World of X

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Geschenk Gottes

von Andrea Muche

Kapitel 3

Die Sonne war schon kurz davor, hinter die Hügel zu sinken, als endlich die Flagge am Mast neben dem Haus wieder vor der Windschutzscheibe ihres Wagens auftauchte. Dann hatten die beiden Agenten das Farmhaus erreicht, eine Staubfahne hinter ihrem Wagen herziehend. Mulder stellte den Motor ab, während Scully sich schon aus dem Beifahrersitz schälte. Sie stieg aus und blickte ein Stück zurück, dorthin, wo sie im Vorbeifahren eben ein Pferd auf der Koppel gesehen hatte, und blinzelte gegen den Staub an. „War dort hinten bei dem Pferd nicht Billy?“

Mulder sah aus dem Auto heraus zu ihr hoch, während sie die Tür zuschlug. „Ja, ich glaube schon.“

„Ich will mal nach ihm sehen. Kommst du mit?“

Ihr Kollege saß immer noch im Auto und biß sich nachdenklich auf die Lippe. „Ich dachte gerade, daß wir noch zu der Tante des Arbeiters fahren könnten. Von deren Farm er gekommen ist, als er verunglückte. Noch ist es nicht zu spät für einen Besuch.“

„Mhm. Ja.“ Leicht unschlüssig verlagerte Scully ihr Gewicht auf ihren anderen Fuß. Sie hatte sich wieder zu Mulder umgedreht, als er mit ihr sprach, doch jetzt warf sie erneut einen Blick in Richtung der Koppel, bevor sie sich herabbeugte und sich auf den Rahmen der geöffneten Seitenscheibe stützte. Sie gestand es sich ungern ein, weil es ihr unprofessionell vorkam, aber sie war im Moment mehr an Billy interessiert, diesem hochintelligenten Farmersjungen, als an der Tante ihres Unfallopfers. Oder sollte sie eher sagen: von ihm fasziniert?

Mulder konnte aus ihrem Gesicht deutlich ablesen, daß sie nicht mitkommen wollte, und er sah keinen Grund, sie zu drängen. „Ich kann den Besuch bei dieser Tante gut alleine machen. Kümmere du dich um Billy. Wer weiß, wie er den zweiten unnatürlichen Todesfall innerhalb so kurzer Zeit verkraftet. Es kann übrigens ein bißchen dauern, bis ich zurück bin, möglicherweise gehe ich diesen Fußpfad, den Miller benutzt hat, ebenfalls noch ein Stück. Bis später.“ Er ließ den Motor wieder an und legte den Gang ein.

„Bis später.“

Der Wagen rollte an, und Scully machte sich auf den Weg ein Stück zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie hatte richtig gesehen: ein Apfelschimmel – und daneben Billy. Der jetzt, wie es aussah, dem Tier in die Mähne faßte, sich kurz vom Boden abstieß und im nächsten Moment auch schon auf dem Rücken des Tieres saß, offenbar ganz ohne Sattel, Steigbügel und Zaumzeug. Das Pferd blieb ganz ruhig stehen. Billy beugte sich nach vorne, legte seinen Kopf auf den Hals des Tieres und streichelte es sanft, wobei er mit dem Tier zu sprechen schien.

Scully blieb fasziniert stehen, als sie sich den beiden fast ganz genähert hatte und nur noch durch den Zaun der Koppel von ihnen getrennt war. Der Junge hob kurz den Kopf, als er merkte, daß sich jemand näherte, lächelte ihr kurz zu und widmete sich dann wieder dem Pferd.

„Keine Sorge, mein Mädchen, das wird schon wieder. Du brauchst keine Angst vor Kutschen zu haben. Vor Tante Laura übrigens auch nicht. Sie ist zwar ein Doktor, aber keiner für Pferde, sie gibt dir keine Spritze.“

Das Pferd schnaubte leicht, wie zur Antwort, schüttelte seine Mähne und fing an, ein wenig zu tänzeln. Seine großen, runden Augen schielten nach Scully. Die Agentin konnte klar sehen, daß sie, die fremde Frau, dem Tier nicht geheuer war, daß es von ihr wegstrebte.

„Schschsch“, beruhigte Billy. Wieder streichelte seine Hand über den Pferdehals. „Ganz ruhig, Psyche. Freundin. Freundin. Sie tut dir nichts. Keiner tut dir was. Freundin. Tante Laura. Freundin.“

Tatsächlich stand das Tier nun ganz ruhig, die Ohren lauschend aufgestellt, die Augen wieder nach vorne gerichtet.

„Bist du ein Pferdeflüsterer?“ fragte Scully leise.

Der Junge hob alarmiert den Kopf, das Pferd folgte seiner Bewegung und drehte sich mehr in Scullys Richtung. „Sag das bloß nicht zu meiner Mom!“ bat er flehentlich – und hatte gleich darauf wieder alle Hände voll damit zu tun, die Stute ruhig zu halten, die durch Billys erschreckten Ton nun erneut nervös wurde. „Ganz ruhig, meine Gute. Alles in Ordnung. Alles gut. Freundin.“ Er glitt geschmeidig vom Pferderücken, dann stieg er auf den Koppelzaun und setzte sich rittlings darauf, einen Arm um den Pferdehals geschlungen, die andere Hand in Richtung Scully ausgestreckt. „Komm her, Tante Laura“, bat er, „du mußt sie riechen lassen.“

Scully reichte Billy ihre Hand. Schwach protestierend sagte sie: „Sie wird nur denken, ich habe etwas Nettes für sie zum Fressen und dann enttäuscht sein.“

„Nein“, sagte Billy fest. „Aber sie muß wieder lernen, zu vertrauen.“ Mit seiner linken Hand streichelte er das Tier, mit seiner rechten führte er Scullys Hand flach an die Nüstern der Stute. „Siehst du, Psyche, du kannst sie gut riechen, so wie ich auch. Freundin. Du brauchst keine Angst zu haben. Alles okay.“

Das Pferd schnaubte wieder kurz eine Art von Zustimmung – um dann, ehe die Agentin sich versah, ihr eine Art Nasenstüber zu geben. Das Pferd hatte den Kopf vorgestreckt und schnaubte ihr jetzt neben ihrem Hals in die roten Haare. Scully mußte lachen. „He! Das kitzelt!“

Billy lachte auch. Und seine Augen strahlten. „Das ist super! Das hat sie früher auch immer gemacht. Vor ihrem Unfall.“

„Sie hatte einen Unfall?“

„Ja. Deswegen ist sie jetzt so verstört. Wir hatten sie für ein Fest vor unsere Kutsche gespannt. Aber ein Autofahrer ist uns entgegengekommen, der seinen Wagen nicht in der Spur halten konnte. Es war irgendwas an der Lenkung kaputt. Er hat die Kutsche gerammt, und sie ist umgekippt. Mein Vater und ich saßen drauf, wir mußten abspringen. Aber es ist uns nichts passiert. Psyche zum Glück auch nicht viel. Aber seitdem ist sie ziemlich von der Rolle. Und hat Angst vor fremden Menschen. Vor allem vor Ärzten, denn sie hatte nach dem Unfall Schmerzen und hat ja nicht gewußt, daß die ihre Schmerzen nicht verursachen, sondern ihr helfen wollen.“ Billy schwieg kurz und sah Scully bedrückt an. „Unser Nachbar hat gesagt, daß wir sie erschießen müssen, weil ein Pferd, das mal einen Unfall hatte, zu nichts mehr taugt. Man kann sich nicht mehr drauf verlassen, sagt er. Ich glaube, mein Dad hat das Gleiche gedacht. Aber gesagt hat er, das macht er nicht, weil ich das bestimmt nicht möchte. Und daß Psyche bei uns auch jahrelang noch ihr Gnadenbrot bekommen kann, ohne etwas dafür leisten zu müssen.“

„Du hast einen super Dad.“

„Ja!“ Jetzt strahlte Billy von einem Ohr bis zum anderen. „Das finde ich auch!“

„Und du versuchst nun, ihr wieder Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu geben?“ erkundigte sich Scully, während sie selbst anfing, die Stute zu streicheln und hinter den weichen Ohren zu kraulen, was sie sich gerne gefallen ließ.

„Mhm. Aber meine Mom sieht es nicht gerne. Sie sagt, man kann mit Tieren doch nicht reden, sie verstehen einen nicht. Es verstehen einen nur andere Menschen – aber manchmal selbst nicht mal die – und Gott. Gott versteht einen immer. Aber naja... Ich weiß nicht so recht. Jedenfalls habe ich Gott noch nie antworten hören. Außerdem hat Franz von Assisi doch auch mit den Tieren gesprochen, oder nicht? Also was soll daran falsch sein?“

„Ich finde daran gar nichts falsch“, versicherte Scully. „Aber ich rede manchmal sogar mit meinem Auto. Das versteht mich zwar ganz bestimmt nicht, aber eine Sünde ist es auch nicht. Und Tiere sind doch unsere Mitgeschöpfe. Außerdem spricht Prinz Charles mit Pflanzen, und der ist immerhin fast der König von England.“

„Du bist echt in Ordnung.“

„Ich verpfeife dich auch nicht, großes Indianerehrenwort.“

„Danke.“

„Warum nennst du sie eigentlich Psyche? Weil sie einen an der Waffel hat?“

„Quatsch!“ Nun mußte Billy so lachen, daß er fast vom Zaun fiel. „Aber sie hatte einen Partner, und der hieß Amor. Du weißt schon, Amor und Psyche, so wie in der griechischen Sage.“

„Wer hat sich denn das ausgedacht? Du?“

„Klar!“

Scully nickte verständnisinnig. „Klar. Wer sonst.“ Dann fragte sie nach: „Und wo ist Amor jetzt?“

„Im Pferdehimmel.“ Nun klang der kleine Junge traurig. „Auch wenn der Reverend jetzt wieder sagen würde, daß es gar keinen Pferdehimmel gibt, weil Tiere nicht in den Himmel kommen können, oder jedenfalls nicht als Individuen. Ich glaube, er denkt, es gibt im Himmel der Menschen nur eine Art Stellvertreter-Pferd. Aber wie müßte es den Menschen in einem solchen Himmel langweilig sein! Hier, auf der Erde, gibt es doch auch so viele Tiere und nicht nur eines von jeder Art. Und jedes hat eine andere Persönlichkeit, genau wie wir Menschen auch. Weißt du, ich glaube, in einem Himmel, in dem meine Tiere nicht sind, würde ich gar nicht sein wollen. Das wäre dann doch gar kein richtiger Himmel, wenn man sich da nicht ganz toll wohlfühlt, oder?“

„Nein. Wohl nicht.“ Scully seufzte. Sollten Religion und die Aussicht auf ein Himmelreich nicht eigentlich ein aufbauender Gedanke sein? Manche Menschen sahen das wohl ein bißchen anders. „Wie ist er denn gestorben?“

„Siehst du, du sagst auch gestorben!“ Triumph lag in Billys Stimme, und selbst im schwächer werdenden Licht des nun hereinbrechenden Abends konnte Scully seine Augen blitzen sehen. „Er war krank“, antwortete er dann. „Der Doktor hat ihm nicht mehr helfen können.“

„Und jetzt soll dir wenigstens Psyche erhalten bleiben.“ Scully streichelte erneut die Stute.

„Sie erholt sich wieder. Sie ist schon viel ruhiger geworden. Und wenn ich bei ihr bin, reagiert sie wie vor dem Unfall. Sie versteht jedes Wort!“

„Kluges Pferd“, lobte Scully.

„Hast du gesehen, wie ihr Ohr hochgeht? Sie hört auch dir zu. – Ich glaube, sie ist ganz klug. Wie das Pferd von James Stewart, das konnte sogar schauspielern. Das habe ich in einem Interview gehört. Es hat ganz genau gewußt, wann nur eine Probe war und wann sie echt gedreht haben. Und die Regieanweisung für eine schwierige Szene hat Stewart ihm mal ins Ohr geflüstert, und alles hat sofort geklappt wie gewünscht.“

„Also war James Stewart auch ein Pferdeflüsterer. Interessant. – Aber ich glaube, jetzt sollten wir uns von Psyche verabschieden und mal bei deiner Mutter vorbeischauen, bevor sie eine Vermißtenanzeige aufgibt, was?“ Sie faßte Billy unter den Armen und hob ihn vom Zaun. „Es wird ja schon dunkel.“

Sie verabschiedeten sich von Psyche und wanderten einträchtig nebeneinander in Richtung Farmhaus.

„Wie geht es eigentlich Henriette?“ fragte Scully auf dem Weg.

„Gut, denke ich. Sie hat sich bei ihrem Ausbruch nicht verletzt. Und jetzt steht sie wieder ruhig und friedlich in ihrem Verschlag.“

„Wie ist sie denn da überhaupt herausgekommen?“

„Naja... Sie hat die Tür eingetreten.“

„Macht sie das denn öfter?“

Billy schüttelte den Kopf. „Bisher noch nie!“

„Hast du eine Ahnung, warum sie das gemacht hat?“

Mit gesenktem Kopf trottete der Junge neben Scully her und zuckte die Schultern. „Nö. Keine. Vielleicht sind Schafe wirklich ein bißchen blöd?“

„Ist sie eigentlich in der Nacht ausgebrochen?“

„Wieso? Hat das was mit dem toten Miller zu tun?“

„Nein“, antwortete Scully, obwohl sie das nicht genau wußte. „Sie ist doch auch nicht aggressiv, oder?“

„Nein, gar nicht.“

Die Agentin dachte kurz darüber nach, wie emotionslos Billy vom „toten Miller“ gesprochen hatte. Verbarg er, daß er verstört war? Oder war er nicht verstört?

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und blieb stehen. „Billy, der tote Miller...“

Er sah zu ihr auf. „Ja?“

„Du hast ihn nicht besonders gemocht, oder?“

„Nein.“ Billy sah kurz auf seine Schuhspitzen, dann wieder hoch zu Scully. „Er war nicht gut zu den Tieren. Er hat sie manchmal geschlagen. Und mich hat er hin und wieder angebrüllt. Ich war immer froh, wenn er nicht da war. Und ich bin eigentlich auch froh, daß er nicht wiederkommt.“ Er schwieg kurz. „Ich weiß schon, daß man so was nicht sagen soll, weil ein guter Christ so etwas auch nicht denkt. Aber schließlich ist er auch schuld, daß...“ Billys Stimme verlor sich.

„Ja?“ versuchte Scully ihn zum Weiterreden zu animieren.

„Ach, ist nicht wichtig“, sagte Billy jedoch bloß und fing an, sich wieder in Richtung Haus in Bewegung zu setzen. Dabei griff er aber nach Scullys Hand und hielt sie ganz fest.



Als Mulder von seinem ereignis- und erkenntnislosen Besuch auf der Nachbarfarm zurückkam, war es schon spät, aber Billy lag noch nicht im Bett: Zwei Haarschöpfe klebten dicht an dicht vor dem Computerbildschirm, ein kastanienbrauner und ein rötlicher. Wieder mußte Mulder spontan an Mutter und Sohn denken. Und wieder gab es ihm einen Stich, daß er seinen Sohn nicht kannte, daß er ihn nur ein einziges Mal, kurz nach seiner Geburt, gesehen hatte. Er ließ seinen Atem hörbar entweichen.

„Billy hat Ihre Partnerin mit Beschlag belegt“, entschuldigte sich Linda, die ihm die Tür geöffnet hatte und seinen Seufzer mißdeutete. „Und ich habe ihn gewähren lassen, weil es ihm gut tut, mit jemandem wie Ihnen reden zu können. Ich meine, jemandem mit...“ Sie biß sich auf die Lippen. „...Hochschulbildung. Wir werden ihn vermutlich in naher Zukunft auf ein Internat schicken müssen. Damit er da bekommt, was sein kleiner Geist offensichtlich braucht. Auch wenn mir gar nicht wohl dabei ist, daß er dann lange Perioden von uns getrennt sein wird.“

Das konnte Mulder nur zu gut verstehen. „Machen Sie sich keine Sorgen“, versuchte er sie zu trösten. „Solange sonst alles in Ordnung ist...“

Linda schmunzelte. „Das sagt mein Mann auch immer.“

„Was denkst du: Gibt es irgendwo da draußen im Universum noch Leben?“ fragte Billy ein paar Meter weiter gerade. Scully und er waren so vertieft in ihren wissenschaftlichen Dialog, daß sie Mulders Eintreffen gar nicht bemerkt hatten.

Scully ließ den Blick über das Planeten-Schema auf dem Bildschirm schweifen. „Naja“, sagte sie. „Der Wahrscheinlichkeit nach schon. Die Sterne am Himmel sind weit entfernte Sonnen. Wie es aussieht, kreisen um sie Planeten, so wie um unsere Sonne. Der eine oder andere müßte mit dem richtigen Abstand dabei sein, so daß er der Erde ähnlich ist. Alles andere wäre höchst unwahrscheinlich. Planeten, die der Erde ähnlich sind, wären aber genauso geeignet für Leben. Und es wäre wiederum äußerst unwahrscheinlich, daß es auf keinem davon welches gibt.“

„Aber es könnte sein, daß es kein intelligentes Leben ist. Vielleicht ist dieser Planet dann ja gerade in so einer Phase wie die Erde zur Zeit der Dinosaurier, oder noch früher.“

„Ja, das könnte durchaus sein.“

„Vielleicht würden wir es außerdem nicht einmal als Leben erkennen, selbst wenn wir die Möglichkeit hätten, dort hin zu gelangen, stimmt’s?“

„Ja, stimmt absolut. Vergiß allerdings nicht die Sache mit dem Phänotyp.“

„Phänotyp?“

„Genotyp ist, was sich aufgrund seiner Gene ähnelt. Phänotyp ist, was sich nur scheinbar ähnlich ist, in seiner äußeren Erscheinung. Solche Ähnlichkeiten entstehen durch Anpassung an die gleichen Lebensbedingungen. Die Wege dahin, die Methode, kann sehr unterschiedlich sein. Das Resultat sieht sich jedoch oft ziemlich ähnlich, wenn jede der Methoden funktioniert.“

„Also würden auf einem Planeten, der der Erde ähnlich ist, vielleicht auch ähnliche Anpassungsstrategien entwickelt?“

„Ich denke schon, ja.“ Scully verschwieg, daß sie nicht nur vermutete, sondern wußte, daß es außerirdisches Leben gab – und zwar solches, das durchaus nicht in der Zeit der Saurier steckte, sondern dem auf der Erde ganz offensichtlich voraus war, da sie mit eigenen Augen gesehen, am eigenen Körper erfahren hatte, welche schier unglaublichen Fähigkeiten diese Wesen hatten, wo auch immer sie herkommen mochten. Man mußte nicht noch stärker zur Verwirrung des Jungen beitragen. Die war auch so schon groß genug. Wie seine nächste Frage zeigte.

„Wieso muß man, wenn man religiös ist, eigentlich so tun, als ob all das nicht sein kann? Genau wie die Geschichte mit der Erschaffung der Welt. Gott kann den Lebenskeim doch auf andere Planeten und auf die Erde gesetzt haben. Auch wenn es nicht in der Bibel steht. In der Bibel steht außerdem sowieso viel, das so, wie es da steht, auch nicht stimmt. Wie die Schaffung der Erde in sieben Tagen, zum Beispiel.“

„Das Faszinierende dabei ist aber, daß der Ablauf stimmt. Überlege, was da steht. Etwa wie am ersten Tag Himmel und Erde geschaffen werden und dabei von einer Urflut die Rede ist. Oder wie am zweiten Tag der sichtbare Himmel entsteht. Man könnte auch sagen, die Atmosphäre, die tatsächlich als erstes da sein muß, bevor sich irgend etwas anderes entwickeln kann. Auch was an den nächsten Tagen der Reihe nach passiert, wie erst die Pflanzen entstehen und dann das tierische Leben im Wasser und erst später an Land: Im Prinzip wird da doch der Ablauf der Evolution erzählt, bis am Schluß der Mensch auftaucht. Und dabei wußten die Menschen, die das geschrieben haben, noch gar nichts von der Evolution.“ Wenn es denn Menschen geschrieben haben, setzte Scully in Gedanken hinzu. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder die geheimnisvollen Zeichen auf dem Raumschiffrumpf, die sie am Ende als eine Aufzeichnung von allem Grundwissen, allen Schöpfungsmythen der ganzen Erde erkannt hatte – ohne sich wirklich erklären zu können, wie sie dort hingekommen waren und was das zu bedeuten hatte.

„Die Bibel ist also so etwas wie ein Märchen.“

„Aber dahinter steckt die wahre Geschichte. Die Bibel verpackt das alles nur in einfache, einprägsame Bilder, die alle Menschen verstehen, auch die, die nicht deine Auffassungsgabe haben.“

Billy kicherte. „Das klingt, als ob du sagst, die Bibel ist so was ähnliches wie eine Seifenoper im Fernsehen. Laß das Mami lieber nicht hören!“

„Sie hat es schon gehört.“ Linda, die hinter ihnen stand, schlang die Arme um ihren Sohn, kitzelte ihn und küßte ihn auf seinen Haarschopf. „Aber erstens kennst du Seifenopern nur vom Hörensagen, und zweitens hat deine neue Freundin Laura recht damit, daß die Bibel komplizierte Inhalte einfach und einprägsam erklärt. Genau wie früher in den Kirchen auch ganz viele Bilder an den Wänden waren, was daher kommt, daß die Leute nicht lesen konnten. Die Bilder haben ihnen die Geschichten der Heiligen nahegebracht.“

„Wie ein Comic?“ kicherte Billy.

Seine Mutter zog ein gespielt strenges Gesicht. „Junger Mann, ich glaube, es ist allerhöchste Zeit für dich, ins Bett zu gehen!“



Er wußte alles über sie. Er wußte, was in ihrem Paß stand, er kannte die Alpträume ihrer Kindheit, ihre natürliche Haarfarbe, ihre Kleidergröße. „Ich weiß, daß Sie zu viel Zeit allein verbringen. Und ich weiß, daß Sie in einer dieser einsamen Nächte Mulder in Ihr Bett geholt haben. – Ich war genauso überrascht wie Sie.“ Wie konnte der Supersoldat ihre innersten Geheimnisse kennen? Wußte er mehr über ihren Sohn als sie selbst? Wenn er an eine natürliche Zeugung glaubte, wieso war er hinter ihm her? Wie konnte William eine Gefahr darstellen und dadurch selbst in Gefahr sein? Und dann sah sie ihn: ihren Sohn, als erwachsenen Mann, wie er Raumschiffe dirigierte und die Außerirdischen anführte. Aber das war unmöglich. Diese Kraft war ihm doch genommen worden. Auch, wenn es ihn trotzdem nicht außer Gefahr brachte, da die anderen noch immer sahen, was er gewesen war und niemals akzeptieren würden, daß er diese Fähigkeiten nicht mehr hatte. Sie hörte, wie der Erwachsene plötzlich mit Kinderstimme sprach, sah ihn sich dann zurückentwickeln, wie in einem Zeitraffer rückwärts, und dann war er wieder ihr kleiner, neugeborener Sohn, und Mulder war bei ihnen, und alles war in Ordnung. Nie würde sie sich von ihm trennen, nie. Sie würde ihn beschützen. Aber das konnte sie nicht. Sie spürte, wie ihr Sohn ihr aus den Händen gerissen wurde und in unendliche, schwarze Tiefen sank. Und dann sah sie ihn plötzlich in den Sternen, so wie Mulder seine verschwundene und offenbar tote Schwester. „Nein!“ schrie sie gellend. „Nein!“ Und wachte auf.

Stöhnend richtete Scully sich in ihrem Bett auf. Auch Mulder neben ihr drehte sich unruhig hin und her. Vielleicht hatte sie ihn mit ihrer eigenen Unruhe angesteckt. Sie war schweißgebadet, und ihr Herz klopfte wie wild. Leise stand sie auf, trat ans Fenster und öffnete es, um die Nachtluft in ihre Lungen zu lassen. Sie sah hinauf zu den Sternen – und eine ungeheure Angst erfaßte sie. Was, wenn es stimmte? Wenn ihr Sohn wirklich längst tot war, während sie sich noch um ihn sorgte, an ihn dachte? Sie seufzte tief.

Dann blickte sie nach unten und runzelte die Stirn. Einen kurzen Moment dachte sie, sie träume noch immer und sehe ihr Kind sich materialisieren – doch dann realisierte sie, daß dort unten wirklich jemand war. Eine schmale, kleine, helle Gestalt löste sich aus dem Schatten des Hauses und schlich in Richtung der Straße. Billy. „Wo willst du denn hin?“ rief sie spontan. „Billy! Bleib da!“ Der Junge reagierte nicht.

„Was ist?“ fragte schlaftrunken Mulder hinter ihr, der nun auch aufgewacht war. Scully deutete auf den huschenden Schatten, der sich schon ein Stück entfernt hatte. „Billy ist da draußen.“

„Verdammt. Komm!“

Sie sprangen nur in ihre Schuhe und liefen, wie sie waren, im Pyjama nach unten und aus der Tür.

„Billy! Billy!“

Aber von dem Jungen war nichts mehr zu sehen. Dann hörten sie ein Stück entfernt ein Pferd wiehern und etwas, das klang wie sich entfernender Hufschlag. „Oh nein! Psyche! Ich glaube, er ist mit Psyche fort!“

„Das Pferd? Damit kann er querfeldein sehr schnell überall hin. Verdammt. Wir müssen die Polizei einschalten. Ein Junge in seinem Alter, der nächtens in einer Gegend herumläuft, in der Menschen ums Leben kommen...!“

„Zu allererst müssen wir allerdings mit den Eltern reden.“

Sie machten kehrt und gingen zurück ins Haus. Alarm schlagen mußten sie nicht mehr: Billys Eltern waren bereits aufgewacht und kamen ihnen fragend entgegen, kaum daß sie das Haus betreten hatten. Allerdings wollten sie nichts davon hören, die Polizei einzuschalten.

„Wissen Sie... Er... Nun ja. Billy ist ein Schlafwandler. In seinem Kopf geht zu viel vor, als daß er es im Wachzustand wirklich verarbeiten könnte. Jedenfalls hat es so einer der Ärzte erklärt. Es ist schon oft passiert, daß wir ihn beim Herumwandern erwischen, er geht dabei auch immer mal wieder nach draußen. Letzte Nacht auch. Keine Sorge, ihm passiert nichts. Er kommt immer heil wieder.“

„Aber da draußen geschehen grauenhafte Morde!“

„Und er ist mit Psyche unterwegs.“

„Da draußen geschieht Gottes Wille“, sagte Linda. „Wie überall.“

Ihr Mann zog sie an sich, gab ihr einen Kuß auf die Wange und sagte: „Du hast recht.“ Dann, zu den beiden Agenten: „Ist er wirklich mit dem Pferd weg? Psyche ist schon öfter ausgerissen, wissen Sie. Auch ohne daß Billy dabei war. Haben Sie ihn mit dem Pferd gesehen?“

„Nein“, mußte Scully zugeben. „Wir haben ihn in die Richtung laufen sehen. Und dann das Pferd davongaloppieren hören.“

Der Farmer nickte befriedigt. „Wir warten. Gottes Wille geschehe.“

„Wir nicht.“ Mulder stürmte davon, zurück nach oben, Scully hinter ihm her. Sie zogen sich an und griffen sich ihre Waffen. Dann machten sie sich auf die Suche. Sie fuhren die ganze Gegend ab, stiegen immer wieder aus dem Auto, horchten auf ungewöhnliche Geräusche, riefen auch nach Billy und ließen ihre Stablampen in die Nacht scheinen. Keine Spur von Psyche, keine Spur von Billy.

Der Morgen dämmerte bereits, als sie ihn endlich sahen, und zwar, als sie gerade wieder zur Farm zurückgekehrt waren: Er kam die Straße entlang auf sie zu, wie ein kleiner Geist. In einem hellen Schlafanzug, aber mit Gummistiefeln an den Füßen. Wie seine Eltern vorausgesagt hatten, war ihm nichts passiert und er auf dem Weg zurück nach Hause. Als er näher kam, sahen sie, daß er weinte.

„Billy!“ sprach Scully ihn an. „Wo warst du denn und was ist los?“

Er reagierte nicht. Mulder berührte ihn am Arm, aber der Junge ging einfach geradeaus weiter. Die beiden Agenten sahen sich an, dann schwenkte Scully eine Hand vor den Augen des Jungen. Sein Blick ging weiterhin in die Ferne, und er zeigte keinerlei Reaktion. „Er schläft“, sagte Scully. „Er ist tatsächlich ein Schlafwandler. Weck ihn nicht auf, er geht zurück ins Bett.“

„Schlafwandeln? So lange?“

Scully zuckte die Schultern. „Das ist merkwürdig, ja. Aber er verhält sich ganz typisch.“

„Und war er nun mit Psyche unterwegs oder nicht?“

„Keine Ahnung.“ Sie liefen zur Koppel, um nachzusehen, was mit dem Pferd war. Doch Psyche war nicht da.



„Scully, warte!“

Dana drehte sich fragend zu Mulder um, der sie, gerade, als sie die Fliegengittertür öffnen und nach draußen treten wollte, an der Schulter zurückhielt.

„Schaffst du die Autopsie des Landstreichers auch allein?“

„Sicher. Was hast du vor?“

„Mit ihm reden.“ Mulder deutete mit dem Kinn nach draußen. Als Scully wieder in die Richtung sah, bekam sie gerade noch mit, wie der Farmer ein Stück entfernt um die Ecke eines Nebengebäudes verschwand. „Von ihm haben wir noch nicht wirklich gerade viel gehört; ich kann mir irgendwie kein Bild von ihm machen. Und ich habe sehr stark das Gefühl, daß, was immer hier vorgeht, mit der Farm zu tun hat.“

Scully nickte nachdenklich. „Ja. Es kommt mir auch so vor. Auch wenn es mir nicht gefällt. – Ich mag die Leute.“

Mulder enthielt sich eines Kommentars, schob die Tür auf und nickte Scully zu, während er ihr die Autoschlüssel in die Hand drückte: „Bis später.“ Dann ging er dem Farmer nach.



Scully sah auf die Schlüssel und seufzte. Nun mußte sie auch noch die ganze Strecke hin und zurück alleine fahren. Das hatte ihr Partner ja wieder einmal fein hinbekommen!

Sie trat vor die Tür und ging nicht gerade begeistert auf den Wagen zu. Als sie ihn fast erreicht hatte, sah sie einen Trübsal blasenden Billy auf einem niedrigen Mäuerchen sitzen und mit einem abgebrochenen Zweig Kringel in den Staub malen.

„Na, Billy?“ sagte sie aufmunternd und strich ihm kurz über das Haar. „Ist Psyche wieder da?“

Der Junge schüttelte nur stumm den Kopf.

„Mhm. Du verstehst sie doch so gut. Warum könnte sie fortgelaufen sein? Oder wohin?“

Billy schwieg und starrte weiter zu Boden, wo er seine Kreise zog.

Scully strich sich die Haare hinters Ohr und seufzte. „Ich muß jetzt zur Gerichtsmedizin fahren. Wenn Psyche immer noch nicht wieder da ist, wenn ich zurück komme, gehen wir sie zusammen suchen, okay?“

Der Junge hörte auf, die Kreise zu malen. „Obduzierst du jetzt den Landstreicher?“

„Ja.“

„Kann ich mitkommen?“

„Nein, Billy. Dort dürfen nur Pathologen und Polizeiangehörige hin.“

„Du schneidest ihn auf.“

„Ja, das macht man bei einer Obduktion.“

„Früher haben die Leute gedacht, man darf nicht an einem Toten herumschneiden und Organe entnehmen, weil die Menschen dann am jüngsten Tag nicht mehr vollständig sind, wenn sie der Herr Jesus wieder aufweckt.“

„Richtig, und viele Leute, die das geglaubt haben, wollten auch nicht, daß sie nach ihrem Tod verbrannt werden, sondern sie wollten eine Erdbestattung. Aber was wäre das für ein allmächtiger Gott, wenn er Menschen fürs Himmelreich nicht wieder vollständig machen könnte, nicht wahr?“

„Der Landstreicher kommt sowieso nicht rein.“

„Aber Billy! Woher willst du das denn wissen?“

Jetzt sah der kleine Junge trotzig zu Scully hoch. „Er war gemein zu meiner Mama! Böse Menschen kommen nicht ins Paradies!“

Scully blickte geradeaus, die Hände in den Hüften. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, auf der Suche nach der richtigen Antwort. „Das mag schon sein, Billy. Aber vielleicht hat er deine Mutter nur erschreckt, es aber gar nicht böse gemeint. Oder vielleicht hat es ihm schon eine kleine Weile später sehr leid getan. Wer aber seine Sünden bereut, dem vergibt Gott ganz bestimmt. Willst du denn ein schärferer Richter sein als Gott?“

Sie sah zu ihm hinunter, und Billy senkte seinen Blick wieder. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein“, sagte er leise. „Nein das will ich nicht. Ich verstehe bloß nicht...“

„Was verstehst du nicht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Die Kühe. Vielleicht haben sie... gerichtet. Aber das verstehe ich nicht. Tiere tun so was doch nicht, normalerweise. Verstehst du das?“

„Nein“, gab Scully zu. „Aber genau deswegen sind mein Partner und ich hier, und jetzt fahre ich den Landstreicher obduzieren und versuche herauszufinden, was ihm wirklich passiert ist.“

„Psyche ist immer noch nicht wieder aufgetaucht, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo sie sein könnte“, beantwortete Billy dann endlich Scullys ursprüngliche Frage, bevor er wieder mit dem Zeichnen der Kreise begann, die die Agentin nun als Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne erkannte. Und leise fügte er an: „Vielleicht hat der Nachbar ja doch recht, und sie ist nicht mehr zu gebrauchen.“

„Nein“, sagte Scully, „das ist nicht wahr.“ Sie beugte sich zu Billy hinunter und verpaßte der Sonne mit ihrem Zeigefinger ein lachendes Gesicht. „Und sie kommt bestimmt wieder. Schon alleine, damit du wieder mit ihr flüstern kannst.“
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