World of X

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9x04 - Silence

von Lhutien, Stefan Rackow

Kapitel 3

Später am Tag ...



Es hatte sachte angefangen zu regnen, als Mulder den Mietwagen, den er bei der Autovermietung am Flughafen geordert hatte, am Fuße eines steilen Berges stoppte. Verwundert blickte er um sich.



„Sind wir hier richtig? Die Straße endet da vorne...“



Reyes, die neben ihm saß, blickte auf die Karte, die auf ihren Knien lag, und fuhr mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand noch einmal die Strecke ab. „Ja“, sagte sie schließlich und faltete die Karte zusammen, „wir sind da.“



„Sagen Sie nicht, wir müssen da rauf...?“ Mulder deutete mit einem Fingerzeig nach oben. „Dabei habe ich meine Wanderstiefel nicht mal dabei...“



„Doch, das Dorf liegt dort oben. Reichlich abgeschieden, finden Sie nicht?“ – Sie gurtete sich ab und öffnete die Beifahrertür. „Am besten parken Sie den Wagen dort unter den Bäumen. Wir müssen nicht unbedingt allzu viel Aufsehen erregen.“



„In Ordnung“, entgegnete Mulder und legte den ersten Gang ein, „sind schon Ermittler vor Ort?“



Reyes zuckte mit den Schultern. „Heute morgen sind welche da gewesen, ja. Aber mir scheint, die sind froh, dass sie uns mit dem Fall beauftragt haben...“



„Sagen Sie nicht, die Leiche ist noch da!“



Reyes schüttelte etwas amüsiert den Kopf. „Nein, die lagert schon in der Pathologie und wird vermutlich schon jetzt obduziert. So nachlässig sind die hiesigen Beamten auch nicht. Der Bericht dürfte bald fertig sein, so dass wir ihn einsehen können.“



Mulder nickte leicht und blickte nach oben. „Dann wollen wir uns mal in die Höhle des Löwen begeben. Erwarten Sie aber nicht, dass ich Sie trage...“



*



Die Anhöhe beherbergte mehrere alte Häuser, die teilweise noch aus der Gründerzeit zu stammen schienen. Putz bröckelte von den Wänden, während manche Dächer den Eindruck erweckten, sie würden das nächste Unwetter nicht überstehen. Im Vergleich dazu muteten die Satellitenschüsseln auf den Dächern wie Heraufbeschwörer einer neuen, moderneren Zeit an. Ein großer Stromzufuhrkasten draußen auf einem Feld komplettierte das von Gegensätzen geprägte Spiel der Schauwerte.

Mulder rümpfte argwöhnisch die Nase. „Alt und neu verträgt sich nicht, oder wie lautet das Sprichwort?“



„Gegensätze ziehen sich an, würde ich sagen“, erwiderte Reyes lächelnd und warf einen Blick umher. „Man fühlt sich wirklich wie an zwei Orten zugleich – damals und heute. Beängstigend.“



„Ich finde es irgendwie nur traurig“, sagte Mulder leise und war nicht in der Lage, das zu begründen. „Fragen Sie nicht, warum, Monica.“



„Hatte ich nicht vor.“ – Die beiden standen nun vor einem großen weißen Haus, das sich gegenüber den anderen dadurch unterschied, dass es einen Anbau besaß. Mulder mutmaßte, dass es sich dabei um einen Versammlungs- oder Konferenzraum handelte und steuerte instinktiv darauf zu.

Bevor er jedoch die Tür des Anbaus erreichen konnte, trat ein alter Mann aus dem Dunkel hinter einem anliegenden Haus und baute sich vor Mulder auf. Das Gesicht des Mannes war von Falten durchzogen, während ein weißer Bart sein Gesicht mehr oder minder zierte. Mulder verzog keine Miene.



„Sind Sie aus der Stadt?“, fragte der Alte und spuckte den Grashalm aus, auf dem er bis zuletzt noch gekaut hatte. „Wenn ja, dann können Sie gleich wieder verschwinden. Wir wollen und brauchen Sie hier nicht.“



„Das sehe ich aber anders“, entgegnete Reyes und zog ihren Ausweis hervor. „Agent Reyes vom Federal Bureau of Investigation, Washington, D.C.. Das ist mein Partner Agent Mulder.“ Sie steckte den Ausweis wieder ein. „Wir wurden von Ihnen herbeordert.“



„Von mir bestimmt nicht!“, presste der Alte zwischen den vergilbten Zähnen hervor und ging an den beiden vorbei. „Das kann nur einer aus der Stadt gewesen sein, der – weiß der Geier, wie – von der Sache mit Henry Wind bekommen hat. Sie können sich den Andrang nicht vorstellen, der hier bis vor kurzem noch geherrscht hat!“



„Sie wissen also davon?“



Jetzt lachte der Alte etwas. „Lady, hier kennt jeder jeden. Natürlich weiß ich davon. Der Arme sah schrecklich aus. Wahrscheinlich wurde er von einem Tier angefallen. Oder er ist unglücklich gestolpert und infolge des Sturzes gestorben ... jedenfalls ist er nun tot, und Tote sollte man ruhen lassen.“



„Sie haben kein Interesse daran, herauszufinden, was mit Henry Miller geschehen ist?“, fragte Mulder leicht verärgert und warf einen Blick umher. „Hier, in Ihrem Dorf, ist ein Mensch ums Leben gekommen, Mr....“



„Watson, James Watson. Ich bin der Dorfälteste, wie Sie unschwer erkennen können.“



„ ... Mister Watson, und die Anzeichen deuten darauf hin, dass dies unter nicht normalen Umständen geschah.“



„Haben Sie Beweise dafür?“, zischte der alte Watson, „ich meine: Haben Sie irgendwelche stichhaltigen Beweise dafür? Jede Vermutung beschwört neue Vermutungen herauf, und ehe man sich versieht, hat man wieder die Großstadt am Hals! Wir leben hier in völliger Abgeschiedenheit, und so soll es auch bleiben!“



„Sir, Sie verdanken der Großstadt so vieles!“, sagte Mulder kopfschüttelnd. „Unterstützung, Hilfe, neue Errungenschaften der Technik“ – Er deutete auf die Satellitenschüsseln – „-sind Sie nicht wenigstens ein wenig dankbar?“



„Sie reden wie die Mehrheit hier, Agent Mildred...“



„Mulder.“



„...Agent Mulder, Sie reden wie die meisten Dummköpfe hier, die diesen neumodischen Scheiß auch noch gutheißen! Wissen Sie, wann es uns gut ging? Als wir davon noch verschont geblieben sind!“



Mulder wollte etwas erwidern, doch seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Er hatte nicht bedacht, wie stringent manche Menschen an alten Traditionen festhalten. Wer über viele Jahre hinweg ohne moderne Technik auskam und sein Leben fristete, wie jeder andere Mensch auch – eben mit dem Unterschied, dass die modernen Errungenschaften der Technik hier nicht galten -, der kann nicht von heute auf morgen einfach umsatteln und den Gepflogenheiten des modernen 21. Jahrhunderts frönen.

Mulder fühlte sich an einen Fall erinnert, der schon viele Jahre zurücklag. Damals hatten er und Scully bei den Amish People ermittelt und deren Einstellung am eigenen Leib erfahren müssen.

Es war so ähnlich.

So gleich.

Und doch ganz anders.



„Mister Watson“, begann Reyes schließlich und ging hinter dem Alten her, „ich kann Ihre Einstellung verstehen und respektiere sie auch. Aber Sie würden uns wirklich helfen, wenn Sie uns sagen könnten, was hier gestern Abend vorgefallen ist.“



Der alte Mann blieb stehen und blickte nach oben. „Wenn ich das wüsste, Lady ... ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, da ich früh schlafen gegangen bin. Aber -“ – Er fasste sich an seine Nase – „warum fragen Sie nicht seine Frau? Die müsste es doch eigentlich wissen. Nicht dass ich Ihnen vorzuschreiben habe, was Sie zu tun hätten, aber das wäre doch das Naheliegendste, oder?“ Der alte Mann verzog das Gesicht zu einem fiesen Grinsen und schlurfte an Reyes vorbei.



„Reizender Zeitgenosse“, murmelte Mulder und biss sich auf die Unterlippe. „Wenn hier alle so hilfsbereit sind, sehe ich schwarz.“



Ein Rabe landete nahe Reyes in einem Baumwipfel. Die Agentin blickte nach oben. „Der Vorbote des Todes wäre da...“, entgegnete sie ohne Betonung und setzte sich auf einen Baumstumpf. „Ich glaube nicht, dass uns Henry Millers Frau weiterhelfen kann“, sagte sie anschließend ohne Regung und massierte ihren Nacken mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand.



„Wieso?“



Jetzt sah die Agentin auf. Ihre Augen funkelten. „Sie hat einen Schock erlitten. Jedenfalls meinte das die Person, die bei der texanischen Polizeidienststelle Angaben gemacht hat. So wurde mir es gesagt.“ – Sie seufzte einmal. „Offensichtlich ein sensationsgeiler Reporter, der irgendwie von der Sache Wind bekommen hat, Fotos machte, und diese gewinnbringend verscherbeln wollte. Jedenfalls hat er sich scheinbar unter falschem Namen bei der Dienststelle vorgestellt.“



„Also auch keine Hilfe...“



„Genau, Mulder.“



„Und das bedeutet, dass wir am besten den Obduktionsbericht abwarten sollten. Vielleicht schafft der etwas Klarheit.“



Reyes lächelte. „Ebenso könnte man versuchen, mit einem einzigen Griff in ein undurchsichtiges Glas mit 99 schwarzen und einer weißen Kugel genau diese letztgenannte herauszufischen.“ – Sie grinste etwas – „Entschuldigen Sie meinen Optimismus, Mulder.“



„Monica, Sie haben genau die richtige Einstellung. Nur der, der glaubt, dass es keinen Sinn hat, weiterzusuchen, kann letzten Endes eines Besseren belehrt werden. Für alle anderen ist dies nur eine logische Folge ihres von übertriebenem Optimismus gesteuerten Handels.“ – Mulder kniete sich neben die Agentin – „Sie denken wie ich, und das ist gut für den Job, glauben Sie mir.“



*



Nicht unweit entfernt von dem kleinen Dorf auf der Anhöhe zückte Gerichtsmediziner Dr. Bones ein Skalpell aus einer Schale und wandte sich der Leiche auf dem Tisch vor ihm zu. Neben ihm stand Dr. Samantha Seal, eine junge Ärztin, die ihm hier und da hilfreich zur Hand ging.



„Ich beginne zunächst mit der augenscheinlichen Untersuchung aller auffälligen Merkmale, vornehmlich denen am Kopf, Hals und Nackenbereich.“ – Er senkte seinen Blick – „Die ... äußeren Merkmale, die ich zuerst für ausgeprägte Totenflecke hielt, scheinen im Gegenteil daher zu rühren, dass der Mann durch Strangulieren zu Tode gekommen ist und dies zur Ausprägung der Hämatome geführt hat.“



Ein klarer Fall. Dr. Bones legte das Skalpell beiseite und machte Anstalten, sich von dem Toten abzuwenden.

Samantha Seal blickte ihn fragend an.

„Und die Autopsie?“



Dr. Bones räusperte sich, doch das Kratzen im Hals, das ihn schon den ganzen Tag begleitete, blieb. So angelte er in seiner Kitteltasche nach einem Hustenbonbon und steckte es sich in den Mund, wo sich für einen Moment das süßliche Aroma der Minze mit dem schalen Geschmack des Latexhandschuhs vermischte, den er aus Sterilitätsgründen trug. Angewidert leckte Dr. Bones sich die Lippen und wandte sich dann seiner jungen Kollegin zu.

„Eine Autopsie halte ich für nicht erforderlich. Die Todesursache ist meines Erachtens eindeutig.“



Mit einem Räuspern streifte er die Einmalhandschuhe ab und ließ sie im Mülleimer verschwinden. Endlich würde er wieder nach Hause fahren können, wo sein Bier wahrscheinlich schon neben dem Sofa darauf wartete, von ihm während des Baseballspiels der New York Yankees geleert zu werden. Er konnte sowieso nicht verstehen, dass man ihn wegen dieses Vorfalls extra aus seinem Urlaub geholt hatte. Immerhin war der Tote ein Mann aus dem Dorf – Dr. Bones verzog den Mund – und da war es noch nie so zugegangen wie in der Stadt. Vielleicht hatten die Dorfbewohner jetzt angefangen, sich gegenseitig zu lynchen – und wenn, war es ihm auch egal.



Dr. Seal hingegen konnte nicht fassen, dass ihr Mentor sich zum Gehen wandte. Sie beugte sich über den Leichnam und untersuchte die Blutergüsse genauer.

„Aber Dr. Bones – die Anordnung der Hämatome entspricht keiner mir bekannten Strangulierungsmethode.“



Dr. Bones drehte sich im Türrahmen um. „Sie haben es erfasst. Keiner Ihnen bekannten Strangulierungsmethode. Dennoch ist der Mann eindeutig dadurch zu Tode gekommen.“



„Aber...“, versuchte Dr. Seal einzuwenden, doch Dr. Bones schnitt ihr das Wort ab: „Also führen Sie die Autopsie meinetwegen durch – aber ohne mich und auf Ihre Verantwortung.“ Leise fügte er hinzu: „Wenn die liebe Seele dann ihren Frieden hat...“



Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.





*



Monica beobachtete gedankenverloren, wie die Krähe unstet im Geäst des Baumes umherflatterte und sich schließlich auf der Wiese niederließ, wo sie sich suchend umsah, bevor sie davonflog und sich Monicas Blick dadurch im tristen Grau des Himmels verlor. Es war ihr unverständlich, dass ihnen in diesem Dorf eine solche Ablehnung entgegengebracht wurde. Die Menschen kannten sie nicht einmal, doch sie waren Stadtmenschen und das reichte anscheinend völlig aus, um sie zu verurteilen.



Mulder kniete noch immer vor ihr und hielt ihr nun eine Hand hin, als Angebot ihr aufzuhelfen. Dankbar ergriff sie seine Hand und bedankte sich mit einem Lächeln. Ihr Blick suchte noch immer den Horizont ab – wonach, das vermochte sie selbst nicht zu sagen. Es war ein unbestimmtes Gefühl, das sich in ihrer Magengegend breit machte. Vielleicht eine Vorahnung, dass es noch nicht vorbei war, worum auch immer es sich hierbei handeln mochte, Monica wusste es nicht. Aber sie wusste, dass sie sich immer auf ihr Bauchgefühl hatte verlassen können, und genau das war es, was sie beunruhigte.



Mulder war ihre Anspannung nicht entgangen, doch ahnte er nicht, woher diese rührte. „Nehmen Sie sich das Verhalten von dem alten Kauz nicht so zu Herzen“, versuchte er sie aufzumuntern, „Sie wissen doch, dass einsame Menschen oft schrullig werden. Ich glaube nicht, dass alle im Dorf sich so verhalten.“



Monica zuckte mit den Schultern, doch ihr Blick spiegelte ihre Zweifel wider. Dennoch beließ sie es dabei und entgegnete stattdessen: „Ich schlage vor, dass wir trotzdem nach Henry Millers Frau schauen, auch wenn sie möglicherweise noch unter Schock steht. Vielleicht können wir ihr irgendwie helfen.“

Falls sie sich helfen lässt, fügte sie in Gedanken hinzu und seufzte.



Mulder nickte bereitwillig, und so machten die beiden Agenten sich auf den Weg, um Martha Miller aufzusuchen – ein Unterfangen, das sich als schwieriger herausstellen sollte, als sie vermutet hatten.



*



Sie erreichten die Hauptstraße, die dieser Bezeichnung spottete, denn es handelte sich lediglich um einen breiteren Weg aus festgetretenem Lehm, der das Dorf in zwei mehr oder minder gleich große Hälften teilte.

Es war später Nachmittag, und zu dieser Tageszeit waren viele der Dorfbewohner unterwegs, doch sahen Mulder und Reyes sich mit dem Problem konfrontiert, dass ihnen niemand Auskunft geben wollte. Egal, an wen sie sich wendeten – man schlug ihnen Türen und Fenster vor der Nase zu, wandte sich ab und hastete davon.



Mulder grinste angesichts der absurden Situation. „Gut, ich hatte Unrecht... Kommen Sie sich nicht auch vor wie im falschen Film?“, fragte er Reyes.



Diese lachte humorlos. „Wie in einem verdammt schlechten Film.“

Sie strich sich eine widerspenstige, dunkle Haarsträhne aus der Stirn und blickte die Straße hinauf. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir so nicht weiterkommen...“



Mulder schwieg zustimmend und Reyes nutzte die Zeit, sich in ihrer näheren Umgebung umzuschauen. Die Holzhäuser waren größtenteils einfach gebaut, schienen aber mehr oder minder robust allen Widrigkeiten und Witterungen zu trotzen. Vor den meisten Eingängen erstreckten sich überdachte Verandas, die an lauen Sommerabenden sicher zum Verweilen einluden.

Hinter einer solchen entdeckten Reyes’ scharfe Augen einen braunen Haarschopf. Wortlos stupste sie Mulder an und deutete mit dem ausgestreckten Arm in die Richtung, nickte ihm dabei bedeutungsvoll zu.



Gemeinsam schlichen sie sich nahezu lautlos heran.



*



Dr. Samantha Seal musste immer noch den Kopf schütteln ob des Verhaltens ihres Mentors. Sie fragte sich, wie eine Frau jemals mit einem solchen Mann glücklich werden könne, der seine Meinung als die einzig wahre und richtige hinstellt und bei Widerworten sprichwörtlich den Großkotz raushängen lässt und bockig wird. Keine, lautete ihre Antwort, und das schien auch der Grund zu sein, warum Dr. Bones noch immer Single war.

„Fortsetzung der Untersuchung“, sagte sie launisch in das Diktiergerät, schaltete es aus und legte es auf einen kleinen Beistelltisch in unmittelbarer Nähe der Leiche.

Vorsichtig beugte sich die junge Ärztin zum Hals des Toten hinunter und begutachtete ihn noch einmal eingehend. „Komm, gib’ dein Geheimnis preis“, murmelte sie und betastete die von Dr. Bones als Strangulationshämatome klassifizierten Ergüsse.

Verwundert blickte sie plötzlich auf. Konnte das sein? Oder spielte ihr ihr Kopf einen Streich?

Sie betastete die Hämatome noch einmal vorsichtig und kam wiederum zu derselben Erkenntnis. Nein, es bestand kein Zweifel. Diese Hämatome entstanden nicht durch Gewalteinwirkung von außen, sondern im Gegenteil durch Einwirkung von innen! Die Hämatome waren nichts weiter als das Durchschimmern von geplatzten inneren Blutgefäßen respektive inneren Verletzungen, die zu starken inneren Blutungen geführt haben. Daran bestand kein Zweifel!

Nichts sprach für Strangulieren, eher im Gegenteil; wäre dieser Mann stranguliert worden, hätten die Hämatome viel ausgeprägter sein müssen. Sie hatte Opfer gesehen – mehrere Dutzend, und sie wusste, wie die Verletzungen aussahen. „Dr. Bones hat Unrecht gehabt, und ich habe es gewusst“, dachte sie innerlich triumphierend.



Die innerliche Freude wich jedoch im nächsten Augenblick blankem Entsetzen, als sie den Mund des Toten öffnete, um den Mundraum zu inspizieren. Mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen blickte sie auf das, was sich ihr darbot. Was zum Teufel ist mit diesem armen Mann passiert? Sie musste hart schlucken.



Der Mund des Mannes war rot von getrocknetem und geronnenem Blut. Blutverkrustete Zähne starrten die junge Ärztin an, schienen, ein Lächeln darzustellen. Und Samanthas Blick erfasste den Bereich, in dem die Zunge fehlte...



*



Mulder warf als erster einen Blick um die Ecke und erspähte eine ungefähr 50jährige Frau, die damit beschäftigt zu sein schien, Blumen aus dem Vorgarten ihres Hauses zu pflücken. Als sie die beiden Agenten bemerkte, zuckte sie ängstlich zurück. „Was wollen Sie?!“, fragte sie beinahe panisch und ergriff die kleine Gartenschaufel, als ob sie beabsichtigte, das Gartenutensil in absehbarer Zeit zur Gegenwehr einzusetzen.

Mulder hob beschwichtigend die Hände und versuchte, weniger angsteinflößend zu wirken.



„Haben Sie bitte keine Angst. Wir sind vom FBI. Das ist Agent Reyes und ich bin ihr Partner, Agent Mulder.“ – Reyes zückte daraufhin ihren Dienstausweis und lächelte. „Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben. Wir sind hier, um...“ – Doch weiter kam sie nicht.



„Stille!! Sie war da! Alles war ruhig! Alles!!“ – Die Frau vergrub ihren Kopf in ihren verschränkten Armen und begann, bitterlich zu weinen. „Es war alles ruhig, und dann lag er da! Er, er lag einfach da, regungslos ... tot! Ich konnte keinen Herzschlag mehr spüren!“



So, als ob in ihrem Kopf ein unsichtbarer Knopf gedrückt worden war, der nur auf ein Signalwort gewartet hatte, sprudelte es aus der Frau heraus, prasselte auf die Agenten nieder, die nichts tun konnten außer mit großen Augen dazustehen und zuzuhören. Keiner von ihnen begriff im ersten Moment, welches bedauernswerte Schicksal hier vor ihren Füßen hockte. Weder Mulder noch Reyes wollte wahrhaben, dass hier zu ihren Füßen eine Frau ihr Herz ausschüttete, die mit einem Schlag alles verloren hatte, was sie geliebt hatte. Von heute auf morgen hatte das Schicksal zugeschlagen und jemanden aus der Mitte einer Familie gerissen.



Wie es den Anschein hatte, wurden sie durch Gevatter Zufall geradewegs zu Martha Miller geführt...



*



Dr. Samantha Seal war, ungefähr eine Stunde später, damit beschäftigt, ihren Bericht zu tippen. Das, was sie gesehen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Das Bild des Mundinnenraums, die fehlende Zunge – alles hatte auch noch nach der vorgenommenen Obduktion eine derartige Präsens, dass die junge Ärztin meinte, sie stünde noch immer vor dem Leichnam.

Was nicht der Fall war...



Das Zimmer der jungen Ärztin beherbergte neben der nur unzureichend vorhandenen Luft – lediglich ein Oberlicht existierte - nicht viel mehr als einen Laptop, einen Drucker, einen Aktenschrank und einen Schreibtisch nebst klapprigem Stuhl. Auf letzterem saß Dr. Seal nun, und doch schien es, als sei sie ganz woanders. Sie schüttelte kurz den Kopf, um wieder klar bei Kopf zu sein – Fehlanzeige.

Wohin sie auch blickte, sie sah nichts anderes als ...



„Halt an dich, Mädchen“, ermahnte sie sich schließlich selbst und atmete einmal tief ein und aus. „Du hast schon viele Leichen gesehen, also stell dich nicht so an...“



Sie wollte sich wieder ihrem Bericht zuwenden, als sie plötzlich innehielt. Sie konnte nicht leugnen, dass sie etwas an der Leiche beunruhigte. Die fehlende Zunge, all das Blut ... nein, das war es nicht. Vielmehr war es etwas, das nichtkörperlicher Art war. Etwas, das von der Leiche ausging. Wie jemand einen Menschen bewundert, weil von ihm eine gewisse Faszination ausgeht, so ging etwas von der Leiche aus, das die junge Ärztin ängstigte. Sie war zutiefst verängstigt! Nachdenklich setzte sie sich wieder an den Bericht, und so langsam – ihr erschien es zumindest so - ergab eines das andere.

Vorsichtig, als ob ihr jemand beim Schreiben über die Schulter gucken und den einen oder anderen Gedanken stehlen könnte, schrieb sie folgendes auf der Tastatur, und auf dem Bildschirm erschienen die Resultate ihrer vorangegangenen Untersuchung:



[...] sind die vorgenommenen Misshandlungen im Mund- und Rachenbereich und der damit einhergehende Blutverlust für den Tod des Mannes verantwortlich gewesen. Neben dem präzisen Entfernen der Zunge, wodurch schon alleine eine geraume Menge Blut verloren worden war, zeigte sich bei der näheren Untersuchung noch weitaus Grausameres. Dem Mann fehlten die Stimmbänder. Wie diese entfernt wurden, ist nicht ersichtlich. Alles spricht aber dafür, dass es mit starken Schmerzen verbunden war, und vermutlich führte diese letzte Handlung dann auch zum Erfolg[...]



Sie stockte kurz. Die Formulierung „führte zum Erfolg“ hasste sie ein ums andere Mal mehr.



[...] zum Erfolg – dem Tod des Mannes.[...]



Es ging eine eisige Kälte von der Leiche aus, konstatierte die junge Ärztin innerlich, als sie dies geschrieben hatte. Eine nicht zu beschreibende Kälte, die einen erfasste und nicht mehr losließ. Doch es war nicht sie, die Dr. Seal ängstigte. Nicht alleine. So abstrus es sich anhören mochte: sie ängstigte die Stille, die Lautlosigkeit der Leiche.



Irgendjemand hatte den armen Mann hier misshandelt und vor seinem grausamen Tod regelrecht ruhig gestellt...!



*
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