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Todeslicht

von Martina Bernsdorf

Kapitel 5

Bestattungsunternehmen „Letzte Ruhe“
14.4.1996
11.23


Dana Scully zog das schwarze Garn durch die Ränder des üblichen Y-Schnittes, mit dem man Leichen öffnete. Im Gegensatz zu manchen Kollegen nähte sie nicht so krumm und grob den Obduktionsschnitt zusammen, sondern offenbarte auch hierbei eine Sorgfalt, der sie sich als Medizinerin verpflichtet fühlte.
Es kostete nicht wesentlich mehr Zeit, solche Dinge anständig zu erledigen, und es hatte etwas mit Respekt vor dem Tod zu tun.
Scully hoffte, sollte sie einmal auf so einem Tisch landen, dass man sie mit demselben Respekt behandelte. Nun ja, sie hoffte zumindest, dass niemand nebenher ein Wurstbrötchen verspeiste, so wie sie es in ihrer Ausbildung hier und da bei den Pathologen erlebt hatte.

Das Handy auf dem Schreibtisch hinter ihr klingelte. Scully machte den Knoten fertig, zog die blutverschmierten Handschuhe aus und ließ sie in den Mülleimer fallen, der unter dem Leichentisch stand, an dem man sonst die Toten präparierte und für die Beerdigungen richtete.

Sie ging zum Handy. „Scully!“
„Wie weit sind Sie, Scully?“ Mulders Stimme klang eine kleine Spur aufgeregt, anscheinend war er weitergekommen, oder er meinte es zumindest, wie der skeptische Teil ihrer selbst kritisch in ihrem Verstand anmerkte.
„Ich bin mit Snake fertig, die anderen beiden kann ich mir wohl sparen oder dem zuständigen Gerichtsmediziner überlassen, ich denke, es wird bei ihnen nicht anders sein.“
Scully rieb sich mit einer Hand den Nacken, wenn man eine Weile über eine Leiche gebeugt arbeite, verkrampfte sich die Schultermuskulatur.
„Und?“
„Nicht viel, Mulder. Es war ein Herzstillstand, aber es gibt keine medizinische Erklärung dafür, keine Narben an der Aorta, kein Loch in den Herzklappen, kein Aneurysma. Und was haben Sie herausgefunden?“
„Julia Westmoor weiß, dass ich es nicht mag, dass man mich Fox nennt!“ Mulder klang eine Spur triumphierend.
„Mulder, niemand würde es mögen, Fox zu heißen! Ihre Eltern hatten wohl einen verdammt schlechten Tag, als sie den Namen aussuchten.“
„Jetzt bin ich aber beleidigt! Nein, sie sagte, das Licht hätte ihr das gesagt.“
„Das Licht!“ Scully betonte jeden Buchstaben der zwei Worte.
„Etwas Seltsames muss bei ihrer Wiederbelebung im Krankenhaus passiert sein! Etwas, das einen Mann Jahre später noch in den Selbstmord trieb!“
Scully verzog leicht das Gesicht, Mulder neigte dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen.
Ein leises Quietschen ließ sie kurz irritiert die Augenbraue heben, aber sie bannte das Geräusch in den hinteren Winkel ihres Verstandes.
Ihr Blick schweifte über den Schreibtisch und blieb an einer der leeren, metallischen Schalen hängen, die dort standen und die man für Organe verwendete. „Dann ist das Krankenhaus wohl unser nächstes Ziel?“
Eine Spiegelung in diesem Metall ließ sie Mulders Antwort überhören, sie sah einen Schemen, weiß, verzerrt von dem Metall, eine Spiegelung eines Menschen, einer Uniform. Scullys Herzschlag beschleunigte sich.
„Sei vorsichtig, Steuermann!“
Scully hörte gleichzeitig auch das Geräusch von nackten Füßen auf dem gekachelten Boden hinter sich. Sie wusste nicht, was sie in diesem Moment mehr entsetzte, die Stimme ihres Vaters gehört zu haben, oder dieses Geräusch, denn es gab niemanden, der mit ihr in diesen Raum war, niemanden, der noch lebte!
„Scully?“
Mulders Stimme war weit weg, Scully wirbelte um ihre eigene Achse, und ihre Augen weigerten sich für ein paar Sekundenbruchteile, das als wahr anzuerkennen, was sie sah.
Die Metallschale, die der Mann in seiner bleichen Hand hielt, krachte gegen ihre Schläfe, das Plexiglas ihrer Schutzbrille splitterte, Scully fühlte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben. Die Perspektive des Raumes stimmte plötzlich nicht mehr, alles verschwamm, die Schatten verdichteten sich, ihr Sehnerv übermittelte noch die Informationen von schwarzem Garn von der Form eines Ypsilons auf bleicher Haut, dann wurde es schwarz um Dana Scully.


XXX

Mit kreischenden Reifen und gequälten Bremsen stoppte Mulder den Leihwagen vor dem Bestattungsunternehmen. Die Sonne schien seltsam scharfe Schatten auf das Steingebäude zu werfen, dessen Eingang dadurch wie ein schwarzes Loch wirkte.
Mulders Nackenhaare sträubten sich, als er aus dem Wagen sprang, seine Hand hatte von allein den Revolver gefunden, und mit der Waffe im Anschlag rannte er zum Eingang.
Die Sorge um Scully zerrte an seinen Nerven, dennoch ging er nach FBI-Standard vor, überstürzte nichts, sondern achtete auf all die schattigen Winkel, darauf, dass hinter der Türe vielleicht ein Mörder stehen konnte.
Doch das Bestattungsunternehmen wirkte verlassen, still wie eine Gruft, Mulder schauderte bei dieser unwillkürlichen Assoziation. Er fragte sich, wo sich der Bruder des Sheriffs aufhielt, der dieses Unternehmen führte?
Er hatte in den Verkaufsräumen hinter seinem Schreibtisch gesessen, und nun war sein Platz verlassen.
Mulder nahm sich vor, später nach dem Verbleib des Mannes zu forschen, die Sorge um Scully ließ sein Herz wild und schmerzhaft schlagen!
Er eilte die Treppen zum Kühlraum hinab und stieß mit dem Fuß die Türe auf, die Waffe im Anschlag, niemand sprang ihn an, aber auch keine Scully quittierte seinen Auftritt mit einem spöttischen Heben der Augenbraue oder einem kleinen, spitzen Kommentar.
„Scully?“ Mulder merkte, wie dünn seine Stimme klang, sein Blick huschte über den Tisch, auf dem die Leichen präpariert wurden. Etwas Blut und Lymphflüssigkeit glänzte in der Ablaufrinne, die den Tisch umgab.
Aber das war nicht verwunderlich, schließlich hatte hier eine Obduktion stattgefunden. Mulder fragte sich kurz, wo die Leiche von Snake war, Scully war wohl kaum in der Lage, einen derart großen Mann allein zurück in die Kühltruhe zu legen, die Mulder immer an eine Art von pervertierten Aktenschrank erinnerten.
Er ging langsam in den Raum hinein, sein Blick blieb an dem Handy hängen, das zerschmettert auf dem Boden lag, Plastiksplitter lagen auf dem Boden.
Mulder ging einen Schritt weiter und sah die Metallschale, die auf den gekachelten Fliesen lag, sie war leicht verbeult, und ein wenig Blut klebte an ihr, nur ein paar Tropfen, doch sie reichten, um Mulders Herzschlag schmerzhaft zu beschleunigen.
Sein Blick schweifte über den Boden, eine schmale Hand, neben dem Schreibtischbein liegend, ließ Mulder alle Vorsicht vergessen.
„Scully!“ Mit einem Satz war er bei ihr, sie lag auf dem Boden, Splitter ihrer Schutzbrille glitzerten im Neonlicht.
Mulder kniete neben seiner Partnerin nieder, sie lag halb in der Seitenlage, das Gesicht wirkte unnatürlich bleich, aber das mochte auch an dem Neonlicht liegen, Bluttropfen glänzten feucht auf dem Boden.
Mit zitternden Fingern tastete Mulder nach ihrer Halsschlagader, und ein erleichtertes Seufzen entrang sich seinen Lippen, als er einen kräftigen, regelmäßigen Pulsschlag wahrnahm.
„Scully?“ Mulder fragte sich, ob er besser einen Rettungswagen rief, aber er kannte seine Partnerin, wenn sie nur von einem unbekannten niedergeschlagen worden war und er ihr einen Aufenthalt im Krankenhaus bescherte, mit zig Untersuchungen, würde sie das nicht besonders gnädig aufnehmen.
Scully war selbst Medizinerin, das bedeutete nur, dass ihr Argwohn gegen die Leute dieser Zunft noch höher war, vor allem, wenn es um sie selbst ging.
Mulder berührte sanft ihren Oberarm und stupste sie dann an. „Scully?“
Mit einem protestierenden Murmeln öffnete Scully die Augen und starrte sekundenlang desorientiert vor sich hin, ehe wieder waches Bewusstsein in ihre grünen Augen zurückkehrte.
„Mulder?“ Ihre Aussprache war noch etwas verschliffen, sie richtete sich auf und griff sich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen an den Kopf. „Verdammt, was ist passiert?“
Mulder kauerte auf den Fersen und blickte Scully besorgt an, eine Platzwunde über der rechten Augenbraue hatte eine Blutspur über ihre rechte Gesichtshälfte gezogen und ließ ihn schaudern. Um die Platzwunde herum bildete sich bereits ein blauverfärbtes Hämatom. Scully tastete mit den Fingerspitzen über die Wunde und verzog das Gesicht.
„Ich sollte Sie ins Krankenhaus bringen, Scully!“ Mulder stand seine Sorge in jede Falte seiner Stirn geschrieben.
Scully winkte mit der Hand ab. „Nein, es ist nur eine Beule und eine Platzwunde, nichts Dramatisches.“
Sie kämpfte sich auf die Beine und schwankte kurz, Mulder stützte sie und schüttelte den Kopf.
„Seien Sie nicht so stur, Scully! Wenn Sie sich nicht mal mehr erinnern können, wer sie niedergeschlagen hat, war der Schlag härter, als Sie vielleicht denken. Es könnte eine Gehirnerschütterung sein!“
Scully funkelte Mulder mit einem Funken Wut im Blick an, aber etwas anderes flackerte mit in der Tiefe ihrer katzengrünen Augen, etwas, das Mulder nur selten bei seiner Partnerin gesehen hatte, Angst.
„Ich bin Medizinerin, Mulder, ich weiß, was ich tue, und ich kann mich daran erinnern, wer mich niedergeschlagen hat!“
Sie wich seinem fragenden Blick aus und starrte auf den Boden. „Nur ist es unmöglich.“
„Dana, Sie müssten inzwischen wissen, dass nichts unmöglich ist.“ Mulder nannte sie nur selten beim Vornamen, und Scully blickte ihn erstaunt an. Er hatte recht, und er war der letzte Mensch, der ihre Aussage in Zweifel ziehen würde.
„Es war Snake!“
Mulder hob leicht die Augenbraue und dachte an die Leiche auf dem Tisch, es war nicht besonders beruhigend, wenn der Kerl noch rumlief, vor allem, weil er eigentlich tot war!
„Vielleicht war er nur scheintot und ist aufgewacht.“ Mulder wollte Scully gerne eine Erklärung anbieten, die sie mit ihrem wissenschaftlichen Weltbild vereinbaren konnte.
Scully wollte den Kopf schütteln, ließ es aber, als sie bemerkte, wie die Welt sich zu drehen anfing, wenn sie das tat. „Nein, Narkolepsie äußert sich anders, und ich bin Mediziner genug, um so einen Zustand zu bemerken. Zudem, egal ob er scheintot war oder mausetot - er hätte so oder so nicht wieder aufstehen dürfen, nicht nach den Naturgesetzen!“
Scully griff nach einer Schale und reichte sie Mulder, der sie entgegennahm und mit angeekeltem Gesicht das blutige Organ darin betrachtete, soweit er sich an den Biologieunterricht erinnerte, war es wohl ziemlich eindeutig ein menschliches Herz.
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Autopsie beendet haben? Und Sie jemand niedergeschlagen hat, der bewiesenermaßen ohne Herz durch die Gegend läuft?“
Mulder hätte nie gedacht, dass Scully so etwas einmal sagen würde.
„Ich wollte das Herz noch zu genaueren Untersuchungen einschicken. Es sieht so aus, als wäre es Snake gewesen, aber vielleicht habe ich den Mann, der mich niedergeschlagen hat, auch nicht richtig gesehen, und mein Unterbewusstsein hat mir einen Streich gespielt, in dem es mich glauben ließ, es sei Snake! Jemand könnte die Leiche gestohlen haben ...“ Scully brach ab und schalt sich selbst einen Narren, wem wollte sie etwas vormachen?
Sie hatte die ypsilonförmige Autospienarbe gesehen, hatte den leeren Ausdruck, in dem nur noch Schwärze zu wohnen schien, in den Augen von Snake wahrgenommen, genau in den Sekundenbruchteilen, ehe die metallene Schale ihre Schläfe getroffen hatte.
Und was noch beängstigender war, sie hatte, noch bevor sie Snake gehört hatte, bevor sie sich umdrehte, die Spiegelung ihres Vaters gesehen, seine Stimme gehört.
Sei vorsichtig, Steuermann.
Mulder schwieg, Scully war ihm ausgesprochen dankbar für diese Rücksicht. „Ich werde mir das Blut abwaschen und mich verpflastern, Mulder, und dann können wir weiterreden.“
Ihr hochgewachsener Partner nickte und sah ihr hinterher, wie sie in dem kleinen Badezimmer im Nebenraum verschwand.
Er blickte noch mal in die Schale, in der das Herz lag, er hatte schon von Wiedergängern gehört, aber bisher hatten sich solche Fälle immer auf Voodoo zurückführen lassen, wo der Glaube des Opfers und bestimmte Drogen eine nicht unwesentliche Rolle spielten.
Doch er konnte sich an keine X-Akte erinnern, in der jemand nach einer Autopsie wieder aufgestanden war und ohne sein Herz umher wandelte und nebenbei noch FBI-Agenten niederschlug!

XXX

Dana Scully stützte sich am Waschbecken ab und starrte ihr Spiegelbild an. Nachdem sie das Blut abgewaschen und die Platzwunde versorgt hatte, fühlte sie sich schon wieder etwas in sich gefestigter.
Vielleicht war alles nur eine Täuschung gewesen, Lichtspiegelungen, Scully drehte den Wasserhahn noch mal auf und spritze kaltes Wasser in ihr Gesicht.
„Wem willst du was vormachen, Dana?“, flüsterte sie leise ihrem Spiegelbild zu, sie hatte gesehen, wer sie niedergeschlagen hatte.
Nur wollte sie es nicht wahrhaben, widersprach es doch allen Naturgesetzen, der Wissenschaft.
Sie betrachtete mürrisch ihr Spiegelbild und sah, wie sich die scharf umrissene Reflexion ihres Gesichtes aufhob.
Ihre Augen weiteten sich erschrocken, als sie sah, wie Schemen auf der glatten Oberfläche zu tanzen schienen. Die Spiegeloberfläche schien sich zu wellen, verdunkelte sich und wurde dann wieder klar.
Scully konnte einen unterdrückten kleinen Schrei nicht verhindern, als sie in Augen blickte, die so grün wie ihre eigenen waren, aber das Gesicht, das sich auf der glatten Oberfläche zeigte, war nicht das ihre, obwohl es geradezu schmerzhaft vertraut war.
Du darfst nicht ins Licht sehen, Dana! Melissas Stimme war sanft, voller Besorgnis und so vertraut.
„Melissa!“
Scully streckte unwillkürlich die Hand nach ihrer toten Schwester aus, aber als ihre Fingerspitzen gegen das kalte Spiegelglas stießen, war es nur die Spiegelung ihres erschrockenen Gesichts, die sie berührte.
„Scully!“ Mulder stieß mit gezücktem Revolver die Badezimmertüre auf und blickte sich suchend um. „Ich habe Sie rufen gehört, ist alles in Ordnung?“ Mulder blickte nachdenklich in das bleiche Gesicht seiner Partnerin, sie wirkte, als hätte sie einen Geist gesehen.
Ihre Hände waren so fest um den Waschbeckenrand gekrampft, dass die Fingerknöchel deutlich unter der Haut durchschienen, und es schien ihm, als sei dies alles, was sie auf den Beinen hielt.
„Scully?“ Seine Stimme wurde sanfter.
„Ich glaube, dass ich doch ins Krankenhaus sollte“, erklärte Scully mit schwacher Stimme.
Mulder nickte und steckte den Revolver wieder in den Schulterhalfter. „Eine gute Idee, Scully!“
Sie verließen den Kühlraum, und Scully war ausgesprochen froh darüber, dass Mulder nicht gehört hatte, wessen Namen sie gerufen hatte.
Ihr Partner betrachtete sie mit einem besorgten Seitenblick, er ging dicht neben ihr, für den Fall, dass ihr schwindlig wurde, bei einer Gehirnerschütterung wäre das keine seltene Reaktion.
Doch er bezweifelte, dass es die Verletzung war, die Scully derart mitnahm. Mulder fragte sich, was Scully im Badezimmer wahrgenommen hatte und was sie dazu veranlasst hatte, den Namen ihrer toten Schwester zu rufen. Doch er wusste auch, dass seine Partnerin mühsam die Reste ihrer Selbstbeherrschung wahrte und deshalb schwieg er.
Die beiden FBI-Agenten verließen das Bestattungsunternehmen, in das wieder Stille einkehrte.
Eine einsame Fliege zog ihre Flugbahn über den Verkaufsraum und landete schließlich auf der stillen Gestalt, die verborgen hinter einem der Särge, die hier angeboten wurden, lag.
Sie flog wieder auf und ließ sich auf der roten, klebrigen Blutlache nieder, in der Malcom O´Bannon, einstmals Besitzer dieses Bestattungsunternehmens, lag.
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