World of X

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9x04 - Silence

von Lhutien, Stefan Rackow

Kapitel 5

3 Monate in der Vergangenheit



„Sie müssen wissen“, begann Rupert Todd zu erzählen, „dass ich wohl der einzige gewesen bin, der sich vehement gegen dieses neumodische Zeug ausgesprochen hat. Alle anderen haben sich irgendwie nicht durchsetzen können, obwohl es ihnen widerstrebte. Das sollte ihnen zum Verhängnis werden, denn in einer Nacht bekam ich Besuch...“



*



Urplötzlich wurde es ruhig. Gespenstisch ruhig. Kein Laut war mehr zu vernehmen, nur das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Rupert Todd dachte zuerst, er wäre von dem einen auf den anderen Moment taub geworden, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Dennoch war ihm unbehaglich zumute. Denn obgleich er nichts hörte, spürte er, dass sich jemand in seinem Wohnzimmer befand. Irgendwo in seiner Nähe. Nichts Menschliches, einfach eine Art Präsenz, die sich ihm lautlos näherte. Erschrocken wandte sich der alte Mann um...



... und blickte in ein nicht enden wollendes Nichts, gleich einem schwarzen Loch, das die nahe Umgebung allmählich aufzusaugen schien. Das schwarze Nichts besaß keine festen Konturen, wirkte auf eine gewisse Art undefinierbar, und doch meinte Rupert Todd, in dem Etwas eine Form ausmachen zu können. Geschockt und fasziniert zugleich machte der alte Mann eine unfassbare Entdeckung: das Nichts nahm allmählich die Form eines Menschen an, respektive die Form eines Schatten. Die Konturen, vormals verschwommen, verfestigten sich nach und nach zu dem schwarzen Negativ eines menschlichen Etwas’, ohne menschlich zu wirken. Und genau dieses Merkmal ließ Rupert Todd unweigerlich erstaunen.



Vor ihm stand nun ein Schatten seiner Selbst, genauso groß, der menschlich wirkte, es aber nicht war. Und in seinem Kopf ertönten mit einem Mal Stimmen von Menschen, die er kannte.



„Nun ist es mit der Ruhe hier vorbei“, sagte sein Nachbar und wurde gleich darauf von seiner Frau übertönt.



„Was sollen wir bloß mit dieser Schüssel anfangen?“



Rupert Todd wusste noch genau, wie er letzte Woche mit seinem Nachbarn geredet hatte, als die Schüsseln auf dem Dach installiert wurden. Er war der einzige gewesen, der sich durchsetzen konnte und letztlich keine bekam.



Das Rauschen in seinen Ohren nahm nun wieder zu, und die vormals sich immer wiederholenden Stimmen wichen anderen, die er nicht mehr kannte. Scheinbar war er zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen gewesen.



„Irgendwie ist das ja doch alles interessant, findest du nicht?“, wurde der alte Henry Miller von seiner Frau gefragt.



„Ja, du hast recht ... auch wenn ich es nicht wahrhaben möchte.“



Schließlich verstummten die Stimmen, verschwanden im Nichts, das ihm gegenüber stand. Und der alte Mann begriff, was er gerade gehört hatte. Er hatte es sofort begriffen, obwohl er es sich selber nicht begreiflich machen konnte, warum das so war. Er hatte gerade einen Vergleich gehört: das Leben im Dorf zum Zeitpunkt der Installation des neumodischen Krams, die Abneigung aller – und im direkten Vergleich die Gefühlsneigungen, als die Technik ins Dorf Einzug gehalten hatte. Die meisten hatten sich sehr schnell mit den neuen Dingen angefreundet, trotz vormals vorhandener Antipathie.



Als ihm das klar wurde, wusste er auch, was er hier genau vor sich hatte. Der verkörperte Hass all jener, die sich immer noch nicht mit der Technik anfreunden wollten, das, was diese Menschen vermissten, hatte sich vor Rupert Todd manifestiert, sah ihm deshalb auch von den Umrissen her so sehr ähnlich.



„Du ... du bist entstanden aus Teilen von jedem Einzelnen...“, murmelte Rupert Todd leise, ohne dass ein Laut seinen Lippen entsprang. „Du bist ... wir“, formten seine Lippen, ohne zu sprechen.



Das Nichts, die manifestierte Stille, hatte sich nicht bewegt, und doch wusste der alte Mann, dass sie etwas von ihm erwartete. Sie hatte ihn aufgesucht, da er sich der neuen Technik versagt hatte, sich nicht hatte manipulieren, geschweige denn überreden lassen. Er wusste sofort, was zu tun sein würde ... er wusste es einfach.



Seit diesem Tag, seit diesem Abend hatte er einen Auftrag ... und Rupert Todd war bereit, ihn anzunehmen.



*



Gegenwart, Haus von Rupert Todd, 22 Uhr und 3 Minuten



Mulder hatte sich gerade des alten Anzugs von dem alten Todd entledigt, sich auf die alte Couch gesetzt und begonnen, nachzudenken. Er wusste nicht, worüber er nachdachte, was genau er eigentlich jetzt erwartete. Die Möglichkeit, dass etwas passieren könnte, kreiste immer noch über ihm, vereinnahmte seine Gedanken vollständig und schien erst verschwinden zu wollen, wenn wirklich etwas geschehen war.

Seine Intuition hatte ihn so gut wie nie im Stich gelassen, und so vertraute Mulder auch dieses Mal auf sie. Er war zeitweise auf sich allein gestellt, was zum einen ein Nachteil, zum anderen aber auch ein Vorteil sein mochte. Einige Sicherheit spendete ihm Reyes’ Ersatzwaffe, die sie ihm dagelassen hatte. Aber auch dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich im ganzen vollkommen schutzlos fühlte.



Wann würde es geschehen? Würde überhaupt etwas geschehen?



Sein Blick wanderte gerade im abgedunkelten Zimmer umher, als er eine offen stehende Schublade in einer nahestehenden Kommode entdeckte, die ihn geradezu magisch anzog.

Mulder kam nicht umhin, sich ihren Inhalt näher anzusehen.



... und plötzlich fuhr er erschrocken zurück. Nicht die Tatsache, dass er gerade einen riesigen Vorrat an verbotenen Anti-Depressiva gefunden hatte, hatte das Entsetzen ausgelöst. Denn es lag noch etwas anderes in der Schublade. Etwas, das dem Fall ein ganz anderes Licht gab.



Es war schon etwas geschehen. Und sie hatten sich komplett an der Nase herumführen lassen!



Der ehemalige Agent dachte kurz nach, um seinen Kopf freier zu kriegen, da ihm im Augenblick tausend Theorien durch den Kopf schossen, die alle um ein und dieselbe Person kreisten.



Und Reyes war in diesem Moment mit ihr alleine...!



*



einige Minuten entfernt, kurz vor dem Dorf



„Sie sind ja verrückt!“, sagte Reyes, deren Hand vor Anspannung zitterte. „Sie, Sie waren die Person, die die Morde begangen hat. Sie allein! Weil Sie nicht ertragen konnten, wie die anderen der Technik verfielen.“ Sie stockte, bevor sie weitersprach. „Nur ein Arzt besitzt die Mittel dazu, eine solch abscheuliche Tat, wie sie hier mehrmals geschehen ist, durchzuführen. Sie haben das Werkzeug dazu...“



„Nicht ich habe diese Taten für mich begangen. Ich habe sie für jemand anderen begangen. Gefälligkeit, wenn Sie es so nennen mögen.“ – Er grinste fies und ließ seine gelben Zähne erscheinen – „Ja, ich habe das Werkzeug dazu. Das wird Ihr Partner im Übrigen schon gefunden haben. Ebenso einige andere ... Spezialitäten, die ihn hierher, zu Ihnen und mir, führen werden, wenn er nur eins und eins zusammenzählen kann. Und dann wird SIE es beenden ... ich helfe IHR dabei. Es hätte niemals so weit kommen dürfen, dass jemand von außerhalb von den Geschehnissen erfährt...“



„Blieben Sie da stehen und halten Sie die Hände oben!“, brüllte Reyes und versuchte, ihre Anspannung zu überwinden. Augenscheinlich war Rupert Todd wahnsinnig geworden.



„Warum so angespannt, Agent Reyes? Sie sollten auch einige von meinen Mitteln nehmen, die Ihnen über solche Zustände hinweghelfen. Sie helfen, den Kopf zu leeren und den Geist zu öffnen. Man sieht danach so klar ... so klar...“, entgegnete der alte Mann leise, beinahe beschwichtigend und ging einen Schritt weiter auf Reyes zu. „Geben Sie sich der Ruhe hin ... lassen Sie es einfach geschehen...!“



„Keinen Schritt weiter!!“



Rupert Todd gehorchte nicht, sondern tätigte einen weiteren Schritt. „SIE ist gleich da, ich spüre es. Lassen Sie sich von IHR vereinnahmen.“ – Er zückte ein Skalpell – „Ich verspreche auch, dass es nicht lange weh tun wird...“



„Stecken Sie das weg, oder ich schieße!!“, schrie Reyes und entsicherte die Waffe. „Ich werde schießen, wenn Sie nicht augenblicklich stehen bleiben!“



Und da veränderte sich plötzlich die Umgebung...



*



Mulder hastete atemlos den Hang hinunter, die Waffe in der rechten Hand, als der Schuss ertönte.



Nein, bitte nicht! Ihr darf nichts geschehen!



Das Seitenstechen ignorierend, spurtete Mulder hinein in den alles verschluckenden Nebel.

Die Luft war eiskalt.



*



Der alte Mann schrie auf, als er sich auf die junge Agentin stürzte und von der abgefeuerten Kugel getroffen wurde. Doch der Schrei erstarb in seinem Ursprung, wurde zum unausgesprochenen Ausdruck der Schmerzen, die den Mann durchfuhren. Reyes glaubte sich in einem luftdichten Raum, der jedes andere Geräusch außerhalb aussperrte. Sie hörte nichts.

Sie konnte nichts sagen.

Sie hörte nur das Rauschen des Blutes, das Pochen ihres Herzens ... alles andere war verschwunden. Was geschah hier gerade?!



Reyes bückte sich, um den Puls des Angreifers zu fühlen. Schwach, aber regelmäßig. Er musste so schnell wie möglich in ein Krankenhaus. Instinktiv griff sie zu ihrem Handy und wollte Mulder benachrichtigen, ihm erzählen, was sie gerade erlebt hatte. Dass sie den Mörder gefasst hatte.

Doch viel weiter als zum Versuch kam sie nicht...



Ein Schatten schwebte plötzlich lautlos knapp über ihrem Kopf vorbei, ein schwarzes Phantom, gleich einer übergroßen Fledermaus, die ein Opfer erspäht hatte. Es kreiste eine Zeitlang über dem regungslosen Körper des alten Mannes und stürzte schließlich auf diesen hinab. Die Agentin konnte nicht glauben, was sie sah.

Plötzlich erhob sich der Körper des Mannes, stellte sich auf und wandte ihr den Kopf zu. Die Augen waren glasig, die Bewegungen ruckartig wie die eines mechanischen Roboters. Rupert Todd, oder das, was er nun war, öffnete den Mund und sagte etwas, das Reyes zwar nicht hörte, jedoch wie einen Text vor ihrem geistigen Auge sah.



„SIE hat sich mit mir vereint ... SIE ist in mir ... SIE gibt mir die Kraft, die ich brauche. SIE ist der Hass derer, die sich sträubten ... Sie alle sind nun in mir!“



Und mit diesen Worten stürzte Rupert Todd auf die fassungslose Reyes, das Skalpell in der rechten Hand, wobei er die Agentin zu Boden warf. Sie spürte eine Eiseskälte, als sich der alte Mann über sie beugte.



„SIE hat mich auserwählt! Gib dich der Ruhe hin und LASS ES EINFACH GESCHEHEN!“



*



Mulder war sich sicher, dass Rupert Todd unter starken Depressionen litt und deshalb die verbotenen Mittel einnahm. Das würde erklären, warum er letztlich durchdrehte und zum Mörder wurde. In der Schublade hatte Mulder zudem ein Plastikbeutelchen mit einer abgetrennten Zunge gefunden... Persönlichkeitsveränderungen bei unsachgemäßer Einnahme, Halluzinationen waren keine Seltenheit, was einen Grund für die Morde darstellen könnte. Oder handelte er gar aus einem triftigen Grund und nicht aus purem Affekt?

Die Worte von Henry Millers Frau hallten in seinem Kopf, als er sich einem kleinen Waldstück näherte, aus dem der Schuss gekommen zu sein schien.



„Er lag da ... so STILL...“



Er erspähte den Mietwagen.



„So STILL ... STILL ...“



Und dann traf ihn die Erkenntnis, als er sich der Worte des Arztes erinnerte.



„Wir wurden vor wenigen Monaten mit einem Schlag eingedeckt mit dem größten Firlefanz, den wir damals nicht gebraucht haben und auch jetzt nicht benötigen.“



Auch JETZT nicht BENÖTIGEN! Dieser Mann hasste das Neue! Mulder wischte sich die schweißnasse Stirn.



„All das Zeug ist teuflisch, es hat unser friedliches Zusammenleben zerstört“, hatte der Arzt gesagt. Friede bedeutet Ruhe bedeutet Stille. Und den Leichen fehlten Zunge und Stimmbänder! Dass ihm der Zusammenhang nicht eher aufgefallen war!

Während Mulder durch den Wald hastete, vorbei am Mietwagen, hatte er nun für sich einen Grund für die Morde gefunden:



Rupert Todd wollte den Leuten mit drastischen Mitteln das zurückgeben, was ihnen durch die Technik genommen worden war: die Stille!



*
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