Ausdruck in den Augen sah, der Mal um Mal feststellen musste, dass er immer noch am Leben war. Irgendwann war er es leid geworden und war rüber in Sylvias Haus gefahren. Er brauchte Geld. Nachdem er Mulders Leiche los würde, wäre es wohl besser, für eine Weile die Stadt zu verlassen, überlegte er. Das Miststück hatte bestimmt irgendwo in der großen alten Hütte Bares versteckt. Wenn sie es ihm nicht gab, würde er sie umbringen müssen.

Er stellte seinen Truck in der Auffahrt ab und nahm die Abkürzung durch das Wäldchen zu dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Justin kannte sich hier seit er ein Kind gewesen war wie in seiner Westentasche aus, und seit damals hatte sich nicht viel verändert. Er näherte sich dem Haus von Norden aus, ging um die Ecke an der Küchentür vorbei, und wollte gerade auf den Gehweg gehen, als er seine Schwester durch das Schlafzimmerfenster sprechen hörte.

"Ich glaube.... Sie kommen besser her, ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich glaube, dass Justin ihn... naja, ich kann hier am Telefon nicht reden.  Kommen Sie heute her, so schnell sie können."

Rasende Wut durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag. Seine Stimmung schlug augenblicklich um, von unbeschwerter Schadenfreude in mörderische Rage. Sie wollte ihn verraten. Seine eigene Schwester!

Er sah sich nach etwas um, dass er als Waffe benutzen konnte, doch er fand nichts passendes. Also betrat Dulexy lautlos die Küche und kroch vorsichtig durch die Verbindungstür. Da, vor der Feuerstelle. Ein eiserner Schürhaken.  Der würde reichen. Er schnappte sich das Ding und schlich durch den Flur zu Sylvias Zimmer.

Sylvia hörte die Schritte auf dem knarrenden Holzfußboden und versteckte das Telefon und die Karte unter dem Kopfkissen. Das musste Justin sein.  Vielleicht, wenn sie ihm eine Tasse Kaffee anbieten würde und guter Dinge war, könnte sie ihn loswerden.

"Hallo Justin", begrüßte sie ihn schnell, als er in das Zimmer kam. "Möchtest du vielleicht eine...."

Sie konnte ihren Satz nicht beenden, bemerkte kaum den Schürhaken in seiner Hand, bevor er ihne hoch in die Luft schwang und ihn auf ihren Schädel knallte. Das Krachen und Knarzen war das letzte, was sie je hörte.

Dulexy langte noch zwei Mal zu, zur Sicherheit, bevor er seine Waffe weg legte. Er wickelte die blutige Masse, die einmal der Schädel seiner Schwester gewesen war, in einen Bademantel, der am Fußende des Bettes lag, hob dann ihre Leiche hoch und trug sie den Flur hinunter aus dem Haus. Dort legte er sie grob auf den Boden und zog die Klappe der Kellertür auf, die einige Meter neben der Küche war. Er hob Sylvias leblose Gestalt wieder hoch und sah desinteressiert zu, wie sie die Treppe herunter fiel. Dann knallte er die Tür zu und schlenderte zurück zum Haus. Er würde gleich in seinen Truck steigen und sich um diese Mulder-Frauen kümmern, dachte er zufrieden, als er durch das Wäldchen ging. Vielleicht würde er sie sogar her bringen und Mulder zusehen lassen, während er mit ihnen spielte—wenn das Arschloch immer noch atmete, wenn er zurück kam. Er musste lachen bei diesen Aussichten. Dieser Tag wurde einfach immer besser.

 

"Was machst du denn so früh schon hier? Und was zum Henker ist mit dir passiert?" verlangte Skinner von seinem Krankenhausbett aus, als Scully sein Zimmer betrat. Sie war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen und auf ihrem linken Wangenknochen prahlte ein dicker Bluterguss.

"Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Ich brauche deine Hilfe."

Er fuhr seine Rückenlehne hoch, so dass er sitzen konnte und hob wissbegierig eine Augenbraue.

"Ich dachte, du hättest dich um Mitternacht mit Dulexy getroffen—was ist mit Mulder?"

Scully biss sich fest auf die Lippe. Sie würde der Verzweiflung, die sich in ihr breit machen wollte, jetzt keinen freien Lauf lassen.

"Ich hatte einen Autounfall auf dem Weg dorthin. Ich bin bewusstlos geworden und man hat mich in ein Krankenhaus gebracht. Ich bin heute Morgen aufgewacht, als mein Handy geklingelt hat. Dulexys Schwester hat mir aufs Band gesprochen. Sie hat gesagt, ich soll sofort zu ihr fahren, sie wollte mit mir reden."

"Hat sie gesagt, wo wir Mulder finden können?" fragte er gespannt.

Sie schüttelte den Kopf. Ich wette allerdings, dass sie weiß, wo er ist.

Ich fahre jetzt da hin. Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist."

"Und was machst du dann noch hier? Wir haben keine Zeit zu...."

"Ich brauche Unterstützung. Verstärkung vom FBI. Ich will nichts mehr mit der Polizei zu tun haben."

Er starrte sie für einen Moment an, dann begann er langsam und nachdenklich den Kopf zu schütteln. "Keine Verstärkung, Scully", sagte er bestimmt, zog seine Decke zurück und versuchte schwankend aufzustehen. "Jedes Mal, wenn Verstärkung im Spiel war, hat es Mulder nur Müll eingebracht. Wir gehen alleine."

"Walter, du kannst nicht...."

"Doch, ich kann. Ich bin viel stärker als du glaubst. Meine Verletzung war bei weitem nicht so schlimm wie deine damals. Ich bin außerdem schon hier im Krankenhaus herum gelaufen. Und wir sind vielleicht Mulders letzte Hoffnung."

Er machte alles genauso, wie Scully zuvor—entledigte sich seiner Infusionsnadel, ließ den piependen Monitor und die dazugehörige Schwester links liegen und sammelte seine Sachen so schnell wie möglich zusammen. Er war gerade dabei, seine Schuhe zusammen zu binden, als Jess mit einem Becher Kaffee in der Hand herein kam.

"Was zur *Hölle* glaubst du machst du da?" fuhr sie ihn an, stellte die Tasse ab und baute sich vor ihm auf.

Er störte sich nicht an ihrem Ärger, als er in Ruhe seine Schnürsenkel weiter zuband. Dann sah er auf und war gerührt durch die Sorge, die er in ihrem Gesicht sah.

"Scully und ich müssen Mulder holen ", erklärte er, stand auf und legte eine Hand auf ihre Schulter. "Wir sind die einzigen, die ihm helfen können."

"Warum?" fragte sie sanft. Sie wollte ihn anbrüllen, ihn zurück ins Bett beordern, die Schwestern um genügend Beruhigungsmittel bitten, die ihn ruhig stellen und vor jeglicher Gefahr bewahren würden. "Du bist nicht in der Verfassung, um das Krankenhaus zu verlassen, Walter. Warum kannst du die Polizei das nicht übernehmen lassen?"

"Sie hat recht, Walter, es geht dir nicht gut genug. Besorg mir einfach zwei Agenten und lass uns das regeln. Wir müssen uns beeilen, und du siehst nicht so aus, als könntest du dich beeilen." Scully hüpfte praktisch vor lauter Unruhe von einem Fuß auf den anderen. Sie verschwendete hier nur Zeit, während Mulder.... weiß der Himmel, was Mulder gerade passierte. "Du könntest außerdem deinen Job deswegen verlieren", erinnerte sie ihn.

"Wir werden das alleine regeln, Scully", bestand er stur darauf, als er sich anschickte, jegliches Bitten und Flehen von Jess, Mrs. Scully und den beiden Schwestern ignorierend zur Tür zu gehen. "Ich stehe ein Jahr vor meiner Pensionierung. Wenn die mich deswegen feuern wollen, verzichte ich mit Freuden auf meine Pension, wenn wir Mulder dafür zurück bekommen."

Scully nickte in Zustimmung, weil sie nicht noch mehr Zeit mit Streitereien verlieren wollte. Mrs. Scully wusste, dass sie überstimmt war und händigte ihr die Autoschlüssel aus.

"Und dass du mir ja lebend wieder zurück kommst", warnte sie mit einem bösen Blick zuerst auf Dana, dann auf Walter. "Ihr beide. Und bringt Fox nach Hause."

"Ja, Mom", warf Scully über ihre Schulter, als sie sie stehen ließen und so schnell es zwei verletzten Menschen möglich war zum Wagen liefen.

 

Mulder hielt wieder an, um sich zu erholen. Er musste sich endlich der Erschöpfung unterwerfen, die ihn bezwang. Er hatte keine Kraft mehr, keine Möglichkeit.... aber er hatte neue Hoffnung geschöpft. Er hatte fast eine Stunde dafür gebraucht, aber er war jetzt auf halbem Wege durch den Flur in die Küche, und da, an der Wand über ihm, gute drei Meter weiter, hing sein Ziel. Ein Telefon.

Er hatte fast vor Glück geheult, als er es gesehen hatte. Er war nämlich schon drauf und dran gewesen aufzugeben, weil seine pausenlos protestierenden gebrochenen Knochen jede Bewegung zur Hölle machte. Immer wieder wurde ihm schwindelig und er sah nur noch grau, so dass er anhalten musste. Aber sobald er wieder klar sehen konnte, begann er mit den tiefsten Atemzügen, die er nehmen konnte—nicht tief genug, aber sie reichten aus --, sein Streben erneut.

Er hatte herausgefunden, dass er mit seinen Beinen nur wenig nachhelfen konnte. Weil seine Unterschenkelknochen kaputt waren, konnte er sie nicht anheben, so dass er höchstens mit seinen Knien drücken konnte, soweit es ohne Anheben ging. Die meiste Arbeit hing nach wie vor an seinen Armen, auch wenn seine zertrümmerten Unterarme mit jeder Bewegung Feuer spuckten.  Er kam langsam vorwärts, Zentimeter um Zentimeter, aber seine Fortschritte waren sichtbar. Zum Glück war der Boden im Flur aus Holz und nicht mit Teppich ausgelegt, so dass er leichter rutschte. Allerdings hatte es ihm einige Splitter aus dem lange vernachlässigten Holz in Bauch und Armen eingebracht, die momentan allerdings seine kleinste Sorge waren.

Er hatte gerade seinen Kopf nach der letzten erzwungenen Ausruhphase gehoben, als er ein Geräusch hörte, dass ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er lag regungslos und lauschte auf die Schritte, die sich über den quietschenden Holzboden draußen vor der Küche näherten.

Tränen des Frustes und der Angst wollten aus seinen Augen brechen, doch er hielt sie stur zurück, denn er war ohnehin schon ein toter Mann. Es war egal, ob Dulexy ihn hier auffinden würde oder da, wo er ihn verlassen hatte. Ganz gleich wie er es drehte, es würde sein letzter Tag auf dieser Erde sein. Er biss die Zähne fest gegen den Schmerz zusammen, der jetzt nicht mehr so einfach zu ignorieren war, weil er sich nicht mehr aufs Fortbewegen konzentrieren musste, und wartete auf das Schlimmste.

Er hörte, wie die Küchentür geöffnet wurde und Dulexys schweren Gang über den Fußboden, aber er konnte sich nicht dazu bringen aufzusehen, als er herein kam. Er legte seine Wange auf den kalten Boden und schloss die Augen in Erwartung des ersten Schlages.

Doch der kam nicht.

Stattdessen klangen die Schritte, als ob sich deren Besitzer aus der Küche in einen anderen Raum bewegte, dann schnell zurück zur Tür und das Haus verließ. Ein paar Sekunden später hörte Mulder das Anlassergeräusch eines Wagens und das unverwechselbare Motorengeräusch von Dulexys Truck, der weg fuhr. Mulder konnte sein Glück kaum fassen. Dulexy war weg.

In der nächsten Sekunde fiel ihm ein, wohin Dulexy wohl fahren würde—zu Scully und Emmie—und mit neuer Entschlossenheit fiel sein Blick auf das Telefon an der Wand. Er musste das Telefon erreichen, bevor Dulexy seine Familie erreichte.

Er brauchte fast noch eine weitere Stunde bis dahin. Er ergriff das Kabel und schaffte es, es von der Wand zu reißen. Doch alles, was er hörte, war Stille.

Das Telefon war tot.

 

Scully blickte auf der Fahrt besorgt zu Skinner. Er sah überhaupt nicht gut aus—sein Gesicht war ganz blass und eingefallen. Er hatte sich zurück an die Kopfstütze gelehnt, die Augen geschlossen und sie konnte den dünnen Schweißfilm auf seiner Haut sehen. Jedes Mal, wenn der Wagen über eine Unebenheit fuhr, zuckte er zusammen.

"Hättest verdammt noch mal im Krankenhaus bleiben sollen", murmelte sie ärgerlich.

"Scully, ich sage dir, du brauchst mich. Ich schaffe es schon."

Sie erwiderte daraufhin nichts mehr, sondern fuhr bedachtsam weiter, um Unebenheiten zu vermeiden. Schließlich bog sie von der Straße in einen staubigen Weg ein. Sie fuhr langsamer und biss sich angestrengt auf die Unterlippe, weil sie sich auf die holprige Straße konzentrierte.

Als sie am Ende den Wagen vor dem Haus anhielt, öffnete Skinner mitgenommen die Augen.

"Sieht verlassen aus", schloss er.

"Es sah nicht viel bewohnter aus, als ich das letzte Mal hier war", gab Scully zurück, während sie sich abschnallte.

Sie erwartete eigentlich, dass Sylvia Stiles ihnen aus dem Haus entgegen gelaufen kam, doch alles blieb still, als sie sich der Vordertür näherten.

"Miss Stiles?" rief sie durch die Tür und klopfte hörbar an. "Ist jemand zu Hause?"

Niemand antwortete. Als einige weitere Versuche ebenfalls erfolglos blieben, zog Scully die Tür auf und trat in eine große Eingangshalle. Sie blinzelte einige Male, um ihre Augen an das dunkle Licht zu gewöhnen und ging auf die Tür zu, von der sie annahm, dass sie zum Wohnzimmer des Hauses führte. Skinner folgte ihr. Sie kamen in kleines Arbeitszimmer, gemütlich und mit einer bewohnten Atmosphäre, trotzdem leer.

"Sylvia?" rief Scully noch einmal. Sie zeigte zu dem Korridor, der aus dem Arbeitszimmer führte. Am anderen Ende des Flurs zu ihrer Rechten lag eine große Küche, und zur linken schienen einige Schlafzimmer zu sein. Sie wählten letztere und waren nur ein paar Schritte gegangen, als sie erstarrten.

"Oh mein Gott!" entfuhr es Scully leise, als sie auf den Boden sah.

Skinner folgte ihrem Blick und entdeckte, was sie so erschreckt hatte.  Kleine Tropfen, wirr und in verschiedener Dichte, aber unverwechselbar Blut, waren überall auf dem Boden verteilt. Die Spritzer wurden weniger und der Abstand zueinander größer auf dem Weg zur Küche, und sie wurden mehr und dichter auf dem Weg in ein Schlafzimmer.

Skinner stützte sie, als sie schwankte und auf den riesigen Blutfleck auf dem Bett starrte.

"Was hat dieser Bastard ihm angetan?" stieß sie hervor, unfähig wegzusehen von dem Ort, von dem sie sicher war, dass Mulder dort seinen letzten Atemzug getan hatte.

 

"Natürlich ist es nicht angeschlossen, du Idiot—in diesem Haus hat seit Jahren keiner mehr gewohnt!" schalt er sich selbst, als er sich ein wenig beruhigt hatte. "Such einfach einen anderen Weg."

Der Klang seiner eigenen Stimme beruhigte Mulder beachtlich, so kratzend und heiser sie auch klang. Es erinnerte ihn irgendwie daran, dass er wahrhaftig noch am Leben war, und er alles tun sollte, um das auch zu bleiben.

Es erschien ihm jetzt unmöglich, Scully vor Dulexy zu warnen. Sie würde sich auf ihre eigenen Instinkte und ihren Verstand verlassen müssen, um sich und Emmie zu retten. Andererseits würde ihn niemand retten, außer er selbst, schloss er. Er hatte es durch den Flur in die Küche geschafft.  Vielleicht, wenn er all seine Kraft zusammenkratzen würde, würde er es aus dem Haus schaffen und ein Versteck suchen können. Seine Muskeln probten den Aufstand, als er ihnen ankündigte, dass sie wieder arbeiten mussten, aber er ignorierte ihre Beschwerden. "Lass sie sich zusammenschließen", murmelte er mit Blick auf die Küchentür gerichtet, die glücklicherweise offen stand.  Er würde nie im Leben jetzt aufstehen können. Es musste sich vollkommen auf seine Ellbogen, Knie und Hüften verlassen.

Langsam und mit eine Sturheit von der Mulder vorher hätte schwören können, dass er sie nicht mehr aufbringen würde, begann er seinen Weg zu der Tür.  Nach weiteren zwanzig anstrengenden Minuten erreichte er sie und fing fast wieder erleichtert an zu weinen, als sie sich ohne Probleme aufmachen ließ.  Er zog seinen Rumpf über die Schwelle und biss sich fest auf die Lippe, um nicht aufzuschreien, als er seine Beine über die Erhebung zog. Noch ein paar Meter weiter und er war an der Treppe. Jetzt legte Mulder seinen Kopf auf das feste, kühle Holz und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Fünf Treppen. Fünf Treppen nur führten bis zum Boden, die aussahen wie eine Meile. Wie würde er das je schaffen können? Er hatte viel zu lange gebraucht, um hierhin zu gelangen, Dulexy hatte wahrscheinlich schon seine Familie erledigt und war auf dem Weg zurück. Selbst wenn er es die Treppen herunter schaffen würde, ohne sich das Genick zu brechen—es gab nichts weiter als Staub und wucherndes Unkraut da unten. Er würde sich nicht so leicht über den Boden ziehen können wie über den Holzboden. Dulexy würde wahrscheinlich zurück kommen und ihn mitten auf dem Hof in seinem Fluchtversuch erwischen. Und dann würde er ihn zweifellos den Rest des Weges zu dem Tod, der ihm so nahe erschien, entlang prügeln.

Zur selben Zeit, in der die Verzweiflung ihn abermals überkam, glimmerte ein winziger Funken Hoffnung in ihm auf. Er war zum ersten Mal seit Tagen draußen, und das bloße Gefühl der Freiheit baute ihn wieder ein wenig auf.  Die Sonne schien an einem knackigen Herbsttag, die Vögel sangen... "Und du liegst hier und badest in der Sonne, anstatt dein Leben zu retten, Vollidiot", meckerte er über sich selbst.

Er steckte Entmutigung, die ihn drohte einzuholen, zurück und nahm die Treppen in Angriff.

"Ein Schritt nach dem anderen, Mulder", keuchte er, als er langsam seinen rechten Arm herunter ließ, so dass sein Ellbogen auf der ersten Treppe lag.  "Einen nach dem anderen."

Er hatte gerade seinen zweiten Ellbogen auf die Stufe geschafft, als er etwas hörte, dass das Blut in seinen Adern gefrieren ließ.

Ein Auto fuhr auf der Straße vorbei, irgendwo hinter den Bäumen vor ihm. Er konnte es ganz deutlich hören. Es war nicht allzu weit weg, wenn er richtig vermutete. Fürs erste fürchtete er, dass Dulexy zurück kehrte, aber als sich auf der Straße, die zu dem Haus führte, niemand näherte, schloss er, dass es jemand anderes gewesen sein muss, der einfach nur vorbei fuhr.

Andererseits, wenn es eine Straße in der Nähe gab, könnte er es vielleicht bis dahin schaffen. Vielleicht würde er jemanden finden, der ihm half.

"Noch vier Stufen", sagte er zu sich und lehnte sich hinab, um Stufe Nummer Zwei zu bezwingen.

Mulder schaffte es in Rekordzeit zum Boden, als er mit einem Ellbogen auf der zweiten Stufe ausrutschte und sein ganzer Körper auf den Boden gerissen wurde. Mit einem qualvollen Aufprall traf er auf dem steinharten Boden auf.  Sämtliche Atemluft wich aus seinen Lungen und er glitt erleichtert in die Schwärze, die ihn wohlig einhüllte.

 

"Verfall nicht in Panik, Scully, noch nicht", beschwichtigte er sie, während er sie am Arm festhielt. "Wir wissen nicht, ob das Mulders Blut ist."

Sie drehte sich mit Hoffnungslosigkeit in ihren Augen zu ihm um. "Wessen Blut sollte es sonst sein?" fragte sie mit einer Stimme, die sich fast gebrochen anhörte, und er erkannte mit einem Mal, wie schwierig das alles für sie gewesen sein musste. Natürlich wusste er, dass es nicht leicht war -- ein Familienmitglied entführt und gequält zu wissen war eines der schlimmsten Dinge, die einem widerfahren konnten—aber jetzt konnte er die Sache mit ihren Augen sehen. Sie hatte so viel getan und alles versucht, um Mulder sicher da rauszuholen, und alles, was sie getan hatte, war in noch mehr Leid für den Menschen ausgeartet, den sie retten wollte.  Sein Ton wurde sanfter.

"Es könnte Sylvia Stiles' Blut sein", sagte er, und als er sah, wie sich ihre Augen weiteten, merkte er, dass sie diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen hatte.

Sie folgten der Blutspur durch den Flur in die Küche, doch dort endete sie und sie fanden absolut nichts, als sie das ganze Haus durchsuchten.

"Die Scheune", fiel es Scully plötzlich ein. "Ich wette, Dulexy hat sie getötet und ihre Leiche in die Scheune gebracht. Wenn das so wäre, hätte er Mulder überallhin bringen können."

Skinner war sich sicher, dass sie beide Leichen—Sylvias und Mulders— in der Scheune finden würden, aber das sagte er ihr nicht. Es gab keinen Grund, Scully noch weiter aufzuregen, wenn er falsch lag. Als sie langsam ihren Weg zu der Scheune gingen, betete Skinner, er möge Unrecht mit seiner Meinung haben.

Scully zog die schweren Türen auf, während er keuchend an der Scheunenwand lehnte. Der Adrenalinstoß, der ihm vom Krankenhaus bis hierhin geholfen hatte, war schon lange versiegt. Jetzt wollte Skinner nichts weiter, als sich in die Arme seiner Frau fallen zu lassen und sich von ihr umsorgen zu lassen. Aber Mulder, wenn er noch am Leben war, wollte womöglich das gleiche, sagte er sich, also raffte er sich auf und stellte sich aufrecht hin. Er folgte ihr hinein und ließ seine Augen sich an das schummrige Licht gewöhnen.

Scully, die Energie gewonnen zu haben schien, wo er keine mehr hatte, huschte so schnell sie konnte von Stapel zu Stapel und lugte in und um jedes Hindernis herum. Sie kletterte wieder auf den Heuboden, sah mit klopfendem Herzen über den Rand und schluckte ihre Enttäuschung herunter, als der Boden genauso unberührt wie zuvor aussah.

Sie durchsuchte jede Ecke und Winkel des alten Gebäudes und gab es schließlich auf.

"Ich schlage vor, wir rufen die Polizei, Walter", sagte sie niedergeschlagen und setzte sich auf eine Kiste. "Sie können das Grundstück viel besser durchsuchen als wir."

Er nickte zustimmend. Er wusste, dass es ihr sehr schwer fallen musste, die Kontrolle über die Situation jemand anderes zu übergeben.

"Wir haben unsere Handys im Auto liegen lassen", erinnerte er sie und sie gingen, Skinner von Scully gestützt, sogar noch langsamer als vorher zurück zum Auto.

Er machte die Beifahrertür auf und griff nach seinem Telefon. Doch als er sah, dass Scully vorne etwas gesehen haben musste, legte er es wieder zurück auf den Sitz. Scully war im Begriff gerade einzusteigen, doch sie hielt in ihren Bewegungen inne. Skinner folgte ihrem Blick und entdeckte, was ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Nahe der Kücheneingangstür an der Seite des Hauses war eine Klapptür, offenbar von einem Kohlenkeller.

"Die Blutspur endet in der Küche", sagte sie immer noch hinschauend.

Er sah von der Tür zurück zu ihr und wies dann mit dem Kopf zu dem Keller.

"Sei vorsichtig", warnte er sie. Sie nickte. Langsam stieg sie aus dem Wagen und näherte sich der Tür im Boden. Wollte sie wirklich wissen, was darunter verborgen war? Wenn sie Mulders Leiche dort finden würde.... aber vielleicht war er noch am Leben, verletzt, und wartete auf sie.

Dieser Gedanke trieb sie voran, und sie riss die Tür auf. Das Tageslicht strömte die Treppe herunter und schien auf etwas, dass offenbar die Beine einer Frau waren.

"Jemand liegt hier", rief sie zu Skinner. "Es könnte Sylvia sein."

Vorsichtig stieg sie die Treppen herunter und konnte schon bevor sie die unterste Stufe erreichte sehen, dass es definitiv Sylvias Leiche war, die auf dem dreckigen Boden lag. Von der blutigen Wunde in ihrem Schädel und der Art wie sie lag zu urteilen war sie tot. Scully sah sich weiter in dem kleinen Raum um und stellte erleichtert fest, dass es keine weiteren Leichen hier gab. Mulder war hier weder lebendig noch tot, was Scully als gutes Zeichen wertete.

 

Er öffnete die Augen und fluchte. Es gab nichts Schlimmeres als kopfüber eine Treppe runterzufallen, wenn man schon fast tot war, entschied er. Die gebrochene Rippe, die ihm das Atmen erschwert hatte, war verrutscht. Jetzt machte sie das Atmen geradezu unmöglich, zumindest auf der Seite, wo sie sich in die Lunge grub. Er konnte kaum genug Luft einatmen, um bei Bewusstsein zu bleiben. Er blieb bäuchlings liegen und keuchte kurz und stoßend.

Es war vorbei. Er war besiegt. Er konnte jetzt nichts mehr tun. Es war ausgeschlossen aufzustehen und zu der Straße zu gehen, er hatte keine Möglichkeit um Hilfe zu rufen, und früher oder später würde Dulexy zurück kommen. Er konnte nur hoffen, dass Scully und Emmie rechtzeitig weg gekommen waren, bevor er sie erreichen konnte. Er wünschte sich sehnlichst zu wissen, ob es geklappt hatte, denn wenn sie in Sicherheit waren, könnte er die Augen schließen und in Frieden sterben. Das war sein größtes Bedauern—dass er es nie erfahren würde.

 

"Er ist nicht hier", berichtete sie, als sie wieder ins Sonnenlicht trat.  "Aber Sylvia ist tot. Ihr Schädel ist eingeschlagen und es war offensichtlich ihr Blut, das wir drinnen gesehen haben."

Skinner hörte sie kaum. Er starrte gedankenvoll auf die Bäume, die auf der Südseite des Hauses lagen.
"Walter? Hast du zugehört?"

"Was ist da hinter den Bäumen?" fragte er und nickte in die Richtung.

Sie folgte seinem Blick. "Ich habe vor etwa einer halben Meile eine Straße gesehen", sagte sie kurz darauf.

"Dann sehen wir sie uns mal an."

"Die Polizei...."

"Ich habe sie bereits angerufen. Sie sind unterwegs. Lass uns sehen, wo die Straße hinführt, dann kommen wir wieder her und machen unsere Aussage."

Sie nickte und hielt ihm ihren Arm hin, um ihm den Weg zurück zum Wagen zu erleichtern. Skinner schwächelte immer mehr, das sah sie ihm deutlich an.  Er würde nicht mehr lange durchhalten.

Sie fuhr langsam die gepflasterte Straße zurück und suchte nach der Abzweigung, die sie vorher gesehen hatte. Gerade als sie überzeugt war, dass sie die Straße entweder verpasst oder sie sich nur eingebildet hatte, sah Scully sie. Es war nicht wirklich eine Straße, mehr ein breiter Weg.  Achtsam lenkte Scully den Chevy ihrer Mutter über die Kante des Asphalts und versuchte das leise Ächzen Skinners zu überhören. Die alte Straße war sehr zerfurcht und überwachsen, und als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass jemand sie kürzlich benutzt haben musste.

 

Wieder wurde er durch ein Motorengeräusch geweckt. Dieses Mal fuhr das Auto allerdings nicht vorbei. Dieses Mal hörte er, dass es auf das Haus zukam.  Das Haus, vor dem er lag, vollkommen ungeschützt mitten auf dem Hof. Dulexy parkte seinen Wagen immer neben dem Haus—Mulder hatte es durch sein Kommen und Gehen bestimmen können. Wenn er an seinen gewöhnlichen Parkplatz fuhr, wie ständen dann die Chancen, dass er ihn nicht sehen könnte?

Gleich Null. Er war ein toter Mann. Logisch, dachte er mit einem Kichern, er war bereits jetzt schon ein (fast) toter Mann. Gerade richtig um ausgeblutet und in den Tiefkühlschrank gesteckt zu werden. Eine Hälfte von Mulder würde reichen, um eine Familie durch vier lange Winter zu bekommen.

Diese wahnsinnigen Gedanken überkamen ihn, als er merkte, wie durch und durch verrückt es war, hier zu liegen und morbide Witze zu reißen, während Dulexy immer näher kam. Er musste sich verstecken, oder zumindest....  naja… sterben während er es versuchte.

Er verkniff sich ein weiteres verrücktes Kichern und entdeckte ein paar Büsche nicht weit von wo er lag. Offenbar hatte das Haus einmal einen gut bepflanzten Hof gehabt, denn jetzt, nach Jahren der Vernachlässigung war er stark überwuchert an einen und spärlich bewachsen an anderen Stellen. Wenn er sich in den Büschen verstecken könnte, könnte er vielleicht warten, bis Dulexy in seinen betrunkenen nächtlichen Tiefschlaf verfiel, und sich dann zur Straße abmühen.

Er biss die Zähne zusammen und erhob sich wieder auf seine Ellbogen. Seine Hände und Unterarme waren inzwischen gehörig angeschwollen. Es war klar, dass er sich so nicht mehr lange vorwärts bewegen konnte. Für einen Moment dachte er daran, sich seitwärts zu den Büschen zu rollen, doch er verwarf diese Idee schnell wieder. Durch das ständige Aufkommen seiner Brust auf den harten Boden würde seine gebrochene Rippe sich wahrscheinlich in sein Herz bohren. Wenn er schon sterben müsste, dann ganz bestimmt nicht durch Eigenverschulden, dachte er stur. Fest presste er die Kieferknochen aufeinander, um nicht zu schreien, und begann vorwärts zu rücken.

 

Scully hielt den Wagen vor dem klapprigen Haus an. Es war offensichtlich unbewohnt, denn die vordere Treppe fiel halb in sich zusammen und einige Fenster waren zerbrochen. Doch trotzdem strahlte es etwas aus—eine Belebtheit, die eigentlich nicht in dieser längst verlassenen Struktur sein sollte.

Ihre Augen leuchteten auf, als sie aus dem Wagen stieg. Mulder war hier, oder zumindest war er hier gewesen. Sie konnte es fühlen. Kopfschüttelnd schob sie diesen Unfug von sich. Es gab keine Psychokinese, und selbst wenn, hatte sie die Fähigkeit dazu nicht.

"Warum bleibst du nicht im Wagen?" schlug sie Skinner vor, der leichenblass auf seinem Sitz9 hockte. Aber sie wusste, schon bevor sie den Satz überhaut zu Ende sprach, wie er reagieren würde.

Er warf ihr einen bösen Blick zu und schwang die Autotür auf, an der er sich festhielt, als er sich heraushievte.

//Gott, ich wünschte, Männer würden einfach mal zugeben, wenn ihnen etwas weh tut!// dachte sie mit einem Anflug von Ärger, aber sie hielt sich zurück. Sie sah keinen Grund, Walter zu entmutigen, wenn er so war—wie ein Bulle.

Sie ging vor ihm her auf die Haustür zu, und als er sie einholte, hatte sie schon geklopft, keine Antwort erhalten und war hinein gegangen. Sie blieb nach zwei Schritten stehen und sah sich um. Der Grundriss des Hauses sah dem, wo Sylvia Stiles gelebt hat und gestorben war, sehr ähnlich. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob dieses Haus zu dem Grundstück der Frau gehörte, doch jetzt waren all ihre Zweifel ausgeräumt.

Im Wohnzimmer, in dem sie gerade standen, schien alles an seinem Platz zu sein, also machten sie sich mit einem gegenseitigen Zunicken auf den Weg ins Schlafzimmer. Scully ging wieder voraus. Wieder hielt sie abrupt an und wieder wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, als sie das Blut auf dem Boden sah. Doch das hier waren keinen Tröpfchen Blut, dies waren breite Streifen Blut, die sich auf dem groben Holzboden abzeichneten. Und wieder führte die Spur in die Küche, dünner und schwächer werdend, je dichter sie an der Küche dran war. Diese Dulexy-Familie hat es wohl mit Küchen, dachte sie plötzlich und presste eine Hand auf ihren Mund, um sich ein nervöses Lachen zu verkneifen.

Sie ignorierte fürs erste die Spur, die in die Küche führte, und konzentrierte sich stattdessen auf das Zimmer, von dem sie auszugehen schien. Ein riesiges, hölzernes Bett stand in der Mitte des Zimmers, etliche Stücke Seil waren auf dem Boden verteilt und etwas zog ganz besonders ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Neben einer dunklen Blutlache lag eine scharfe, silbrig glänzende Schere.

Eine blutbeschmierte Schere.

"Walter.... glaubst du er.... er hat Mulder hiermit umgebracht und ihn dann.... in die Küche gezogen?" fragte sie stockend.

Er besah die Szene kritisch und schüttelte den Kopf. "Dafür liegt hier nicht genügend Blut, Scully. Wenn Mulder mit einer Schere umgebracht worden wäre, würde alles voller Blut sein. Es sieht aber so aus, als hätte er Mulder damit geschnitten oder gestochen." Er sah sich weiter um. "Wir sollten das ganze Haus durchsuchen. Mulder könnte vielleicht noch hier sein."

Sie gingen zusammen durch jedes Zimmer, aber sie schienen alle, obwohl der Verfall in allen deutlich war, unberührt zu sein. Im Wohnzimmer stand ein Lehnstuhl neben einer großen Ansammlung leerer Budweiser-Dosen, doch ansonsten gab es keine Anzeichen dafür, dass das Haus während des letzten Jahrzehnts benutzt worden war. Was immer Dulexy Mulder auch angetan hatte, er hatte es in dem Raum mit dem Blut getan.

"Wenn er sich genauso viel Mühe gegeben hat, Mulders....—Mulder zu verstecken wie Sylvia, dürften wir ihn ziemlich leicht finden", überlegte Skinner ruhig und mit einem Nicken und einem weiteren Blick durch den Raum, der Mulders Gefängnis gewesen war, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche. Sie war am Rande eines Nervenzusammenbruchs.

 

Mulder lag schnell und flach atmend verborgen unter dem dichten Buschwerk.  In sein Versteck zu kommen hatte ihn all seine Kraft gekostet. Er hatte nichts mehr, womit er kämpfen konnte. Wenn Dulexy ihn jetzt finden würde, wäre es vorbei. Er wünschte sich fast, dass Dulexy ihn fand und ihn aus dieser Hölle erlöste, die sein Leben während der letzten Woche geworden war, aber Mulder wusste, dass das Schicksal es ihm nie leicht machte. Er hatte seine Schwester verloren, hatte vier Jahre im Gefängnis verbracht und war durch die Hölle gegangen, um schließlich das Glück zu finden, das er zum Schluss bekommen hatte. Was um alles in der Welt würde ihn glauben lassen, dass das Leben aufhören würde, mit ihm zu spielen? Die letzten zehn Jahre in Frieden waren offenbar seine Art, ihn in falscher Sicherheit zu wiegen, so dass er seine Wachsamkeit schleifen ließ, nur um ihn in dieses letzte, allerschlimmste Katz- und Mausspiel zu ziehen, bevor er starb.

Er hörte die Küchentüre auf und dann wieder zu gehen und kniff die Augen zusammen. Wieder wollte er in nackten Angst wimmern, doch er konnte sich gerade noch zurück halten. Egal wie, sagte er sich, seine Qualen würde bald vorbei sein. Er versuchte, seinen bevorstehenden Tod als etwas Positives zu sehen. Er fühlte, wie er schwächer und schwächer wurde bis fast zum Kollaps, mit jeder verstreichende Sekunde immer näher an den Rand der Klippe gelangte. Er wusste, dass das Verhungern und Verdursten, die Schläge, das Trauma und der Blutverlust letztendlich zu seinem Tode führen würden. Bald. Heute. Dieser würde sein letzter Tag auf Erden sein, und für einen kurzen Moment vergaß er wo er war und wer ihm auflauerte, und erlaubte sich, dankbar für diesen schönen Tag zu sein. Über Dulexys Schritten auf dem Hof konnte er die Vögel in den Bäumen zwitschern hören. Es war ein sehr beruhigender Klang.
Und dann, auf wundersame Weise, hörte er eine Tür zuschlagen. Dulexy schien scheinbar wieder zu gehen, womit er ihm eine weitere Chance gab, noch ein wenig länger zu leben. Er öffnete die Augen und sah einer Ameise zu, die über seinen zermarterten Daumen kroch. Normalerweise würde das kitzeln, aber heute, an seinem letzten Tag auf Erden, hatte er kein Gefühl mehr in den Händen.

Mit einem Mal wurde es Mulder überwältigend wichtig, dass er nicht hier in den Büschen sterben wollte. Er wollte draußen im Freien sein, wo das Sonnenlicht seinen Körper wärmte, bevor er für immer kalt und starr werden würde.

Im Stillen bot er den Göttern, die ein solches Spiel mit ihm gespielt hatten, einen Handel an: er würde sie ihn freiwillig nehmen lassen, wenn er zuerst das Sonnenlicht erreichen könnte. Er maß die Entfernung zu dem Punkt, wo das Sonnenlicht das Gras berührte—knapp zwei Meter. Etwa seine eigene Körperlänge. Das würde er doch schaffen, oder? Wenn sein Körper wüsste, dass es das letzte ist, das er je machen müsse? Er würde es sicher noch ein einziges, kurzes Mal schaffen.

Er hörte kaum das Anlassergeräusch des Wagens und wie er mit quietschenden Reifen weg fuhr, als er mit einer Eigenwilligkeit, die immer das Markenzeichen seiner Persönlichkeit gewesen war, sich auf den Weg zur Sonne machte.

Eine Zeile aus einem alten Kinderlied fiel ihm plötzlich ein, und ohne es zu merken, begann er die Wörter zu sprechen. Er sang sie sich selbst vor, ein Singsang der Ermutigung, als er zentimeterweise aus den schützenden Ästen hervor rückte.

"Setze einen.... Fuß.... vor den.... anderen....", murmelte er, während seine Ellbogen, die durch den Trip über den Hof platt wie Pfannekuchen waren, ihn über die letzten Meter zu seiner letzten Ruhestätte zogen.  "Bald.... wirste...  über'n.... Boooooden.... lauf'n...." Er hielt an und legte sein Gesicht für ein paar heftige Atemzüge auf den Boden, sog die Luft ein, so tief er nur konnte und sammelte Kräfte für seine letzten Züge.  Sein Platz zum Sterben lag jetzt nur noch einen Meter vor ihm. Sobald er ihn erreichte, würde er für immer ruhen können.

"Ein.... Fuß vor'n.... an...dern..." Seine Finger berührten das warme Gras.  Er wollte es umfassen, aber er konnte seine Hände nicht bewegen. Aber sein Gesicht—er musste nur den Sonnenschein auf seinem Gesicht fühlen, bevor er aufhörte. Nur noch dreißig Zentimeter. "Bald.... wirste.... d...durch die.... Tüüür.... geh'n... könnn'...", endete er triumphierend, als sein Kopf dankbar über die Linie kroch, die Licht von Schatten trennte.

Er schloss die Augen und badete in der Wärme, die auf seine gebrochene Gestalt fiel und gab auf. Sie könnten ihn jetzt jederzeit zu sich holen. Er war bereit zu gehen.

Nach und nach merkte er, dass seine Träumereien von Lärm gestört wurden, und mit einem Wimmern erkannte er, dass es Dulexys Truck war, der zurück kam. Mulder weigerte sich die Augen zu öffnen. Die Abmachung war, dass wenn er es bis in die Sonne schaffen würde, die Götter ihn zu sich holen konnten. Wenn sie das tun wollten, indem sie ihn zurück in Dulexys Hände trieben, sollte es so sein—aber niemand hat davon gesprochen, dass er dabei zusehen musste.

Er hörte die Autotür und jemand rief aus großer Entfernung seinen Namen. Es war gar nicht Dulexys Stimme, nein, ganz und gar nicht. Es war eine sanfte, feminine Stimme, eine, die ihn selbst nach all den Jahren mit Verwunderung erfüllen konnte—Verwunderung, dass diese Frau ihn durch und durch liebte und wollte und bei ihm blieb, obwohl er auf mehr als nur einem Wege total kaputt war. In genau diesem Moment dachte Mulder, er sei gestorben. Scully war hier, um ihn zu begrüßen, was bedeutete, dass Dulexy sie schon erreicht hatte. Vielleicht waren die Qualen nun endlich vorbei. Vielleicht könnten sie jetzt in Ruhe zusammen sein.

Eine kleine Hand ergriff seine Schulter und er hielt ein Schluchzen zurück.  Ihm tat alles weh. Er hatte gedacht, dass wenn man tot ist, einem nichts mehr weh tat, aber vielleicht dauerte das ein wenig. Er drehte seinen Kopf, um aufzuschauen und öffnete die Augen. Er sah ihr Gesicht und lächelte bevor seine ausgemergelten Nerven überhaupt den Schmerz registrierten, die diese Bewegung mit sich brachte.

Dann versuchte er zu schreien, aber er hatte keine Luft mehr. Er sah und fühlte nichts mehr als dunkle Schwärze, die er begrüßte wie eine lang verschollene Liebe, in die er fiel und fiel.

Die Uhr hatte endlich Mitternacht geschlagen.

 

Das Tagebuch des Fox Mulder

24. Dezember

Es fühlt sich gut an, endlich wieder vor dem Computer zu sitzen, obwohl Scully mir wahrscheinlich alle Knochen wieder brechen würde, wenn sie mich so spät noch vor der Kiste erwischt. Diese Frau besitzt keinen Funken Toleranz für diesen Mist. Ich sollte eigentlich im Bett sein.

Es ist fast vier Monate her, seit Dulexy versucht hat, meine Knochenstruktur zu derangieren. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch laufen kann. Selbst wenn ich aus eigener Kraft noch nicht so weit komme, versichern mir die Ärzte, dass ich mich wieder völlig erholen werde. Ich muss einfach regelmäßig diese nicht zu seltenen Quälereien weitermachen, die sie Bewegungs-Therapie nennen, und nächsten Sommer werde ich wieder fast ganz der alte sein. Sie sagen, dass ich sogar wieder Basketball spielen kann, allerdings werde ich nicht mehr sehr weit joggen können. Aber das ist okay, ich kann ja noch schwimmen und Ballspiele machen und alles Mögliche, was mir Spaß macht.

Ich kann immer noch meine Frau und meine Tochter in den Armen halten. Ich würde sogar den Rest meines Lebens in einem Rollstuhl verbringen, wenn das der Preis dafür wäre, das tun zu können.

Dulexy war an dem Morgen nicht mehr zu dem Haus zurück gekommen. Wenn er es getan hätte, hätte er sowieso niemanden mehr vorgefunden. Emmie war während der Zeit bei Scullys Mutter gewesen, weil Scully die wichtigste Rettungsaktion meines ganzen Lebens durchgezogen hatte. Wie oft hat diese Frau meinen Arsch eigentlich schon aus der Schlinge gezogen? Ich glaube nicht, dass ich das jetzt zählen will. Ich sonne mich lieber im Glanz des Weihnachtsbaums, den Emmie letzte Woche dekoriert hatte, und schwelge in dem Gewissen, dass ich dem Teufel wieder einmal von der Schippe gesprungen bin.

Justin Dulexy hatte wohl nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis einen Wagen ohne Kennzeichen gefahren, und jedes Mal, wenn die Polizei ihn angehalten und wieder weiterfahren lassen hatte, hatte niemand Notiz davon genommen. Es hat erst einen vierundzwanzigjährigen Highway Patrolman gebraucht, der ihn auf dem Fahndungsfoto wiedererkannt und verhaftet hatte.  Er hatte gestanden, sobald sie angefangen hatten, ihn bezüglich meines Verschwindens zu befragen, aber Scully und Walter hatten mich zu der Zeit ja schon gefunden.

Armer Walter. Ich war mir nicht sicher, ob Jess ihn während der ersten paar Tage nach seiner Expedition umarmen oder umlegen würde. Nachdem er aus dem AMA-Krankenhaus gegangen war, landete er gleich darauf wieder darin mit aufgerissenen Nähten und inneren Blutungen, die eine weitere kleine Operation benötigten. Ich hätte ein verdammt schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich nicht selbst einige dieser klitzekleinen Operationen hätte überstehen müssen. Aber im Großen und Ganzen war Walters Therapie nicht so schlimm. Diesen Gedanken habe ich in Jess' Nähe aber für mich behalten.  Ich bin ja nicht von gestern.

Scully hatte andererseits fast einen Nervenzusammenbruch erlitten, als sie mich ins Krankenhaus geschafft hatte. So hat man es mir zumindest erzählt.  Ich war zu der Zeit nicht gerade in Topform gewesen, ich kann mich nur an einen Haufen hektisch agierender Leute durch einen roten Schmerzensschleier erinnern. Ein Nervenzusammenbruch sieht meiner Scully gar nicht ähnlich, aber wenn man mal beachtet, was sie alles durchgemacht hat, glaube ich es trotzdem. Sie schleppt eine riesige Bürde mit sich herum, weil sie sich die Schuld dafür gibt, dass Dulexy mich entführt hat. Ich habe versucht ihr klarzumachen, dass Dulexy ein Irrer ist, dass er mich so oder so dran gekriegt hätte, sie hätte nichts dagegen tun können. Aber sie will nichts davon hören. Am Ende habe ich nachgegeben und habe sie mich verwöhnen lassen, damit sie das Gefühl bekam, etwas für mich tun zu können. Wie schon gesagt, ich bin ja nicht blöd.

Als ich nach meiner zweiten Operation nach Hause durfte, wurde der miesepetrige, bettlägerige Ehemann durch einen bis zum Geht-Nicht-Mehr Verhätschelten ersetzt. Ich sei ihr ausgeliefert, sagte sie an einem der besonders ekligen Tage zu mir, und ich werde besser schnellstens wieder gesund, oder sie würde mit Emmie zu ihrer Mutter ziehen und ich könnte hier liegen bleiben und verschimmeln. Ich merkte, dass ich ihr wirklich ausgeliefert war, obwohl ich wusste, dass es nur leere Drohungen waren, bremste ich mein Temperament und versuchte höflicher zu sein. Das war gut so, denn sie hätte mich sonst verhungern lassen, weil meine Arme und Beine eingegipst waren und ich vollkommen hilflos war. Ich konnte nicht mal ohne ihre Hilfe aufs Klo gehen.

Emmie fühlte sich so mies wegen der Dinge, die sie mir vor meiner Entführung an den Kopf geworfen hatte, dass sie all ihre Freizeit damit zubrachte, mir Gesellschaft zu leisten. Sie las mir vor oder erzählte mir von der Schule, die ich übrigens auch sehr vermisse, oder unterhält sich einfach mit mir, bis ich sie schließlich rausschicken muss, damit sie ihre Hausaufgaben macht oder Freunde besucht. Ich grummelte mein bestes Grummeln und senkte bedrohlich meine Augenbrauen, aber sie lachte einfach und küsste mich auf die Wange bevor sie ging. In ihren Augen konnte ich sehen, dass sie sich über mich lustig machte, weil, wenn sie sich mir widersetzen würde, könnte ich sowieso nichts dagegen tun. Ich sehe schon, ich werde ziemliche Schwierigkeiten haben, mich wieder als Familienoberhaupt zu behaupten, wenn erst einmal alles wieder seinen gewohnten Gang läuft.  Zumindest lässt Scully mich immer glauben, dass ich immer noch der Chef bin, aber nur um mein männliches Ego zufrieden zu stellen, denke ich.

Ich musste den Jungs mein Versprechen geben, für die nächste Super Bowl Party das Bier zu stellen, damit sie mir etwas Vernünftiges zu Essen brachten. Scully hat mich in letzter Zeit mit so viel gesundem Zeug vollgestopft, dass es mir schon zu den Ohren raus kommt. Es hat sich allerdings gelohnt—die Jungs haben mich letzte Woche besucht, während Scully und Emmie Weihnachsteinkäufe erledigt haben, und haben für mich einen riesigen, fettigen Burger, Pommes Frites und einen Milchshake hereingeschmuggelt, ohne dass meine Wächterin es bemerkt hatte. Zumindest glaube ich, dass sie bis heute nichts davon weiß, obwohl sie, als sie wiedergekommen ist, geschnuppert und mir einen wissenden Blick zugeworfen hat. Sie hat es allerdings nicht angesprochen, also beharre ich auf meine Intuition (die mir sagt, dass Scullys Instinkte ihr immer sagen, was ich tue oder lasse) und lasse mir meinen Eindruck, sie reingelegt zu haben.

Ellery hat mich im Krankenhaus besucht und sich in Tränen aufgelöst dafür bedankt, ihr das Leben gerettet zu haben. Das arme Kind gibt sich mindestens ebenso viel Schuld für meine Entführung wie Emmie, auch wenn keine von beiden jegliche Schuld trifft. Ich habe mein Bestes getan, um ihr klar zu machen, dass sie lediglich ein Opfer geworden war. Ich werde allerdings tun was ich kann, um ihr zu helfen—sowohl als Psychologe, als auch als Freund—denn ich bin nicht gewillt, die beiden Mädchen ein Leben leben zu lassen, das durch diesen Vorfall völlig aus den Fugen gerät. So wie meins durch Samanthas Verschwinden beeinflusst wurde. Sie verdienen besseres, und ich werde dafür sorgen, dass sie es bekommen, und wenn es das letzte ist, das ich tue.

 

Später

Verdammt, die Frau ist gut! Sie hat mich gehört, obwohl ich versucht habe, so leise wie möglich zu sein. Sie hat gerade nach mir gesehen und versucht, mich zurück ins Bett zu beordern. Ich nehme an, dass mein Hundeblick dieses Mal Wirkung erzielt hat, denn ich konnte sie endlich überreden, sich für den Rest der Nacht zusammen mit mir auf die Couch zu setzen. Wir haben uns im Dunkeln aneinander gekuschelt, das Feuer im Kamin und den leuchtenden Christbaum angesehen und es einfach genossen, beieinander zu sein. So eine einfache und wunderbare Sache. Jetzt macht sie mir gerade Frühstück und ich schreibe auf Geheißen von Jess diesen Tagebucheintrag zu Ende. Gleich kann ich Emmie für unsere morgendliche Weihnachtsfeier wecken.

Ich kann es kaum erwarten, was sie zu meinem Geschenk sagt. Als sie noch klein war, wollte sie immer einen Hund, doch der erste, den wir ihr geholt haben, war kurz darauf an einer Krankheit, von der wir gar nicht wussten, dass er sie hatte, gestorben. Und dann war ihre geliebte Ginger, die sie sechs Jahre lang gehabt hatte, von einem Auto überfahren worden. Emmie schien sich nie wieder an ein Tier binden zu wollen, also habe ich Scully schließlich davon überzeugt, ihr etwas ruhigeres, nicht so aufgekratztes zu geben, das im Haus bleiben konnte.

Vielleicht setze ich das Kätzchen auf ihr Bett und wecke sie dann. Wer kann schon dem Schnurren einer kleinen Katze widerstehen? Ich nicht, und Emmie sicherlich auch nicht. Ich habe sie mit Ellerys Katzen gesehen—Emmie liebt einfach alle Tiere. Ich habe das Kätzchen gründlich untersuchen lassen. Es ist so gesund wie.... naja, es ist auf jeden Fall bei weitem gesünder als ich.

Ich hoffe, dass Scully daran gedacht hat Katzenstreu zu kaufen....

 

Ende

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