World of X

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Geschenk Gottes

von Andrea Muche

Kapitel 5

Scully trat aus dem Farmhaus. Sie stemmte den rechten Arm in die Hüfte und fuhr sich mit der linken Hand übers Gesicht, bemüht, ihre Fassung zurückzugewinnen. Es war so hart, auf diese Weise an die Adoption erinnert zu werden, diese glücklichen Eltern mit ihrem Adoptivsohn zu sehen, der ungefähr im selben Alter wie ihr eigenes Kind war. Tränen stiegen in ihren Augen auf. Wenn sie wenigstens wüßte, wo ihr kleiner Sohn war! Und daß es ihm gut ging. Auch quälte sie immer wieder aufs neue die Frage, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Durch die sie auch Mulder, von dem sie zu der Zeit nicht wußte, ob er überhaupt selbst am Leben oder wo er war, die Möglichkeit verwehrt hatte, seinen Sohn jemals wiederzusehen – auch wenn er ihr noch so oft versicherte, sie habe die richtige Entscheidung getroffen, um ihn zu schützen. Doch hatte ihr nicht Jeffrey Spender gesagt, mit der Spritze, die er ihrem Kind verabreicht hatte, seien seine übernatürlichen Gaben von ihm genommen worden? So daß ihr Kind nur noch ein ganz normales Kind war? Aber er hatte auch gesagt, daß diejenigen, die von ihrem Sohn wußten, immer wissen würden, was er gewesen war und die neue Wahrheit niemals akzeptieren würden. Und sie brauchte Mulders Halbbruder nur anzusehen, um zu wissen, daß sie ihren Sohn niemals würde schützen können, sollte er wirklich den Falschen in die Hände geraten.

Noch heute erschauerte sie, wenn sie an Jeffreys verkrüppelten Körper dachte, fürchterlich entstellt von Substanzen, die ihn äußerlich und innerlich verbrannt hatten. Ein lebendes Wrack mit einer Monsterfratze. Von dem sie den Bruchteil einer Sekunde gedacht hatte, er könne Mulder sein. Auch wenn sie es anderen gegenüber stets bestritten hatte, weil sie fühlte, daß er es nicht sein konnte – einen winzig kurzen Moment lang hatte sie der eiskalte Schrecken durchzuckt, hatte sie gefürchtet, es sei der über alles geliebte Mensch, der solches hatte erleiden müssen, diese unvorstellbaren Qualen, diese schreckliche Tortur, und es zerriß ihr fast das Herz. Und ihr kleines, unschuldiges Kind solcher Gefahr aussetzen?! Niemals!!

Die anonyme Adoption war die einzige Möglichkeit gewesen. Es war am besten so. Doch das machte die Entscheidung und ihre Konsequenzen nicht leichter.

„Warum weinst du, Tante Laura?“

„Mhm?“ Scully fuhr sich mit der Hand über die Augen und sah nach unten, von wo die Kinderstimme sie vorsichtig angesprochen hatte. Dort stand Billy in seiner Latzhose, zupfte sie vorsichtig an der Bluse und sah mit großen, blauen Augen fragend zu ihr auf.

„Ich habe jemanden verloren, den ich sehr gern hatte“, sagte sie und strich ihm über die kastanienbraunen Haare. „Und gerade eben hat mich im Gespräch etwas daran erinnert.“

„Oh“, machte Billy. „Wie ich Buddy. Ihn vermisse ihn so sehr. Er war wirklich mein Freund.“

„Du hast alles zusammen mit ihm unternommen und deine Gedanken mit ihm geteilt, stimmt’s?“

„Mhm.“ Der Junge nickte. „Er hat mich immer verstanden. Und auch wenn Mami sagt, es geht ihm gut dort, wo er jetzt ist: Ich vermisse ihn trotzdem schrecklich. Minnie ist zwar noch da. Aber mit ihr kann man nicht so viel gemeinsam anfangen. Und manchmal glaube ich auch, sie...“ Er zögerte.

„Ja?“

„Sie versteht mich nicht richtig. Sie merkt, wenn ich traurig bin, wie Buddy. Aber sie wird dann immer wütend und will etwas dagegen tun. Genau wie die anderen Tiere. Sie verstehen nicht, daß man nichts tun kann, weil viele Sachen einfach aus Zufall schief gehen und niemand etwas dafür kann. Oder vielleicht tut jemand auch mit Absicht etwas Dummes, aber in der Bibel steht, man soll auch die andere Wange hinhalten.“ Er seufzte. „Darin bin ich nicht wirklich gut. Aber ich will es schon versuchen. Ich will ein guter Christ sein, wie meine Eltern. Die Tiere verstehen das nicht. Sie denken oft, man muß einfach zeigen, wer der Boß ist, und alle Probleme sind gelöst. Naja. Vielleicht haben sie einfach auch bloß kein Verständnis für Theologie.“

Nun seufzte Scully auch. Was sie da hörte, sprach sehr dafür, daß Mulder recht hatte mit seiner Theorie. Daß wirklich Billy die Morde auslöste, ohne es zu wissen – mit den Tieren als Helfern.

„Minnie ist die Katze, stimmt’s?“ fragte die Agentin, um sowohl sich als auch den Jungen zumindest vorübergehend auf andere Gedanken zu bringen. Noch wußte sie nicht, was sie zur Lösung des Problems tun sollten.

„Ja. Sie hat jetzt gerade Junge bekommen. Willst du sie sehen? Komm mit!“ Und schon hatte Billy ihre Hand gepackt und zog sie, ohne eine Antwort abzuwarten, in Richtung der Scheune davon. Manchmal reagierte er genauso überschwenglich begeistert wie alle anderen Vierjährigen, ungeachtet seiner Hochbegabung und seinem weit über sein Alter hinaus entwickelten Geist.

Sie traten durch das große Tor in das Halbdunkel, das im Inneren herrschte. Billy führte Scully zu einer Holzleiter, die auf einen Boden unter dem Dach endete.

„Da oben, auf dem Heuboden, hat sie ihr Nest gebaut. Ich habe ihr beim Auspolstern geholfen, damit sie es warm und bequem hat.“

Hurtig kletterte Billy die Leitersprossen nach oben und winkte: „Komm, komm! Aber sei leise, damit sie sich nicht erschrecken!“

„Ich tue mein Bestes“, versicherte Scully und begann den Aufstieg, der sich mit ihren Absatzschuhen leicht mühselig gestaltete. Oben erwartete sie Billy und zog sie weiter, in eine noch dämmrigere Ecke des Heubodens. Dann hörte sie auch schon das Fiepen und sah das Gewusel der kleinen Gestalten, die sich rings um ihre Mutter im Spiel balgten. Minnie, die getigerte Mutter, ruhte stoisch auf ihrem Polster, das offenbar zum Teil aus alter Kleidung bestand, und sah den Besuchern mit halb geschlossenen Augen entgegen.

„Sie weiß, daß wir ihr nichts tun“, betonte Billy und griff nach einem der Babies. Ein zweites reichte er Scully. „Hier, du kannst auch eins halten und mit ihm spielen.“

Sie ließen sich im Heu neben dem Katzennest nieder, und Scully hatte alle Hände voll zu tun, das wuselige Katzenjunge bei sich auf dem Schoß zu halten. Es erkletterte Scullys Ärmel, robbte auf ihre Schulter, wurde wieder auf den Schoß zurückgeholt und biß Scully im Spiel in die Hand, während die kleinen Krallen sie durch den Stoff der Hose kitzelten.

„Ich glaube, dieses hier will wieder zu seinen Geschwistern.“ Vorsichtig setzte Scully das schwarz-weiße Bündel wieder zurück. Sie zog die Lumpen im Nest ein wenig zurecht – und erstarrte. Sie faßte ein Stück Stoff fester, zog es heraus und nahm es in die Hand. Es war ein Babymützchen mit Hasenohren. Auch im Dämmerlicht waren seine blaue Grundfarbe und die darauf gedruckten Sterne zu erkennen. An manchen Stellen war es etwas schmutzig, Katzenhaare hatten sich darin verfangen, und Heuhalme hingen in verschiedene Richtungen davon herab. Scullys Hände begannen zu zittern. Ihre Lippen bebten, und ungläubig starrte sie das Mützchen an. Laut fühlte sie ihr Herz schlagen. Sie sah Billy an, der immer noch eines der Kätzchen auf dem Schoß hielt und jetzt zu ihr hochsah. In einem Sonnenstrahl, der durch einen winzigen Spalt zwischen den Brettern der Außenwand in die Scheune drang, leuchtete das kastanienfarbene Haar des Jungen leicht rötlich, seine vollen Lippen lachten sie an, die blauen Augen strahlten. Eine steile Falte erschien auf Scullys Stirn, und eine Träne lief ihr über die Wange, während sie das Mützchen in ihren Händen drückte und streichelte. Billys Lächeln erstarb. „Was ist mit dir, Tante Laura?“ fragte er unsicher. „Ich habe gedacht, das gefällt dir... ich wollte nicht...“

„Alles in Ordnung, Billy“, versicherte Scully ihm rasch und versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen. Sie zog die Lippen zwischen die Zähne und schenkte ihm ein Lächeln. „Sie sind wundervoll. Ich weine bloß, weil... ich mich so freue. Es war eine ganz großartige Idee von dir, mir die Kätzchen zu zeigen.“ Sie beugte sich spontan nach vorn und küßte den Jungen aufs Haar. „Danke schön.“

Billy strahlte wieder. Die Agentin faltete das Mützchen zusammen und schob es ins Nest der kleinen Katzen zurück. Sie streichelte den Kopf der Muttermieze, kraulte sie hinter den Ohren und sagte: „Jetzt muß ich aber wieder reingehen, denke ich. Billy, hilfst du mir wieder von hier runter?“

„Aber klar! Du mußt dich umdrehen und rückwärts die Leiter runtersteigen. Mach’s mir nach!“



Als sie Hand in Hand zum Farmhaus hinübergingen, trat Mulder gerade aus der Tür. „Aha, du hast mir meine Partnerin entführt, kleiner Mann“, scherzte er zu Billy gewandt und fügte an: „Deine Mutter sucht dich. Na lauf!“

Billy löste sich von Scully und rannte durch die Tür, die Mulder ihm aufhielt, nach drinnen. „Auch wenn ich denke, er ist der Auslöser für das, was hier geschieht – ich mag ihn sehr“, sagte er seufzend zu Scully. Dann sah er seine Partnerin genauer an und erschrak. Sie sah noch verstörter aus als in dem Moment, als das Gespräch auf die Adoption gekommen war und sie das Farmhaus verlassen hatte. „Scully?“ fragte er und trat auf sie zu. „Geht es dir gut? Was ist passiert?“

Sie antwortete noch immer nicht, starrte ihn an, schluckte. Er hatte sie jetzt erreicht und faßte sie am Arm. „Dana?“ fragte er leise, tiefe Besorgnis in der Stimme. „Was ist denn?“

„Nicht hier“, sagte sie nur und zog ihn am Arm fort vom Haus, fast so, wie Billy vorher sie zur Scheune kommandiert hatte. Erst unter den Obstbäumen, außer Hörweite zum Haus, blieb sie stehen und wandte sich ihm zu.

„Ich weiß, wie schwer es für dich ist, das von der Adoption zu hören“, setzte er an, aber sie unterbrach ihn.

„Mulder!“ Ihre Stimme war ein heiseres Flüstern. Freude, Angst, Ungläubigkeit – alles schwang gleichzeitig darin mit. „Es ist Billy. Ich habe sein Mützchen gefunden. Mulder, Billy ist... er ist William, unser Sohn!!“

Er wollte widersprechen, wollte sagen, daß Billy zwar die Koseform für William war, dieses Kind aber deswegen trotzdem noch nicht automatisch ihr William sein mußte. Daß sie sich nicht einer trügerischen Hoffnung hingeben sollte. Doch im gleichen Moment wußte er instinktiv, daß sie recht hatte. Er würde bei Gelegenheit noch das Geburtsdatum überprüfen, aber er war sich sicher, daß sie sich nicht irrte. Die Kinderbilder von ihm und seiner Schwester fielen ihm plötzlich ein. Sein Haar und seine Augen waren dunkler gewesen – aber ansonsten sah Billy ganz genau so aus wie er selbst in dem Alter.

Er küßte Dana auf die Stirn und zog sie in seine Arme. Sie schlang die Hände um seinen Nacken und weinte an seiner Schulter. Er fuhr ihr übers Haar, küßte sie auf die Wange, drückte sie wieder und streichelte ihr dann die Tränen fort, während er selbst fast weinte. „Dana, das ist so unglaublich. Als ich im Militärgefängnis war, habe ich mich so nach euch beiden gesehnt. Nur das ließ mich nicht aufgeben. Ich wollte dich nur einmal noch wiedersehen – dich und William. Und jetzt habe ich nicht nur dich bei mir, sondern wir haben auch unseren Sohn wiedergefunden. Es ist ein Wunder!“

„Das ist es, was ich mir selbst in all den Jahren immer wieder so sehnlich gewünscht habe“, flüsterte Scully unter Tränen. „Zu wissen, wo William ist, daß es ihm gut geht, zu wissen, wie er aussieht und daß er bei lieben Leuten aufwächst...“

Als sie sich wieder etwas gefaßt hatte, sagte Mulder leise: „Es darf niemand wissen.“

Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an, am liebsten hätte sie ihr Glück der ganzen Welt mitgeteilt – doch dann sah er die Erkenntnis kommen. „Ja“, gab sie ihm zögernd recht, jäh aus ihrem Glückstaumel gerissen. „Sonst bringen wir ihn wieder in Gefahr. Wenn er es nicht vielleicht ohnehin schon ist.“ Mit ungutem Gefühl dachte sie an die merkwürdigen Dinge, die sich ereigneten. Was, wenn Billy doch nicht ihr Urheber war? Sondern deren Ziel? Sie erschauerte.

„Du denkst, es hat ihn jemand gefunden? Daß hier Außerirdische am Werk sind? Nein, Dana, das glaube ich nicht.“ Er versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen. „Allerdings kann es vielleicht sein, daß es mit etwas anderem zu tun hat. Nicht mit Hochbegabung – sondern mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten.“

„Aber Jeffrey sagte doch, daß er sie verloren hat!“

„Vielleicht hat er sich geirrt. Oder er hat sie nicht vollständig verloren.“ Er schwieg kurz. „Dieser Platz hier dürfte aber in der Tat der sicherste Ort überhaupt für unseren Jungen sein. Es ist abgelegen, es gibt keine Verbindung zu uns.“

„Außer jetzt durch diesen Fall.“

„Aber erstens weiß kaum jemand, wer wir wirklich sind, und zweitens ist es einfach nur ein Fall. Einer von vielen. Niemand kann auf die Idee kommen, daß wir William erkannt haben. Aber wir dürfen mit niemandem darüber sprechen, es niemandem sagen. Keiner darf es wissen! Wir müssen versuchen, diesen Fall zu lösen, das Morden zu beenden. Und dann fahren wir zurück, und Billy bleibt hier, bei seinen Eltern, die ihn lieben, und die er liebt...“

So zu denken tat ihnen beiden weh. Aber Scully wußte, daß Mulder recht hatte mit dem, was er sagte. Und selbst wenn ihr Sohn nicht mehr in Gefahr wäre und sich eine Adoption rückgängig machen ließe: Könnte sie, wenn sie ihn liebte, ihn denn wirklich aus dem Leben reißen, das er kannte, ihn den Menschen wegnehmen, die er als Mutter und Vater liebte? Niemals!

Aber nun wußten sie, daß er lebte, wie er aufwuchs, wer die Menschen waren, zu denen er Mummy und Daddy sagte... Und wieder durchströmte Scully ein Glücksgefühl. Mulder erlebte dasselbe, sie konnte es fühlen. „Ich bin so froh, daß wir ihn gefunden haben“, sagte Scully.

„Ja, ich auch.“

„Es ist ein Geschenk Gottes.“

„Mhm.“ Er küßte sie sanft auf die Lippen, bevor er einen Arm um ihre Hüfte schlang und begann, mit ihr in Richtung Haus zurückzugehen. „Laß uns diesen Fall lösen.“



Das Ehepaar Van de Kamp stand in der Küche aneinandergeschmiegt und sah aus dem Fenster, das auf die Streuobstwiese hinausging.

„Ich glaube, sie sind mehr als nur Kollegen“, sagte Linda, die Mulder und Scully schon eine Weile beobachtet hatte.

„Möge Gott sie segnen“, sagte ihr Mann. „Es ist eine solche Erfüllung, den einen Partner gefunden zu haben, der einen in- und auswendig kennt.“ Er küßte ihre Schläfe.

„Und sie sind nette Leute“, ergänzte seine Frau. Seufzend und deutlich weniger froh fügte sie dann an: „Ich hoffe nur, daß sie uns helfen können. Ich mache mir solche Sorgen um Billy.“

Er nickte. „Ja, ich weiß. Und auch wenn ich erst dagegen war: Du sollst wissen, daß ich ein gutes Gefühl habe bei diesen beiden. Ich glaube, sie sind uns gesandt worden – so wie Billy. Es wird alles gut, glaub mir.“



„Sie denken im Ernst, ein Vierjähriger ist die Ursache dafür, daß Menschen sterben?! Unser BILLY?!?!“ Inzwischen war Linda Van de Kamp nicht mehr gelassen. Kein bißchen. Völlig entgeistert blickte sie zwischen Mulder und Scully und ihrem Mann hin und her.

„Der Auslöser.“ Mulder hob beschwichtigend die Hände. „Nicht die Ursache.“

„Wir hatten einmal einen ähnlichen Fall“, fügte Scully an. „In dem konnten die Gemütsregungen eines Mannes das Wetter beeinflussen.“

„Aber hier sterben Menschen, Herrgott!“

Einen Moment sagte keiner etwas. Dann räusperte sich Billys Vater, der bis dahin sehr still gewesen war; er wirkte in sich gekehrt, seit Mulder ihnen eröffnet hatte, was die Agenten vermuteten. Sehr ruhig sagte er nun: „Einmal angenommen, das, was Sie da sagen, stimmt. Daß er mit Tieren spricht, will ich nicht bestreiten. Daß er eine irgendwie besondere Verbindung zu ihnen hat, auch nicht. Aber Billy ist nun schon fast vier Jahre alt. Wenn er Tiere dazu bringt, Menschen zu töten, warum dann gerade jetzt? Ich meine, es haben doch auch bisher nicht reihenweise Leichen an unserer Türschwelle gelegen?“

Seine Frau schluchzte laut auf, als er „Leichen“ sagte, und begrub ihr Gesicht in ihren Händen. Leise weinte sie in ein Taschentuch.

„Zum einen kann es mit dem Schlafwandeln zu tun haben. Fast alle Kinder haben Phasen, in denen sie im Traum aus dem Bett aufstehen. Diese sind – der Entwicklung folgend – einmal leichter und zu anderen Zeiten heftiger.“ Auch Scullys Stimme klang flach. „Alle diese Übergriffe der Tiere haben sich nachts ereignet. Als oder nachdem der Reverend starb, war Billy eindeutig am Tatort. Und wie es aussieht im Schlaf.“

„Das ist doch alles nur eine Vermutung.“

„Leider nicht. An seinen Stiefeln ist Blut vom Tatort.“

„Im übrigen denken wir, daß es auch einen ganz konkreten Auslöser gegeben hat, einen Grund, warum die Tiere jetzt für Billy töten, und früher nicht.“

Die Van de Kamps sahen die Agenten angstvoll an. „Welchen?“

„Das Ableben von Buddy.“

„Buddy...? Aber wie...?“

„Überlegen Sie. Billy sagt, Buddy war sein bester Freund, und daß er ihn immer verstanden hat. Das heißt, er hat ihn richtig interpretiert – und nicht gedacht, er muß ihm eine Freude machen und irgendwelche Rachegelüste an Billys Stelle ausleben.“

„Rachegelüste?! Aber wieso sollte unser Sohn diese Männer, die umgekommen sind, denn hassen? Ganz abgesehen davon, daß die Bibel die Liebe lehrt, und nicht den Haß.“

„Deswegen sind Menschen aber nicht gefeit vor menschlichen Reaktionen. Es gibt im Leben von jedem Menschen Momente, in denen er verärgert ist und jemanden nicht mag.“

Der Vater sah die Agenten an, und eine Art trauriges Verstehen lag in seinem Blick. „Daß er auf den Pfarrer wütend war, war nicht zu übersehen. Was er von dem Landstreicher gehalten hat, hat er uns ja auch mitgeteilt: Er war entsetzt darüber, daß dieser Kerl seiner Mutter zu nahe trat.“

„Und Miller war, wie sich herausgestellt hat, der Mann, der Buddy auf dem Gewissen hatte.“

Die Mutter weinte wieder still in ihr Taschentuch. „Aber selbst wenn das alles stimmt: Was sollen wir denn nur tun?!“

„Ich glaube, daß es stimmt.“

Alle Köpfe fuhren erschreckt herum. Oben, am Absatz der Treppe, stand Billy, mit ernstem Gesicht und in seinem Schlafanzug. Jetzt kam er langsam die Treppe ins Wohnzimmer herunter, wo die Erwachsenen sich unterhalten hatten.

„Entschuldigung, Mami, ich bin aufgewacht, und dann habe ich euch sprechen hören“, sagte er zu Linda, bevor er sich dann an alle wandte. „Ich mache die Tiere traurig, seit Buddy tot ist“, sprach er weiter und setzte sich dann im Schneidersitz auf den Flickenteppich, der vor dem Wohnzimmertisch lag. „Sie wollen mich trösten, aber sie verstehen mich nicht richtig. Sie sagen immer, sie werden sich darum kümmern. Aber das können sie ja nicht. Sie können Buddy schließlich nicht wieder lebendig machen.“

„Die Tiere antworten dir?“

Billy sah vor sich auf den Boden und nickte. „Ja, und ich sage ihnen, daß sie mir nicht helfen können, aber sie wollen mir nicht glauben. Ich habe Angst, daß sie diese Männer getötet haben.“ Dabei blickte er nun Scully und Mulder an. „In den Nächten, als es passiert ist...“

„Ja?“

„Ich hatte Alpträume. Glaube ich wenigstens. An einen kann ich mich noch wirklich erinnern. Ich bin darin viel gelaufen. Ich wußte, daß etwas Schreckliches passiert, und ich wollte es verhindern. Ich wollte etwas aufhalten, jemanden warnen, und ich lief und lief.“ Er zog die Nase hoch. „Aber ich bin zu spät gekommen.“

Die Agenten sahen sich an. Scully konnte in Mulders Gesicht lesen, daß auch er sofort an den Pfarrer und den Abdruck von Billys Schuh gedacht hatte.

„Okay, Billy. Wir werden uns um das Problem kümmern. Du kannst im Moment nichts tun, außer wieder ins Bett zu gehen. Und morgen zu versuchen, den Tieren klar zu machen, daß du definitiv nicht möchtest, daß sie Menschen Schaden zufügen, auch dann nicht, wenn du auf jemanden gerade zornig bist.“

„Aber wenn sie doch nicht auf mich hören...“

„Ich weiß. Du kannst es nur versuchen. Aber das machst du doch, oder?“

Billy nickte. „Ja. Versprochen. Aber es hat bisher wohl nichts genutzt.“

„Das ist nicht deine Schuld. Versuch jetzt, wieder zu schlafen, ja?“

„Ja. Gute Nacht.“

„Schließen Sie alle Türen von jetzt an über Nacht lieber ab“, riet Mulder den Van de Kamps, als Billy wieder in seinem Zimmer verschwunden war. „Und was das Grundsätzliche angeht... Wir glauben, Billy...“

„...braucht wieder einen Hund!“ vollendete Scully. „Ist nicht bald sein Geburtstag?“ Nur Mulder fiel auf, daß ihre Stimme bei dem Satz leicht zitterte. „Wie wäre es, wenn wir ihm einen neuen Hund besorgen? Ich würde ihm sehr, sehr gerne einen neuen besten ,Freund‘ schenken.“



Zwei Stunden später erwachten Mulder und Scully von einem markerschütternden Schrei.

„Nicht, nein!! Laßt mich...! Nein! Raus, raus!! Muß doch... Nachbar. Hilfe! Dem Nachbarn helfen!!“

Die Stimme, die die unzusammenhängenden Worte rief, gehörte Billy.

Die Agenten sprangen aus dem Bett und rissen die Tür auf. Sie waren schon halb die Treppe hinunter, in Richtung der Vordertür, aus der das Geschrei kam, als die Eltern oben aus ihrem Schlafzimmer stürmten. Billy hing am Innengriff der Haustür und rüttelte mit Bärenkräften daran. Tränen strömten ihm übers Gesicht. Und er schrie, stammelte, schrie wieder. Scully erreichte ihn als erste, kniete nieder und nahm ihn in den Arm.

„Billy! Billy! Es ist nur ein Traum! Ganz ruhig, beruhige dich!“ Sie versuchte, ihn in Richtung seines Bettes zurückzuführen, aber er sträubte sich und wollte wieder in Richtung der Tür. Scully hielt ihn fest. Dann merkte sie, wie er plötzlich in ihren Armen schlaff wurde und sein kleiner Körper dann von ihr wegstrebte. Sie stellte ihn auf die Füße und sah ihn an. Mit schreckgeweiteten Augen blickte der Junge von ihr zu Mulder und zurück.

„Alles in Ordnung, Billy“, versuchte Mulder ihn zu beruhigen. „Du bist jetzt wach, stimmt’s? Du hast geträumt, aber jetzt bist du wach. Und fragst dich, wie du hierher gekommen bist.“

Billy nickte. „Aber ich... Ich wollte irgendwas erledigen. Etwas Dringendes.“

„Du hast nur geträumt. Und dein Traum war so lebhaft, daß du, ohne es zu merken, aus deinem Bett aufgestanden bist. Du mußt dich nicht fürchten, es ist alles in Ordnung. Komm, geh wieder ins Bett.“

Billy schüttelte wie leicht zweifelnd den Kopf. „Aber irgend etwas war wichtig. In dem Traum war...“ Seine blauen Augen hefteten sich durchdringend auf Mulder. Scullys Augen. Mulder versuchte sich zu sagen, daß er nicht gerade jetzt daran denken durfte, wer Billy war. „Ich mußte jemanden warnen. Aber ich weiß nicht mehr, wen.“

„Den Nachbarn?“ fragte Mulder. „Du hast etwas gerufen, das wie ,dem Nachbarn helfen‘ klang.“

„Von welchem Nachbarn hast du denn geträumt?“ fragte nun Linda. „Kannst du dich daran erinnern? Weißt du es noch?“

Billy schüttelte stumm den Kopf.

„Aber ich weiß es!“ Das war Scully, plötzlich aufgeregt. „Billy, du hast mir doch von dem Nachbarn erzählt, der gesagt hat, daß man Psyche erschießen sollte, weil sie nichts mehr taugt.“

„Ja.“

„Welcher Nachbar war das?“

„Klerkenbom.“

„Haben Sie seine Telefonnummer?“

Billys Vater wählte schon.



„Ich weiß nicht, was ohne Ihren Anruf passiert wäre“, sagte Rupert Klerkenbom eine halbe Stunde später, als er hustend und schwer atmend auf einem Stuhl in seiner Küche saß.

„Sie haben eine Rauchvergiftung. Kann Sie jemand in ein Krankenhaus bringen?“ fragte Scully.

Er winkte ab. „Zu weit weg. Und es geht auch schon wieder. Aber wenn Sie nicht angerufen hätten... Wir haben alle geschlafen. Ich hätte niemals so rasch gemerkt, daß der Stall brennt.“ Aber so war er zum läutenden Telefon gegangen und hatte aus dem Flurfenster plötzlich die Flammen im Nebengebäude gesehen. Gerade noch rechtzeitig hatte er löschen können. „Das Feuer hätte auch ganz leicht noch aufs Wohnhaus übergreifen können.“

„Wie ist es denn zu dem Brand gekommen?“

„So, wie es aussieht, haben die Schweine alles Stroh aus ihrer gesamten Box in exakt die Ecke gescharrt, in der die Rotlichtlampe hing, und es geschafft, das Kabel der Wärmelampe abzureißen, so daß sie auf das Stroh fiel. Die Hitze entzündete das Stroh. So erkläre ich es mir wenigstens. – Aber sagen Sie: Woher wußten sie denn, daß irgend etwas auf dem Hof nicht stimmen würde, heute nacht?“

„Jemand hatte eine Vorahnung“, sagte Mulder. „Einen Traum.“

„Da muß ich ja wirklich Gott danken.“



„Und das ist tatsächlich meiner?! Aber... mein Geburtstag ist doch noch gar nicht!“ Billy stammelte vor Freude, und er strahlte übers ganze Gesicht. In seinen Armen hielt er das Bündel Schäferhund, das er soeben von Mulder und Scully überreicht bekommen hatte.

„Ja, es ist deiner“, versicherte Scully. „Euer Nachbar Klerkenbom hat uns verraten, wo gerade ein junger Hund eine neue Heimat gesucht hat.“

„Er ist aber noch klein. Du mußt ihm alles beibringen, was ein Hund wissen muß“, wies Mulder ihn an.

„Na, wie willst du ihn denn nennen?“ Das fragte Billys Vater, der zusammen mit seiner Frau, die ebenfalls strahlte, hinter dem Jungen stand und diesem nun die Hand auf die Schulter legte.

Billy sah in die braunen Hundeaugen, die erwartungsvoll zu ihm aufsahen. Das Jungtier begann, ihm die Hände zu lecken, bevor es wieder zu ihm hochsah.

„Mhm. Ich glaube, er wird schlau wie ein Fuchs. Ich werde ihn Fox nennen.“

Mulder machte ein Gesicht, als habe er auf eine Zitrone gebissen. „Ähm... ja. Ein schöner Name“, rang er sich dann zu sagen durch. „Für einen Hund.“

„Er ist auch unser Abschiedsgeschenk“, fügte Scully an. Sie hatten die toten Männer offiziell unter „Unfälle“ abgelegt und vereinbart, daß sich die Van de Kamps wieder bei Skinner melden sollten, falls neuerlich seltsame Dinge passieren sollten. In den letzten Tagen, die sie noch bei der Farmersfamilie verbracht hatten, war nichts Ungewöhnliches mehr geschehen und die Hoffnung gestiegen. Und nun, mit Billys neuem „besten Freund“ an seiner Seite...

„Paß gut auf ihn auf“, sagte Mulder.

„Mach’ ich, Onkel Martin.“ Er zögerte. „Ihr kommt doch irgendwann mal wieder?“

„Ja. Versprochen.“

„Und du kannst uns auch eine E-Mail schicken, wenn du möchtest.“

„Könnt ihr nicht schon zu meiner Geburtstagsfeier wiederkommen? Dann sind auch Minnies Kinder alt genug, daß sie weggegeben werden können. Und ich fände es schön, wenn ihr auch von mir ein Tier hättet, dann würdet ihr hin und wieder an mich denken. Und Minnie hat gemeint, es wäre sehr in Ordnung, wenn ihr kleiner Sohn zu Euch kommt.“

„Billy, wir werden auf alle Fälle oft an dich denken und dich nie vergessen.“ Scully versuchte, das Zittern ihrer Stimme zu verbergen. „Du bist ein ganz besonderer kleiner Junge.“

„Und wir möchten auch gerne wissen, wie es dir weiter ergeht.“

„Nehmt ihr das Katerchen?“

„Ja, natürlich, wenn du dir das wünschst... Und du hast schon recht: Dann hätten wir etwas Lebendiges, zum Anfassen, daß uns an dich erinnert.“

„Dann kommt ihr zur Geburtstagsfeier wieder?“

Mulder und Scully sahen sich gerührt und mit einem Glück auf ihren Gesichtern, das nur sie beide zu deuten wußten, an, bevor sie dann wie aus einem Mund antworteten: „Ja, wir kommen gerne!“


ENDE
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