World of X

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Geschenk Gottes

von Andrea Muche

Kapitel 4

„Ich bin ein einfacher Mann, Mister Wayne“, sagte Billys Vater, der sich eben daran gemacht hatte, eine Maschine zu reparieren. „Ich verstehe nicht, was hier passiert, oder warum. Aber ich bin sicher, daß Gott einen Plan hat für alles, was er tut. Wir müssen nur glauben und vertrauen.“ Er schwieg kurz. „Allerdings mache ich mir Sorgen um unseren Jungen. Er war schon immer ein Kind, das einen sehr fordert. Alles will er wissen. Und selbst das Internet ist ihm nicht genug. Wir können da nicht mithalten. Aber wir tun, was wir können. Auch das ist Gottes Wille, sonst hätte er ja nicht gerade dieses Kind zu uns geschickt. Nur...“ Seine Stimme verlor sich erneut. „Nur seit das mit Buddy passiert ist, ist es noch viel schlimmer. Miller, unser verunglückter Arbeiter, hat Rattengift ausgelegt, ohne uns zu fragen, und Billys Hund damit getötet.“

„Wie haben Sie reagiert?“

Der Farmer starrte ihn fragend an. „Was meinen Sie mit ,reagiert‘? Ich hab’ den Hund eingegraben.“

„Waren Sie sauer?“

„Es hat mir leid getan für Billy. Aber ich wußte ja nicht, woran Buddy eingegangen war. Das habe ich erst gemerkt, als ich die tote Ratte gefunden habe. Sie waren ja dabei. Natürlich hätte ich Miller zur Rede gestellt. Aber er war dann ja schon tot.“

Mulder nickte. Sein Gefühl sagte ihm, daß der Mann die Wahrheit sagte. Er hätte zwar rein theoretisch Gründe haben können, den beiden Männern ans Leder zu wollen – der eine hatte seine Frau begrabscht, der andere den Hund seines Sohnes getötet –, aber er war sich sicher, daß dem Mann noch nicht einmal der Gedanke gekommen war, daß er selbst ein Verdächtiger sein könnte. Außerdem hatten den Landstreicher ja wohl Kühe zu Tode getrampelt. Konnte ein Farmer seine Kühe anstacheln, so etwas zu tun? Mulder verwarf den Gedanken sofort wieder. Selbst falls der Mann entgegen seiner Reaktion gewußt haben sollte, daß der Tramp seine Frau angefaßt hatte – er war einfach nicht der Typ für einen Mord. Was, zum Teufel, war aber dann nur passiert?



„Ist das Buddys Grab?“ Mulder ließ sich neben Billy im Garten nieder, wo auf einen noch frischen Erdhügel Blumen gepflanzt waren.

„Ja.“ Billy nickte. „Ich vermisse ihn so.“

„Schön hat er es hier.“ Mulder nickte in Richtung des Apfelbaumes hinüber. „Mein Lehrer wollte immer gerne unter dem Apfelbaum in seinem Garten begraben worden. Er hat gesagt, dann hätte auch der Tod noch einen Sinn, denn sein sich zersetzender Körper wäre Nahrung für den Baum. In den Früchten käme er jedes Jahr wieder neu zu seiner Familie.“

„Dann hat er nicht an das ewige Leben, das Leben nach dem Tod geglaubt?“

„Vielleicht doch. Wäre die Wiederkehr im Apfelbaum nicht eine Form von ewigem Leben?“

Billy nickte. „Aber nicht die, die die Kirche predigt.“ Er schwieg kurz. Dann fragte er: „Ist dein Lehrer unter dem Baum beerdigt worden?“

„Nein“, sagte Mulder. „Im Gegensatz zu einem Tier darf man Menschen leider nicht einfach im eigenen Garten beerdigen. Er hat eine kalte, glatte Marmorplatte, die in keiner Weise an den Menschen erinnert, der er war. Da hat es dein Buddy doch besser. Hier, unter dem Apfelbaum. Und die Vögel singen ihm ein Lied.“

„Willst du sie aus der Nähe sehen?“ fragte Billy, ein wenig abgelenkt. Bevor Mulder antworten konnte, streckte der Junge die Hand aus und schloß die Augen. Ein schnelles Flattern – und ein Rotkehlchen hatte sich auf seiner Hand niedergelassen und sah Billy mit großen Augen an. „Ist die Meise auch da?“ fragte der Junge. Das Rotkehlchen schwirrte wieder davon, nur Sekunden später ließ sich eine Blaumeise auf seiner Hand nieder.

Mulder starrte die Szene verblüfft an. Es fiel einem spontan dazu wirklich nur Franz von Assisi ein.

Als auch die Meise wieder davongeschwirrt war, sagte Billy: „Die Vögel wissen auch, daß Buddy hier liegt. Das ist schön. Aber ich sollte sie nicht mehr kommen lassen. Ich mache sie traurig.“



„Nichts, nichts und noch mal nichts.“ Scully drückte in dem spärlichst ausgestatteten Autopsieraum das Kreuz durch und wandte sich zu dem örtlichen Polizisten um, der ihr assistiert hatte, während sie ihre Handschuhe abstreifte. „Alles scheint so zu sein, wie wir von Anfang an angenommen haben: Kühe, die den Mann umkreisen und zu Tode treten. Warum auch immer.“

Der Polizist schüttelte den Kopf. „Es ist mir unbegreiflich. So was habe ich wirklich noch nie gesehen. Und ich sehe hier öfter mal Unfälle, wie sie auf dem Land typischerweise vorkommen.“

Das Telefon klingelte. Der Polizist nahm ab, hörte eine Weile zu, wobei er erst blaß, dann rot und dann weiß wie die Wand wurde, dann reichte er den Hörer weiter: „Das ist wohl eher wieder was für Sie.“

Scully nahm ihm den Hörer aus der Hand. „Ja? Agent Cullum am Apparat.“

„Laura, Martin hier. Ich hatte die Idee, auch noch einmal mit dem Reverend zu reden und bin mit dem Pickup der Farm rübergefahren. Kannst du zur Kirche kommen?“

„Warum? Was sagt er denn?“

Mulder zögerte kurz. „Er sagt gar nichts mehr. Und die Art, auf die er schweigt, wird dir gar nicht gefallen.“



Damit hatte Mulder vollkommen recht. Der Geistliche lag im Mittelgang seiner Kirche, umgeben von einem bereits angetrockneten See aus Blut, und er war so tot wie man nur sein konnte.

„Also, das ist dann ja wohl definitiv ein Mord und kein Unfall“, sagte der Polizist mit Unbehagen, der gleich mitgekommen war und nun seine Kamera zückte, um Fotos von der Leiche zu machen.

„Mhm. Im Augenblick noch schwer zu sagen“, meinte Scully und ging in die Hocke, um besser sehen zu können.

„Was meinen Sie denn damit? Daß er in seiner eigenen Kirche längelang hinschlägt und sich nur zufällig zu Tode blutet? Das kann doch nicht sein!“

„Ich weiß erst nach einer genauen Untersuchung mehr. Tatsache ist bislang nur, daß der Mann nicht eines natürlichen Todes gestorben ist. Und es gibt einiges an der Auffindesituation, was mir auffällt.“

„Als da wäre?“ fragte der Polizist nun mehr interessiert als ablehnend. Auch Mulder rückte näher, um Scullys folgende Schilderung mitzuhören, obgleich der Agentin klar war, daß das geschulte Auge ihres Partners, mit dem sie nun schon so viele Jahre zusammenarbeitete, vermutlich die gleichen Details entdeckt hatte.

„Aus dieser Wunde ist das Blut ausgetreten.“ Scully wies auf einen langen Schnitt nahe des rechten Handgelenks. „Sie beginnt an der Ulnararterie und setzt sich bis über die Radialarterie fort. Die Ulnararterie ist der Teil der Blutversorgung der Hand, der auf der Seite des kleinen Fingers verläuft, die Radialarterie liegt an der Daumenseite. Menschen, die sich die Pulsadern aufschneiden wollen, scheitern meistens daran, daß sie auf der Daumenseite anfangen und dann den Mut verlieren. Anders herum sind die Chancen zum Verbluten höher, die Ulnararterie führt mehr Blut.“

„Er war es selbst?!“

„Nein.“ Scully schüttelte den Kopf. „Wenn ich mich von unserer Begegnung her recht erinnere, war er nicht Linkshänder. Er hätte sich nicht die rechten Pulsadern aufgeschnitten. Außerdem sehe ich hier keine Rasierklinge oder ähnliches. Und er hätte so etwas wohl auch kaum in seiner Kirche getan. Zudem war er extrem strenggläubig, da ist Selbstmord unwahrscheinlich. Andererseits ist aber auch nicht vorstellbar, daß er ruhig zusieht, wie sich jemand ihm nähert und ihm in aller Seelenruhe die Adern aufschneidet. Fakt ist, daß er nicht versucht hat, sich zu retten, als er blutete: Keinerlei blutige Schleifspuren. Der Körper hat genau hier zu bluten begonnen und sich nicht mehr bewegt.“

„Das hier ist interessant“, sagte Mulder und wies auf eine verwischte Spur am Ende der Blutlache.

Scully nickte. „Da hat jemand gestanden, wie es aussieht. Mit der UV-Lampe leuchtet auf dem Teppich bestimmt auch eine davon wegführende Fußspur auf. Wir sehen sie jetzt nur nicht, weil die Teppichfarbe sie schluckt.“

„Wer immer da gestanden hat“, nahm Mulder den Faden von Scullys Überlegungen auf, „es kann der Mörder gewesen sein, der noch einmal wiedergekommen ist, um zu sehen, ob sein Opfer tot ist. Jedenfalls hat sich die Person, als sie da im Blut stand, dem Reverend von dort nicht weiter genähert, sonst hätten wir weitere Spuren. Es kann auch jemand gewesen sein, der vor mir vorbeikam, den Reverend fand und im Schock weglief. Die Tür war übrigens sperrangelweit offen.“

„Okay. Dann ist da zumindest eine Spur, die nach einem Kampf aussieht.“ Scully streckte den Arm zu einem mehrere Meter entfernten Punkt aus.

Der Polizist nahm mit einem Taschentuch den Gegenstand, der dort lag, vorsichtig auf und nickte. „Die Brille des Reverends, das Glas ist völlig zerbrochen.“

„Er kann nicht draufgefallen sein. Und nur beim Wegschleudern zerbricht eine Brille nicht auf diese Weise.“

„Ja, das Metall des Gestells ist auch ganz verbogen.“

„Ein Kampf?“

„Falls der Reverend k.o. gegangen war, würde das erklären, warum man ihm die Pulsadern aufschneiden konnte, ohne daß er sich wehrte, nicht?“

„Mhm-hm. Übrigens sieht es so aus, als ob unter der Wunde, die wir hier sehen, noch mindestens ein weiterer Schnitt existiert. Man kann es allerdings nicht genau sehen, zu viel verkrustetes Blut.“

„Sein Mörder wollte auf Nummer sicher gehen?“

„Könnte sein.“ Scully richtete sich auf. „Auf alle Fälle werde ich mir den Reverend sehr genau ansehen müssen. Dem Zustand der Leiche nach müßte der Tod irgendwann letzte Nacht eingetreten sein.“

Scully entging nicht, wie sich bei der Bemerkung Mulders Augenbrauen hoben. Sie mußte an das gleiche wie er denken und seufzte.



Die nächste Überraschung erlebten sie, als sie wieder aus der Kirchentür traten: Mitten im Pfarrgarten graste gemächlich ein Apfelschimmel, den Scully sofort erkannte: „Psyche! Wie kommst du denn hierher?“

„Ich fürchte, das wissen wir. Letzte Nacht. Mit Billy.“

„Martin! Du kannst doch nicht allen Ernstes denken, der Junge hätte irgend etwas mit diesen gräßlichen Vorgängen zu tun!“

Mulder seufzte. „Ich weiß nicht, was ich denken soll, Laura. Aber irgend etwas muß er damit zu tun haben, da bin ich mir langsam hundertprozentig sicher.“

„Das kann nicht sein!“

„Denk doch mal nach. Der Landstreicher: Er wollte sich Billys Mutter unsittlich nähern. Billy hat das gesehen. Er hatte also Grund, ihn nicht zu mögen. Der Farmarbeiter: Er war schuld daran, daß Billys Hund nicht mehr lebt.“

„Aber das weiß Billy doch gar nicht!“

„Wirklich nicht?“

Scully biß sich auf die Lippen. Sie erinnerte sich daran, wie Billy mit „außerdem ist er schuld, daß...“ mitten im Satz abgebrochen hatte. „Ich glaube, du hast recht“, gab sie dann zu. „Er muß es doch mitbekommen haben, als sein Vater mit der toten Ratte hereinkam.“

„Und er war in der bewußten Nacht draußen. Die Nacht, in der auch Henriette fort war. Und nun war wieder Billy während der Nacht weg. Genau wie Psyche.“

„Aber wir wissen doch nicht einmal, ob Billy mit dem Pferd zusammen war. Und er ist ohne Psyche wiedergekommen. Warum?“

„Sicher hingegen ist, daß er allen Grund hatte, auch den Pfarrer nicht zu mögen.“

„Du willst doch wohl nicht wirklich allen Ernstes behaupten, Billy, ein kleiner Junge, ermordet drei erwachsene Männer!“ Entsetzen und Ärger lagen gleichermaßen wie Ungläubigkeit in Scullys Blick.

Mulder zog eine Grimasse. „Nein. Natürlich nicht. Aber etwas Unnatürliches geht hier vor. Und es hat in irgend einer Weise mit Billy zu tun. Wir müssen herausfinden, was es ist.“

Scully blickte zurück zur Kirche. „Als erstes muß ich herausfinden, wie der Pfarrer wirklich gestorben ist.“



Und das sorgte für die nächste Überraschung. Scully fand Hämatome im Gesicht und am Rücken, deren Form auf Hufschläge hindeuteten. Und was sie für Schnitte gehalten hatte, waren in Wirklichkeit die Spuren von Krallen: Sie verliefen in genau demselben Muster, das man trägt, nachdem einen eine Katze gekratzt hat. Nur waren die Spuren hier sehr viel tiefer – und präzise tödlich.

„Eine Katze mit dem Willen, zu töten, und dem Wissen, wie man sich die Pulsadern öffnet?“ fragte Mulder kopfschüttelnd.

„Ja, ich weiß, wie das klingt. Aber es waren Tiere. Und es kann doch auch einfach nicht sein, daß Billy diese Menschen umgebracht hat.“

„Und wenn er die Tiere dazu bringen kann, es für ihn zu tun?“

Sie sahen sich unbehaglich an. Scully erinnerte sich nur zu gut daran, wie Billy im Zorn gesagt hatte, er hoffe, der Priester möge verenden.

„Wir müssen mit den Eltern reden“, sagte Mulder.

Scully widerstrebte der Gedanke. Sie wandte sich vom Obduktionstisch ab, an dem sie gearbeitet hatten, und nahm abwesend den Stapel mit den blutdurchtränkten Kleidern des Reverends auf. Das Etikett im Inneren der Jacke fiel ihr ins Auge. Ein Logo mit Bergen und Natur war eingenäht. „Durable equipment“ stand darunter. Und „natural law“.

Scully runzelte die Stirn. „Naturgesetz“, las sie laut vor. Es war eine Jacke in einem Schnitt, der auch unter den Cowboys beliebt und verbreitet war, deswegen war der Hersteller wohl auf diesen Slogan verfallen. Dennoch kam Scully nicht umhin, sich über die Diskrepanz der Werbeworte und der Weltanschauung des Trägers der Jacke zu wundern. Der Agentin gingen wieder ihre Gespräche mit Billy durch den Kopf. Die Evolutionstheorie contra Gottes Wirken. Ein Priester, der durch eben jene Mitgeschöpfe ums Leben gebracht wurde, denen er sowohl die Fähigkeit zum Denken und Fühlen als auch eine Seele absprach. Gewissermaßen hatten sie ihm bewiesen, daß er im Irrtum war. Und daß die Natur entscheiden konnte, wer lebte und wer starb. Die Natur, die Tierwelt – nicht Gott. Scully erschauerte. Wenn man es so durchdachte, lag wirklich der Gedanke nicht fern, daß Billy damit zu tun hatte. Im Prinzip hatten sie ausgeführt, was er dachte. Sein Weltbild untermauert.

Nur daß sie sich völlig sicher war, daß sein Charakter den Jungen nie und nimmer zu Morden befähigen würde!

„Billy steht mit den Tieren in Kontakt“, sagte Mulder. „Er hat mir vorgeführt, wie er Vögel auf seine Hand fliegen lassen kann. Nur, weil er es will.“ Der Agent biß sich auf die Unterlippe. Er sah seine Partnerin grübelnd an. „Und dann hat er gesagt, er solle es sein lassen, weil er sie traurig mache.“ Wieder schwieg er kurz. Dann fragte er unvermittelt: „Erinnerst du dich noch an den Mann, der das Wetter beeinflussen konnte?“

„Oh ja. Seine Gemütszustände haben sich unmittelbar und ohne, daß er es wollte, im Wettergeschehen ausgedrückt. – Du denkst...?“

„Ja. Was, wenn Billy das, was passiert, nicht will, aber nicht bremsen kann? Vielleicht interpretieren die Tiere seine Traurigkeit falsch? Und denken, sie müssen handeln, um ihn wieder glücklich zu machen?“

„Aber wie können sie das denn, indem sie Menschen töten?!“ fragte Scully. Instinktiv hatte sie allerdings bereits das starke Gefühl, ihr Partner könnte recht haben.

„Sie können es ja gerade nicht. Aber sie wissen es nicht. Sie interpretieren Billys Wünsche falsch. Sie denken, er will...“

„...Rache?“

Mulder hob die Schultern. „Hast du eine bessere Idee?“

Scully schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn das stimmt...“ Ihre Stimme verlor sich. Als sie weitersprach, sagte sie: „Wie kann er den Tieren klarmachen, was wirklich sein Problem ist? Und was sie tun oder viel mehr nicht tun sollen?“

„Vielleicht fehlt ihm nur einfach der Übersetzer.“

„Was?“

Sie sahen sich an. Und dann sagten sie wie aus einem Mund: „Buddy.“



„Dennoch brauchen wir einen Beweis, daß Billy involviert ist.“

„Wenn wir wenigstens wüßten, wo er in der letzten Nacht war.“

„Denkst du, der Fußabdruck in der Kirche ist seiner?“

„Könnte sein. Vielleicht war Billy wirklich nicht zusammen mit Psyche unterwegs. Vielleicht ist er ihr gefolgt.“

„Und hat dann den Priester in seinem Blut liegen sehen.“

„Wobei der Junge nicht einmal wach war.“

„Es klingt logisch. Wenn wir es nur sicher wüßten.“



Die beiden Agenten erhielten den Beweis, der ihre Vermutung erhärtete, schneller als gedacht. Es geschah, als sie wieder auf der Farm waren. Billys Gummistiefel hatten auf einem Fußabtreter innen neben der Tür gestanden. Jetzt waren sie umgekippt. Neben ihnen saß die Katze und knackte mit ihren Zähnen begeistert kleine, dunkle, sternförmige Plättchen, die Scully zunächst für Katzentrockenfutter hielt. Doch ein Blick auf die Schuhsohlen der Stiefel ließ die Agentin stutzen. Sie merkte, wie Mulder neben ihr im gleichen Moment stoppte. Auch er hatte es gesehen: Das Muster der Sohle bildete Sternchen!

„Was hast du da?“ Scully ging in die Knie und versuchte, der Katze ihre Beute abzunehmen. Die Katze fauchte.

„Ist ja gut“, redete Scully ihr zu. „Nur eines. Ich will doch nur eines.“ Sie rieb der Katze die Wange und griff mit der anderen Hand nach einem der Plättchen. „So ist es brav. Danke.“ Sie richtete sich wieder auf, auf dem linken Zeigefinger das sternchenförmige Plättchen balancierend, bei dem es sich um das handelte, was zwischen dem Profil der Gummistiefel getrocknet und dann herausgefallen war. Sie hielt es ins Licht. Mulder beugte sich vor und spähte ihr über die Schulter. Er hörte, wie sie scharf die Luft einzog. Dann sah er es auch: Es handelte sich um getrocknetes Blut.



Und es war das Blut des Pfarrers, wie eine Analyse ergab.

„Was tun wir jetzt?“ fragte Scully hilflos.

„Noch einmal mit den Eltern reden. Über Billy.“

„Aber vorsichtig. Wir können ihnen schließlich schlecht sagen, sie sollen ihn keine fünf Minuten mehr aus den Augen lassen, weil seine Tiere sich sonst leider dazu angestiftet fühlen, jeden umzubringen, der Billy schief anguckt.“

„Hältst du mich für einen Idioten?“

Es war Mulder nur zu klar, daß die Eltern nicht geneigt sein würden, eine solche Behauptung aus heiterem Himmel zu glauben. Wer würde das schon? Der eigene Sohn war ein Wesen, das man mit allen Mitteln verteidigte und schützte. Erst recht ein unschuldiges, vierjähriges Kind. Seine Gedanken wanderten kurz zu seinem eigenen Sohn und allem, was Scully hatte tun müssen, um ihn zu schützen. Das größte Opfer einer Mutter. Und obwohl das Gefühl der Schuld sie oft fast auffraß. Aber nichts, nichts auf der Welt, war ihr wichtiger gewesen als das Wohlergehen und der Schutz ihres Sohnes. Er seufzte. Das würde ein langer Abend werden.



„Wann genau ist Ihnen denn eigentlich aufgefallen, daß Ihr Sohn anders ist als andere Kinder?“

Das Gespräch zog sich schon lange hin, und noch immer redeten sie um den heißen Brei herum. Sie hatten schon über Billys Beziehung zu Buddy gesprochen, darüber, wie er seine Gefühle ausdrückte oder nicht ausdrückte, auch über seine vielfältigen Begabungen. Und hatten sich bis zu einem Punkt vorgearbeitet, an dem die Eltern wieder erzählten, daß sie sich bisweilen auch fragten, ob die Hochbegabung eine Schattenseite habe, ob mit ihrem Jungen vielleicht doch auch irgend etwas anderes nicht stimme...

„Naja, ich weiß nicht genau. Es fehlt einem ja auch der Vergleich... Billy ist doch unser einziges Kind. Wir hatten uns schon so lange eines gewünscht...“

„Ein komisches Gefühl hatte ich irgendwie schon an dem Tag, als wir ihn bekommen haben“, sagte die Mutter. „Ich erinnere mich, daß ich die Frau gefragt habe, ob auch wirklich alles in Ordnung ist mit ihm.“

„Sie haben der Hebamme nach der Geburt diese Frage gestellt? Warum? Gab es denn Probleme?“

„Geb...? Oh, nein. Habe ich das gar nicht erwähnt? Billy ist nicht unser leibliches Kind, wissen Sie. Wir haben so lange gebetet und gehofft, aber Gott hat uns nicht mit eigenen Kindern gesegnet, und da haben wir uns entschlossen, einem fremden Kind ein Heim zu geben.“

„Für mich war er ja sofort unser Sohn“, erzählte ihr Mann weiter. „Aber meine Frau... Naja. Sie hielt ihn zum ersten Mal in den Armen und sorgte sich, wegen der Ungewißheit der Herkunft. Sie fragte die Frau, die ihn gebracht hat, zigmal, ob denn auch wirklich alles in Ordnung sei, weil man sich doch gar nicht vorstellen könne, welche Frau sich von einem gesunden Baby – zumal einem so reizenden wie unserem Kleinen – trennen kann.“

Mulder sah besorgt zu Scully hinüber, die kalkweiß geworden war. Auch er hatte nicht damit gerechnet, daß Billy adoptiert sein könnte. Für Scully hingegen war es ein regelrechter Schock, das konnte er ihr ansehen. Er wußte, daß sie der scharfe Schmerz der Erinnerung wieder durchflutete. Gepaart mit der Erkenntnis, daß jene Menschen, bei denen ihr gemeinsamer Sohn aufwuchs, vermutlich ähnlich über sie urteilten und sie für eine Rabenmutter hielten, genau wie dieses Ehepaar hier die unbekannte Mutter ihres geliebten Kindes. Das Gefühl der Schuld schlug erneut wie eine dunkle Woge über seiner Partnerin zusammen.

„Laura?“ fragte er vorsichtig.

Das Farmerspaar brach seine Schilderung ab, sie merkten, daß irgend etwas nicht stimmte.

Scully erhob sich. „Entschuldigung. Ich... Mir ist plötzlich nicht gut. Ich muß eine Weile nach draußen, an die frische Luft. Würden Sie mich bitte entschuldigen?“

„Ja, natürlich.“

„Soll ich mitkommen?“ fragte Mulder, der besorgt aufgestanden war.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Martin. Nicht nötig. Es geht gleich wieder. Ich muß nur kurz an die Luft.“ Ihre Stimme hörte sich belegt an. „Keine Sorge, ich bin gleich wieder in Ordnung. Ich muß nur... Entschuldigung.“ Und damit war sie auch schon an der Tür.
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