World of X

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Die Erinnerung stirbt nie

von maggy_144

Kapitel 4

***

Nach der Dunkelheit kam das Licht, jenes grelle, gleißende, weiße Licht ihrer Alpträume, das von der Decke auf sie herabflutete, wo sich bereits, mit ekelhaftem Surren, der bedrohliche Bohrer in Bewegung setzte. Wie in jedem der Nachtmahre warf sie wie wild den Kopf hin und her, den einzigen Körperteil, der nicht von der lähmenden Starre betroffen schien, die sie auf dem OP-Tisch festhielt.

Und wie jedes Mal erblickte sie dabei die schattenhaften Gestalten, die Männer, die sich über sie beugten, die ihr scheinheilig versicherten, dass sie ihnen allen trauen konnte, während sie ihnen am liebsten ins Gesicht gespieen hätte. Laut schreien wollte sie, um Hilfe rufen, doch war ihre Zunge so pelzig und der hämmernde Schmerz in ihrem Kopf so unerträglich, dass sie lediglich ein unverständliches Lallen, ein kindliches Wimmern hervorstieß.

Doch im Gegensatz zu jedem anderen der Träume spürte sie kühle Finger, die behutsam ihre fieberheiße Wange streichelten, und eine ruhige Hand, die ihre zitternde umklammerte. Auch Worte des Trostes kamen in den Träumen normalerweise nicht vor, jedoch hörte sie dieses Mal aus der Ferne eine Stimme, die sanft auf sie einredete. Es war zu anstrengend, die Bedeutung der Worte zu verstehen, was aber keine Rolle spielte - der Tonfall war beruhigend, freundlich, liebevoll.

Natürlich - *sie* hatten Penny zu ihr gelassen, Penny saß neben ihr, um ihr Trost zu spenden, Penny wollte die Schmerzen und die Angst vergessen machen. War Penny nicht tot? Hieß das, dass auch sie gestorben war? Und war das nun die Hölle, die ewige Erinnerung an die Qualen ihrer Entführung vor fünfeinhalb Jahren, oder das Paradies, das Gefühl von jemandem umsorgt zu werden, dem sie vertraute? ‘Fegefeuer’, überlegte Scully, ‘vielleicht bin ich ja im Fegefeuer.’

Und sie öffnete ihren Mund, um Penny danach zu fragen - wieder kam nicht mehr als ein abgehacktes Stammeln heraus; zumindest konnte sie zum Teil verstehen, was die vertraute Stimme antwortete: „Psssst. Nicht reden, ganz einfach entspannen. In Ordnung, Scully?“

Scully? Penny hatte sie niemals anders als ‘Dana’ genannt, sie kannte nur eine einzige Person, die sie so ungezwungen mit ‘Scully’ anreden würde - und die war tot. Im Bruchteil einer Sekunde stürmten die Bilder von Mulders Tod an der gottverdammten Kreuzung in Washington auf sie ein, begleitet von der gewohnten Kälte in ihrem Herzen, und unwillkürlich entrang sich ihr ein gequältes Schluchzen. War es doch die Hölle, die sie foltern wollte, durch diese grässlichen Bilder und durch seine Stimme, die ihr im selben Augenblick versicherte, es sei alles in Ordnung.

Indem sie ihre Kräfte zusammennahm, gelang es ihr, die Augenlider zu heben, die offenbar einige Zentner wogen - und blickte direkt in Mulders besorgtes Gesicht. Etwas verschwommen zwar, aber eindeutig Mulder. Somit konnte sie ja wohl kaum in der Hölle sein, folgerte sie, um prompt zu erstaunt fragen: „Bin ich ...tot und im Himmel?“

Er musste seinen Mund fast an ihr Ohr legen, um das heisere Flüstern zu verstehen, das ihn zunächst sehr verwunderte. Dann wich die Verblüffung in seinen Augen amüsierter Erleichterung, die ihn um ein Haar zum Lachen gebracht hätte - oder zum Heulen, je nachdem.

„Tja, ich würde sagen, Sie müssen sich damit ein bisschen gedulden. Der Himmel ist auch nicht mehr das, was er mal war, Scully, wenn er aussieht wie die Notaufnahme des Northeast Georgetown Medical Center.“

Es war ihr völlig gleichgültig, ob Paradies oder Krankenhaus, ob Fegefeuer oder Höllenqual, ob Traum, Vision oder Wirklichkeit, wie Mulder heil und gesund dort hingekommen war, Hauptsache, er war da. Auf einmal schien es sogar tief in ihrem Innersten wärmer zu werden, während der eiserne Griff der Angst sich lockerte. Wesentlich gelöster als zuvor schlüpfte sie zurück in die Bewusstlosigkeit.

***

Vor dem Fenster des Krankenhauszimmers hämmerte der nie enden wollende Regen auf das Wellblechdach der Garage, und das rhythmische Prasseln wirkte auf Mulder einschläfernd, da er seit mehreren Stunden in dem unbequemen Stuhl neben Scullys Bett saß. ‘Normalerweise ist es eher umgekehrt’, dachte er belustigt. ‘Ich stolpere durch die Eisfelder Alaskas, lasse mich von Agenten des Konsortiums verprügeln oder von Zombies attackieren, sodass Scully allmählich die Nase voll von Notaufnahmen haben dürfte. Zumindest kann ich jetzt nachvollziehen, warum sie jedes Mal so wütend auf mich war.’

So bald wollte er etwas Ähnliches nie wieder erleben - die Fahrerin des Autos, in das Scully gerannt war, hatte sofort angehalten, über ihr eigenes Handy einen Krankenwagen alarmiert und vor dessen Ankunft mehr schlecht als recht erste Hilfe geleistet, wobei sie Scullys Telefon entdeckt hatte. Aus einem unbestimmten Pflichtgefühl heraus hatte die Frau es für nötig gehalten, Verwandte oder Freunde des Unfallopfers zu informieren und dazu einfach die erste Kurzwahltaste gedrückt: seine Nummer.

Mochte er der Helferin einerseits für all ihre Bemühungen unendlich dankbar sein - es sollte tatsächlich Leute geben, die es nicht für nötig gehalten hätten, die Ambulanz zu rufen -, dafür hätte er sie am allerliebsten höchstpersönlich erwürgt. Da bei der Frau langsam der Schock eingesetzt hatte, (und wer konnte ihr das verdenken?), hatte er am anderen Ende der Leitung eine laut schluchzende, immer konfusere Stimme vernommen, die ihm stammelnd von dem „schweren Unfall“ der „rothaarigen Frau“ berichtet hatte, dass „sie es nicht gewollt habe“, dass sie einen Krankenwagen geholt hätte, aber - „was soll ich denn machen, wenn sie stirbt?“

Das hatte sich Mulder in jenen atemlosen Sekunden des Entsetzens ebenfalls gefragt. Scully hatte eine tödliche Krebserkrankung überlebt und mehr lebensgefährliche Situationen, als er sich vorzustellen wagte - und wurde in einem Vorort von Washington von einem Auto überfahren, womit sie möglicherweise das letzte ihrer zahllosen Katzenleben verbraucht hatte.

Auf seinem Weg in die Notaufnahme des Krankenhauses wünschte er sich nichts sehnlicher als zwei Dinge - zu erfahren, wie schwer Scully in Wirklichkeit verletzt war und dass er sich sogleich nach ihrem Streit im Flugzeug bei ihr entschuldigt hätte. Wie hatte er ihr nur vorwerfen können, sie nehme ihn nicht ernst? Sie arbeitete seit fast sieben Jahren mit ihm zusammen, sie hätte hundertmal eine günstige Gelegenheit gehabt, die „X-Akten“ um einer lohnenderen Karriere in Quantico oder in der medizinischen Forschung willen zu verlassen, ach was, vorletzten Sommer hatte er sie praktisch darum angefleht. Und sie war dennoch geblieben, obwohl sein Benehmen manchmal unerträglich sein musste.

Der Vorwürfe, die er sich machte, war kein Ende: blanker Egoismus, mangelnde Sensibilität, Undankbarkeit. Natürlich ging ihm Scully hin und wieder auf die Nerven aufgrund ihres Standpunktes, der auf ihre Art ebenso einseitig sein konnte wie seiner, ihres ewigen Skeptizismus und ihres reservierten Verhaltens, das so selten die Gefühle unter der kühlen Oberfläche hervorschimmern ließ. In diesen Dingen waren sie beide heiße Anwärter auf den Weltmeistertitel - sag niemals, was du denkst, zeig niemals, was du empfindest, reiß schräge Witzchen oder zieh die Augenbrauen hoch, aber verrate niemals, dass du ein echtes menschliches Wesen bist, denn einen Menschen könnte man verletzen, „Spooky“ und die „Ice Queen“ nicht.

Und trotz aller Selbstschutzmaßnahmen, ob bewusst oder unbewusst, war er nichts weiter als ein Mensch, dem ein scullyloses Leben plötzlich undenkbar vorkam. Oh, er hatte schon versucht, ihr zu sagen, wie sehr er ihren Einsatz und ihr Vertrauen schätzte, stets mit dem nagenden Hintergedanken, dass sie ihn eventuell auslachen könnte, und er sich in ihr getäuscht hatte. Jedoch hatte sie ihm das Gegenteil bewiesen, und als sie den Preis für ihr blindes Vertrauen in ihn einforderte, sein unbedingtes Vertrauen in sie, hatte er ihr bei den Ermittlungen im Fall „Gibson Praise“ in Arizona oder beim Wiederauftauchen Cassandra Spenders zum Dank ins Gesicht gespuckt und war auf ihr herumgetrampelt, figürlich gesprochen. Soviel zum Thema Vertrauen.

Im Grunde genommen schuldete er ihr eine ganze Menge mehr Entschuldigungen, sodass er lediglich darauf hoffen konnte, dass sie über wahrhaft christliche Geduld verfügte. „Herr, wie oft darf mein Bruder gegen mich sündigen, und ich soll ihm vergeben? - Bis siebzigmal siebenmal.“ Eines der letzten Überbleibsel von Erinnerungen an lang zurückliegende Gottesdienstbesuche in seiner Kindheit war ihm unterwegs in den Sinn gekommen, während er flehentlich gehofft hatte, der Unfall möge weniger schlimm sein, als es sich angehört hatte.

Mulder, der im Alter von 13 Jahren aufgehört hatte, an Gott zu glauben, hatte seinem Atheismus zum Trotz zu feilschen begonnen. ‘Ich glaube ja nicht an dich, ich könnte wahrscheinlich genauso gut mit meinen Goldfischen reden oder mit einer Ziegelmauer, aber sie glaubt. Das ist doch schon mal ein guter Grund, sie nicht sterben zu lassen, oder? Ich meine, dass sie einen eingefleischten Leugner deiner göttlichen Existenz so weit gebracht hat, dass er ein Wesen um Hilfe bittet, von dem er seit gut fünfundzwanzig Jahren nichts mehr wissen will.’

Obgleich er sich unglaublich kindisch und lächerlich vorgekommen war, hatte er an einer roten Ampel, anstatt sie kurzerhand zu ignorieren, in der Tat angehalten und zum allerersten Mal in eben dieser Zeit einen unbeholfenen Versuch gewagt zu beten - das heißt, er hatte dieselben Gedanken, die ihm oft genug durch den Kopf gegangen waren, an Gott gerichtet: ‘Ihr darf nichts Schlimmes passiert sein. Ihr darf nichts zustoßen. Es muss ihr gut gehen... bitte.’

Als Mulder in der Notaufnahme erfahren hatte, dass seine Partnerin mit einer Gehirnerschütterung, einem schweren Schock, etlichen Prellungen, Abschürfungen und einer Platzwunde davongekommen war, hatte er ernsthaft erwogen, vor Freude auf die Knie zu sinken, oder auf ihre Frage, ob sie im Himmel sei, mit einem eindeutigen ‘Ja’ zu antworten.

Jetzt, da sie dank einer Spritze tief schlafend in ihrem Bett lag, kam das kahle Zimmer mitsamt dem beißenden Geruch nach Antiseptika drinnen und dem klammen Regen draußen in seinen Augen dem Paradies nahe genug. ‘Vergiss das Manna, die Wolken und die sphärischen Harfenklänge’, dachte er, ‘das hier reicht vollkommen. Na ja, für das Paradies haben sie allerdings verdammt unbequeme Stühle.’

Unbehaglich rutschte er hin und her und zog den Hocker kurz entschlossen ein Stück näher an ihr Bett heran, wo er nicht bequemer saß, dafür besser beobachten konnte, wie sich ihre Brust bei jedem Atemzug unter der Bettdecke sanft hob und senkte. Nach einer Weile döste Mulder mit diesem beruhigenden Bild vor Augen ein.

***

Am nächsten Tag

„Sie entlassen mich heute schon, Agent Mulder. Glücklicherweise, würde ich sagen, denn das Essen ist wirklich grauenhaft.“ Meg verdrehte angeekelt die Augen. „Und wie geht es Ihrer Kollegin, Agent Scully? Sie haben vorhin gesagt, dass sie gestern nach einem Unfall auch im Krankenhaus gelandet ist. Ich hoffe, das Essen ist dort wenigstens besser.“

„Ihr geht es relativ gut. Momentan schläft sie - darum hat mich die Schwester ja hinausgeschmissen, damit ich sie nicht störe. Ich denke, heute Nachmittag werde ich sie besuchen können. - Gott sei Dank“, fügte er leise hinzu, wobei er kurz darüber nachgrübelte, ob er letzteres als leere Floskel gebraucht hatte oder... im wahrsten Sinne des Wortes. „Und wie geht es Ihnen, Meg?“

„Tja, Unkraut vergeht nicht, wie’s so schön heißt. Ich muss allerdings eine Weile Beruhigungstabletten schlucken, und sie haben mir vorgeschlagen, bei einem Psycho-Doc ‘ne Therapie zu machen, ‘um meinen ungewöhnlich schweren Schock zu bewältigen, sowie mit den nervlichen Problemen umzugehen’“, flötete sie und schnaubte verächtlich. „Als ob ich mir das leisten könnte! Was denken die Herren und Damen Weißkittel denn, was man als Tippse verdient?“

Fast wäre Mulder versucht gewesen, ihre schauspielerische Leistung als oscarreif zu würdigen, doch er verkniff sich den Spott im letzten Moment. Ihn konnte ihr Auftreten nicht täuschen - er erkannte die Verunsicherung und Verletzlichkeit hinter der Maske der resolut-schnoddrigen Vorzimmerdame, die sich prompt in Megs nächsten Worten äußerten: „Wissen Sie inzwischen etwas darüber, wo Aileen steckt? Oder dürfen Sie mir das nicht sagen? Ich meine ... ich wollte mit ihr reden, und deshalb...“ Megs Stimme verlor sich in einem vagen Gefasel, bis sie schließlich verstummte.

„Ich kann Ihnen immerhin so viel sagen, dass sie bisher nirgends aufgetaucht ist und von den örtlichen Behörden wegen unterlassener Hilfeleistung, Widerstandes gegen Bundesagenten und als Zeugin in einer Ermittlung des FBI gesucht wird. Nicht sehr gründlich, vermute, weil die Polizei Dringenderes zu erledigen hat. Offiziell ist es eben kein Mord.“

„Mord?“, unterbrach ihn Meg sofort. „Wieso Mord? ...Ally hat Tess ermordet, und sie wollte mir auch etwas antun, nicht wahr?“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Sagen wir es so, ich habe da meine Theorie“, entgegnete Mulder ruhig. Da Meg inständig darum bat, die Theorie zu hören, erzählte er ihr alles, Wort für Wort, ohne ein Detail auszulassen. Als er fertig war, stimmte sie ein raues, ungehemmtes Gelächter an.

„Ich glaube, ich bin wohl nicht die erste, die Ihnen sagt, dass Sie einen Vogel haben. Nahtoderfahrungen - Suggestion - übernatürliche PSI-Kräfte! Meine sauer verdienten Steuergelder bei der Arbeit! Wenn in den restlichen Regierungsbehörden lauter solche Leute arbeiten wie sie, wundert’s mich nicht, dass es mit den Vereinigten Staaten den Bach hinunter geht. Ich schlage vor, Sie verschonen mich mit weiteren Theorien und lassen mich in Ruhe den letzten Rest der hiesigen Gastfreundschaft genießen. Der Fraß mag ungenießbar sein, aber der Kaffee ist spitze.“

Nachdem ihr Besucher endlich gegangen war, blickte Meg lange in den sintflutartigen Winterregen hinaus und zählte die Autos, die am Krankenhaus vorbeifuhren. Ein winzig kleiner Teil ihres Ichs verleugnete jeglichen gesunden Menschenverstand und wollte glauben, was Mulder ihr gesagt hatte - derselbe Teil, der instinktiv wusste, dass Aileen in der Tat beabsichtigt hatte, sie zu töten, und der es nicht einmal fertig brachte, sie deswegen zu hassen. Sie *hatte* sich nicht entschuldigt, und sie würde sich nie entschuldigen. Ein anderer Teil von ihr, derjenige, welcher die Schuld nicht akzeptieren wollte, hatte in Aileens Tat den perfekten Grund gefunden, ihr eigenes Vergehen im Geiste abzumildern.

Du wolltest ihr nie ernsthaft ein Leid zufügen, während sie kaltblütig und vorsätzlich Teresa ermordet hat. Damit ist sie dir moralisch weit unterlegen, denn du warst eine fehlgeleitete Jugendliche, während sie als Erwachsene im vollen Bewusstsein ihrer Tat gehandelt hat. Du bist eine ehemalige Peinigerin, während sie eine Mörderin ist. Und doch, und gerade deswegen ahnte Meg, dass sie und Aileen einander verblüffend ähnelten. Zwei ursprünglich zaghafte und harmlose Mädchen, verführt vom Gefühl der Macht, getrieben von den Gespenstern der Vergangenheit, von den Furien des Gewissens in die Zukunft gehetzt, vergebens auf der Suche nach Erlösung.

„Hört der gottverdammte Regen in dieser beschissenen Stadt denn überhaupt nie auf?“, schrie sie und schmetterte ihre Kaffeetasse zu Boden. Regen draußen, Scherben drinnen, Kälte draußen, Kälte drinnen - dieses Krankenzimmer war nicht jemandes persönliches Paradies, sondern Megs private Hölle auf Erden.

***

„Hi, G-Woman! Ich muss sagen, diese Make-up-Schattierungen um Ihre Augen stehen Ihnen ausgezeichnet! Ich habe gehört, dass rot-violett die neue Modefarbe der Saison sein soll“, scherzte Mulder beim Eintreten in Anspielung auf das gewaltige Veilchen, das in Scullys blassem Gesicht prangte.

„Halten Sie die Klappe, Mulder!“, erwiderte sie in einem freundlichen Tonfall, der ihre Worte Lügen strafte. „Es verblüfft mich nicht, dass Sie kein nennenswertes Liebesleben aufzuweisen haben, wenn Sie zu allen Frauen so charmant sind wie zu mir.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich mich anderen Frauen gegenüber genauso benehme? Manche Dinge sind eben speziell für Sie reserviert-“

„Eine zweifelhafte Ehre“, fiel sie ihm ins Wort, während er ungeachtet dessen fortfuhr: „Andere haben diesen Charme wahrscheinlich gar nicht verdient, ganz im Gegensatz zu Ihnen.“

Obwohl Scully ihn entrüstet zurechtwies, bemerkte Mulder das Zwinkern in ihren Augen, das jedoch im Bruchteil einer Sekunde erloschen war. „Wissen Sie mittlerweile Neues über den Verbleib von Aileen Smith?“, wollte sie wissen, woraufhin er das wiederholte, was er Meg mitgeteilt hatte. Scully murmelte halblaut etwas sehr Undamenhaftes - woraus Mulder schloss, dass sie von ihrem Vater mehr Seemännisches geerbt hatte als die Liebe zum Ozean - und es war ihr überdeutlich anzusehen, wie sehr sie sich im Geiste verfluchte.

„Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen!“, wollte er sie trösten, doch hatte er nicht mit ihrer heftigen Reaktion gerechnet.

„Ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen?“, schnappte sie. „Ich habe eine Zeugin oder Verdächtige oder was-zumTeufel-auch-immer entkommen lassen wie eine blutige Anfängerin und habe mich obendrein von einem PKW fast plattwalzen lassen, was bei Gott nicht von meiner Professionalität und meinen langjährigen Erfahrungen im Außendienst zeugt, und Sie sagen, ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen? Immerhin geht es um einen Mordfall, zumindest nach Ihrer Theorie.“

„Ja, um eine flüchtige Mörderin“, sagte er langsam. „Trotzdem glaube ich nicht, dass die Fahndung sehr gründlich verlaufen wird, denn, wie gesagt, wer glaubt uns schon, dass sie den Mord auf diese Weise begangen hat? Vielleicht wird sie bald gefunden, vielleicht nie, wenn sie sofort den Wohnort wechselt und anderswo ein neues Leben anfängt, vielleicht stellt sie sich freiwillig, wenn das schlechte Gewissen zu stark wird, oder vielleicht weiß sie ihr ...Talent weiterhin zu nutzen. Wer weiß. - Sie hat es auch bei Ihnen angewandt, nicht wahr?“, platzte Mulder beinahe gegen seinen Willen heraus.

„Was?“ Scully schrak zusammen und versuchte vergeblich so zu tun, als wüsste sie nicht, wovon er sprach.

„Mehrere Augenzeugen Ihres Unfalls haben berichtet, wie Sie - ich zitiere ‘wie in Trance’ - direkt über die Straße gegangen sind, ohne auf den Verkehr zu achten, sodass die Fahrerin gar nicht mehr bremsen konnte.“

„Ich denke nicht, dass sie mich in den Wahnsinn treiben oder töten wollte“, wisperte sie kaum hörbar. „Ich glaube, sie wollte mich lediglich vorübergehend ...ablenken. Ich weiß nicht, ob es eine fundierte wissenschaftliche Erklärung für Ihre Theorie gibt, Mulder, aber im Moment-“ Sie schluckte. „- weiß ich nicht, wie ich meine Erfahrung sonst erklären sollte. Und dennoch könnte ich mich in den Hintern treten! Ich meine, ich habe davon gewusst, ich hätte darauf vorbereitet sein sollen, ich hätte mich besser zusammennehmen müssen, ich-“

„Scully, erinnern Sie sich bitte an den Fall Modell/Bowman. Ich habe ebenfalls um die suggestiven Fähigkeiten der beiden gewusst, und habe ich mich mit Ruhm bekleckert? Nein, ich hätte Sie beide Male beinahe umgebracht, verdammt noch mal! Sie hätten bei dem Autounfall sterben können! Dass Sie jetzt heil und ganz - na ja, fast - vor mir sitzen, ist das Einzige, was zählt.“

Mit Erstaunen beobachtete er, wie in ihren klaren, blauen Augen Tränen aufblitzten, um sogleich wieder zu verschwinden, während eines ihrer seltenen Lächeln ihr Gesicht aufleuchten ließ. „Danke“, flüsterte sie. „Mulder, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, wegen des Streits im Flug-“

„Nein, ich denke, ich habe mich bei *Ihnen* zu entschuldigen, für das, was ich Ihnen alles vorgeworfen habe und vermutlich für eine ganze Menge mehr. Es tut mir ehrlich leid, dass Sie von mir nicht immer den Respekt bekommen, den Sie verdienen. Für Ihre Fähigkeiten als Ermittlerin, für Ihre Integrität und Loyalität als Partnerin, für Ihre Freundschaft als Mensch.“

Als er sich linkisch und unbehaglich auf seinem Stuhl wand wie ein kleiner Junge, der nicht weiß, ob er auf ein Lob oder einen Tadel seiner Eltern wartet, da fasste Scully ihren Entschluss, egal wie schwer es ihr fiel, etwas so Persönliches zu erzählen. Sie wusste, wie viel diese Worte ihren Partner gekostet hatten, der sich üblicherweise hinter sarkastischen Bemerkungen und einem undeutbaren Gesichtsausdruck verschanzte, daher versuchte sie, sich dafür bei ihm zu revanchieren.

Nicht laut, jedoch klar und deutlich, mit gefasster Miene, jedoch die Augen unbeirrbar auf einen Punkt an der Wand geheftet, begann sie zu erzählen: „Wahrscheinlich hat Aileen tatsächlich ihr Talent bei mir angewandt, wie Sie es ausdrücken. Als ich ihr nämlich vorsichtig Handschellen anlegen wollte, hat sie meinen Arm gepackt, und ich wurde plötzlich von einer Art Panikanfall mit Atemnot und ähnlichem übermannt, sodass sie flüchten konnte. Ich versuchte, ihr zu folgen, aber inzwischen war es ein regelrechter Schockzustand begleitet von Schüttelfrost, Schweißausbrüchen und so weiter, und daher konnte ich einfach nicht mehr. Ich blieb also am Straßenrand stehen, um mich zu sammeln, und dann sah ich Sie.“

„Mich?“, echote Mulder nicht unbedingt geistreich.

„Ja, Sie. Sie waren meine Halluzination, Vision, Suggestion, oder wie Sie es nennen möchten.“

„He, Scully, ich wusste ja, dass ich mich manchmal wie der Elefant im Porzellanladen benehme, aber womit habe ich es verdient, in Ihren schlimmsten Alpträumen aufzutauchen?“

Der missglückte Versuch, die plötzlich höchst angespannt wirkende Stimmung aufzulockern, wurde von Scully komplett ignoriert. Distanziert, sachlich, als rede sie über etwas, das sie nichts anginge, beendete sie ihren Bericht: „Sie kamen um die Ecke, riefen mir zu, dass Sie für mich die Verfolgung übernehmen, etwas in der Art, liefen Aileen nach und wurden von einem Lastwagen überrollt. Sie waren sofort tot, weil das Hinterrad Sie erfasst und Ihnen massive Kopfverletzungen zugefügt hatte, und überall auf der Straße klebte Ihr Blut, während ich das Gefühl hatte, dass es an meinen Händen klebte.“

Im grauen Verputz der Wand hatten sich winzig kleine Risse gebildet, unter denen man das Rot der Ziegelmauer erkennen konnte, fiel Scully auf, da sie noch immer angestrengt die Wand anstarrte. So fixiert war sie auf die Risse im Verputz, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als Mulder seine Hand um die ihre schloss. Mühsam zwang sie sich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen, wo sich eine undefinierbare Mischung aus Erstaunen, Mitgefühl und Freude widerspiegelte.

„Ich hatte es in letzter Zeit vergessen und das tut mir leid. Trotz aller Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten sind Sie meine Konstante, mein einziger Halt“, versicherte sie ihm zögernd, in Erinnerung an seine Worte vor nicht allzu langer Zeit.

„Und Sie sind meiner“, gab er zurück, ihre Worte von damals wiederholend. Nach einem kaum merklichen Zögern hob er ihre Hand, um sie an seine Lippen zu führen, brach den Kuss jedoch ab, als Scully urplötzlich laut auflachte. Irritiert und gegen seinen Willen errötend warf Mulder ihr einen fragenden Blick zu. „Tut mir leid“, erwiderte sie. „Ich - ich musste nur gerade an ein Stück denken, das an unserer High School aufgeführt wurde und an das mich Ihre überaus ritterliche Geste erinnert hat.“

Er merkte, dass ihr Tonfall wieder der üblichen Ironie entsprach, den neckenden Bemerkungen, hinter denen sie sich zu verschanzen pflegten, weshalb er ebenfalls seinen früheren Ernst fallen ließ. „Oooh, spannen Sie mich doch nicht auf die Folter! Was war es?“

„Don Quixote - der Mann aus ‘La Mancha’.“

„Don Quixote, der Verrückte, der gegen die Windmühlenflügel ankämpft? Falls Sie mich also für einen Ritter von der traurigen Gestalt halten, Scully, darf ich Sie erinnern, dass Sie in diesem Fall vermutlich Dulcinea sind - und die war ein echtes Landei, wenn ich mich recht entsinne.“

„Wenn ich’s mir recht überlege, passt Sancho Pansa wohl besser zu mir“, ergänzte sie versonnen.

„Wieso - weil Sie klein sind und sich einbilden, Sie hätten Übergewicht? Oder weil Sie als mein Kampfgefährte auftreten, der mir beisteht, egal wie verrückt, wie unangenehm und wie sinnlos meine Fehde auch scheinen mag, der mir - meistens vergeblich - so etwas wie Vernunft beizubringen versucht, der mich niemals im Stich lässt. Tja, wir sind wohl Don Quixote und Sancho Pansa, doch vielleicht erweist sich unser Kampf gegen die Windmühlenflügel am Ende als nicht ganz umsonst...“

Erneut griff er nach ihrer Hand, wobei sie ihn dieses Mal gewähren ließ und nicht im unpassendsten Moment herausplatzte. Stattdessen lächelte sie ihn einfach an, ihr berühmtes Sphinxlächeln, einerseits undeutbar und rätselhaft, andererseits von eindeutiger Aufrichtigkeit, ein freundliches Grinsen von Ohr zu Ohr. Als Mulder seine Lippen von ihrer Hand löste, dachte er im ersten Moment, sie wäre dennoch von seiner Geste peinlich berührt, denn sie murmelte wieder etwas scheinbar völlig Nichtdazugehöriges - sie redete in der Tat über das Wetter.

„Es hat aufgehört zu regnen“, sagte sie.

„Was???“

„Es. Hat. Aufgehört. Zu. Regnen.“

Tatsächlich hatte sich der klamme Januarregen in einen sanften, stetigen Schneefall verwandelt, ein weißes Flockengewirbel, das nicht kalt und abweisend wirkte, sondern wie eine Erinnerung an die Freuden, die allen Kindern der Schnee bedeutet. Eine Erinnerung an fernes Gelächter, an lang zurückliegende Schneeballschlachten, an die Rückkehr in ein warmes Haus. Eine Entschädigung für die weihnachtliche Stimmung, die sich an den Feiertagen selbst mangels Schnee nicht so recht hatte einstellen wollen. Diese Gedanken ließen Mulder verstehen, was sie meinte.

„Ja, es hat endlich aufgehört zu regnen. Ich glaube sogar, in der Ferne wird der Himmel allmählich heller.“

***

Es hatte aufgehört zu regnen, doch anstelle des Regens war der Schnee gekommen und mit dem Schnee die beißende Kälte, doch nicht so beißend wie der Frost in Aileens tiefstem Innersten. Sie saß auf einer Bank vor dem Busbahnhof, wartend, aber sie wusste nicht worauf. Auf einen Bus? Oder darauf, dass sie sich zu einer Entscheidung durchringen würde? Wozu sollte sie sich denn entscheiden? Entweder ging sie zurück, oder sie nahm den nächsten Bus, um irgendwohin zu fahren, weit weg, dorthin, wo es wärmer war, verdammt, vielleicht bis nach Kalifornien. Das Gefühl ließ Aileen nicht los, dass es momentan selbst in Kalifornien schneite und der Schnee sie einhüllen würde, erfrieren, ersticken, wie ihre Ängste gedroht hatten, sie zu ersticken. Oh, sie hatte diese Ängste mit gleicher Münze zurückgezahlt, wie sie es sich immer gewünscht hatte; sie hatte die verbotene Frucht gekostet, nur um zu entdecken, dass nicht alle Nuancen des Geschmacks ihr gefielen.

Was also sollte sie tun? Doch zurückgehen, um zu gestehen? Und wenn sie gestand, wer würde ihr glauben? Sie würde sich nicht vor der Justiz wieder finden, sondern eher in einer psychiatrischen Klinik, nicht in der Lage, die Worte loszuwerden, die ihr schier auf der Zunge brannten, ohne mit mitfühlenden, verstehenden Blicken betrachtet zu werden. Aber keiner würde verstehen. Keiner. Sie sahen das Kainszeichen nicht, das auch auf ihrer Stirn prangte, sie rochen nicht die blutgetränkte Erde, sie hörten nicht, wie die Tat zum Himmel schrie, sie fühlten weder die Hitze des Triumphs noch die Kälte der Schuld. Sie wussten nicht, wie es war, in der Nacht kein Auge zutun zu können.

Ironischerweise hatte sie letzte Nacht, da ihre Aufgabe vollbracht war, immer noch nicht schlafen können - und es hatte nicht an den quietschenden Federn in ihrem billigen Motelzimmer gelegen. Der Schlaf verweigerte ihr die Erlösung - er brachte ihr keine Ruhe, keine Hoffnung, keine Stärke, niemals kam er als Freund.

„My only wish is to forget/In the sleep of death.“ Die letzten Zeilen jenes Gedichtes, *des* Gedichts schlichen sich in Aileens Gedanken, und sie kauerte sich zusammen, um sich gegen das heftiger werdende Schneetreiben zu schützen. Ihr war kalt.


ENDE
Anmerkungen der Autorin (für alle, die tapfer bis zum Ende ausgeharrt haben):

Zuallererst möchte ich anmerken, dass ich wirklich hoffe, dass ihr noch nicht alle abgesprungen oder eingeschlafen seid. ;-)
Dann muss ich alle sachlichen Fehler, die ihr in der Geschichte gefunden haben könntet (z.B. die Prozedur beim Besuch eines Zeugen in der Nervenheilanstalt o.ä.), auf meine Kappe nehmen. Sollte etwas hinten und vorne nicht stimmen, liegt es daran, dass ich keine Lust zum Recherchieren hatte, weil ich nun mal stinkfaul bin. *g* Wenn mich jedoch jemand auf derartige Fehler aufmerksam machen will, kann er dies ja gerne tun.

Ansonsten zwei kleine Bemerkungen zu meiner „Zeitrechnung“:

a) Obwohl auf die Ereignisse aus den Folgen „The Goldberg Variation“ und „Rush“ nirgends angespielt wird, haben sie meiner Meinung nach stattgefunden - und zwar noch vor der Folge „Millennium“, obwohl diese beiden Episoden danach gesendet wurden. Aber ich finde es einfach dämlich, eine Silvesterfolge im November auszustrahlen und habe die anderen daher in Gedanken vorgezogen. Meine Geschichte spielt also im Januar 2000, zwischen „Millennium“ und „Orison“.

b) Für alle Haarspalter: An einer Stelle spricht Mulder bei mir davon, dass sich ihre Beziehung im „verflixten siebten Jahr“ befände - was natürlich nicht stimmen würde, wenn Scully im März 1992 bei den X-Akten angefangen hätte. Es war also im März 1993, denn das würde nämlich die mysteriöse Lücke von einem Jahr erklären, die zu Beginn der 1. Staffel auftritt, wie ja allgemein bekannt sein dürfte.

Tja, das wär’s, glaube ich. Ach ja, sollte dies zufällig jemand aus meiner Schule lesen (was ich nicht glaube, aber sicher ist sicher) - einige Personen sind zwar in abgewandelter Form nach tatsächlich existierenden benannt, doch ist das nur zum Spaß geschehen und hat *keine* Bedeutung.
Das war’s jetzt wirklich.
Feedback - wie gesagt - *bitte, bitte, bitte* an lioness2302@gmx.net!
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