World of X

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Die Erinnerung stirbt nie

von maggy_144

Kapitel 3

***

Einige Tage später

Es regnete, wie so oft in letzter Zeit. Ein grauer Schleier hatte sich über die Stadt gelegt, über Hochhäuser, Wolkenkratzer und Büros, über Regierungsgebäude und Behörden, über die historischen Denkmäler und die ausgedehnten Grünflächen - alles versank in Dunst, Nebel und Sprühregen; sogar hier in Charlottesville, in einiger Entfernung von der Hauptstadt entkam man der Tristesse nicht.

Scully wandte ihren Blick von der „wundervollen“ Aussicht auf den Parkplatz des Krankenhauses ab, wo Zigarettenstummel und leere Colabüchsen im Rinnstein trieben und sich das Flackern des Blaulichts eines Krankenwagens an der Notaufnahme in den Pfützen spiegelte. Dort hatte man vor kurzem Meg Myers eingeliefert, die seitdem unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln gestanden hatte und heute eventuell für vernehmungsfähig erklärt werden sollte. Meg schien an audio-visuellen Halluzinationen zu leiden, welche denen Michael Pipers frappierend ähnelten, obschon sie keine nicht vorhandenen Vipern gesichtet hatte, sondern überzeugt gewesen war, mitten in ihrem eigenen Wohnzimmer in der Gefahr zu schweben, aus großer Höhe in den Tod zu stürzen.

Und niemand wusste wieso. Genau wie der toxikologische Test bei der Post-Mortem-Untersuchung von Teresa Summers Leiche waren sämtliche Drogentests an Meg ebenfalls negativ verlaufen - keine halluzinogenen Substanzen im Blut oder im Urin oder in Proben des Erbrochenen aus dem Krankenwagen, wo sie sich vor Angst auf die Bahre übergeben hatte, bevor das Demerol gewirkt hatte. Nichts. Kein LSD, keine Designerdrogen, keine Psychopharmaka, nicht einmal etwas so Abwegiges wie ein Gift aus dem Amazonasdschungel oder Toxine aus giftigen Pilzen.

Anscheinend lag als Ursache für Megs Anfälle weder Drogenmissbrauch, noch eine neurologische Erkrankung vor, denn bei Untersuchungen wie z.B. im Computertopographen hatte man ebenfalls nichts gefunden, was auf krankhafte Veränderungen im Gehirn hingedeutet hätte. Manche Sorten von Gehirntumoren riefen Wahrnehmungsstörungen und abnormales Verhalten hervor, doch Meg war organisch vollkommen gesund, wofür Scully so etwas wie ein Gefühl der Dankbarkeit verspürte, weil der Frau damit zumindest der Horror von Operationen, Strahlen- und Chemotherapie erspart blieb. Lediglich die Neigung dazu, Sachen zu sehen, die gar nicht da waren, stellte ein klitzekleines Problem da, dachte Scully sarkastisch, vor allem, wenn sie unvermutet bei jemandem auftrat, der niemals einen Psychiater benötigt hatte - abgesehen von Megs Sitzungen bei einem Sozialarbeiter des Jugendamtes und einer Therapeutin nach dem *Vorfall* vor mehr als fünfzehn Jahren.

Womit man bei Aileen Smith angelangt wäre, denn sie hatten die Frau aus Megs Wohnung anhand eines kürzlich aufgenommenen Familienphotos unzweifelhaft identifizieren können. Was hatte Aileen von Meg gewollt? Wo war die Verbindung zu Megs Wahnvorstellungen? Und zu Teresa Summers Tod? Und zu Michael Piper? Reiner Zufall? Ein äußerst passender Zufall, dass zwei der ehemaligen Täter nach dem Besuch ihres früheren Opfers verrückt geworden waren, während die dritte aus unerklärlichen Gründen einen Herzinfarkt mit Todesfolge erlitten hatte. Nun gut; dass Aileen vor drei Jahren Michael Piper aufgesucht hatte, war eine reine Vermutung, immerhin gestützt auf die Aussage einer Krankenschwester aus der Klinik in Providence.

Nach dem, was bei ihrem letzten Besuch dort passiert war, erinnerte sich Scully mit einem säuerlichen Lächeln, hatte Dr. Jones sich geweigert, am Telefon mit Scully zu reden, geschweige denn, die Agenten erneut zu seinem Patienten zu lassen. Glücklicherweise war die Stationsschwester ein wenig zugänglicher gewesen, auch wenn es Scullys ganzer Überredungskunst und ihres Taktgefühls (gut, dass wenigstens einer von ihnen über diese Eigenschaft verfügte, die Mulder zuweilen ebenfalls dienlich gewesen wäre) bedurft hatte, um von der Schwester zu erfahren, dass er früher während seiner sporadisch auftretenden Anfälle den Namen „Ally“ oder „Aileenie-Weeny“ vor sich hin gemurmelt habe. Seine persönliche „Nemesis“, die zu ihm gekommen war?

Ihr Fingerabdruck war der aus Teresas Appartement, ihre Handschrift stimmte mit dem Gedichtzitat auf dem Zettel überein, und dass sie bei Meg gewesen war, hatten Mulder und Scully ja mit eigenen Augen gesehen. Und Scully musste feststellen, dass sich ihre Gedanken im Kreise drehten - bereits vor knapp einer Woche hatte sie geahnt, dass sie den damals unbekannten „Täter“ bestenfalls einzig und allein wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen konnten. Bloß der Umstand, dass Aileen Smith sich zwei Bundesagenten widersetzt - sprich: sie wie die letzten Idioten überrumpelt - hatte, rechtfertigte überhaupt ihre Beteiligung an dem Fall.

Selbstverständlich wusste Scully, dass etwas faul war im Staate Dänemark, doch es gab keinen einzigen Beweis oder aber Hinweis, dass es Aileen gelungen war, ihre ehemaligen Peiniger in den Wahnsinn zu treiben bzw. gar zu töten. Wovon Mulder natürlich felsenfest überzeugt war - sie würde ihren FBI-Ausweis aufessen, gesalzen und gepfeffert, wenn er nicht spätestens morgen mit einer *Theorie* ankäme.

Apropos Mulder... Nach dem Streit auf der Rückreise von Providence nach Washington hatte sich bis jetzt keiner von ihnen entschuldigt für die bitteren Worte, die gefallen waren, für die müden Vorwürfe, für das Gefühl des Unverstandenseins, in dem jeder geschwelgt und es auf diese Weise dem Anderen vermittelt hatte. Sie wusste, dass sie sich kindisch benahmen, wenn sie zwar wieder normal zusammenarbeiteten, in einer Art respektvollen Waffenstillstandes, und dennoch schmollten wie zwei Kinder im Grundschulalter, von denen keines nachgeben und den ersten Schritt zur Versöhnung unternehmen wollte. Daher erwog sie ernsthaft, ob sie einfach zu ihm gehen sollte, um zu sagen, dass es ihr leid tue. Es tat ihr wirklich leid, nicht dass sie seine Theorie durchlöchert hatte (schließlich und endlich hatte sie Recht behalten), aber dass er als Fußabstreifer für einen Teil ihrer unterdrückten Wut dienen musste und dass er tatsächlich dachte, sie nehme ihn momentan nicht ernst, obgleich sie ihn immer ernst nahm, ihn und seine „verrückten Theorien“.

Offen gestanden hegte Scully sogar den Verdacht, bei diesem Fall könnte es sich um etwas Vergleichbares handeln wie bei Robert Patrick Modell und seiner Schwester Linda Bowman. Suggestive Fähigkeiten könnten der Schlüssel zu Teresas Tod und Michaels und Megs Wahnsinn sein, allerdings mit dem kleinen Unterschied, dass der „Pusher“ und seine Schwester ihre Opfer mit der Kraft ihrer Stimme zum Selbstmord gezwungen hatten, während Megs Anfall noch angedauert hatte, nachdem Aileen schon längst aus der Wohnung geflohen war. Mulder würde entzückt sein, wenn sie ihm das nach ihrer Entschuldigung sagte. Nach ihrer Entschuldigung ...sollte sie sich denn entschuldigen? Sicher, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf, bei deinem langjährigen Partner, bei jemandem, dem du vertraust und den du aufgrund eines gegenseitigen Missverständnisses gekränkt hast, bei einem deiner besten Freunde, dem du diese Entschuldigung schuldig bist.

Bei jemandem, der es nicht für nötig hält, sich zu entschuldigen, wenn er dich wieder einmal „sitzen lässt“, um auf eigene Faust ominösen Spuren nachzujagen. Bei jemandem, der es nicht für nötig hält, sich zu entschuldigen, wenn er deine Termine ausmacht und dein Leben verplant, ohne dich vorher zu fragen. Bei jemandem, der sich nicht dafür entschuldigt, dass du weder Schreibtisch noch Namensschild besitzt, während dich manche Kollegen hinter deinem Rücken „Mrs. Spooky“ nennen, sein Anhängsel. Bei jemandem, der sich nicht dafür entschuldigt, dass er deinen Beitrag zu eurer gemeinsamen Arbeit auf knapp 2% reduziert hat. Bei jemandem, der andauernd solche Dinge behauptet, wo er dir doch angeblich alles verdankt und du ihm gar nichts schuldest, wo du das sein solltest, was ihn zu einem vollständigen Menschen macht...

Nein, sie musste sich keineswegs entschuldigen. Wieso denn auch? Sie unterhielten sich wie üblich, ihre Zusammenarbeit verlief wie üblich, weshalb es nicht den geringsten Grund dafür gab, vor jemandem zu Kreuze zu kriechen, der mit Entschuldigungen massive Probleme hatte. Es war ohnehin schwer genug gewesen, sich bei Bill zu entschuldigen, was sie auf das Drängen ihrer Mutter und ihrer Schwägerin Tara hin endlich getan hatte. Ihm tue es leid, hatten die beiden gesagt, ihm falle es aber schwer, den ersten Schritt zu machen, sie wolle wohl nicht ernst nehmen, was ihm bei jenem unglückseligen Telefongespräch 'rausgerutscht sei, weder Tara noch er würden ihr wegen der versäumten Geburtstagsfeier ihres Neffen Vorwürfe machen, jeder wisse, was für einen anstrengenden und zeitraubenden Beruf sie habe...

Und dennoch hatte Scully sich nicht des Gefühls erwehren zu können, in Taras Stimme sowie in der ihrer Mutter leise Vorwürfe zu hören, eher aus Besorgnis als aus Verärgerung. War ihr Beruf, bedeutete dieser Unterton, denn so anstrengend und zeitraubend, dass sie ihr Familienleben vollkommen vernachlässigte? Fühlte sie sich nicht einsam? Am liebsten hätte sie die beiden direkt darauf angesprochen und sie gefragt, ob sie glaubten, dass sie sich bei einer Feier mit Verwandten plus einem halben Dutzend Bekannter aus der Mutter-Kind-Gruppe mit einem Haufen nervig-niedlicher Zweijähriger wohler fühlen würde.

Scully schnaubte. Was höflich-unverbindlichen „Small Talk“ betraf, war sie aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Übung geraten. „Wie schön, Sie kennen zu lernen, Dana! Tara hat uns schon gelegentlich von Matthews Tante von der Ostküste erzählt. Was machen Sie so beruflich?“ Und sie würde ungezwungen bei Kaffee und Kuchen antworten: „Oh, ich bin Pathologin beim FBI. Das heißt, ich schnippele an Leichen herum und hole Wurmlarven aus den Lebern von Wasserleichen, wobei diese Larven dummerweise dazu neigen, später zu aggressiven Plattwurmmännern mit Saugmaul zu mutieren. Und wie sieht Ihr durchschnittlicher Arbeitstag aus?“

Fast wäre ihr bei der Vorstellung ein teils sarkastisches, teils hysterisches Lachen entschlüpft. Na ja, zu Tode erschreckte Partygäste waren ihrer Ansicht nach liebenswürdigen Müttern vorzuziehen, die sich nach ihrem Ehemann und ihren, sie schluckte trocken, ihren *Kindern* erkundigen würden. „Schluss, aus, es reicht!“, schalt sie sich und richtete ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Tür des Schwesternzimmers am anderen Ende des Ganges, die sich soeben öffnete. Allem Anschein nach hatte Mulder dieses Mal mehr Taktgefühl bewiesen und seinen zweifelhaften Charme eingesetzt, um die Erlaubnis für ein kurzes Gespräch mit Meg Myers zu erhalten, denn ihr Partner kam in Begleitung der Oberschwester auf sie zu, die die Bitte der beiden Agenten offiziell „absegnete“.

Meg richtete sich in ihrem Krankenbett auf und musterte ihre Besucher, die sich als FBI-Agenten vorgestellt hatten. Zögernd wisperte sie, an Scully gewandt: „Ich...ich denke, ich kenne Sie. Waren Sie beide in meiner Wohnung, als ...*es* passiert ist?“

„Ja, Miss Myers. Wir haben nach Ihrem Anfall den Krankenwagen gerufen.“

Ein kaum hörbares „Danke“, während Meg unverwandt in den strömenden Regen hinausstarrte. Die Hände mit den bis auf das Fleisch abgekauten Nägeln krampften sich um einen Zipfel der Bettdecke, sodass Scully unwillkürlich daran denken musste, wie Meg an ihrem Hals gehangen hatte, fast besinnungslos in ihrer irrationalen Furcht vor einem tödlichen Sturz.

Während sie noch nach Worten suchte, um sich mit der verstörten Frau unterhalten zu können, ergriff ihr Partner das Wort: „Sie haben gesagt, als ‘es’ passiert ist. Was ist denn vor Ihrer Einlieferung in das Krankenhaus genau passiert?“

Weiterhin blickte Meg weder Mulder noch Scully ins Gesicht, während sie langsam, stockend zu erzählen begann: „Ich habe mich ...nicht wohl gefühlt, also hab’ ich mich an diesem Tag bei meinem Chef krankgemeldet. Und vormittags hat’s dann an meiner Tür geklingelt. Ich habe also aufgemacht, aber ich habe eine Weile gebraucht, bevor ich...ich *sie* erkannt habe. Es war...Aileen.“

Scully konnte beobachten, wie die bläulich schimmernden Adern auf Megs Handrücken deutlich hervortraten, denn die Finger klammerten sich fester und fester um die Decke, als die Patientin mühsam nach den richtigen Worten suchte und offensichtlich feststellen musste, dass es keine gab, die irgendeinen Aspekt der ganzen Angelegenheit hätten beschönigen können.

Um ihr diesen Schritt zu erleichtern, sagte Scully sanft: „Wir wissen, wer Aileen Smith ist und... in welcher Beziehung Sie zu ihr stehen. Sie brauchen also nicht weiter davon zu reden.“

„Was für eine hübsche, zartfühlende Umschreibung, Agent ...Scully? Scully. Sie können sich ruhig überwinden, das laut auszusprechen, was Sie aus Rücksicht auf meine Nerven verschweigen wollen: Mike, Tess und ich hätten vor sechzehn Jahren Ally aus Versehen beinahe abgemurkst“, erwiderte Meg unerwartet sarkastisch.

„Ally?“

„Ja, Ally, so haben sie ihre Eltern genannt, und ihr kleiner Bruder. Er hieß... ach was, ich hab’ seinen Namen vergessen. Es ist schon so lang her, aber nicht lang genug...“ Sie stockte, nur um in dem selben sarkastischen Tonfall wie vorhin fortzufahren, bewusst gelassen, damit das Schwanken ihrer Stimme den fremden Besuchern verborgen bleiben mochte. „In der Schule hieß sie bloß ‘Aileenie-Weeny’, weil sie so klein war, selbst jetzt ist sie sogar um einiges kleiner als Sie, Agent. Wobei dieser Spitzname der harmloseste war, den sie in all den Jahren zu hören bekam. Und sie hat ‘ne ganze Menge zu hören bekommen, das kann man sagen. Es hat nämlich alles viel früher angefangen, nicht erst in Mikes Gartenschuppen... Das - das war natürlich das Schlimmste, aber wir hatten ja keine Ahnung, versteh’n Sie, wir konnten nicht wissen, dass sie diese Scheiß-Angst vor geschlossenen Räumen hatte. Davor hatte sie mehr Angst als vor allem Anderen auf der Welt...“

Es verstrichen einige Augenblicke, bis Meg sich gefangen hatte und weiter sprechen konnte, wobei sie zwar ihre gewohnte Ruppigkeit wieder annahm, sich jedoch hartnäckig weigerte, den Blicken von Scully oder Mulder zu begegnen. „Warum sind Sie überhaupt zu mir gekommen? Wollen Sie Ihre Zeit auf Kosten des Steuerzahlers damit vergeuden, mit mir über ein ‘Kapitalverbrechen’ zu reden, das seit langem vor einem Jugendgericht abgeschlossen wurde?“

„Wir wollten mit Ihnen ursprünglich über den Tod von Teresa Summer sprechen“, entgegnete Mulder ruhig und übersah Megs bissige Bemerkungen geflissentlich, ebenso wie die Tatsache, dass ihre Gesichtsfarbe um einige Nuancen blasser wurde, soweit das möglich war.

„Sie denken doch nicht etwa, dass ... dass Ally Tess umgebracht hat oder so?“, quiekte sie.

„Wahrscheinlich nicht, es scheint sich um eine natürliche Todesursache zu handeln“, mischte Scully sich ein, wobei sie nun an der Reihe war, etwas geflissentlich zu übersehen, und zwar die entrüsteten Blicke, die Mulder ihr zuwarf. „Dennoch gibt es ein paar ungeklärte Fragen, die möglicherweise im Zusammenhang mit Aileens... *Besuch* bei Ihnen stehen, und darüber möchten wir uns gerne mit Ihnen unterhalten.“

„Dann fragen Sie schon! Bringen wir’s hinter uns, wenn’s denn sein *muss*.“

„Erzählen Sie uns doch einfach, was sich genau abgespielt hat.“

„Was gibt’s da groß zu erzählen?“, meinte Meg achselzuckend und grinste sardonisch. „Nachdem ich sie erkannt hatte, hab’ ich sie ‘reingelassen, und schließlich hat sie mich gefragt, was ich immer gehofft ha -“ Ein gekünsteltes Räuspern. „Also, sie fragte mich, warum wir drei ihr das damals angetan haben, oder irgendwas in der Art, und dann erinnere ich mich bloß noch daran, dass ich in meinem eigenen Wohnzimmer völlig meschugge geworden sein muss, nach dem, was die Ärzte mir hier erzählen. Genügt Ihnen das fürs Protokoll?“

Trotz der Frustration, die sie empfand und der Abscheu bei der Erinnerung an die Akte über den Fall „Aileen Smith“ keimte in Scully ein vages Mitleid für die Frau auf, die sich betont flegelhaft und aufsässig gebärdete, wie eine Reminiszenz an das heranwachsende Mädchen, das vor dem Jugendgericht gestanden und dort allerdings laut den Protokollen eher ehrlich geschockt und verwirrt gewirkt hatte. Flüchtig berührte sie Megs ineinander verschlungene Hände - und das genügte. Den Blick noch immer abgewandt, sprach Meg weiter, während ihr stumme Tränen unbemerkt über die Wangen liefen.

„Ich - ich *wollte* sagen, dass es unsere Schuld war, dass es keine Entschuldigung dafür gibt, und trotzdem hab’ ich versucht, mich ‘rauszureden. Ich *konnte*’s einfach nicht zugeben. Nie... nie werde ich vergessen, wie sich mich angesehen hat, so... hasserfüllt. Und so enttäuscht. Auf einmal hat sie meinen Arm gepackt, und ihre Finger waren kalt, sodass auch mir eiskalt wurde. Nicht an meinem Arm, wissen Sie, sondern tief in mir drinnen, und ich weiß nicht, wieso ich mir das einbilden konnte - aber ich *war* plötzlich auf meinem Balkon, ich hing am Geländer, wusste genau, im nächsten Augenblick werde ich hinunterfallen und bin ...tot.“

Inzwischen wurde Meg von heftigen Schluchzern geschüttelt und bebte am ganzen Körper, denn wie Michael Piper schien sie zur Gefangenen ihrer ureigensten Alpträume geworden zu sein und den entsetzlichen Moment unablässig aufs Neue zu durchleben. Besorgt tastete Scully nach der Notrufklingel, als sich Meg offenbar bewusst wurde, dass sie sicher in ihrem Krankenbett lag. „Ich dachte tatsächlich, ich muss sterben. Ich habe grässliche Angst vor Höhen, es ist eine richtige Phobie, seit ich vor zehn Jahren beim Bergsteigen fast verunglückt wäre. Ich glaube, solche Angst hatte ich noch nie im Leben...“

Mulder wartete einen Moment lang ab, bis sich Meg halbwegs beruhigt hatte und fragte dann: „Wissen Sie zufällig, ob Michael Piper eine ähnliche Phobie hatte, nämlich vor Schlangen?“

Meg verzog ihr verweintes Gesicht zu einer Grimasse, die vermutlich ein Lächeln darstellen sollte. „Woher wissen Sie das? Mike hat sich jedes Mal fast in die Hose gemacht, wenn er eine gesehen hat. Tess und ich haben ihn damit immer aufgezogen, dass wir es den anderen in der Schule verraten werden, weil es außer uns bloß seine Familie gewusst hat. Mike hat sich deswegen richtig geschämt. Er wollte kein solcher Feigling sein wie Ai-“

Laut aufschluchzend vergrub sie ihren Kopf in den Kissen und machte sich nicht mehr die Mühe, die Tränen zurückzuhalten oder ihre vermeintliche Schwäche verbergen zu wollen. In diesem Augenblick entschied Scully, dass es mehr als genug für Meg war und stand auf, um die Krankenschwester zu holen. Bevor die Agenten jedoch den Raum verlassen konnten, rief eine erstickte Stimme sie zurück: „Sie suchen nach Aileen, nicht wahr? Wenn Sie sie sehen, bitten Sie sie, zu mir zu kommen. Es gibt so vieles, was ich ihr zu sagen habe.“

„Das werden wir, Meg“, antwortete Mulder behutsam und nahm damit zu Scullys leisem Erstaunen ihre eigene Antwort vorweg. „Wir versprechen es Ihnen.“

Um die Beklemmung abzuschütteln, die sie überkommen hatte, versuchte sich Scully an einer mehr oder weniger witzigen Bemerkung über den gegenwärtigen Stand von Mulders „Theorien“.

„Sie werden’s nicht glauben, Scully, aber ich habe tatsächlich eine ‘Theorie’. Es handelt sich ganz eindeutig um Su-“

„Suggestion, Mulder. Ich weiß.“

Sein Gesichtsausdruck war schlicht und einfach unbezahlbar.

„*Sie* entwickeln Theorien über Suggestion? Fühlen Sie sich eventuell krank, oder beginnt sich unsere Beziehung im verflixten siebten Jahr zu verändern?“

Scully bedachte ihn mit einem ihrer berühmt-berüchtigten Blicke und fuhr ungerührt fort: „Ich mag ja eine Skeptikerin sein und meine Zweifel daran hegen, aber nach all der Zeit mit Ihnen kann ich mir denken, worauf Ihre ‘Theorien’ hinauslaufen... Und außerdem“, fügte sie ein wenig leiser hinzu, „denken Sie, dass der Fall Modell/Bowman bei mir keinerlei Spuren hinterlassen hat? - Allerdings mussten diese mit ihren Opfern reden, um die suggestiven Fähigkeiten anzuwenden, was hier eindeutig nicht so war. Glauben Sie denn, dass Aileen Smith unter diesem Tumor oder sonstigen krankhaften Veränderungen im Gehirn leidet?“

„Müssten wir überprüfen, ich habe jedoch eine andere, hm, ‘Theorie’. Vergessen Sie nicht, dass Michael Piper Angst vor Schlangen hat.“

„Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, dass unsere Verdächtige mit einer Python unter dem Arm in seine Wohnung hinein- und wieder herausspaziert ist, um ihn zu Tode zu erschrecken? Oder dass sie ihm die Schlangen ...suggeriert hat?“

„Haar-ge-nau. Piper hat eine Schlangenphobie und sieht einen Haufen liebenswerter Kriechtiere, die nicht vorhanden sind, während Meg Myers, die an heftiger Höhenangst leidet, sich offenbar zum Spaß an ihr Bücherregal hängt, weil sie denkt, es wäre das Balkongeländer. Lauter vollkommen alltägliche Dinge.“

Unter Scullys strafenden Blicken ließ Mulder seinen aufgesetzten Sarkasmus fallen und setzte ernsthaft und aufrichtig hinzu: „Die beiden haben vor Jahren Aileen trotz ihrer massiven Klaustrophobie in ein winziges Kellergelass eingesperrt. Der Gerichtspsychologe hat bei ihr ein regelrechtes Angsttrauma diagnostiziert, ihre Mutter hat bei ihrer Aussage sogar behauptet, ihr Kind sei vor Angst beinahe gestorben. Das erklärt meiner Meinung nach einiges.“

Scully *musste* fragen, worauf er letztlich hinauswollte, obschon sie es bereits ahnte - was sie ahnte, gefiel ihr keineswegs.

„Nahtoderfahrungen“, dozierte er, „können manchmal langfristige Auswirkungen auf die Leute haben, die dergleichen erleben.“

„Auswirkungen, die stets psychologischer Natur sind“, unterbrach ihn Scully. „Wie Persönlichkeitsveränderungen, sowohl negativer als auch positiver Art.“ Sie verstummte und versuchte, die Bilder zu verdrängen, die ungebeten in ihr aufstiegen. Eine friedliche, idyllische Seenlandschaft, rotgoldenes Herbstlaub, ziehende Wolken, kleine Wellen schwappen an das Ufer das Sees und lecken am Holz des Ruderbootes, in dem sie... - Entschlossen wies sie sich zurecht und zwang sich, das beunruhigende Gefühl und gleichzeitig die tiefe Ruhe dieser Erinnerungen im Augenblick zu vergessen und sich auf das zu konzentrieren, was Mulder sagte.

„...die Gabe verliehen, jeden das sehen zu lassen, wovor er jeweils am meisten Angst hat. Kein Wunder, dass Michael Piper wahnsinnig geworden und Teresa Summer an Herzversagen gestorben ist!“

„Und wieso steht Meg Myers ‘nur’ unter Schock? Sie müsste Ihrer ‘Theorie’ zufolge auch in der Psychiatrie sein - oder tot.“

„Ich weiß es nicht.“ Mulder zuckte die Achseln. „Vielleicht war Aileen nur kurze Zeit bei ihr, mehr als einige Minuten können es nicht gewesen sein. Und wir haben Meg dann noch rechtzeitig aus diesem Trancezustand gerissen, keine Ahnung. Vermutlich ist Aileen die einzige, die diese Frage beantworten könnte, wenn wir sie finden.“

Scully schenkte ihm als Antwort ein unerwartetes Lächeln. „Egal, ob Ihre ‘Theorie’ nun wahr ist oder nicht, wir müssen Aileen ohnehin finden. Wir haben es Meg versprochen...“

Und mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen, in Richtung Ausgang, um den trübsinnigen Krankenhausflur gegen einen trübsinnigen Parkplatz im Nieselregen einzutauschen. Die Feindseligkeit, die sie vorher verspürt hatte, war verschwunden und hatte einer gewissen Resignation Platz gemacht. Natürlich war sie mit dieser ‘Theorie’ wieder einmal (wie so oft) ‘überrumpelt’ worden, doch war sie innerlich zu leer und zu müde, um sich darüber aufzuregen. Die einzigen Gefühle, zu denen sie im Moment fähig war, waren ein vages Mitleid mit Opfern, die zu Tätern wurden, weil sie so ihre persönlichen Dämonen exorzieren wollten, die sich in den Tätern neue Opfer suchten - Mitleid und eine kalte Furcht bei der Vorstellung, sehen zu müssen, was ihr am meisten Angst einjagte.

***

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Tatsächlich? „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn-“ Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, wollte Scully sagen, doch die Worte blieben an ihren Lippen kleben, so unpassend schienen sie ihr in diesem Augenblick. Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit waren nicht hier, nicht in einer Welt, die von dem Bösen noch lange nicht erlöst worden war.

Sie brach das Vater Unser mitten im Satz ab und hob den gesenkten Kopf um ein Stückchen, sodass sie den schlichten Altar am Ende des Kirchenschiffes genau im Blickfeld hatte. Obwohl sie, wie ihr jemand einmal gesagt hatte, normalerweise in diese Kirche kam, weil sie einen Sinn für Kunst hatte und sich an der ruhigen, harmonischen Architektur des Gebäudes erfreuen konnte, war sie ausnahmsweise gekommen, um in Ruhe zu beten, was sie seit November nicht getan hatte. Nicht seit Afrika.

Das leichte Flackern des Ewigen Lichts vor dem Tabernakel wirkte auf sie beinahe wie ein spöttisches Zwinkern, das von der Möglichkeit kündete, ihr neu gewonnener Glaube könne eine Lüge sein, eine Illusion, eine gigantische Täuschung. Sie schalt sich selbst dafür, dass es ihr monatelang im Kopf herumgegangen war, die Bibel sei möglicherweise nicht Gottes Wort, sondern von Außerirdischen - kleinen grünen oder grauen oder meinetwegen rosa gestreiften Männchen, Dana! - verfasst worden.

Im sanften Halbdunkel des Kirchenraumes, in dem das einfache Silberkreuz auf dem Altar umso stärker funkelte und alle Blicke auf sich zog, begannen die nagenden Zweifel jedoch zu verebben. Wer (oder *was*, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf, die verdächtig nach Mulder klang, weshalb sie lieber nicht darauf hören wollte) auch immer die Inschriften auf dem Artefakt verfasst hatte, mochte die Schriften der Bibel und des Korans als eine Art ironischen Verweis darauf, dass er mit Kulturen, Religionen und Überlieferungen der Menschen vertraut war, verwendet haben, oder als schlechten Scherz, er war aber bestimmt nicht der ursprüngliche Urheber der Zitate.

Scully hatte es Mulder schließlich oft genug gesagt: Warum rannte er jedem blinkenden Licht am Nachthimmel hinterher und schloss dafür die Möglichkeit eines religiösen Wunders oder sogar der Existenz Gottes aus? Nicht einmal seine wildesten Theorien konnten erklären, wer jenen ersten Funken des Lebens entzündet und ein unendlich vielfältiges Universum hervorgebracht hatte. Wieso weigerte er sich also zu glauben? Die Antwort auf diese Frage kannte sie längst - aus demselben Grund, aus dem es ihr schwer gefallen war, die letzte Zeile des Vater Unsers laut auszusprechen. Er fühlte sich von dem Gott, den er leugnete, betrogen, betrogen um Erlösung, Gnade, Liebe. Unwillkürlich wandte sie sich vom Altar ab, in eine andere Richtung, wo ihr in einem der Seitenschiffe das Heiligenbild mit der Herz-Jesu-Darstellung ins Auge fiel. Lodernde Flammen schossen aus diesem Herzen, das vor Liebe, Mitleid und Güte entflammt war. Ein merkwürdig pathetisch anmutendes Gemälde für jemanden, der mehr von Furcht und Angst wusste, als ihm lieb war.

Angst... Scullys Gedanken kehrten zu dem Fall zurück, den sie ursprünglich für kurze Zeit aus ihrem Kopf hatte verbannen wollen. Was wäre, wenn Mulder Recht behalten hätte? Wenn die Opfer vor Schrecken starben, weil sie den Anblick ihrer zutiefst empfundenen Ängste nach einer Weile nicht mehr ertragen konnten? Was würde sie an ihrer Stelle sehen? Verschwommene Gesichter, die sich manchmal in ihren Träumen vermischten, überlagerten, austauschbar wurden, ein jedes ein Synonym für den Schrecken - Duane Barry, Donnie Edward Pfaster, Gerald Schnautz... Ein leeres weißes Krankenhausbett, an das sie zu spät geeilt war, so dass sie ihre Schwester nur noch an ihrem Grab hatte besuchen können, wo ihr Gewissen in der Stimme der Toten zu ihr sprach. Die sterile Leblosigkeit eines Hospitalzimmers, wo das Sterbebett einer krebskranken Frau stand, deren Schicksal allzu leicht ihr eigenes hätte werden können. Das hübsche, aber blasse Gesichtchen eines kleinen Mädchens, das ihr genommen worden war, kaum dass sie es gefunden hatte.

‘Der Herr gibt, und der Herr hat genommen. Gesegnet sei der Name des Herrn.’ Für solche Bibelzitate hatte Scully nie besonders viel übrig gehabt, denn in ihren Augen lag darin weder Trost noch göttliche Gerechtigkeit. Wenn es einen allmächtigen Gott gab, der das Universum lenkte, warum konnte er den Menschen nicht etwas mehr Beistand gewähren, eine Stütze, einen Halt in ihrem Leben? Das schweigende, gleichgültige Gesicht des Marmorengels neben ihr, dessen pausbäckige, halbkindliche Züge sie schmerzhaft an diejenigen Emilys erinnerten, lächelte sie in entrückter Seligkeit an, als wolle der Engel sie daran erinnern, dass es keinem Theologen bisher gelungen war, das Problem der Theodizee zu lösen, und dass sie einfach daran glauben sollte, dass sie eines Tages diesen Halt finden würde. Oder auch nicht.

„Erlöse uns von dem Bösen. Amen“, wiederholte Scully bestimmt und beendete damit ihr Gebet. Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit mussten eben warten, denn neben dem Bösen war für sie kein Platz. Langsam stand sie auf und steuerte auf den Ausgang zu, um ihre Ermittlungen fortzuführen. Sie würde als erstes Aileen Smiths Mutter aufsuchen, während Mulder einige ihrer Arbeitskollegen befragen wollte.

***

„Ich bin Bundesagentin und bewaffnet! Bleiben Sie sofort stehen!“ Aileen zögerte bei Scullys Worten und hielt vor dem rostigen Gitterzaun an. Unsicher wandte sie ihr Gesicht der Agentin zu, wobei dessen Ausdruck an den eines gehetzten Tieres erinnerte, das sich von seinen Häschern in die Falle getrieben fühlt. Scully seufzte innerlich bei dem Anblick der verhutzelten Gestalt mit dem verhärmten Gesicht, die allem Möglichen glich, jedoch keiner Mörderin. Verängstigt wirkte sie, panikerfüllt, hilflos, schutzsuchend. Darum war Aileen hierher gekommen, obwohl sie damit rechnen musste, dass man sich bei ihrer verwitweten Mutter nach ihr erkundigen würde.

Je näher Scully dem bescheidenen Reihenhaus in einer anonymen, gesichtslosen Vorortstraße gekommen war, desto lauter war die innere Stimme geworden, die ihr beständig zurief: „Aileen Smith ist hier. Sie ist hier. Hier und nirgends anders.“ Normalerweise waren vage Ahnungen und Eingebungen Mulders Sache (er hatte bei der Behavioral Science Unit als Profiler ausgiebig Gebrauch von seiner einzigartigen Gabe gemacht), aber dieses Mal wusste Scully mit der gleichen traumwandlerischen Sicherheit, dass Aileen sich hierher geflüchtet hatte. Und wieso. Sie hatte Angst - hier war ihr Zuhause. Ein Begriff, der Sicherheit versprach, Geborgenheit, Wärme, denn aus den alten Gerichtsakten ging hervor, dass Aileens Familienleben - im krassen Gegensatz zu ihrer Schulzeit - weitgehend ein glückliches gewesen sein musste. „Wo wärst du hingegangen, Dana?“, flüsterte die Stimme und antwortete sogleich: „Heim. Wohin denn sonst?“

Da sie als Kind eines Navy-Captains öfter umgezogen war, als ihr damals lieb gewesen war, bedeutete ‘zuhause’ nicht einen bestimmten Ort, sondern das Haus, in dem ihre Mutter zur Zeit lebte. Mochte sie wenig Zeit für ihre Familie haben, mochten ihre Brüder ebenfalls beruflich viel unterwegs sein, mochte sie zu Bill nicht unbedingt das beste Verhältnis haben, mochte ihre Familie durch natürliche und gewaltsame Tode auseinander gerissen worden sein, das Haus ihrer Mutter blieb allem zum Trotz ein Zufluchtsort im Auge des Sturms, die Erinnerung an vergangene Jahre der Kindheit.

Offensichtlich hegte Aileen ähnliche Gefühle, denn als Scully durch den Vorgarten zur Tür geschlendert war, hatte sie beobachten können, wie die Frau durch die Verandatür an der Seite des Hauses flüchtete und die menschenleere Straße hinabstürmte, begleitet vom Stakkato ihrer Absätze auf dem Asphalt und ihren schweren, keuchenden Atemzügen. „Sie müsste regelmäßig Joggen gehen oder auf der ‘Brick Road’ in Quantico trainieren!“, dachte Scully grimmig, als sie die Verfolgung aufnahm. Tja, nun standen sie hier, hinter Aileen der Zaun, links von ihr eine unüberwindbar hohe Ziegelmauer, auf ihrer rechten Seite in etwa 50 Metern Entfernung eine verkehrsreiche Straßenkreuzung und vor ihr Scully, die ihre Sig Sauer auf Aileen gerichtet hatte. Schachmatt. Aileens Zunge schnellte vor, um die trockenen Lippen zu befeuchten.

„Was - was wollen Sie von mir?“, erkundigte sie sich mit heiserer Stimme.

Da Aileen keine weiteren Fluchtversuche oder gar Widerstand zu planen schien, senkte Scully ihre Waffe ein Stück und trat auf die am ganzen Leibe zitternde Frau zu.

„Wir möchten Sie zunächst als ... Zeugin im Fall Teresa Summer vernehmen. Außerdem würde uns interessieren, was Sie letzte Woche in Meg Myers’ Apartment zu suchen hatten, und Sie werden wegen Widerstands gegen zwei Bundesagenten gesucht. Aber deswegen werde ich Sie jetzt kaum über den Haufen schießen“, ergänzte sie trocken und ergriff sanft, aber bestimmt Aileens Arm.

„Ich weiß“, wisperte diese. „Ich denke, Sie haben sehr hohen Respekt vor dem Leben eines Menschen. Mehr als... andere... Leute. Ich kann es förmlich spüren. Deshalb tut es mir ehrlich leid...“

Was tat ihr ehrlich leid, fragte sich Scully irritiert, während sie Aileen Handschellen anlegen wollte und urplötzlich gegen eine Welle der Übelkeit ankämpfen musste. Nein, Übelkeit war nicht der richtige Ausdruck - was ihren Körper schubweise übermannte, war vielmehr ein Gefühl der Beklemmung, von Kälte, die langsam, aber sicher in all ihre Glieder sickerte, um ihre Bewegungen, ja ihr Denken zu lähmen.

Das Gefühl hieß Furcht, und es erinnerte Scully an zu viele Nächte, in denen sie in kaltem Schweiß gebadet aufgewacht war, gejagt von namenlosen Phantomen, soeben in einem Alptraum eingezwängt in einen engen, stickigen, muffigen Kofferraum, der sie klaustrophobisch anmutete, verschlungen von der heraufdämmernden Dunkelheit, gefangen in einem Tank voll milchig grüner Flüssigkeit, stets hilflos, machtlos und allein, so unendlich allein...

Als sie bereits vermeinte, ihr Mittagessen von sich geben zu müssen (‘Und dabei habe ich doch gesündere Essgewohnheiten als Mulder mit seiner Vorliebe für Pommes, Chili und Burger’, schoss ihr absurderweise durch den Kopf.), gelang es ihr, sich mühsam zu beherrschen. ‘Konzentrier dich, Dana!’, befahl sie sich streng. ‘Du hast eine Aufgabe, einen Fall...’ O Gott, der Fall! Trotz der Übelkeit und des einsetzenden Schüttelfrosts setzte sie, so schnell sie konnte, Aileen hinterher, die die Handschellen zu Boden geschleudert hatte und auf die Kreuzung zuhielt. Beinahe hatte Scully sie eingeholt, bloß noch zehn lumpige Meter, als der Klumpen in ihrer Kehle so groß wurde, dass er ihr den Atem raubte. Für einen kurzen Moment verschwamm alles vor ihren Augen, und sie blinzelte.

Doch als sie sie wieder öffnete, hätte sie vor Freude am liebsten laut geschrieen: Mulder kam vom anderen Ende der Straße auf Aileen zugespurtet, die in diesem Moment über die Kreuzung hastete, sodass Scully selbst durch das merkwürdige Rauschen in ihren Ohren die quietschenden Bremsen der Autos hören konnte, die abrupt zum Anhalten gezwungen wurden. Eigentlich hätte sie sich darüber ärgern sollen, dass er entgegen ihrer vorherigen Abmachung hierher gekommen war, oder noch mehr darüber, dass sie augenscheinlich auf seine Hilfe angewiesen war, denn inzwischen brachte sie keinen Ton heraus oder konnte kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen, ohne dabei ein wenig zu taumeln, aber alles was sie verspürte, war Erleichterung. Jedenfalls für kurze Zeit.

Aileen stand unbeweglich auf der Verkehrsinsel in der Mitte der Kreuzung, sich ihres zweiten Verfolgers anscheinend überhaupt nicht bewusst, stattdessen fixierte sie Scully mit unverwandtem Blick, und ein Schimmer von Mitleid huschte über ihr Gesicht, bevor sie sich endgültig abwandte. Mitleid? Ja, eindeutig Mitleid ... als hätte sie gewusst, dass Mulder in seinem Eifer den LKW übersehen würde.

„O MEIN GOTT!“, wollte Scully rufen, aber ihre Stimme versagte ihr vollends den Dienst. Du hast vorher gedacht, dir sei kalt? Jetzt ist dir WIRKLICH kalt. In Windeseile kroch ein Gefühl der Eiseskälte, schlimmer als die Polarstürme der Antarktis (und sie wusste, wovon sie da sprach), durch ihre Adern, um ihr das sprichwörtliche Blut darin gefrieren zu lassen. Jeder einzelne Tropfen erstarrte zu filigranen Kristallen, bis sich ihr ganzer Körper vollkommen taub anfühlte. Schließlich erreichten die eisigen Flammen, die ihr Inneres verzehren wollten, ihr Herz, und sie fühlte, wie es brach.

„Das ist also nicht nur ein Ausdruck aus billigen Liebesschnulzen“, dachte sie erstaunt. „Ich glaube, es ist tatsächlich...“ Gebrochen, zersprungen in Tausende und Abertausende frostiger, kleiner Splitter, die sie mit stechenden Schmerzen peinigten, durch die sich jeder Atemzug so anfühlte, als durchbohre ein Dolch ihre Lunge, die ihre Augen füllten, sodass sie nichts mehr sehen konnte, die ihre Ohren verstopften, sodass sie nichts mehr hörte, die ihre Gedankengänge zerfetzten.

Alle Fragen - ‘Warum hat dieses Arschloch im LKW nicht gestoppt? Wieso hält denn kein Wagen an? Was ist mit Aileen? Ich sollte wohl einen Krankenwagen rufen, oder?’ - erstarben vor dem Bild, das sich auf ihrer Netzhaut eingebrannt hatte. Die riesige Blutlache mitten auf der Kreuzung und darin - „Ogottogottogottogottogott...“

Das rhythmische Klappern ihrer Zähne begleitete auf makabere Art und Weise die einzigen Worte, zu denen sie fähig war, und langsam, wie in Trance, zwang sie sich vorwärts, um ihm mit ihren medizinischen Kenntnissen zu helfen, obwohl eine spöttische Stimme in ihrem Hinterkopf grausam hinzufügte, dass weniger eine Ärztin gefragt war als ein Bestattungsunternehmen. Kein Wunder, dass sie in diesem Zustand ebenfalls einen Wagen übersah. Der Schock und der Schmerz waren kurz, und danach kam die sanfte, gesegnete Umarmung der Dunkelheit.
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