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Todeslicht

von Martina Bernsdorf

Kapitel 9

Friedhof von Newpoint
15.4.1996
17.18


Mulder hielt den Leihwagen mit quietschenden Reifen vor dem Friedhofseingang und sprang aus dem Wagen. Er blickte sich suchend um und nickte Scully zu, die ebenfalls mit gezückter Waffe die Umgebung musterten.
Scully hatte all die Dinge in der Kaffeeküche in ihren Verstand zurückgedrängt, darüber würde sie noch später nachdenken können, jetzt galt es, Julia Westmoor zu finden und zwar, bevor Snake sie fand. Sheriff O´Bannon war auf dem Weg zum Haus der Westmoors, um sich dort umzusehen.
Mulder ging zum Friedhofstor und öffnete es, er verfluchte das rostige, protestierende Geräusch, welches das Tor von sich gab.
Scully und er betraten den Friedhof, der heftige Wind bewegte die Blätter auf dem Boden und zerrte an Mulders und Scullys Mänteln.
Es war still, sah man von den Geräuschen des Sturms ab, still, wie man sich solch einen Ort vorstellte.
Die Toten hatten keinen Bedarf mehr zu sprechen, zumindest nicht mit den Lebenden. Mulder blickte zu Scully und fragte sich, ob seine Partnerin ihm zugestimmt hätte. Vielleicht hatte auch nur er kein Ohr für die Stimmen?
Sie gingen langsam weiter, nach den Regeln des FBI vorgehend. Mulder ging voraus und Scully blieb eine Schritte hinter ihm, den Rücken und die Flanken abdeckend, während er sich mit den Dingen beschäftigte, die vor ihnen lagen.
Es war ein schöner Friedhof, wie Mulder feststellte, auf einem geschwungenen Hügel, mit mächtigen Eichen und Linden. Tiefe Schatten, verstärkt durch das trübe Licht des wolkenverhangenen Tages, boten Inseln der Undurchdringlichkeit, für das suchende Auge.
„Mulder!“ Scullys Stimme war leise und angespannt, sie deutete mit der Waffe in eine bestimmte Richtung, in der er Julia ausmachen konnte, die auf dem Boden neben einem Grabstein saß und wohl mit den Blumen darauf sprach.
Mulder rannte los und wusste, dass Scully ihm folgte.
„Julia!“ Mulder hatte einen kleinen Vorsprung vor seiner Partnerin und senkte die Waffe, als er sah, wie sich die Augen der jungen Frau angsterfüllt weiteten.
Aber ihre Angst galt nicht ihm, wie Mulder zu spät feststellte. Die Faust, stinkend nach Formaldehyd, krachte gegen sein Gesicht und ließ ihn benommen zu Boden gehen.
Wie ein schwarzer Teil der Schatten der Eiche, unter der er sich verborgen hatte, trat Snake hervor. Blutflecken waren auf dem Anzug, dessen Hosenbeine viel zu kurz waren.
Mulder starrte benommen zu dem Mann auf, in dessen Brust nachweislich kein Herz mehr schlug, in seinen Augen war Schwärze, dunkler als jede mondlose Nacht.
„Stehenbleiben!“ Scullys Stimme klang kalt und scharf, Mulder sah, wie seine Partnerin aus wenigen Metern Entfernung auf Snake zielte. Er fragte sich, ob man einen Mann, der schon tot war, mit einer Kugel aufzuhalten vermochte.
Langsam robbte er, auf die Ellenbogen gestützt zurück, weg von Snake und kam wieder auf die Beine. Seine Waffe glänzte matt im Gras, direkt neben dem Schuh des toten Mannes.
Snake schien sein Interesse an den beiden FBI-Agenten zu verlieren und drehte sich zu Julia um, die sich ängstlich gegen den Grabstein drückte und zu dem hünenhaften Mann aufsah.
Kleine Lichtfunken tanzten über das Gras, Mulder sah überrascht auf dieses Phänomen, während Scully noch immer auf Snake zielte und nun abdrückte.
Der Schuss war sehr laut in der Stille der hereinbrechenden Dämmerung.
Snake taumelte einen Schritt vor, fing sich wieder und drehte sich zu Scully um.
„Ich will mein Leben zurück!“ Seine Stimme war rau, so als koste es ihn Mühe, noch Worte zu artikulieren.
Mulder begriff, dass Snake wusste, dass Julia in irgendeiner Weise für seinen Tod verantwortlich war, und er wollte zurück an das sich jede negative Energie klammerte, Materie, Leben!
Scully drückte erneut ab, gezielt, die Kugel schlug gegen den Schädel des toten Mannes und ließ ihn erneut taumeln, aber er stürzte nicht. Aus dem Loch zwischen seinen Augenbrauen lief kaum Blut, nur eine klare Substanz, die Scully mit klinischer Betrachtung als Liquor, Gehirnflüssigkeit, identifizierte.
Wie tötete man ein Wesen, das bereits tot war? Das sich nicht einmal von einer Kugel im Kopf aufhalten ließ?
Lichtfunken züngelten über den Boden, sammelten sich langsam, der Wind zerrte an Scullys Haaren.
Licht!
Helles, gleißendes Licht!
Scully vergaß Snake, der noch immer stand, sie sah, wie sich das Licht sammelte, wie es die Umgebung auszulöschen schien, bis alles nur noch in Licht getaucht wirkte.
„Mulder, sehen Sie nicht hinein!“ Scully schrie dies, während sie die Augen reflexartig zusammenkniff.
Pass auf Fox auf, er sucht schon sein Leben lang nach Antworten.“ Die Erinnerung an Melissas Warnung ließ Scully die Augen wieder öffnen, sie sah ihren Partner, noch hatte das Licht nicht alles an diesem Ort eingenommen.
Scully rannte los, sie wusste mit seltsamer Gewissheit, dass Mulder niemals die Augen schließen würde, er würde hineinsehen und den Antworten nicht widerstehen können.
Mulder sah, wie sich in dem Licht Gestalten zu bewegen schienen, vielleicht fand er hier wirklich die Antworten, wo sich Samantha aufhielt und warum dies alles passiert war, all die Antworten, auf all die Fragen, die in ihm brannten.
Er spürte, wie jemand gegen ihn prallte und ihn damit aus dem Gleichgewicht warf.
Mulder landete auf dem Bauch im Gras. Er spürte das Gewicht eines Körpers, der auf seinem Rücken saß, und dann verlosch das Licht für ihn, wurde abgehalten von zwei Handflächen, die sich gegen seine Augen pressten und sie bedeckten.
Er versuchte sie abzuschütteln, aber Scully war auf der Hut, sie hielt mit aller Kraft, mit allem Willen Mulder die Augen zu, aber sie vergaß bei diesem Kampf, ihre eigenen Augen zu schließen.

XXX

Das Licht war überall, so überwältigend, so alles verzehrend, es strahlte keine Wärme ab, aber es war auch nicht kalt.
Scully sah Julia, die mit einem Lächeln die Hand ihrer Mutter ergriff und mit ihr zusammen im Licht verschwand.
Sie sah auch Elias Tobin, Snake, der lautlos schrie, während sich um ihn kein Licht sammelte, sondern Schwärze ballte, ihn umhüllte, mit sich zog.

Steuermann.“ Die Stimme ihres Vaters klang traurig, Scully fühlte nicht mehr Mulders Körper unter sich, es war nun auch nicht mehr wichtig, dass sie ihm die Augen zuhielt.
Sie sah die Hand ihres Vaters und ergriff sie, er half ihr auf die Beine, und Scully umarmte ihn mit all ihrer Liebe. Es war eine weiche, warme Umarmung, sie konnte das Aftershave riechen, das so sehr Bestandteil ihrer Erinnerungen war.
Du hast nie getan, was ich zu dir gesagt habe, Schwesterchen!“ Auch Melissa klang traurig, aber sie streckte die Arme aus, und Scully warf sich in diese Umarmung, drückte ihre Schwester mit aller Kraft an sich. „Melissa!“
Scully spürte, wie Melissa ihr über das Haar strich. „Du darfst dir nicht länger Vorwürfe machen, Dana, ich bin für dich gestorben, ja, aber diesen Preis hätte ich immer für dein Leben bezahlt! Ich bin glücklich, dass mir das Schicksal erlaubt hat, deine Stelle einzunehmen, dass ich es war, die diese Türe öffnete, dass ich es war, die für dich sterben durfte.
Scully starrte in die Augen ihrer Schwester, so voller Wärme, voller Liebe für sie.
„Es tut mir so unendlich leid, Melissa, es tut mir so leid ...“
Melissa strich über ihre Wangen. „Ich weiß, Dana, aber ich bereue nichts. Ich hätte immer mein Leben für dich gegeben, und ich weiß, dass du dasselbe für mich getan hättest. Es war nicht deine Schuld, dass mein Angebot angenommen wurde. Ich liebe dich, Schwesterchen!
Melissa blickte über Danas Schulter zu ihrem Vater, dessen Sorge deutlich in seinen Augen stand.
Du musst zurück, Dana, sofort!
Scully schüttelte leicht den Kopf, sie hielt ihre Schwester in den Armen und wollte sie nie mehr loslassen.

XXX

Mulder bemerkte, wie der Griff um seine Augen erschlaffte, das Gewicht auf seinen Rücken sank zusammen. Er blinzelte, das Licht war verschwunden, ein wenig vor ihm lag Julia, ihre Augen waren starr, Mulder wusste, dass sie tot war.
Vorsichtig richtete er sich auf und fühlte, wie der Körper, der auf ihm gelegen hatte, zur Seite rollte. Mulder blickte neben sich, Scullys rotes Haar war ein Kontrast zu der Schwärze ihres Mantels, schien unpassend lebendig, gegen den Ausdruck ihrer Augen.
„Scully!!“ Mulder schrie den Namen seiner Partnerin hinaus, er sah sich wild um, Snake lag zusammengebrochen auf dem Boden.
Niemand war da, der ihm helfen konnte.
Mulder suchte mit zitternder Hand nach Scullys Halsschlagader, aber kein Puls belohnte diese Suche. Er hatte auch keinen erwartet. Scully war tot!
Ihr Herz schlug nicht mehr, sie hatte ins Licht gesehen, während sie ihn davor bewahrt hatte.
„Scully, verdammt!“ Mulder packte die Aufschläge ihres Mantelkragens und schüttelte sie. Ihr Kopf rollte haltlos, kein Leben kehrte in ihre grünen Augen zurück.
„Kommen Sie zurück!“ Mulder rutschte auf den Knien neben sie und legte sein Ohr an ihre kalten Lippen, kein Atem.
Er versuchte sich verzweifelt an all die Regeln der Wiederbelebung zu erinnern.
Mulder entledigte sich grob seines Mantels, ballte ihn zusammen und legte ihn Scully unter die Schulterblätter, somit konnte er ihren Kopf leichter überstrecken und öffnete ihren Mund. Mit den Fingern der rechten Hand hielt er ihre Nase zu und verschloss mit seinen Lippen Scullys Mund, sanft blies er seine Atemluft in sie. Mulder gab ihre Lippen frei und atmete tief ein, ehe er auch diesen Atemzug Scully schenkte.
Ohne sich von den Knöpfen aufhalten zu lassen, riss er Scullys Mantel auf und legte seine Hände auf ihren Brustkorb. Er legte seine Hände aufeinander und drückte, verstärkt durch das Gewicht seines Oberkörpers, zu. Er erinnerte sich an Scullys spöttische Bemerkungen, als sie den letzten Wiederbelebungskurs, welcher ihnen vorgeschrieben war, durchgeführt hatten.
Mit ihrer Herzmassage könnten Sie höchstens ein Kleinkind retten, Mulder! 25 bis 40 Kilo Druck müssen Sie erreichen, sonst ist es zwecklos, es ist egal, ob Rippen dabei knacken, lieber gebrochene Rippen, als tot!
Mulder konzentrierte sich darauf, stark genug zu drücken, er spürte zwar Scullys Rippen unter seinen Händen, aber er hoffte, sie würde ihn irgendwann mal schelten, weil er zu grob gewesen war.
Sie musste leben!
Mulder drückte achtmal auf diese Weise zu, rutschte auf den Knien wieder zu ihrem Kopf und spendete zwei Atemzüge, ehe er sich wieder an die Herzmassage machte.
8 Herzmassagen zu 2 Atemspenden - oder 14 zu 3, wenn jemand allein eine Wiederbelebung durchführt, allerdings waren die Chancen geringer, wenn man allein war.
Mulder wünschte sich, er könne die Stimme des Mediziners bannen, der diesen Lehrgang gehalten hatte.
10 Minuten bleiben Ihnen, um eine Wiederbelebung durchzuführen, maximal 10 Minuten.
Ohne Wiederbelebung fängt das Gehirn nach 3 bis 4 Minuten an zu sterben. Wenn Sie also jemanden wiederbeleben, dann mit all Ihrer Kraft und all Ihrem Willen, keine halben Sachen!
Und wenn Sie nach 10 Minuten keinen Erfolg sehen, dann können Sie aufhören, dann ist die Person tot, und Sie vergeuden nur Ihren Atem und Kraft.

Mulder schüttelte den Kopf, Schweißperlen sammelten sich auf seinen Augenbrauen und suchten sich ihren Weg über sein Gesicht.
Er wusste nicht, wie lange er schon versuchte Scully zurückzuholen, es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Seine Arme schmerzten bereits von der Kraft, die er auf die Herzmassage aufwenden musste. Er atmete in kurzen, flachen Stößen und kam immer mehr außer Atem.
„Scully!“ Mulder fühlte die Tränen, die über seine Wangen rannen und sich mit dem Schweiß vermischten.
„Dana, bitte, lassen Sie mich nicht allein!“
Er blickte in ihre Augen, die Pupillen waren weit, starr, und er sah, wie ein Regentropfen darauf landete, zersprang und wie eine Träne an ihrem Augenwinkel herabrann.
Mehr als alles andere fand er dies erschreckend, mehr als alles andere war dies ein Beweis, dass sie tot war.
Dennoch, Mulder zog tief die Luft in seine Lungen, beugte sich über sie, verschloss ihre Lippen mit den seinen und blies Luft in ihren Körper, er würde sie nicht sterben lassen.

XXX

Du musst zurück, Dana!“ Melissa versuchte sich sanft aus der Umarmung ihrer Schwester zu befreien.
Dana.“ Die Stimme ihres Vaters, so befehlsgewohnt, so streng und doch voller zärtlicher Liebe, erreichte, was Melissa nicht vermocht hatte. Scully ließ los und sah ihren Vater an.
„Dad, habe ich dich sehr enttäuscht, weil ich nicht das wurde, was du dir gewünscht hast?“
Nein, ich wünschte, ich hätte dir viele Dinge noch sagen können, als ich noch lebte. Aber ich dachte, du weißt, wie stolz ich auf dich bin, und ich will auch weiterhin stolz sein! Deshalb musst du zurückgehen, Dana, gleich! Deine Mutter braucht dich. Dana, es ist schlimm genug für sie, Melissa verloren zu haben!
Scully nickte langsam, aber sie wollte nicht gehen, alles, was sie wollte, war, Melissa und ihren Vater festzuhalten und nie mehr loszulassen.
Manchmal muss man loslassen, Dana!“ Melissa lächelte und berührte sanft die Wange ihrer Schwester. „Und wir sind bei dir, Schwesterchen, immer!
Scully sah hinter Melissa im Licht Gestalten, einige schienen vertraut zu sein, sie verspürte ein Wispern.
Wer steckte hinter all den Intrigen?
Welches Schattenregime herrschte im Verborgenen?
Was für Pläne hatten sie?
Waren sie nur die Bauern in einem Schachspiel, dessen Ausmaß sie nie begriffen hatten?
Wer hatte den Auftrag gegeben, sie zu töten, und war schuld an dem sinnlosen, viel zu frühen Tod ihrer Schwester?
Gab es Gott?

Scully spürte die Nähe aller Antworten auf die Fragen, die sie je im Leben gehabt hatte.
Im Licht lag die Antwort darauf, Scully wollte nur einen Schritt weitergehen, nur wissen, wer wirklich der Feind war, gegen den sie kämpften.
Nur wissen, wer schuld daran war, dass Melissa gestorben war.
Und vielleicht erfahren, wo Samantha Mulder war, um ihrem Partner seinen Seelenfrieden zu geben.
Und... „Dana!“ Die Stimme ihres Vaters riss sie zurück von diesem Abgleiten, diesem Driften im Licht.
Du brauchst keine Antworten, Dana, noch nicht!
Scully spürte, wie nah all die Dinge lagen, die sie wissen wollte, die sie wissen musste, und sah in die Augen ihres Vaters, der von ihr forderte, all dies aufzugeben.
Dana Scully traf ihre Entscheidung ohne Zögern und ohne Bedauern.
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