World of X

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Future

von Sonja K

Kapitel 4 - Bereavement

Don’t Speak

You and me,
We used to be together
Every day together,
Always.
I really feel
That I'm losing my best friend,
I can't believe this could be
The end.
It looks as though
You're letting go,
And if it's real,
I don't want to know.

Don't speak
I know what you're saying
So please stop explaining,
Don't tell me 'cause it hurts.
Don't speak,
I know what you're thinking,
And I don't need your reasons,
Don't tell me 'cause it hurts.

Our memories,
They can be inviting,
But some are all together mighty
Frightening.
And as we die,
Both, you and I,
With my head in my hends I sit and cry.

Don't speak...

It's all ending,
We better stop pretending, ooooh,

You and me,
I can see us dying, are we?

Don't speak...



Heute morgen ist mir zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass etwas nicht stimmen könnte. Ich habe mit Fox beim Frühstück gesessen, als mir plötzlich ziemlich schlecht geworden ist. Ich bin ins Badezimmer gegangen und habe mich übergeben müssen, und da dachte ich, es könnte vielleicht einen anderen Grund haben als die chinesischen Nudeln, die ich vorgestern gegessen habe und auf die ich meine Übelkeit gestern morgen geschoben hatte. Aber ich konnte doch nicht schon wieder etwas Falsches gegessen haben. Mein medizinischer Verstand hat mir gleich den einen oder anderen möglichen Grund für die Übelkeit genannt, aber mein Gefühl sagt etwas anderes. Ich spüre, dass die Ursache möglicherweise ganz natürlich ist, dass mir aus dem gleichen Grund schlecht wird, aus dem viele tausend andere Frauen auch morgens vom Frühstückstisch ins Bad stürzen. Selbstverständlich habe ich Fox nichts von meinen Verdacht gesagt, denn ich will zuerst selbst Gewissheit haben, bevor ich ihn mit etwas konfrontiere, das vielleicht gar nicht wahr ist.
Also bin ich zum Arzt gegangen, denn die Prozedur mit den unzuverlässigen Tests wollte ich mir lieber ersparen. Fox wollte mich natürlich hinfahren, als ich ihm gesagt habe, ich würde zu einem Arzt gehen, aber ich habe ihn überzeugt, dass ich mich nur wegen meines nervösen Magens durchchecken lassen wollte und dass es besser wäre, einer von uns bliebe im Büro, weil wir ein Fax von der Außenstelle in Virginia erwarten, das uns in einem wichtigen Fall weiterhelfen könnte. Es wäre gut, wenn niemand außer uns diese Information in die Hände bekommt, und er weiß das. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als mich allein gehen zu lassen. Er hat mich zum Abschied geküsst und ich musste ihm versprechen, sofort anzurufen oder ins Büro zu kommen, wenn ich fertig sei. Ich habe es ihm versprochen, und als ich seine Besorgnis gesehen habe, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil er sich völlig umsonst Gedanken gemacht hat und ich nichts getan habe, um ihn zu beruhigen.
Aber ich konnte es einfach nicht. Wenn ich tatsächlich schwanger sein sollte, muß ich mich erst einmal allein damit auseinandersetzen und überlegen, was ich tun will, bevor ich es ihm sage. Ich habe ein wenig Angst, dass so etwas unsere Beziehung zerstören könnte, weil Fox ganz sicher nicht damit gerechnet hat, dass so etwas passiert. Ehrlich gesagt, habe ich auch nicht daran gedacht, aber ich glaube, dass ich mich mehr vor seiner Reaktion fürchten würde als davor, tatsächlich ein Kind zu bekommen.


Ich weiß nicht, was mit Dana los ist. In den letzten Tagen war sie immer so still, und sie hat sich mehrmals morgens übergeben. Heute wollte sie deswegen zum Arzt, aber als ich vorgeschlagen habe, sie zu begleiten, hat sie abgelehnt. Ihre Begründung war mehr als fadenscheinig; ich solle auf das Fax aus Virginia warten, damit es niemand anderem in die Hände fällt. Als ob das so wichtig wäre wie ihre Gesundheit!
Na ja, wenn sie nicht will, kann ich es nicht ändern. Wenigstens konnte ich sie überreden, mir sofort zu erzählen, was der Arzt gesagt hat.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie will etwas vor mir verbergen. Aber das glaube ich nicht,wenn auch vielleicht nur deswegen, weil ich es nicht glauben will. Ich habe mir immer gewünscht, dass wir eine ehrliche Beziehung haben, in der wir einander nichts vormachen, und ich habe manchmal Angst, dass sie es sich anders vorgestellt hat. Die meiste Zeit über nicht, aber in Momenten wie diesem kriecht die Furcht aus den hintersten Ecken meiner Seele und zeigt mir Bilder, die mir vor Augen führen, wie es sein könnte, wenn Dana unsere Beziehung anders definiert als ich es tue.


***

Scully konnte es zuerst gar nicht fassen, auch wenn sie insgeheim mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte. Ihr erster Gedanke, als sie die Praxis des Arztes verließ war: Was wird Fox dazu sagen?
Sie ging zu Fuß zurück zum FBI-Hauptquartier, denn sie hatte das Gefühl, dringend frische Luft zu brauchen. Der Spaziergang tat ihr gut, und sie bekam allmählich wieder einen klaren Kopf. Langsam drangen die Worte des freundlichen, älteren Arztes in ihr Bewußtsein vor: ”Herzlichen Glückwunsch. Sie sind schwanger.” Dann hatte er ihren betretenen Gesichtsausdruck bemerkt und sie gefragt, ob das etwa ein Problem darstelle. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und versucht, ihre Fassung zu behalten.
”Ist der Vater das Problem?” hatte sich der Arzt mitfühlend erkundigt, und Dana hatte verneint und versichert, dass alles in Ordnung sei, die Nachricht sei nur ein wenig plötzlich gekommen.
Jetzt dachte sie, dass der Arzt vielleicht gar nicht so unrecht gehabt hatte; Mulder war tatsächlich das Problem, allerdings nicht in dem Sinne, wie er vermutet hatte. Es war nur so, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie es ihm beibringen sollte. Es würde ein Schock werden, so viel stand für sie fest. Blieb nur die Frage, wie sie ihm diesen Schock so vorsichtig wie möglich versetzen konnte.
Dieses Problem löste sich, sobald sie das Büro betrat. Mulder kam ihr entgegen und fragte besorgt, ob alles in Ordnung sei.
”Was hat der Arzt gesagt? Hat es etwa wieder etwas zu tun mit...”
Er brach ab, und es war auch nicht nötig, dass er weitersprach. Sie wusste auch so, was er hatte sagen wollen. Er fürchtete, ihr Unwohlsein könnte eine Folge des Krebses sein, den sie besiegt zu haben glaubten, aber er hatte nicht den Mut, es auszusprechen.
”Nein, es ist alles in Ordnung; ich bin okay, wirklich.”
Ihr Gesichtsausdruck strafte sie lügen, und sie wusste es. Plötzlich wurden ihre Knie weich, denn ihr wurde auf schreckliche Weise bewusst, dass die nächsten Minuten über ihre Zukunft entscheiden würden; über ihre und die von Fox. Von seiner Reaktion hing alles ab, und sie hatte Angst davor, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte.
Sie brachte es nicht fertig, ihn anzusehen, denn sie fürchtete, er könne in ihren Augen lesen, wie er es sonst auch tat.
Mulder erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte, und er wusste instinktiv, dass es ihr sehr zu schaffen machte. Er kam zu ihr und griff nach ihrer Hand, zog sie zu einem Stuhl und zwang sie, sich zu setzen. Sie sah aus, als werde sie gleich umfallen, und die Blässe auf ihrem Gesicht war beängstigend.
”Hey, was ist los?” erkundigte sich Mulder behutsam, aber sie schüttelte den Kopf. Wie sollte sie es ihm sagen, was für eine Reaktion sollte sie erwarten, wenn sie sich noch nicht einmal selber sicher war, was sie davon halten sollte? Einerseits hatte sie nie darüber nachgedacht, Mutter zu sein, aber als sie dann erfahren hatte, dass sie vermutlich niemals eigene Kinder würde haben können, hatte ihr doch auf schmerzhafte Weise etwas gefehlt. Es war, als sei eine Tür zugeschlagen, hinter der etwas Wunderbares lag, das sie nicht erkannt hatte und das sie auch nie würde erfahren können. Und nun war es doch passiert, entgegen jeder Vernunft und jeder medizinischen Logik. Sie war schwanger, und sie konnte es nicht fassen.
Mulder wartete auf eine Antwort. Er berührte leicht ihren Arm, wie um sie aus einer weit entfernten Welt zurück in die Realität zu holen.
”Was ist los mit dir? Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen gemacht, und jetzt kommst du hier rein und sagst mir, es sei alles in Ordnung, aber gleichzeitig siehst du aus wie einer der Leute, die du immer im Keller auf dem Tisch liegen hast. Erwartest du im Ernst, dass ich dir das abnehme?”
”Es ist wirklich alles okay.”
Ihre Stimme war so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
”Es ist nur...Ich bin schwanger.”
Das konnte doch nicht wahr sein. Die ganze Zeit hatte sie überlegt, wie sie es ihm möglichst schonend oder wenigstens vorsichtig beibringen konnte, und nun platzte sie damit heraus wie ein Mädchen in einer schlechten Teenagerkomödie.
Einen Moment lang herrschte Stille. Es schien, als sei das Büro eingefroren, als gebe es keine Bewegungen mehr; sogar die Uhr schien mit dem Ticken aufgehört zu haben. Scully kam der groteske Gedanke, dass dies gar nicht wirklich passierte. Vielleicht wurden wir gerade von Außerirdischen entführt und haben neun Minuten verloren, schoss es ihr durch den Sinn, und sie fragte sich, was Mulder von dieser Theorie halten würde, als er die Reglosigkeit mit einer schnellen Bewegung durchbrach. Seine Hand lag noch immer auf ihrem Arm, und Scully konnte spüren, wie er sie zurückzog, so schnell, als habe er sich verbrannt. Es dauerte einen weiteren Augenblick, bis er sprechen konnte. Dann brachte er hervor: ”Ich dachte, das...”
”Das sei unmöglich, ich weiß. Ich habe das auch gedacht, aber der Arzt hat es mir bestätigt. Es ist wahr, auch wenn ich nicht sagen kann, wie.”
”Das ist doch gar nicht wichtig. Was zählt ist, dass es wahr ist. Und wenn es das ist...Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mir wünsche, dass es wahr ist.”
Damit zog er sie vom Stuhl hoch und in seine Arme, hielt sie für einen Moment fest an sich gedrückt und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.
”Ich hatte gar nicht an so etwas gedacht, aber jetzt kommt es mir vor, als sei das ein wunderbares Geschenk.”
”Dann brauche ich mir ja für deinen nächsten Geburtstag nichts mehr zu überlegen.”
Scully hatte gar nicht darüber nachgedacht; die Antwort war ihr einfach so herausgerutscht, so erleichtert war sie, dass die Nachricht ihn genauso glücklich machte wie sie. Sie hatte sich das gewünscht, es aber gleichzeitig kaum zu hoffen gewagt, und nun konnte sie sich ihre eigene Freude eingestehen.
Mulder lachte leise.
”Offensichtlich habe ich einen guten Einfluß auf dich. Du fängst allmählich an, meine Witze zu übernehmen.”
Ihr wurde bewusst, dass er recht hatte. Das eben war eine typische Mulder-Bemerkung gewesen, und es überraschte sie, wie stolz sie darauf war. Sie musste nun auch lachen, und so wich der vorherige Ernst schnell einer fröhlich-ausgelassenen Atmosphäre.
”Was hältst du davon, wenn wir heute früher Schluss machen? Ich dachte an jetzt sofort. Schließlich haben wir abgemacht, uns niemals im Büro zu küssen, und ich muss gestehen, dass es mir gerade im Moment ziemlich schwer fällt, diese Abmachung einzuhalten.”
Scully mußte grinsen. Das war etwas, das zu Mulder gehörte wie sein Muttermal und sein Hang zu zerknitterten Anzügen und zerzaustem Haar: Er konnte nie einfach etwas sagen; immer mußte er irgendwelchen Unsinn reden.
”Wir könnten ja eine Ausnahme machen.” erwiderte sie mit einem Lächeln. ”Aber ich glaube, die andere Variante gefällt mir besser. Ich glaube kaum, dass ich mich heute noch auf irgendwelche Fälle konzentrieren kann.”
”Oder irgendwelche Leichen aufschneiden...” zog er sie auf.
”Hör auf! Es reicht schon, wenn mir am Morgen schlecht ist.”
”Jetzt weißt du endlich, wie ich mich fühle, wenn ich dir bei den Autopsien zusehen muss.”
”Wenn du dich bis jetzt noch nicht daran gewöhnt hast, kann ich dir auch nicht helfen. In Zukunft wirst du auf mich verzichten müssen, was so etwas angeht. Zumindest, bis das mit der Übelkeit vorbei ist.”
”Na und? Es ist auch besser, wenn du sowas nicht mehr machst. Schließlich wollen wir nicht, dass unser Kind Alpträume bekommt...”
”Quatschkopf.” entgegnete sie lachend und griff nach ihrem Mantel.
”Also was ist? Machen wir blau oder was?”
”Dann aber schnell, bevor unser Oberaufseher seine tägliche Runde macht...”
Lachend verließen die beiden Agenten das Büro, um einen Augenblick später an Director Skinner vorbei zu laufen, der gerade zu ihnen wollte. Als er sie rief, schienen sie ihn nicht zu hören, und so blieb ihm nichts anderes übrig als ihnen kopfschüttelnd hinterherzusehen und sich zu fragen, ob seine beiden Untergebenen nun endgültig verrückt geworden waren.


***


"So geht es nicht weiter!" Scully stützte sich mit beiden Händen auf Mulders Schreibtisch ab und beugte sich vor, um ihn zu zwingen, ihr in die Augen zu sehen. Mulder wich jedoch ihrem Blick geschickt aus und tat so, als lese er angestrengt in der Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag.
Scully seufzte frustriert. Hätte sie gewusst, was es für eine Tortur war, schwanger zu sein, sie hätte sich nicht so sehr gefreut. Nachdem sie gesehen hatte, dass Mulder sich wirklich auf das gemeinsame Kind freute, hatten sich ihre Befürchtungen in Luft aufgelöst, und sie hatte begonnen, sich ebenso bedingungslos zu freuen. Jetzt allerdings sah sie das allmählich anders. Dabei lag das Problem nicht in der Tatsache, dass sie ein Kind erwartete; sie hatte auch keine besonderen Beschwerden oder Zweifel, dass sie womöglich die falsche Entscheidung getroffen hatte. Das Problem war einzig und allein der Vater des Kindes, oder genauer, seine übergroße Besorgnis um sie.
Sie waren übereingekommen, dass sie noch einen etwas langwierigen Fall zu Ende bringen wollten, bevor sie sich endgültig über ihre Zukunft festlegten. Der Fall versprach Hinweise auf den Verbleib von Samantha, und es war Scully von Anfang an klar gewesen, dass sie Mulder auf keinen Fall damit allein lassen würde. Sie hatten sich geeinigt, dem Fall oberste Priorität einzuräumen, was zu ihrem Erstaunen sogar Skinner ausnahmsweise zuließ, und eigentlich sollte es keine Schwierigkeiten geben. Eigentlich...Wenn man nicht gerade mit Mulder zusammen war. Er freute sich nicht nur sehr auf das Kind; für ihn stand auch außer Frage, dass er und Dana die X-Akten gemeinsam aufgeben und das FBI verlassen würden, sobald dieser Fall abgeschlossen war. Er hatte keinen Moment lang mit dem Gedanken gespielt, das von ihr zu verlangen und allein weiterzumachen, und das hatte sie sehr beeindruckt. Es machte sie glücklich, dass er nicht einfach alles auf sie schob, sondern sich ein Leben mit ihr wünschte, und das mit allen Konsequenzen. Das Problem war nur, daß er sich in den letzten Tagen zunehmend in eine Glucke zu verwandeln schien. Sie konnte keinen Schritt tun, ohne dass er sie ermahnte, vorsichtig zu sein, und wenn sie sich nur einmal räuspern musste, wollte er sie am liebsten sofort ins Bett stecken. Sie hatte versucht ihm zu erklären, dass sie sich nicht von einem Tag auf den anderen in ein rohes Ei verwandelt hatte, aber es schien zwecklos. Immer wieder ertappte sie ihn dabei, wie er sie forschend ansah. Gestern abend hatte sie deswegen einen Streit mit ihm angefangen, weil sie die Sache endgültig hatte klären wollen, aber er hatte sich nicht darauf eingelassen sondern nur genickt und ihr in allen Punkten recht gegeben.
Das hatte sie nur noch mehr auf die Palme gebracht, denn sie hatte wieder einmal das Gefühl gehabt, dass er sie in Watte packte und sich deshalb nicht mit ihr stritt. Sie hatte es einfach satt, und auch wenn sie es nicht zugeben wollte, sie vermisste die Zeiten, in denen er sich noch mit ihr gestritten hatte, manchmal über grundlegende Dinge, manchmal über Kleinigkeiten. Es gehörte einfach dazu, sich mit ihm zu streiten, und sie wollte eine Beziehung, die alle Aspekte ihrer früheren Beziehung beinhaltete, auch den Streit.
Hinzu kam, dass sie wirklich genervt war, weil er sie nichts mehr tun lassen wollte.
"Hey, hörst du mir überhaupt zu?" erkundigte sie sich jetzt gereizt.
Mulder sah auf, als habe er gerade erst bemerkt, dass sie mit ihm sprach. Scully wusste genau, dass das nicht stimmte, denn sie kannte ihn und wusste, wie gut er sich auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren konnte.
"Tu nicht so, als hättest du mich nicht gehört. Ich habe gerade gesagt, dass es so nicht weitergehen kann. Du behandelst mich, als sei ich aus Zucker, und du weißt, dass ich das nicht ausstehen kann.”
"Ich möchte doch nur, dass du vorsichtig bist."
"Es gibt einen Unterschied zwischen vorsichtig sein und übertriebenem Bemuttern. Du bist allmählich schlimmer als Mom, und das will was heißen. Es geht mir auf die Nerven, dass ich keinen Schritt mehr tun kann, ohne dass du hinter mir stehst um mich aufzufangen, falls ich eventuell hinfallen sollte. Und was du heute getan hast, fand ich wirklich..."
Ihr fehlten die Worte, und Mulder hütete sich auszuhelfen, wie er es sonst wahrscheinlich getan hätte. Ihm war selber bewusst, dass sie allen Grund hatte, wütend zu sein, denn er hatte über ihren Kopf hinweg zu Skinner gesagt, dass er eine bevorstehende Observation lieber mit einem anderen Agenten machen würde. Ihm war klar, dass das Scully gegenüber alles andere als fair war, aber er wollte einfach nicht, dass sie stundenlang in einem Wagen saß und mit ihm ein Haus beobachtete; außerdem war die ganze Sache nicht ungefährlich, es konnte durchaus zu einer Konfrontation kommen, und dabei war es ihm lieber, sie in Sicherheit zu wissen. Natürlich hatte sie Anspruch darauf, dass er mit ihr über seine Bedenken sprach, aber ihm war klar gewesen, dass sie sich in diesem Fall auf keine Diskussion eingelassen hätte. Sie hätte einfach darauf bestanden mitzukommen, wie sie es immer tat, und damit wäre die Sache für sie erledigt gewesen. Das hatte er verhindern wollen, und nun hatte er sie damit verletzt.
Mulder stand von seinem Stuhl auf und sah sie ruhig an. Scully starrte zurück, mit einer Mischung aus Ärger und Neugier, was ihn dazu bewegt haben mochte, ihre gleichberechtigte Beziehung so sehr zu ignorieren. So wütend sie auch auf ihn war, ihr war doch bewusst, daß er schwerwiegende Gründe für sein Handeln haben musste. Die wollte sie erfahren, bevor sie ihm gründlich ihre Meinung sagte, und ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, dass sie das tun würde.


***


Es war dunkel im Wagen, und sie saßen schon seit Stunden in derselben Position da, immer bemüht, unauffällig zu sein und den Blick keinen Moment von dem Gebäude vor ihnen zu lassen. Mulder verlor langsam die Geduld, was weniger mit der Observation zu tun hatte, die sie gerade durchführten - schließlich hatte er schon hunderte solcher Nächte erlebt - als viel mehr mit seiner Begleitung. Agent Shana Weaver mochte eine fähige Agentin sein, aber sie konnte keinen Sekunde still sitzen. Ständig zappelte sie mit den Füßen oder zupfte an einer ihrer blonden Haarsträhnen, oder sie griff nach dem Becher mit inzwischen kaltem Tee, der auf dem Armaturenbrett stand, nur um ihn nach einem Schluck angewidert wieder zur Seite zu stellen. Sie sprach nicht, und sie verhielt sich auch in keiner Weise auffällig, aber sie hätte ein Schaukelpferd verrückt machen können.
Mulder, der wegen der Auseinandersetzung mit Scully noch immer ziemlich aufgewühlt war und der bei jeder Observation an Scullys absolute Ruhe gewöhnt war, hatte alle Mühe, sie nicht anzufahren. Sie regte ihn einfach auf, und ihre Zappelei war mehr, als er im Augenblick ertragen konnte.
Es gelang ihm, noch ein paar Minuten ruhig zu bleiben, dann riss seine Geduld.
"Sitzen Sie um Himmels Willen endlich still!" fauchte er, und einen Augenblick lang saß Shana Weaver wie erstarrt, als habe Mulder sie mit seinem Ausbruch in eine Salzsäule verwandelt. Dann drehte sie den Kopf und sah ihn an.
"Wenn Sie Stress mit Ihrer Freundin haben, müssen Sie das noch lange nicht an mir auslassen." knurrte sie, und Mulder fragte sich, ob sie etwas wusste. Waren etwa doch Gerüchte über ihn und Scully in Umlauf gekommen, ohne dass sie es bemerkt hatten? Shana bemerkte seinen fragenden Gesichtsausdruck und fügte erklärend hinzu: "Na, auf Ihre Periode kann ich es ja schlecht schieben, und was anderes fiel mir gerade nicht ein."
Mulder lächelte.
"Tut mir leid. Ich hätte Sie nicht anschreien sollen. Aber sonst mache ich solche Einsätze immer mit meiner Partnerin, und deshalb bin ich nur sie gewöhnt. Schätze, ich sollte mal ein wenig flexibler werden."
Seine Ehrlichkeit entwaffnete Shana.
"Könnte sein. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich aufgeregt bin. Das hier ist mein erster Einsatz in der Richtung, und ich will auf keinen Fall einen Fehler machen."
"Das werden Sie nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass das hier etwas bringt, liegt so ziemlich bei null. Vermutlich werden wir die bösen Buben gar nicht zu Gesicht bekommen und schlagen uns ganz umsonst die Nacht um die Ohren. Glauben Sie mir, wenn Sie das ein Paarmal durchgemacht haben sind Sie froh um jede Observierung, die Sie nicht machen müssen."
"Warten wir's ab. Ich bin optimistisch, dass heute noch etwas passiert."
Shana ahnte nicht, wie recht sie haben sollte...


Scully war noch immer ein wenig sauer auf Mulder, auch wenn sie inzwischen seinen Standpunkt verstand. Er war besorgt gewesen, und das rechnete sie ihm hoch an, auch wenn es ihr immer mehr auf die Nerven ging. Sie hatten sich ziemlich heftig gestritten, und insgeheim hatte sie den Streit genossen. Mulder hatte ihr zum ersten Mal, seit sie schwanger war, widersprochen, und sie hatte dankbar die Gelegenheit ergriffen, ihm ihre Meinung zu sagen. Er hatte sie nicht ausreden lassen, und auch sie war ihm immer wieder ins Wort gefallen, aber jetzt war wenigstens die Situation geklärt: Mulder hatte deutlich gemacht, dass er es nicht zulassen würde, dass sie sich und das Kind in Gefahr brachte, und sie hatte erklärt, dass sie das nicht vorhabe, dass sie sich aber genauso wenig von ihm in Watte würde packen lassen. Also waren sie übereingekommen, dass sie beide sich in gewisser Hinsicht zurückhalten würden: Mulder würde sie nicht mehr bemuttern, und sie würde versuchen, ihn nicht dazu zu provozieren.
Was Scully dennoch ärgerte war, dass Mulder heute nacht seinen Willen bekommen hatte. Sie konnte schlecht zu Skinner gehen und ihn bitten, die Einteilung für die Observation noch einmal umzuwerfen. Schließlich sollte der AD nicht glauben, dass sie und Mulder aufgrund ihrer Beziehung nicht in der Lage waren, sich zu einigen. Also war ihr nichts anderes übrig geblieben als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und Mulder mit Agent Weaver ziehen zu lassen. Sie würde unterdessen im Büro bleiben und versuchen, von dort aus zu recherchieren, auch wenn es ihr schwer fiel.
Scully hatte sich gerade eine frische Tasse Kaffee gemacht und begonnen, die Fallakte noch einmal von vorne zu lesen, als es an der Tür klopfte. Sie sah auf und blickte in das Gesicht eines ihr bekannten Informanten aus dem Viertel, in dem heute der Einsatz von Mulder und Weaver stattfand. Es erstaunte sie, dass der Mann sich hierher wagte, denn gewöhnlich ließ sich keiner der zahlreichen Informanten des FBI im HQ blicken; zu groß war ihre Angst, wegen lange vergessen geglaubter Delikte festgenommen oder von ihresgleichen beim Betreten des Hoverbuildings gesehen zu werden.
Umso merkwürdiger war es, dass dieser Mann dem Weg zu Scully gefunden hatte. Sie stand auf und bot ihm einen Stuhl an, denn auch wenn sie nicht besonders gut gelaunt war, mit einem Informanten durfte man nicht zu grob umgehen, wenn man ihn noch einmal brauchen konnte.
"Bitte, Jake, setzen Sie sich doch."
Scully kannte den Mann nur unter seinem (wahrscheinlich falschen) Vornamen, da er wie die meisten seiner Zunft nicht seine Identität den Cops preisgeben wollte.
Er schüttelte den Kopf.
"Ich will mit Agent Mulder sprechen." sagte er kurz.
"Tut mir leid, aber er ist nicht da. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen." versuchte Scully, den Mann zu ermuntern.
"Das glaube ich zwar nicht, aber bitte, wenn Sie meinen... Mulder vertraut Ihnen, und ich kann nur hoffen, dass er recht hat."
"Was ist denn so wichtig, dass es Mulder unbedingt sofort erfahren muss?"
Jake kannte Mulder, und er hatte auch von Scully gehört, war ihr aber noch nie persönlich begegnet, ohne dass Mulder dabei gewesen war. Er hatte noch nie ein Wort mit ihr gewechselt, und es überraschte ihn, dass sie sich an seinen Namen erinnerte. Unter normalen Umständen hätte er mit niemandem außer Mulder gesprochen, aber diese Sache erforderte sofortiges Handeln, und Jake musste sich wohl oder übel der Frau anvertrauen, die ihn jetzt fragend ansah.
"Das FBI beschattet einen von Mick's Männern, der heute eine große Sache zu erledigen hat, natürlich für Mick. Der hat es schon eine Weile satt, daß ihr ihm ständig das Wasser abgrabt, und er steht unter Druck. Wenn das heute schief geht, steht seine Stellung auf dem Spiel. Und deswegen will er ein Exempel statuieren. Nicht der Mann, den sie beschatten, wird die Sache durchziehen, sondern ein anderer. Und während das FBI seelenruhig nach vorn schaut und versucht, dem Kerl eins auszuwischen, kommt Mick von hinten mit seinen Leuten und macht sie alle." Jake unterstrich seine Worte mit einer eindeutigen Geste seiner rechten Hand, die er einmal rasch über seine Kehle zog.
"Ich dachte nur, das würde Mulder vielleicht interessieren."
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Büro genauso schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb Scully, die das eben Gehörte gar nicht glauben konnte. Wenn Michael Stalten, der sogenannte Pate von Washington, von der heutigen Observierung wusste, hatte er die FBI-Agenten in eine Falle gelockt. Er würde nicht nur seine Sache wie geplant durchziehen, außerdem wollte er die observierenden Agenten beseitigen. Und einer dieser Agenten war...
Scully wagte nicht, weiterzudenken. Sie griff zum Telefon und wählte Mulders Nummer. Sie fluchte innerlich, als sie keine Verbindung bekam. Natürlich hatte Mulder sein Handy abgeschaltet, weil das Klingeln ihn bei der Observierung verraten könnte. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte unmöglich aufgrund der Aussage eines kriminellen Informanten ein Team mobilisieren und womöglich den ganzen Einsatz gefährden, der nur durch wochenlange Arbeit überhaupt möglich geworden war. Trotzdem drängte etwas in ihr, Mulder sofort aus der Gefahrenzone zu holen, und es war ihr egal, wie sie das anstellte. Also warf sie den Hörer auf die Gabel und hob ihn wieder ab, um Skinner anzurufen. Sie würde ihm die Sachlage schildern und ihn bitten, ein Team zu schicken, um die Observierungscrew zu warnen.
Erst als sie Skinners verschlafene Stimme hörte, wurde Scully bewusst, wie spät es war. Bevor ihr Boss sich über die Störung beschweren konnte, klärte sie ihn über das auf, was sie soeben gehört hatte, und Skinner hörte schweigend zu.
Als sie geendet hatte, schwieg der AD einen Moment lang und sagte dann zögernd: "Ich fürchte, wir können niemanden hinschicken. Diese Aktion war schon lange geplant, und wir können nicht riskieren, dass sie aufgrund einer nicht bewiesenen Aussage platzt. Wenn Mulder und Weaver aber tatsächlich in Gefahr sind, müssen wir sie warnen. Ich schlage vor, Sie übernehmen das. Gehen Sie zu den beiden und versuchen Sie, sie unauffällig zu informieren. Wenn sich etwas ergeben sollte, das Ihren Verdacht bestätigt, haben Sie die Befugnis, die Aktion abzubrechen. Ich werde so schnell wir möglich ins Büro kommen."
"Danke, Sir." Scully legte auf, bevor Skinner noch etwas sagen konnte, und stürzte aus dem Büro, wobei sie schon im Laufen nach ihrem Mantel griff.


Mulder und Weaver hatten seit einer halben Stunde nicht mehr gesprochen, und auch Weaver hatte sich nicht mehr gerührt. Offensichtlich hatte das Gespräch mit Mulder ihr geholfen, sich zu beruhigen. Stumm beobachteten sie das Gebäude, und allmählich war Shana geneigt, ihrem Kollegen recht zu geben: Vermutlich würde nichts mehr passieren. Sie fragte sich gerade, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie stieß Mulder an, um ihn darauf hinzuweisen, und er nickte kaum merklich. Er hatte es auch gesehen, eine kaum wahrnehmbare Bewegung in den Schatten vor dem Eingang des Hauses. Eben noch müde, beinahe schläfrig, war er nun hellwach und starrte angespannt in den Schatten in der Hoffnung, noch einmal etwas wahrzunehmen. Er bereute es jetzt, nicht Scully mitgenommen zu haben, denn er kannte ihre Reaktionen genauso gut wie seine eigenen, und mit ihr wäre er vor Überraschungen sicher. Aber er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass sie nicht bei ihm war, und im Notfall würde er auch mit Shana Weaver zurechtkommen. Er riskierte einen Seitenblick und erkannte, dass sie angespannter war als es die Situation erforderte. Womöglich klappte sie zusammen oder reagierte sonst irgendwie seltsam, wenn es drauf ankam. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich darauf zu verlassen, dass sie sich auf ihre Ausbildung besinnen würde.
"Ich wette, da ist jemand reingegangen." wisperte Shana Mulder zu, und dieser nickte.
"Vermutlich. Er wird über den Hof gekommen sein, damit ihn niemand sieht, und beinahe wäre seine Rechnung auch aufgegangen."
"Was tun wir jetzt?"
"Wir warten noch ein paar Minuten, und wenn sich dann nichts gerührt hat, gehen wir rein."
"Okay. Wer nimmt welchen Eingang?"
Mulder seufzte. Er selbst hielt sich selten an die Vorschriften, aber in diesem Fall würde er es tun, und es erstaunte ihn, dass Shana nicht mit der gängigen Prozedur vertraut war.
"Wir werden uns nicht trennen. Selbst wenn uns die Leute dadurch durch die Lappen gehen sollten, ist es besser so. Es wäre einfach zu gefährlich. Außerdem wissen wir nicht einmal, ob das Haus einen zweiten Eingang hat. Vielleicht nicht; warum sollte der Kerl sonst vorn reingehen, wenn er sich schon die Mühe macht, über die Hinterhöfe zu schleichen? Nein, wir werden schön brav vorne reingehen und versuchen, sie zu finden, bevor sie uns finden."
Einen Moment herrschte Schweigen, und sie beobachteten stumm; dann nickte Mulder: "Los jetzt."
Er und Shana verließen den Wagen und rannten geduckt auf die Tür zu, die, wie Mulder erstaunt bemerkte, unverschlossen war. Er bedeutete Shana, ihm Deckung zu geben, und wollte gerade hineingehen, als ihn ein unterdrückter Schrei seiner Kollegin zusammenfahren ließ. Er starrte in die Richtung, in die sie zeigte, und bemerkte eine Gestalt, die auf ihren Wagen zu lief.
Mulder brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um Scully zu erkennen, und einen weiteren, um zu sehen, dass hinter ihr jemand stand. Jemand mit einer Waffe. Es stand außer Zweifel, was in den nächsten Augenblicken geschehen würde, wenn er nicht sofort handelte.
"Bleiben Sie hier, und geben Sie mir Deckung." zischte er Shana zu und wartete nicht einmal, bis sie ihm bestätigte, dass sie verstanden hatte.
Mulder stürzte aus dem Schatten der Tür. Sein plötzliches Auftauchen ließ Scully zusammenfahren, und sie griff nach ihrer Waffe.
"Scully, hinter Ihnen!" rief Mulder, unbewußt wieder in die alte Anredeform zurückfallend. Sie drehte sich um und sah den Mann, der mit der Waffe auf sie zielte. Dieser erkannte, dass sein Plan fehlgeschlagen war und dass auf einmal zwei Agenten gegen ihn standen, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie der Mann, den er im Wagen geglaubt hatte, plötzlich an die Tür gekommen war. Er rief seinen Kumpanen eine Warnung zu, und im nächsten Moment stürzten sich zwei Männer auf Mulder, der Scully schon fast erreicht hatte. Sie brachte den ersten Mann dazu, seine Pistole fallen zu lassen, und legte ihm Handschellen an. Dann kam sie Mulder zu Hilfe, der inzwischen in ein Handgemenge mit den beiden anderen Angreifern verwickelt war. Keiner von den dreien konnte es riskieren, Gebrauch von der Waffe zu machen, da im Eifer des Gefechts die Gefahr bestanden hätte, den Falschen zu treffen. Mulder schien sich ganz gut zu schlagen, bis plötzlich einer der Männer ein Messer zog und es dem Agenten in den Oberarm rammte. Der andere sah seine Chance und richtete die Pistole auf Mulder, der zurückgewichen war. Er zielte...
"Mulder! " Scullys Schrei kam zu spät, und sie wusste es. Im selben Moment, in dem sie schrie, sprang sie auf den bewaffneten Mann zu und stürzte sich auf ihn. Von ihrem überraschenden Angriff überrumpelt, verfehlte der Mann Mulder, und die Kugel verschwand irgendwo in der Nacht. Jetzt mischte sich auch Shana ein, die die ganze Zeit über Mulders Befehl befolgt hatte, im Hintergrund zu bleiben. Sie griff den dritten Mann an und überwältigte ihn mit Mulders Hilfe, während Scully noch immer mit dem zweiten Attentäter kämpfte. Sobald er seinen Gefangenen Shana überlassen konnte, kam Mulder seiner Partnerin zu Hilfe; er drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um den Mann in der Dunkelheit verschwinden zu sehen. Instinktiv rannte er hinterher, auch wenn er nicht viel Hoffnung hatte, ihn einzuholen.
Er hatte recht. Nach einigen hundert Metern gab Mulder auf und kehrte an den Ort des Geschehens zurück, um eine Fahndung herauszugeben. Es war ihm noch nicht klar, was eigentlich passiert war, warum Scully plötzlich aufgetaucht war und wie die Männer hinter sie gelange waren. All diese Fragen verloren an Bedeutung, als er Shana am Boden knien sah. Vor ihr lag Scully, seltsam zusammengekauert, und sie schien Schmerzen zu haben.
"Was ist mit ihr?" fuhr Mulder Shana an, und diese zuckte mit den Achseln.
"Ich weiß es nicht; anscheinend hat der Kerl sie mit dem Messer erwischt. Ich habe einen Krankenwagen gerufen, und Verstärkung müsste auch gleich da sein. Sie sehen so aus, als ob Sie auch einen Arzt gebrauchen könnten." Sie deutete auf Mulders blutende Wunde. Er schüttelte den Kopf und kniete sich neben Scully hin. Sanft strich er über ihre Wange, versuchte, sie zu erreichen, auch wenn sie ihm weit weg zu sein schien.
"Hey, Dana..." flüsterte er, und es war ihm vollkommen egal, ob Shana ihn hörte und seinen Vorgesetzten meldete, dass er und Scully...
"Dana, ist alles okay?" Sie nickte schwach.
"Ich bin in Ordnung. Aber was ist mit deinem Arm?"
"Ach, nur ein Kratzer. Das geht schon. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist." Als er das sagte, versuchte sich Scully aufzusetzen. Sie schüttelte seine Hand ab, die sie daran hindern wollte, und richtete sich auf. Fast hatte sie es geschafft, als der Schmerz sie überwältigte und sie wieder aufs Pflaster zurückfiel. Erschrocken versuchte Mulder, sie aufzufangen, und als er sie im Arm hielt, fühlte er förmlich, wie sie das Bewusstsein verlor. Aus einer Wunde irgendwo an ihrem Körper sickerte Blut auf seinen Mantel und mischte sich mit seinem eigenen.
Mulder hielt seine Partnerin in den Armen und wartete.
Er war zu erschöpft um Erleichterung zu verspüren, als endlich in der Ferne die Sirenen des Krankenwagens ertönten.


***

Als er das Zimmer betrat, konnte Mulder zuerst nichts sehen, denn die Vorhänge waren zugezogen, und nur ein schwaches Nachtlicht erhellte den Raum, in den sie Scully gebracht hatten. Nachdem der Krankenwagen da gewesen war, hatte man sie schleunigst weggebracht, und sobald Shana Mulder auch in der Klinik abgeliefert hatte, war seine Stichwunde versorgt worden. Dann hatte man ihn ewig - wie es ihm vorkam - im Warteraum sitzen lassen, wo er jeden Vorbeikommenden, der auch nur annähernd wie ein Arzt oder eine Schwester aussah, mit Fragen nach Scully bombardiert hatte. Bis endlich der behandelnde Arzt kam, hatte Mulder sowohl sich selbst als auch das gesamte Personal verrückt gemacht. Der Arzt war sehr verständnisvoll gewesen und hatte ihm erklärt, dass für Scully keine Gefahr mehr bestand.
"Sie hat eine Stichverletzung an der rechten Schulter; die Wunde ist aber glücklicherweise nicht tief. Wir haben sie verbunden, und es wird nicht einmal eine Narbe zurückbleiben. Eine schlechte Nachricht habe ich allerdings..."
"Was?" Mulder schrie fast. Der Arzt schwieg einen Moment lang, als wüsste er nicht, ob er befugt war, Mulder die Wahrheit zu sagen.
"Was ist mit ihr?"
"Ich...Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen darf. Sie sind ihr...Freund?"
"Ja, das bin ich, und ich mache mir Sorgen. Würden Sie mir also bitte sagen, was los ist?"
"Es geht um das Kind...Sie wissen, dass Ihre Freundin schwanger war?"
"Natürlich weiß ich das. Aber was soll das heißen, dass sie schwanger war?"
"Mr. Mulder, sie hat das Kind verloren. Es muss bei dem Sturz passiert sein; aber genau wissen wir das nicht. Es ist möglich, dass sie es sowieso verloren hätte und der Sturz nur der Auslöser war, aber wie gesagt, das können wir nur vermuten."
Mulder war wie betäubt. Es schien ihm, als spräche der Arzt durch dicke Watte, als gingen ihn seine Worte nichts an. Aber dem war nicht so. Der Mann im weißen Kittel, den Mulder inzwischen nur noch durch einen Schleier wahrnahm, hatte soeben gesagt, dass Dana ihr Kind verloren hatte. Sein Kind. Ihrer beider Kind. Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn, als habe er selbst das Kind in sich getragen und man hätte es ihm mit einem Messer herausgeschnitten. Der Schmerz begann, eine Leere in ihn hinein zu fressen, eine Höhle, in der seine Liebe zu dem ungeborenen Kind gewesen war. Erst Minuten später wurde ihm klar, dass der Arzt ihn noch immer ansah. Es gelang ihm, sich soweit zu fassen, dass er sprechen konnte.
"Weiß sie es schon?" brachte er hervor, und der Arzt schüttelte den Kopf.
"Wir wollten abwarten, bis sie sich stabilisiert hat. Das ist jetzt der Fall; Sie können also zu ihr, wenn Sie möchten. Allerdings schläft sie im Augenblick."
Mulder drehte sich wortlos um und ging zu der Tür, hinter der Scully lag, als der Arzt ihn noch einmal zurückrief: "Mr. Mulder? Es tut mir leid."
Mit einem knappen Nicken nahm Mulder die Worte zur Kenntnis; dann öffnete er die Tür und betrat Scullys Zimmer.
Er blinzelte in die Dunkelheit, konnte aber erst Einzelheiten erkennen, nachdem sich seine Augen einen Moment später an das schwache Licht gewöhnt hatten.
Scully lag regungslos im Bett unter einer weißen Decke; neben dem Bett standen verschiedene Überwachungsgeräte, deren Zweck Mulder fremd war. Sie waren nicht angeschlossen, aber ihm wurde durch ihre Anwesenheit klar, wie zerbrechlich Danas Gesundheit für eine Weile gewesen sein musste.
Sie schlief. Mulder holte sich einen Stuhl und setzte sich neben ihr Bett, nahm ihre Hand in seine. Er konnte die kühlen Finger fühlen, und ihren Ring. Der Ring... Mulder erinnerte sich genau an den Tag, an dem er ihn ihr geschenkt hatte, so, als sei es gestern gewesen. Sie hatten im Büro pünktlich Schluss gemacht und waren zu ihr nach Hause gefahren, wo sie einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher bei einem alten Gruselfilm verbringen wollten. Jedenfalls hatte Dana das gedacht...

Scully schloss die Wohnungstür auf und traute ihrem Augen nicht: Durch die geöffnete Wohnzimmertür sah sie einen riesigen Blumenstrauß auf dem Tisch stehen. Sie drehte sich um und sah Mulder an.
"Was...?"
Er unterbrach sie, bevor sie ihre Frage stellen konnte, und nahm ihr den Mantel weg.
"Eigentlich wollte ich dich ja überraschen, aber da du die Blumen jetzt sowieso schon gesehen hast..." Mulder schob sie ins Wohnzimmer und drückte sie mit sanfter Gewalt auf die Couch.
"Weißt du, ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll, ohne total albern zu klingen, aber..." Er stockte, um nach einer kleinen Pause fortzufahren: "Also gut, dann eben wie in einem schlechten Film: Möchtest du mich heiraten?"
Scully blieb einen Moment die Luft weg. Das konnte nicht wirklich passiert sein; sie musste träumen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder einigermaßen zu fassen, bevor sie sich erkundigte: "Warum willst du das? Weil ich schwanger bin?"
Melders Blick war vollkommen ernst, als er erwiderte: "Nein, nicht deswegen, sondern, weil ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen möchte. Ganz einfach deshalb."
Noch immer einigermaßen sprachlos, starrte sie ihn an. Erst als sie seinen unbehaglichen Gesichtsausdruck bemerkte wurde ihr klar, dass sie nicht geantwortet hatte. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und sagte mit beinahe fester Stimme: "Ja, ich denke, ich möchte dich heiraten. Aber ich glaube auch, dass das noch Zeit hat; wir haben unser ganzes Leben lang Zeit zu heiraten, warum sollten wir uns also beeilen?"
Nun war es an Mulder, Scully verblüfft anzustarren. Erst, als er das Funkeln in ihren Augen sah, erkannte er, dass sie ihn aufzog. Lachend nahm er sie in die Arme und dachte bei sich, dass sie wirklich eine Menge von seinem Humor übernommen hatte. Er war sich nur nicht mehr ganz sicher, ob er das nun gut finden sollte...

Sie hatten sich den Film an diesem Abend nicht mehr angesehen; statt dessen hatten sie einfach auf der Couch gesessen und sich geküsst, und irgendwann hatte Mulder ihr den Ring gegeben. Nach diesem Abend hatten sie das Thema nie wieder erwähnt, aber ihnen beiden war klar gewesen, dass sie irgendwann einmal heiraten würden, und dass sie auch schon jetzt für immer zusammengehörten.
Die Erinnerung an diesen Abend tat ein wenig weh, auch wenn Mulder nicht genau sagen konnte, warum das so war. Vielleicht, weil er an diesem Abend gefühlt hatte, dass alles richtig war. Und jetzt war nicht mehr alles richtig. Dana lag hier, sie war verletzt, und sie hatten ihr Kind verloren. Mulder betrachtete das nicht als Danas alleinigen Verlust; es war für ihn genauso schmerzhaft, wie es für sie sein würde, wenn sie es erfuhr. Einen Moment lang hoffte Mulder beinahe, dass sie noch eine Weile schlafen würde, damit er es ihr nicht sagen musste, damit sie noch ein wenig ohne den Schmerz leben konnte, den er ihr bereiten musste, ohne es zu wollen. Wenn sie aufwachte, würde er ihr weh tun müssen.
Es schien fast, als hätte sie seinen Wunsch gehört, denn sie öffnete nicht die Augen. So blieb Mulder einfach neben ihrem Bett sitzen, hielt ihre Hand fest in seiner und versuchte, nicht daran zu denken, was passiert war. Bald würde Skinner hier auftauchen, und er würde einen Bericht haben wollen. Mulder hatte keine Vorstellung von dem, was eigentlich passiert war, und das, was er wusste, konnte er seinem Vorgesetzten nicht erzählen. Skinner hatte keine Ahnung, dass Dana schwanger gewesen war, und wenn er es erfuhr, würde das eine Menge Ärger bedeuten. Sie hatten es nicht umsonst vor ihm verheimlicht; er wäre niemals einverstanden gewesen, dass Scully weiterarbeitete, bis der Fall abgeschlossen war.
Das erübrigt sich ja jetzt auch, dachte Mulder traurig. Es wäre ihm lieber gewesen, den Dienst zu quittieren als in dieser Situation zu sein. Um ehrlich zu sein, hatte er sich sogar schon richtig auf das Kind gefreut, und es hatte ihm Spaß gemacht, mit Dana die Schwangerschaft zu erleben. Seit er von dem Kind wusste, hatte er jeden Morgen mit ihr gelitten, wenn ihr wieder schlecht geworden war, er hatte alles für sie getan, und manchmal hatte sie ihn aufgezogen, dass er scheinbar mehr schwanger war als sie selbst. Mulder hatte gelacht und nichts dazu gesagt. Er hatte spüren können, dass Dana nicht so viel Anteilnahme, Verantwortung und ehrliche Begeisterung von ihm erwartet hatte, und dass sie die positive Enttäuschung genoss. Natürlich war es ihr auf die Nerven gegangen, wenn er sie zu sehr umsorgt hatte, aber das war nur ein kleiner Teil des Ganzen gewesen. Alles in allem war es für sie beide eine wunderbare Zeit gewesen, in der sie oft abends auf der Couch gesessen hatten, Dana in seinem Arm, und einfach nur geredet. Manchmal hatte er nachts die Wange an ihren Bauch gelegt, um ihrem Kind näher sein zu können, und Dana hatte es genossen, auch wenn sie ihn damit aufgezogen hatte. Und nun sollte das alles vorbei sein.
Mulder fragte sich, wie es für das Baby gewesen sein mochte, einfach so von einer Sekunde auf die andere aufzuhören zu existieren, ohne überhaupt richtig gelebt zu haben. Es war einfach nicht fair! Das kleine Wesen war gestorben, ohne geboren worden zu sein. Es würde nie auf einer Schaukel sitzen und in den Himmel schwingen, nie den Geschmack des allerersten Schokoriegels erleben, nie mit seinem Lachen einen anderen Menschen glücklich machen.
Rein biologisch betrachtet war es nichts weiter gewesen als ein Haufen Zellen, der verschwunden war, und doch hatte es ihr Leben verändert. Mulder hatte Scully schon lange vorher geliebt, aber es kam ihm vor, als sei diese Liebe durch das gemeinsame Schicksal, das das Kind verkörperte, noch tiefer und inniger geworden. In nur drei Monaten hatte das kleine Wesen, das noch nie die Welt gesehen hatte, Mulders Welt auf den Kopf gestellt, ihm Seiten gezeigt, die er nicht gekannt hatte, ihm eine Hoffnung auf ein Leben nach den X-Akten geschenkt. Und nun war es nicht mehr da.
Mulder wusste, dass dieses Kind für Dana noch mehr gewesen war als das. Es hatte ihre Möglichkeit symbolisiert, ein normales Leben zu führen, die Folgen der schrecklichen Erlebnisse zu vergessen, die mit ihrer Entführung einhergingen. Sie hatte es ihm nie gesagt, aber er wusste, dass sie sehr darunter gelitten hatte, keine Kinder bekommen zu können.
Als sie schwanger geworden war, war das für sie wie eine zweite Chance gewesen, und sie hatte sie genutzt. Nun war diese Chance zerstört, und Mulder war klar, dass das Dana tief treffen würde. Sie würde ihn brauchen, mehr als jemals zuvor, und er würde für sie da sein. An diesem Punkt seiner Gedanken erlaubte Mulder sich, loszulassen. Tränen liefen über seine Wangen und fielen auf die weiße Decke, unter der Scully lag. Er ließ sie laufen, weinte, trauerte um das Kind und um die vielen glücklichen Momente, die sie nie miteinander erleben würden.


***

Danas erste Empfindung nach der Dunkelheit waren die Schmerzen. Sie schienen überall zugleich zu sein, und sie fragte sich, ob sie jemals wieder in der Lage sein würde, ihren Kopf zu drehen oder auch nur die Augen zu öffnen. Was war geschehen? Und vor allem, wo war sie? Allmählich kam die Erinnerung wieder, und sie spürte, wie ein eisiger Schauer durch ihren Körper lief. Was war mit Fox?
Im nächsten Moment hörte sie seinen ruhigen Atem neben sich und stieß erleichtert die Luft aus. Es war alles nur ein Traum gewesen; sie lag neben Fox im Bett, und er schlief fest. Nichts von all dem, was sie erlebt zu haben glaubte, war wirklich passiert; sie hatte nie die Nachricht erhalten, dass jemand Fox und seine Überwachungspartnerin umbringen wollte, war nie hinter ihm hergefahren und auch nicht in einen Kampf verwickelt worden, bei dem er verletzt worden war. Aber woher kamen dann diese Schmerzen?
Dana wartete noch ein paar Minuten, bevor sie langsam einatmete und die Augen öffnete. Ihr medizinisch geschulter Verstand sagte ihr sofort, wo sie war: Dies hier war eindeutig ein Krankenzimmer, und um sie herum standen Überwachungsgeräte, wie sie nur auf einer Intensivstation benutzt wurden. Also musste sie...
Fox!! Es war also doch passiert, und er war schwer verletzt, sonst läge er nicht hier. Es dauerte eine weitere Minute bis sie erkannte, dass nicht Fox verletzt war. Sie selbst lag in dem weiß bezogenen Bett, und Fox saß auf einem Stuhl neben ihr. Jedenfalls hatte er das irgendwann getan. Jetzt lag sein Kopf neben ihrem rechten Arm auf dem Laken; er hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig und tief. Dana musste Tränen der Erleichterung unterdrücken. Ihm war nichts passiert, und da sie klar denken konnte, war sie wahrscheinlich auch nicht allzu schwer verletzt. Sie musste ein wenig lächeln: Fox sah einfach niedlich aus, wie er neben ihr schlief. Er hatte sie nicht allein lassen wollen, hatte an ihrem Bett gewacht, und war dabei selber eingeschlafen, halb auf dem Stuhl und halb im Bett. Morgen würde er sich nicht bewegen können, soviel stand fest. Aber dann würde sie ihn eben massieren müssen, und nach dieser Nacht hatten sie morgen wahrscheinlich sowieso frei. Dana setzte sich vorsichtig auf, obwohl ihre Schulter dabei wie Feuer brannte. Egal; sie wollte herausfinden, was mit ihr los war, denn es gab für sie als Ärztin nichts Schlimmeres als selbst im Krankenhaus zu liegen und nicht zu wissen, was ihr fehlte. Noch war sie zu benommen, um eine zuverlässige Diagnose stellen zu können, also würde sie eben fragen müssen.
Von ihren Bewegungen wachte Fox auf. Er setzte sich gerade hin und rieb sich die Augen, einen Moment lang unsicher, wo er sich befand. Dann fiel sein Blick auf Dana, die halb aufgerichtet in ihrem Bett saß und ihn erwartungsvoll ansah. Sein erster Impuls war es, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken, und er verzog die Lippen zu einem Lächeln, als ihm mit einem Schlag alles wieder einfiel. Das Lächeln gefror auf seinem Gesicht, und er seufzte tief. Konnte das alles nicht einfach nur ein schlimmer Traum gewesen sein? Schließlich träumte er oft genug die haarsträubendsten Sachen. Aber Fox Mulder war Experte für Alpträume, und dies hier war mit Sicherheit keiner. Es war die bittere Realität, und er würde sie auch Dana sagen müssen.
"Geht es dir gut?" hörte er ihre Stimme, besorgt und unsicher nach ihrem stundenlangen Schlaf unter Medikamenteneinfluss.
"Ja, ich denke schon. Ich habe nur eine leichte Stichwunde, das ist alles. Du übrigens auch, hier, an der Schulter. Der Arzt meinte, es sei nicht weiter schlimm; wahrscheinlich behältst du nicht mal eine Narbe zurück."
"Prima. Dann können wir ja morgen früh nach Hause. Du erzählst mir, was passiert ist, wir schreiben unseren Bericht und machen den Rest des Tages blau."
Ihr unbeschwertes Lächeln versetzte ihm einen Stich. Sie hatte ja keine Ahnung!
"Ich... ich fürchte, so leicht wird das nicht sein."
"Warum? Meinst du, die lassen mich nicht gehen?"
Er schüttelte den Kopf.
"Das könnte schon sein." entgegnete er leise.
"Wieso? Mit einer leichten Schnittwunde kann mir doch nichts passieren... Oder hast du mir etwas verschwiegen?"
Fox mied ihren forschenden Blick und wusste gleichzeitig, dass es keinen Zweck hatte, sich zu verstellen. Sie würde es mit einem einzigen Blick in seine Augen herausfinden. Außerdem gab es keine Möglichkeit, sie vor dem zu bewahren, was auf sie zu kam, und er wollte es nicht noch schlimmer machen, indem er sie herumrätseln ließ.
"Also, was ist noch?"
Mein Gott, wie soll ich ihr das nur sagen?
"Dana, ich fürchte, deine Schulter ist nicht das Schlimmste, was heute nacht geschehen ist."
"Wie meinst du das?"
Angst schwang jetzt in ihrer Stimme mit. Sie hatte keine Vorstellung, worauf Fox hinauswollte. Er war hier und redete mit ihr, und sie fühlte sich auch relativ gesund, wenn man einmal von den Schmerzen absah, für die sie noch immer keine Erklärung sah. Was konnte also noch schlimmes passiert sein, wenn sie beide lebten und zusammen waren?
Der Gedanke kam aus dem Nichts auf sie zu und traf sie wie ein Schlag.
"Nein" hörte sie jemanden flüstern und begriff im selben Moment, dass es ihre eigene Stimme war, voller Furcht, sie könnte mit dem Unglaublichen, das sie soeben gedacht hatte, recht haben. Das war unmöglich! Sie hob den Kopf und sah in Fox' Augen, von dem Wunsch getrieben, er möge ihr sagen, dass sie sich irrte, dass sie einen komplizierten Beinbruch oder eine ähnliche Lappalie erlitten habe. Aber als er ihren Blick erwiderte, waren seine Augen wie Stein, und er nickte nur.
"Sag mir, dass das nicht wahr ist!" bat sie mit zitternder Stimme, und Fox musste den Blick abwenden, gequält von dem Flehen in ihren Augen, dem Vertrauen, das darin stand und dem Wunsch, dass er alles in Ordnung bringen würde, so wie er es immer getan hatte. Er wusste, er würde sein Leben dafür geben, wenn er ihre stumme Bitte erfüllen könnte, aber das stand nicht in seiner Macht. Langsam wandte er sich wieder Dana zu, die ihn noch immer stumm anstarrte und nicht glauben konnte, was sie langsam zu ahnen begann.
"Doch, ich fürchte, es ist wahr. Wir haben das Baby verloren."
Seine Stimme brach, und Tränen liefen seine Wangen hinunter, für die er sich innerlich verfluchte. Dana brauchte ihn jetzt, und er musste stark sein. Da konnte er doch nicht selbst anfangen zu weinen wie ein Junge, dessen Ballon weggeflogen war. Er musste für sie da sein, ihr Trost geben und sie beschützen! Energisch schluckte Fox die Tränen hinunter, die in seiner Kehle steckten und streckte die Hand nach Dana aus. Bevor er sie jedoch berühren konnte, wich sie zurück.
"Ich glaube dir nicht."
Sie hatte so leise gesprochen, dass er ihre Worte kaum verstanden hatte, aber der wilde Blick in ihren Augen machte einen Zweifel unmöglich.
"Dana, bitte! Du musst mir glauben, dass es das Schlimmste für mich ist. Aber trotzdem kann ich nichts daran ändern, dass es wahr ist. Habe ich dich jemals angelogen?"
Sie schien zu überlegen, und der Ausdruck in ihren Augen brach Fox schier das Herz. Auch wenn er lieber etwas anderes gesagt hätte, musste er ihr die Wahrheit begreiflich machen. Als sie geschlafen hatte, hatte er sich alle möglichen Reaktionen ausgemalt, eine schlimmer als die andere, aber mit ihrer Weigerung ihm zu glauben hatte er nicht gerechnet.
"Ich bitte dich, sieh mich an und glaub mir. Glaub mir, damit wir zusammen Abschied nehmen können. Ich werde dich nicht allein lassen, aber lass du mich bitte auch nicht allein."
Das war der Moment, in dem sie endgültig begriff. Vorher hatte sie die Hoffnung gehabt, das alles sei nur ein Missverständnis, aber Fox' flehentliche Bitte, ihn nicht allein zu lassen, machte ihr die Tragweite seiner vorherigen Worte mit einem eisigen Pfeil bewusst, der sich in ihr Herz zu bohren schien. Sie hatte ihr Kind verloren.
Jetzt fühlte sie es auch: In Ihrem Innern breitete sich eine Leere aus, die sie zuvor unter dem körperlichen Schmerz gar nicht gespürt hatte. Mit einem erstickten Schluchzen schlug sie die Hand vor den Mund und wollte sich abwenden, aber Fox ließ es nicht zu. Vorsichtig fasste er nach ihrer Schulter und zog sie in seine Arme, drückte sie an sich, als sei sie sein Anker, der ihn vor dem Ertrinken irgendwo in der Tiefe des Schmerzes bewahrte, und so war es auch. Er brauchte sie jetzt, um überleben zu können, und sie brauchte ihn genauso. Gleichzeitig Trost suchend und gebend, hielt er Dana in den Armen, seine Freundin, seine Liebe, seine Partnerin. Die Ironie dieses Wortes wurde ihm bewusst: Sie war immer seine Partnerin gewesen, und irgendwann war sie mehr geworden, nur um jetzt wieder seine Partnerin zu sein, seine Partnerin , die mit ihm einen Schmerz teilte, den sie ohne ihre Liebe nie kennen gelernt hätten.
Dana schlang die Arme um Fox, krallte sich an ihm fest, als die Tränen kamen. Sie konnte sie nicht zurückhalten, auch wenn sie sich wünschte, stark sein zu können, für sich selbst und für Fox, aber die Tränen waren stärker, und sie kamen mit einer Macht, die sie nie zuvor erlebt hatte, schwemmten ihre Seele aus ihr heraus, durchweichten Fox' Hemd und seine Haut, brannten auf ihren Wangen, wo sie sich mit seinen vermischten, und spülten schließlich jedes Gefühl aus ihrem Innern heraus, bis sie nur noch eine leere Hülle war, die in den Armen ihres Geliebten auf dem Bett saß, noch immer von Schluchzen geschüttelt, das immer mehr an Kraft verlor und sie schwach und hohl zurückließ. Hohl. Leer. Ja, das traf auf sie zu, jetzt, da das Baby fort war, ein Geschenk, auf das sie nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, und das man ihr jetzt ebenso plötzlich, wie es gekommen war, wieder genommen hatte.
Dana war zu schwach, um sich nach dem Sinn zu fragen, aber selbst wenn sie es getan hätte, wäre ihr nie auch nur annähernd klar geworden, warum das alles passiert war. Sie konnte nicht wissen, dass es jemanden gab, der mit all dem gerechnet hatte, der immer da gewesen war, um aufzupassen, dass nichts schief ging und dass seine Figuren auch immer auf der von ihm gewünschten Position blieben. Aber diese tiefe Bedeutung blieb Dana und Fox verborgen, als sie aneinandergeklammert auf dem Bett saßen und ihren Schmerz teilten, zusammen und doch jeder einsam in den eigenen Gefühlen gefangen.


***

Nein, sie konnten es nicht wissen, aber all ihr Schmerz war geplant gewesen, ebenso wie das Glück, das sie geteilt hatten und das nur dem einen Zweck gedient hatte: Zu dem Schmerz hin zu führen.
Der Raum, in dem die Männer zusammenkamen, war wie all die Räume, in denen sie sich zuvor getroffen hatten, um über das Leben anderer Menschen zu entscheiden, unauffällig und ein wenig düster, mehr wie ein Club, in dem sich ältere Männer treffen und über ihre Heldentaten in irgendwelchen Kriegen und die Mängel der heutigen Politik zu diskutieren. Niemand, der zufällig vorbeigekommen wäre hätte geglaubt, dass hier die finstersten Pläne überhaupt geschmiedet und verwirklicht wurden.
Niemand wäre zufällig hier vorbeigekommen und hätte überlebt.
Einer der Männer stand etwas abseits, und doch war die Aufmerksamkeit der anderen auf ihn gerichtet, als er sich eine Zigarette ansteckte, bevor er zu sprechen begann: "Die heutige Mission war ein Erfolg." sagte er mit unbewegter Stimme und blies eine Rauchwolke in den Raum.
"Woher wollen wir das wissen?" erkundigte sich ein zweiter, etwas jüngerer Mann.
"Wir haben lediglich die Bestätigung, dass der Überfall erfolgreich war und dass Scully das Kind verloren hat. Was ist aber, wenn der Attentäter sich einen Handel erhofft und erzählt, dass das Ganze von Vornherein so geplant war und dass niemand getötet wurde, weil das nicht geschehen sollte? Dann ist es nur eine Frage der Zeit bis Mulder herausfindet, dass alles ein Vorwand war, um Scully ins Krankenhaus zu bekommen, wo sie unserem Mann ausgeliefert war."
"Es wird nie soweit kommen." unterbrach ihn der Raucher.
"Ein toter Mann kann keinen Handel machen."
Mit diesen Worten drückte er mit völlig unbewegter Miene seine Zigarette im Aschenbecher aus als habe er nicht gerade eben mit seinen Worten das Schicksal eines Menschen besiegelt.
Seine Gedanken waren nicht bei dem Mann in der Zelle, der jetzt auf seinen Befehl hin sterben würde sondern bei einem anderen Mann, den er nicht töten konnte, auch wenn er eine viel größere Bedrohung war als der kleine Handlanger, der Mulder in den Hinterhalt gelockt und dann überfallen hatte. Aber auch dieser Mann war jetzt nicht mehr gefährlich. Man kann einen Mann töten, aber man kann nicht das töten, wofür er steht. Nicht, bevor man ihn zuerst gebrochen hat...


***

Eine Woche später

"Dana, ich weiß nicht, was ich noch tun soll, damit du etwas isst. Seit Tagen sitzt du nur auf der Couch und starrst die Wand an."
Fox Mulder war verzweifelt. Er hatte sein Kind verloren, und das hatte ihn schwer getroffen, aber jetzt entglitt ihm auch noch Dana, und das brach ihm das Herz. Er wusste einfach nicht mehr weiter, hatte geglaubt, ihr helfen zu können, indem er den Schmerz mit ihr teilte, aber er hatte sich geirrt. Dana wollte ihren Schmerz nicht teilen, oder sie konnte es nicht. Sie sprach nur das Nötigste mit ihm und wich seinem Blick aus, wann immer sie konnte.
Sie hatten Skinner einen Bericht geschrieben und ihm gesagt, was passiert war. Mulder hatte nichts ausgelassen, und wie erwartet war Skinner zuerst stinksauer gewesen. Nachdem er sich ausgetobt hatte, hatte er Mulder stellvertretend für sie beide sein Beileid ausgedrückt und ihnen frei gegeben so lange sie wollten. Er hatte gesagt, er würde sich dafür einsetzen, dass niemand von dem Kind erfuhr und er hoffe, dass Scully und Mulder wieder zurückkämen, wenn sie soweit seien. Mulder hatte zugestimmt, denn er war sicher gewesen, dass Arbeit das war, was sie beide brauchten, um den Schmerz zu überwinden. So war es immer gewesen. Auch nach dem Tod ihrer Schwester hatte Dana sich wieder wie eine Besessene in die Arbeit gestürzt, um die Antworten zu finden. Aber dies war anders: Es gab keine Antworten, keine Wahrheit, die sie suchen mussten. Niemand war für den Tod des Babys verantwortlich außer den drei Männern, die sie überfallen hatten, und einer von ihnen war entkommen, während ein anderer bei einer Schlägerei unter Häftlingen vor zwei Tagen umgekommen war. Nichts, über das man stolpern konnte, keine Ungereimtheiten. Nur die Rache eines Verbrechers an der Polizei, bei der das Kind unabsichtlich zwischen die Fronten geraten war.
Und genau das machte Dana zu schaffen, genau wie Fox. Sie hatten nichts, woran sie sich klammern konnten, keinen tieferen Sinn, dem sie nachjagen konnten, bis der schlimmste Schmerz abgeklungen war. Da gab es nur Leere, und das Einzige, was sie tun konnten, war diese Leere zusammen zu erleben.
Aber das ließ Dana nicht zu. Sie ließ Fox nicht in ihre Nähe, weder körperlich noch seelisch, schottete sich nach allen Seiten ab, baute wieder eine Mauer um sich herum wie damals, als sie ihn nicht an sich heran lassen wollte, weil sie ihre Liebe zu ihm fürchtete. Jetzt war es etwas anderes, das sie fürchtete...


Ich kann ihn nicht ansehen. Wenn ich es tue, sehe ich die Enttäuschung in seinen Augen, den gleichen Verlust, den ich in meinem Herzen fühle. Ich weiß, was er denkt: Wäre ich im Büro geblieben, wäre das nicht passiert und das Kind wäre noch am Leben.
Ich kann ihm nicht erklären, was ich gedacht habe, als ich losgegangen bin, um ihn zu retten. Ich wollte nicht, dass das Baby stirbt; um ehrlich zu sein, habe ich nicht eine Sekunde an es gedacht. Ich wusste nur, dass Fox in Gefahr ist und dass ich ihn retten muss, und damit habe ich unser Kind auf dem Gewissen. Durch mein unüberlegtes Handeln habe ich es umgebracht, und wenn er das wüsste, würde er es mir nie verzeihen. Genauso wenig, wie ich es mir selbst verzeihen kann.
Die ganze Zeit über will er seinen Schmerz mit mir teilen, und das wäre eigentlich nur recht und billig, aber ich kann es nicht zulassen, denn mein Schmerz ist ein anderer als der seine. Er hat nicht unser Kind auf dem Gewissen, und er hat keine Ahnung, dass ich das habe. Ich sollte es ihm sagen, aber das kann ich auch nicht. Es mag feige sein, aber wenn ich es ihm sage, verliere ich auch noch ihn. Das wäre wahrscheinlich die gerechte Strafe. Aber ich habe auch so schon eine Strafe erhalten: Dieses Kind war meine einzige Chance auf ein Baby, und nun ist sie vertan. Ich kann nie wieder schwanger werden, das fühle ich. Und wieder ist es nur zum Teil meine Strafe, denn zum größten Teil strafe ich damit Fox. Er war so glücklich als er erfuhr, dass er Vater wird, und jetzt soll das für immer vorbei sein. Er wird nie Vater sein, wenn er bei mir bleibt, und das wäre falsch. Er muss eines Tages Kinder haben, denn er ist dafür so wunderbar geeignet. Fox wäre ein toller Vater, und ich glaube, dass er das sein muss. Er braucht es einfach, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Ich habe es gesehen, als er dachte, wir bekommen ein Kind, und weil ich ihn so glücklich gesehen habe, kann ich ihm das nicht antun. Ich muss fair sein und ihm die Wahrheit sagen, auch wenn er dann geht. Aber das habe ich auch nicht anders verdient; schließlich bin ich an allem schuld.


Mulder ahnte nichts von ihren Gedanken; er wusste nur, dass sie sich immer weiter vor ihm verschloss, dass sie allein mit ihrem Schmerz bleiben wollte und ihn mit seinem eigenen Schmerz ebenfalls allein ließ. Erst versuchte er immer wieder, an Dana heranzukommen, bis er es schließlich aufgab und sie in Ruhe ließ. Was hätte er auch sonst tun sollen? Wenn sie seine Nähe nicht wollte, konnte er sie ihr nicht aufzwingen. Trotzdem versuchte er ihr klarzumachen, dass er für sie da sein wollte und dass er sie brauchte. Dana schien das gar nicht zu bemerken, denn sie reagierte nicht wie sonst, wenn Fox ihre Hilfe benötigt hatte. Sie machte keine Anstalten, ihn zu schützen, wie sie es sonst immer getan hatte, und nach ein paar Nächten, in denen sie dicht an der Bettkante geschlafen hatte bat sie ihn, zum Schlafen in seine Wohnung zu gehen.
Jetzt wurde Fox klar, dass er Dana verlieren würde, wenn er es nicht endlich schaffte, an sie heranzukommen, den Kummer in ihrem Innern zu sehen.
Deshalb kam er ihrer Bitte nicht nach sondern blieb auch an diesem Abend bei ihr in der Wohnung, um mit ihr zu reden. Diesmal, so schwor er sich, würde er sich nicht von der Kälte und dem Schmerz in ihrer Stimme abschrecken lassen; er würde nicht aufgeben, bevor sie ihren Schmerz geteilt hatten.
Dana saß auf der Couch und las in einem Buch; zumindest tat sie, als lese sie. In Wahrheit konnte sie sich nicht konzentrieren, denn ihre Gedanken kreisten immer wieder um eine Sache: Wenn Fox nicht ging, und es sah nicht so aus, als würde er gehen, würde sie ihm heute die Wahrheit sagen müssen. Sie hatte insgeheim gehofft, ihn durch ihr abweisendes Verhalten abzuschrecken, so dass er von selbst ging, aber sie hatte nicht mit seiner Hartnäckigkeit gerechnet. Er war entschlossen, sie nicht aufzugeben, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm ihre Schuld zu gestehen und darauf zu warten, dass er dann ging, nicht nur verletzt durch ihre Zurückweisungen, sondern auch zutiefst enttäuscht von der Frau, die er zu lieben geglaubt hatte und die nun sein Leben und das seines Kindes zerstört hatte, indem sie eine Entscheidung getroffen hatte, die ihr nicht zustand: Sein Leben oder das eines Ungeborenen.
Dana spürte, wie Fox' Blick auf ihr ruhte, und sie schlug das Buch zu und holte entschlossen Atem, um es endlich hinter sich zu bringen.
Bevor sie ein Wort herausbringen konnte, war Fox ihr zuvorgekommen: Er setzte sich neben sie auf die Couch, nahm ihr das Buch aus der Hand und legte es auf den Tisch, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
"Ich möchte, dass du mir zuhörst." begann er leise, aber eindringlich zu sprechen.
"Ich weiß, dass das, was passiert ist, dich sehr verletzt hat, und es hat auch mir unheimlich weh getan, aber ich möchte trotzdem, dass wir es nicht einfach totschweigen, wie wir es bisher getan haben. Das nützt niemandem etwas, weder dir noch mir noch dem Kind. Was geschehen ist, ist geschehen, und wir können es nicht mehr ändern, aber wir können darüber sprechen und versuchen, gemeinsam einen Weg zu finden, wie wir damit weiterleben können. Es kann nicht immer so weitergehen, dass wir schweigen und so tun, als sei nie etwas geschehen, als habe es diese Nacht niemals gegeben. Ich kann damit nicht allein fertig werden, und ich weiß, dass du es auch nicht kannst. Bitte lass es uns zusammen versuchen."
Dana sah ihn an, konnte seinem zwingenden Blick nicht ausweichen und spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Seit Fox ihr im Krankenhaus gesagt hatte, was geschehen war, hatte sie nicht mehr geweint, und jetzt schämte sie sich dafür. Sie hatte ihr eigenes Kind verloren und konnte nicht weinen, aber wenn sie ihn, Fox, zu verlieren fürchtete, kamen die Tränen wieder. Was für eine gefühllose Frau war sie bloß, dass der Verlust eines Mannes sie mehr schmerzte als der Tod ihres Kindes? Sie schluckte, um den Kloß aus ungeweinten Tränen und unausgesprochenen Ängsten und Gefühlen aus ihrer Kehle zu bekommen, und riss endlich ihren Blick von seinem los, bevor sie leise sagte: "Ich kann dir nicht helfen. Du wirst nicht wollen, dass ich es tue."
"Wie kannst du das sagen? Ich will, dass du mir hilfst, und ich will dir helfen."
"Auch wenn ich dir sage, dass ich unser Kind getötet habe?"
Einen Moment lang herrschte Stille, die keiner von ihnen zu durchbrechen wagte. Das einzige Geräusch war das Radio, das Dana wie immer in den letzten Tagen eingeschaltet hatte, um nicht mit Fox reden zu müssen. Die leisen Worte einer wunderbaren, kraftvollen und klaren Stimme waren zu hören, aber keiner von ihnen achtete darauf. Sie waren noch immer gefangen in dem einen einzigen Satz, den Dana gesagt hatte und der nun zwischen ihnen in der Luft hing und darauf wartete, aufgenommen zu werden.
"Warum glaubst du das?" erkundigte sich Fox schließlich sanft und griff nach Danas Hand, die sie zurückzuziehen versuchte. Aber er war schneller und hielt sie fest, mit der gleichen Sanftheit, mit der er Dana gehalten hatte, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten; bestimmt genug, um ihr zu zeigen, dass er es ernst meinte, und gleichzeitig so leicht, dass sie sich jederzeit aus seinem Griff befreien konnte, wenn sie es wollte.
Dana ließ es zu, dass er ihre Hand in seiner hielt, sie erlaubte sich sogar, das Gefühl zu genießen, das seine kleine Berührung auslöste. Jetzt war sowieso alles egal. Wenn sie ihm erzählte, was sie bisher verschwiegen hatte, würde das sicher ihre letzte Berührung sein, warum sollte sie diese dann nicht noch genießen?
"Ich sage es, weil es wahr ist." brachte sie schließlich hervor.
"Ich war noch im Büro, als ich die Nachricht bekam, der Einsatz sei eine Falle. Dann bin ich sofort losgefahren, um dich zu warnen, und habe nicht einen Moment lang daran gedacht, was dem Kind passieren könnte, wenn ich auch in die Falle gehe. Ich habe diese Entscheidung getroffen, und deshalb bin ich allein schuld an seinem Tod."
Ein tiefer Schmerz bohrte sich in Fox' Seele, als er ihren Worten lauschte. Das war es also gewesen; deswegen hatte sie sich die ganze Zeit über gequält. Sie gab sich selbst die Schuld und dachte, das würde er auch tun. Wie kam sie nur auf so eine dumme Idee? Er ahnte nicht, dass sie ihm noch immer etwas verschwieg, das tief in ihrem Innern verborgen war: Die unbewusste Schuld, nie wieder ein Kind bekommen zu können.
Dana hielt sein Schweigen nicht mehr aus und konzentrierte sich auf die Musik, die aus dem Radio drang, ein weicher, trauriger Song, dessen Text sie plötzlich so deutlich vor Augen hatte, als habe ihn jemand auf die Innenseite ihrer Lider geschrieben.

If I should stay
I would only be in your way
So I'll go
But I know
I'll think of you
With every step on the way...

"Dana?"
Fox' Stimme riss sie aus ihren Gedanken und holte sie zurück in das Wohnzimmer, in dem sie vor einer Ewigkeit, wie es schien, zusammen Weihnachten gefeiert hatten. Sie hob den Kopf und sah ihn an, zögernd und scheu, voller Angst, in seinen Augen die Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtung zu finden. Statt dessen standen nur Wärme und Traurigkeit darin, und das war beinahe noch schlimmer als die Verachtung, die sie erwartet hatte.
"Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast." fuhr er fort, noch immer ihre Hand in seiner haltend. "Jetzt weiß ich, was dich die ganze Zeit über so gequält hat, und ich kann dir auch sagen, wie ich das sehe. Ich bin absolut, hörst du, absolut davon überzeugt, dass du nicht schuld am Tod unseres Kindes bist, und ich möchte, dass du auch davon überzeugt bist."

You, my darling
Bitter sweet memories
That is all I'm taking with me...

Dass er es nicht glaubte, machte alles irgendwie noch viel schlimmer. Er liebte sie trotz allem, und sie hinderte ihn daran, glücklich zu werden, das zu bekommen, was er brauchte...

So goodbye
Please don't cry
We both know
I'm not what you need...

Fox sah sie an, versuchte zu ergründen, an welchen geheimen, verborgenen Orten ihrer Seele sie sich befand, was sie gerade dachte. Das einzige, was er sah, war die einsame Träne, die ihre Wange hinunterlief, bis sie sich in ihrem Mundwinkel verlor.
Fasziniert verfolgte er mit den Augen den Weg dieser Träne, die so unglaublich zart und zerbrechlich wirkte und doch stark genug war, um Danas ganzem Kummer in diesem Augenblick Ausdruck zu geben. Er konnte den Blick nicht abwenden, sah unverwandt auf ihren Mundwinkel, in dem die Träne verschwunden war, und dann auf ihre Lippen, die ein wenig zitterten als sie versuchte, weitere Tränen zu unterdrücken. Vorsichtig und langsam beugte er sich zu ihr hinüber und legte zwei Finger unter ihr Kinn, zwang sie so, ihn anzusehen.
"Ich liebe dich." flüsterte er und fügte hinzu: "Und ich finde, das solltest du auch tun. Liebe dich selbst wieder, Dana. Es ist nicht deine Schuld, was passiert ist, sieh das doch endlich. Lass deinen Kummer zu, aber versuche nicht, einen Grund für das Geschehene zu finden, indem du dich mit Selbstvorwürfen quälst. Tu dir das nicht an. Und tu es auch mir nicht an."
Seine Worte lösten ein Echo in ihr aus, irgendwo in ihrem Herzen, von dem sie geglaubt hatte, es sei nicht mehr da, sei mit dem Kind aus ihr verschwunden. Ich liebe dich. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, diese Worte wieder zu hören, denn sie liebte ihn noch immer mit allem, was sie besaß.

And I will always love you
I will always love you...

Das war es, was sie wissen musste: Sie liebte ihn. Und auf einmal war ihr alles ganz klar, und sie fragte sich, wie sie jemals so blind hatte sein können. Es gab nur eine Lösung, und die stand nun so deutlich vor ihren Augen, dass sie beinahe lächeln musste.
Fox erkannte den Wandel in ihr sofort und seufzte vor Erleichterung. Er hatte sie erreicht, hatte ihr gesagt, was er sagen musste, und sie hatte ihm zugehört und dachte über seine Worte nach. Mit einer vorsichtigen Bewegung beugte er sich noch näher zu ihr, bis seine Lippen ihre berührten, ganz leicht und vorsichtig zuerst, fragend und schüchtern. Dana spürte die Liebkosung und tat das, was sie empfand: Sie legte die Hand an Fox' Wange und erwiderte seinen Kuss, gab ihm Antwort auf die stumme Frage. Er küsste sie langsam und innig, mit allen Gefühlen, die er jemals für sie gehabt hatte, und als sie wieder zu weinen anfing, heftiger sogar als in der Klinik, schloss er sie in seine Arme und streichelte ihren Rücken, ihre Schultern, wiegte sie sanft hin und her und vergrub das Gesicht in ihrem Haar, das von seinen eigenen Tränen ganz nass wurde. Endlich teilten sie ihren Kummer, weinten gemeinsam um ihr Kind und um ihre eigenen verwundeten Herzen, während die Musik weiter durchs Zimmer schwebte.

I will always love you...
I hope life treats you kind
And I hope you have all you dreamed of
And I wish to you joy and happyness
And above all I wish to you love...

Schließlich löste sich Dana von Fox und stand von der Couch auf. Sie war verwirrt und vollkommen durcheinander. Das eben Geschehene machte es ihr schwer, einen klaren Kopf zu behalten, und den brauchte sie mehr denn je.
Sie sah Fox an und sagte die Worte, die sie am meisten schmerzten, aber sie wusste, dass es sein musste. Weil sie ihn liebte.
"Ich kann das nicht. Ich kann es dir nicht antun, mit mir zusammen sein zu müssen. Du wirst es sicher irgendwann verstehen, und ich kann nicht bleiben, bis du erkennst, dass ich recht habe. Ich kann nicht bei dir bleiben, weil ich dich liebe."
Die letzten Worte waren kaum mehr ein Flüstern, und bevor Fox reagieren konnte, drehte sich Dana um und lief aus der Wohnung.
Es dauerte eine Sekunde, bevor Fox begriff, was soeben geschehen war, und auch dann wusste er nicht, warum sie davonlief. Eben noch hatten sie zusammen geweint, und er hatte gedacht, alles könnte wieder gut werden, und nun verließ ihn Dana aus heiterem Himmel. Sie verließ ihn! Dieser Gedanke brachte ihn wieder zu sich, und er sprang auf und rannte hinter ihr her auf den Flur und von dort ins Treppenhaus, das allerdings leer war. Sie musste den Fahrstuhl genommen haben! Fox rannte die Treppen hinunter, als ginge es um sein Leben, und genau dieses Gefühl hatte er auch. Draußen auf der Straße sah er sich um und erkannte erleichtert, dass er schneller gewesen sein musste als der Fahrstuhl, der glücklicherweise schon älter war. Er hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und sah Dana herauskommen. Sie wollte ihm ausweichen, aber er stellte sich ihr in den Weg.
"Warum tust du das? Wenn du mich nicht liebst, würde ich es akzeptieren, auch wenn du mir damit das Herz brichst, aber ich werde nicht zulassen, dass du es dir selbst antust!"
"Du hast ja keine Ahnung, was ich dir antue, wenn ich bleibe." schleuderte sie ihm entgegen. "Bei der letzten Untersuchung im Krankenhaus habe ich erfahren, dass ich niemals Kinder haben werde. Zusammen mit den Entführungsfolgen ergibt das zweimal hundert Prozent Wahrscheinlichkeit, dass ich niemals Mutter werden kann. Und du kannst nicht auf Kinder verzichten, das habe ich gemerkt. Ich könnte es nicht ertragen, dir diese Möglichkeit genommen zu haben, auch wenn du es mir vielleicht nie mit Worten vorwerfen würdest. Bitte, lass mich gehen und tu mir das nicht an."
Damit drehte sie sich um und überquerte die Straße, ließ Fox allein mit seinen Gedanken. Er starrte hinter ihr her, vollkommen betäubt von dem, was sie soeben gesagt hatte, und wusste nur eins: Er musste sie aufhalten. Es würde möglich sein, ohne Kinder zu leben, aber es gab keinen Weg, ohne Dana zu sein. Das würde er ihr sagen müssen, bevor sie sich etwas anderes einredete. Fox sah sie um eine Ecke verschwinden und rannte ihr nach, den Blick fest auf sie gerichtet, die Frau, die er liebte und ohne die er nicht leben konnte. Er rannte über die Straße, hörte Bremsen quietschen und dann einen Schrei. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor, und er brauchte einen Sekundenbruchteil um zu erkennen, dass es seine eigene war. Schmerz zuckte durch seinen ganzen Körper, und er hörte einen Mann sagen: "Er ist einfach so auf die Straße gelaufen, hat nicht mal auf mein Hupen reagiert. Ich konnte einfach nicht mehr ausweichen." Dann eine andere Stimme: "Rufen Sie einen Krankenwagen!"
"Lassen Sie mich durch, ich bin Ärztin." Eine Stimme, die er so gut kannte wie seine eigne, vielleicht sogar besser. Dana! Sie kniete sich neben ihn und berührte seine Stirn, ihre kühle Hand zitterte.
"Oh Fox, es tut mir so leid. Ich hätte nicht einfach weglaufen dürfen. Es ist alles meine Schuld."
Er wollte ihr sagen, dass das nicht stimmte, wollte sie bitten zu bleiben, aber er konnte sich nicht bewegen. Vorsichtig legte sie ihm die Finger auf die Lippen.
"Sag nichts. Bleib ganz ruhig liegen, der Krankenwagen kommt gleich, und dann wird alles gut. Ich...ich liebe dich." Tränen erstickten ihre Stimme, aber er hatte sie trotzdem verstanden.
Er hörte nichts von dem, was um ihn herum vorging, die stotternden Entschuldigungen des Autofahrers, die Schaulustigen, die sich allmählich um die Unfallstelle herum ansammelten, die Sirenen des Krankenwagens, die rasch näher kamen. Sogar der Song, der aus dem noch immer laufenden Autoradio drang, ging ungehört an ihm vorbei. Dana hingegen nahm ihn mehr als deutlich wahr. Es waren die Zeilen, die sie überhaupt in diese Situation gebracht hatten, die ihr die Lösung gezeigt hatten und die nun Fox das Leben kosten konnten.

I will always love you
Darling I'll always, I'll always love you...

Die beiden Männer, die etwas abseits standen, hörten die Worte auch, aber sie achteten nicht darauf, denn sie hatten wichtigere Dinge zu besprechen.
"Meinen Sie, dass er überlebt?", wollte der eine wissen.
"Ich weiß es nicht", erwiderte der andere und zündete sich eine weitere Zigarette an. "Aber selbst wenn er überlebt, ist er keine Gefahr mehr. Sie wird nie zu ihm zurückkehren, und ohne sie kann er nicht leben. Nicht nach dem, was sie zusammen erlebt haben."
"Und wenn sie doch zurückkommen will?"
"Dann werden wir dafür sorgen, dass sie es sich anders überlegt. Glauben Sie mir, das wird ihn endgültig stoppen."


Mulder ahnte nicht, was die Männer über ihn sprachen, denn er spürte Danas Hände, die sein Gesicht streichelten, und er wehrte sich nicht dagegen, als ihn die Dunkelheit umfing...
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