World of X

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9x04 - Silence

von Lhutien, Stefan Rackow

Kapitel 6

Nur wenige Meter entfernt beugte sich der vor Anstrengung schwitzende alte Mann über die am Boden liegende Reyes, immer noch das Skalpell unmittelbar vor ihrem Gesicht. Eine unmenschliche Kraft drückte die Agentin auf den Boden, so dass sie sich nicht imstande sah, aufzustehen oder Gegenwehr zu leisten, welche zur Abwehr der drohenden Gefahr nötig gewesen wäre. Stattdessen fühlte sie sich, als ob sie von mindestens fünf ausgewachsenen Männern niedergedrückt wurde.

Wieder griff der alte Mann auf ihre Gedanken zu und ließ seine unausgesprochenen Worte dort immer und immer wiederhallen.



„LASS ... ES ... GESCHEHEN ... LASS ...“



Das Skalpell. Direkt vor ihrer Nase.



„GESCHEHEN ...!“



Kalt. Metallisch. Sie bekam eine Gänsehaut, als das Werkzeug ihre Oberlippe berührte. Ein grauenhafter Schauder jagte ihr über den Rücken.



„STILLE ... STILLE!!“



Die Augen des alten Mannes waren vor Erregung weit aufgerissen, hatten jedoch jeden nur ach so kleinen menschlichen Funken Leben verloren, wirkten stattdessen glasig. Die Agentin sah sich in ihnen, hilflos am Boden liegend. Panik ergriff sie. Warum war sie nur ohne Mulder hierher...?



„LASS E-“



Plötzlich schien die Zeit langsamer zu laufen. Die Worte in ihrem Kopf verschwanden, sie spürte, wie die eisige Kälte sich langsam entfernte. Der vormals auf ihr lastende unmenschliche Druck hatte ebenfalls unerwartet nachgelassen, stattdessen spürte sie ein Gefühl der Wärme an ihrer rechten Wange.



„Monica!“



Erst jetzt registrierte sie, dass das Rauschen in ihren Ohren verschwunden war und sie wieder hören konnte.



„Monica! Sind Sie in Ordnung?“ – Es war Mulder.



Reyes wandte erschöpft den Blick nach rechts, um ihm entgegen zu sehen ... und blickte in die glasigen Augen von Rupert Todd. Diesmal hatte sich jedoch der Schleier des Todes über sie gehüllt und ihnen das letzte Glitzern genommen. An der Wange des Toten lief dünn ein frischer Faden Blut gen Boden, wo sich allmählich eine kleine Pfütze bildete. Rupert Todd war hockend nach links geknickt und mit dem Kinn hart aufgeschlagen. Mulder musste ihn beim ersten Schuss schon tödlich getroffen haben. Aufgrund der Stille hatte er ihn nicht kommen hören, was ihm zum Verhängnis geworden ist.



„Ja, mir geht’s gut, Mulder“, murmelte Reyes kraftlos und versuchte aufzustehen. Der Schreck war ihr ins Gesicht geschrieben. „Er wollte auch mir die Zunge nebst Stimmbändern hinausschneiden ... er war besessen, Mulder, besessen!“



Mulder fühlte routinemäßig den nicht vorhandenen Puls des Toten und senkte den Blick. „Ich würde sagen, er war weniger Täter als vielmehr ein Opfer.“



„Mulder, er wollte mich umbringen! Wie die anderen!“, entgegnete Reyes brüsk und lehnte sich kraftlos an einen Baum. „Ich habe seine Augen gesehen! Da war nichts Menschliches mehr drin!“



„Er wurde durch die Gesellschaft dazu getrieben, Monica. Über Jahre hinweg war das Dorf sich selbst überlassen. Alles lief – unerwarteter Weise – in geregelten Bahnen. Und dann hält von heute auf morgen neumodische Technik Einzug, mit der sogar ich Schwierigkeiten hätte ...“ – Er unterbrach sich selbst – „Ich habe starke Stressmittel in seinem Haus gefunden, und ich vermute, dass er sie selbst eingenommen hat. Sie sind neueren Datums, so dass ich denke, er hat damit begonnen, als das ganze hier anfing.“



„Er sagte etwas von Mitteln, das ist richtig“, erklärte Reyes leise, „aber ich denke, es ist falsch, sein Handeln alleine auf durch unsachgemäße Einnahme entstandene Nebenwirkungen zurückzuführen, gekoppelt mit einem unmenschlichen Hass gegen das Neue...“



„Auch als Opfer kann man Unmenschliches, Erschreckendes tun ... ich wollte damit gar nicht anzweifeln, dass er der wahre Mörder ist ... ich ...“



Reyes nickte. „Schon gut, Mulder, ich verstehe Sie ja.“ Sie blickte auf die Leiche. „Mir schien, er wurde durch etwas gesteuert und so zu den Taten getrieben. Etwas schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. Ich habe etwas gesehen, das ich nicht beschreiben kann.“



Mulder überlegte kurz und legte dabei seinen Arm um die Agentin. Dann sagte er: „Ich denke, er war getrieben von aufgestautem Hass gegen die Verräter, die diejenige, die der Technik verfielen, für ihn darstellten. Erinnern Sie sich? Sein Haus besaß als einziges keine Satellitenschüssel.“



„Einer gegen alle ... meinen Sie, das war es?“



Mulder lächelte etwas. „Meistens sind Menschen die schlimmsten Monster. Vielleicht sehen wir in ihnen deshalb manchmal mehr als eigentlich da ist.“ – Er kniete sich nieder – „Wir bilden uns ein, etwas Übernatürliches zu sehen, dabei ist der Schrecken, den wir erfahren, vollkommen irdischer, menschlicher Natur.“ Er sah zu der Agentin auf. „Vielleicht glauben Sie nur, etwas Seltsames gesehen zu haben, weil Sie in diesem Augenblick etwas sehen wollten.“



Reyes wirkte nachdenklich, da sie sich absolut sicher war, den Schatten gesehen zu haben. Aber Angst vermochte manchmal Dinge zu bewirken, die man nicht verstehen konnte. Hatte sie also wirklich nur halluziniert? Ohne hinabzusehen, sprach sie zu Mulder.

„Aber auch Sie haben diese Stille gespürt, Mulder, sie war greifbar!“



Mulder sagte nichts, sondern ließ wortlos seinen Blick umher wandern. Nebel umspielte ihn, griff nach ihm, ließ ihn erschaudern. Es war vorbei, sie hatten den Mörder gestellt. Und doch war da etwas, was er nicht verstand, und die Agentin hatte es ihm gerade vor Augen geführt. Reyes hatte recht, auch er hatte die Stille gespürt. Aber war dies nicht auch der Angst zuzuschreiben?



„Wissen Sie“, begann er monoton und blickte auf einen unbestimmten Punkt am Horizont. „Manchmal geht die Natur Wege, die unsereins nicht verstehen kann, weil uns schlichtweg die Einsicht fehlt. Shakespeare sagte einst, es gäbe nur einen Wärter für die Natur, und das sei die Stille. Vielleicht ist es das. Ein natürlicher Schutzmechanismus der Natur.“



Reyes gesellte sich zu ihm und lächelte nun etwas, obwohl man ihr die Strapazen ansah. „Ich wusste gar nicht, dass Shakespeare damals mehr von dem Fall wusste als wir...“



„Wie dem auch sei – wir haben den Fall aufgeklärt, die Leute können wieder sicher leben ... wenngleich einige Fragen unbeantwortet bleiben“, sagte Mulder nachdenklich und schloss kurz die Augen. Eins war ihm in der heutigen Nacht jedoch klar geworden: es war falsch, mit alten Traditionen zu brechen. Und noch etwas hatte sich heute abend herauskristallisiert. Der Gedanke schwirrte ihm die ganze Zeit im Kopf herum, verdrängte den Gedanken an das Benachrichtigen der Polizeidienststelle für eine Weile, setzte sich fest.



Frustration wird zu Wut, Wut verwandelt sich in Hass, Hass endet in Gewalt.





~*~





EPILOG



Dorf „Lost Way“, 3 Tage später, spät am Abend



James Watson wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er auf dem Feld ankam. Am Himmel leuchtete der Vollmond dem alten Mann, der schwitzend einen Blick nach oben warf. Sein Kopf war leer, ohne Gedanken, als er einen schweren Gegenstand ergriff, dessen Ende im Mondenschein aufblitzte, während er es über seinen Kopf hob. Die Katze, die um seine Beine schlich, nahm er nicht wahr, ebenso wenig die feinen Nebelschwaden, die ihn umspielten. Seine glasigen Augen waren nur auf das Objekt vor seinen Füßen gerichtet.

Es war still, absolut still, als James Watson die Axt mit voller Wucht in den Stromzufuhrkasten rammte. Blitze erhellten kurz die Szenerie, wurden jedoch alsbald vom Nebel verschluckt und ließen das Geschehen zu einem einsamen Schauspiel werden.



Der schwarze Schatten, der sich aus der verkohlten Leiche des alten Mannes erhob und gen Himmel davon schwebte, bevor er sich in alle Richtungen auflöste, sollte der einzige Zeuge bleiben.



Leise, lautlos und still.







E N D E
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