World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Fremdes Leben

von Kris

Kapitel 3

Vertrauter Fremder

Belmont, Marsh Street, 18:23

Die Sonne ging schon langsam unter, als sie die Marsh Street erreichte und sich, ausatmend, an einen Baum lehnte, um sich etwas zu entspannen. Auch wenn sie hier an der Hauptstraße stand, war um diese Zeit kaum reger Betrieb und so ging sie davon aus, dass es einige Zeit dauern würde, bis ein Fahrzeug hielt. Sie hoffte, dass es ein Streifenwagen sein würde, der als erstes vorbeifahren würde. Erst jetzt bedachte sie die Möglichkeit, dass ebenfalls diese Männer die Straße passieren könnten und sie so ein perfektes Ziel bot. Sie weckte Billy und setzte ihn in den Graben neben einen Efeustrauch und zupfte noch etwas Gestrüpp über ihn. Sie redete ihm ein, leise zu sein und sich nicht zu bewegen und ging dann wieder zum Straßenrand. Sie sah ein paar Scheinwerfer, die scheinbar einem Jeep gehörten und fragte sich noch mal, ob sie sich trauen sollte. Sie nahm ihren Mut zusammen und winkte dem heranfahrenden Auto wild zu, doch es fuhr an ihr vorbei. Was sollte es auch von einem Mädchen denken, das dreckig und nur mit einem Hemd bekleidet am Straßenrand stand und Anhalter war. Das nächste Auto war wiederum ein kleiner Jeep mit Allradantrieb. Es schien schmutzig, als käme es von einem matschigen Feld. Sie trat noch ein Schritt näher auf die Straße zu und fuchtelte aufgeregt mit den Armen in der Luft. Der Wagen verlangsamte sein Tempo und kam am Straßenrand zum Stehen. Sie seufzte erleichtert auf und rannte zur Beifahrertür, riss sie auf und blickte ins Wageninnere, konnte ihren Augen aber kaum trauen. Michael saß am Steuer und schaute sie ungläubig an. „Meine Güte, was ist denn geschehen?“ Er starrte sie mit offenem Mund an. Lauter Kratzer zierten ihr Gesicht, Blut klebte an ihrem Ärmel von dem Sturz, sie war dreckig und ihre Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. „Jemand hat Mary und Jeff erschossen, was mit Emma ist weiß ich nicht. Billy und ich sind weggelaufen. Wir müssen zur Polizei!“ erzählte sie aufgeregt die Kurzform der Ereignisse. „Steig ein“, wies er sie an. „Ich muss Billy holen“, sie drehte sich um, um zu der Stelle im Graben zurückzulaufen, aber Billy stand bereits direkt hinter ihr. Sie fuhr, vor Schreck zusammen: „Billy, was machst du denn hier?“ Sie beugte sich herunter und zog den Kleinen zu sich heran. „Geh nicht ohne mich!“ Er sah sie traurig an. „Oh Schatz, natürlich nicht. Komm her!“ Sie nahm ihn fest in den Arm und legte ihre Hand schützend in seinen Nacken. Sie ging wieder zur Beifahrertür und stieg ein. Michael fuhr, viel zu schnell, los und steuerte erst einmal seine Wohnung, in der Lawrence Lane, an. „Was machen wir hier? Wir sollten zur Polizei gehen!“ Delia verstand nicht, was sie hier machten. Die Gegend schien ruhig und keine Polizei war in Sicht. Michael sah sie ernst und beschwörend an. Da war dieser berechnende Blick, doch trug er diesmal eine sorgenvolle Note. „Hör mir jetzt gut zu! Die Polizei kann da gar nichts tun. Wenn ich euch da jetzt hinbringe, dann bekommen sie den Jungen und alles ist aus. Also wirst du mir vertrauen müssen und tun, was ich dir sage!“ Sie sah keinen Zusammenhang in dem Gesagten und wollte ihm widersprechen. „Nein, warte. Es geht nicht um gestern Nacht, es ist auch keine billige Masche. Ich will euch beschützen. Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, weiß ich mehr über diese Dinge, als du mir zutraust!“ Sie wollte ihm in die Augen sehen, doch er schaute auf den Jungen. „Was redest du da nur? Was ist hier los? Sprich nicht in Rätseln! Weißt du etwas darüber? Ich will die Wahrheit wissen!“ Sie schrie ihn fast an und Billy blickte verstört von einem zum anderen. „Ich weiß, was los ist, jedenfalls teilweise, aber ich habe nichts damit zu tun und das hier ist nicht der Ort für Erklärungen!“ Er fuhr sie ebenfalls an, um die Dringlichkeit zu Handeln zu verdeutlichen. Sie glaubte ihm, dass die Polizei nichts ausrichten konnte, aber wenn er etwas davon wusste, in wie weit war er dann in die Sache involviert? Sie konnte im Moment einfach nicht abschätzen, ob sie ihm trauen konnte. Zurzeit wusste sie nicht wohin, ihr war kalt, sie war müde und gereizt und ihr tat alles weh. Was waren also ihre Alternativen, als ihm zu glauben und seine Geschichte zu hören? „Also gut, was schlägst du vor?“ Die Frage war ernst gemeint. Sie machte ihm klar, dass sie ihm, für den Moment, vertraute, aber nur unter Vorbehalt. „Ich hole ein paar Sachen und dann fahren wir.“ Er machte sich zum Aussteigen fertig. „Wohin denn?“ Sie hasste nichts mehr, als so im Dunkeln zu stehen. „Ich weiß es noch nicht. Hauptsache weg.“ Er klang gereizt. „Kennst du die etwa? Könnten die uns hier finden?“ Die Alarmglocken ihre Körpers schrillten wieder. „Sie werden vielleicht alle Bekannten der Van De Kamps besuchen.“ Ihr fiel wieder Ruby ein und sie betete, dass sie und ihre Familie in Ordnung waren. „Dann müssen wir alle warnen!“, bat sie ihn. „Bist du verrückt? Willst du, dass er lebt oder nicht?“ Er deutete fast abschätzig auf Billy, schlug dann die Wagentür zu und ging ins Haus, in dem einige Momente später überall das Licht anging. Sie sah ihn, vom Auto aus, durch verschiedene Zimmer streifen. Nach ungefähr zehn Minuten kehrte er mit einer großen Reisetasche und einem Karton zurück, verstaute alles im Kofferraum und setzte sich mit einem Bündel in der Hand, ans Steuer zurück. „Hier, das kannst du anziehen und den Jungen in die Decke wickeln, sonst holst du dir noch den Tod. Es ist eigentlich meine Hose und dir wahrscheinlich viel zu groß, aber warm.“ Er reichte ihr das Bündel, das aus einer Decke, einer Hose und einem Knäuel Socken bestand, die sie dankend annahm und sich schnell anzog. Die dicken Socken schienen sich sofort mit den halboffenen Wunden an ihren Füße zu verkleben, aber das störte sie gerade nicht, so lange sie warm wurden. Michael steuerte den Wagen Richtung Highway und verließ Belmont. Nach etwa 100 Meilen lenkte er den Wagen von der Straße auf ein Motel zu. Er stieg aus dem Wagen und steuerte die Vermietung an. Nach fünf Minuten war er mit einem Zimmerschlüssel zurück, holte Tasche und Karton aus dem Kofferraum und half Delia mit Billy, der wieder etwas weggedöst war. Sie hatten ein Zimmer am Ende des eingeschossigen Komplexes in U-Form, was ihnen etwas Ruhe einbrachte. Sie betraten das Zimmer, das für ein Motel reichlich komfortabel und sauber wirkte. Der Schlafbereich war ein wenig abgetrennt und mit zwei großen Einzelbetten, vor denen auf einer Kommode ein Fernseher stand. Neben der Tür war eine kleine Sitzecke, bestehend aus einem Zweisitzer und einem Sessel mit Couchtisch, eingerichtet. Hinter der Schlafnische war eine Tür, die anscheinend ins Badezimmer führte. Delia ließ Billy in den Sessel nieder und streichelte ihn kurz durch das Haar. „Ich muss… ich verschwinde mal kurz. Passt du auf ihn auf?“ Sie sah zwischen Michael und Billy fragend hin und her, nicht wissend wen sie mehr um Zustimmung fragte. „Geh ruhig gleich duschen, ich leg ihn ins Bett.“ Er sah sie aufmerksam an, als würde er sich selbst nicht über den Weg trauen und würde nun mit einem Nein rechnen. „Wenn du was brauchst, kannst du ins Bad kommen, Baby, ansonsten hörst du auf Michael, okay?“ Billy sah Michael etwas ängstlich an, der seinen Blick fest erwiderte und nickte Delia dann zu.

Als sie das heiße Wasser auf ihre Haut spürte hätte sie vor Schmerz und Entspannung aufschreien können. Auf ihren Rippen bildete sich bereits ein heftiger Bluterguss, der Schmerzhaft auf den Knochen darunter drückte. Ihre Füße brannten in dem heißen Wasser, das mit Seife vermischt ihre Beine herabfloss. In ihrem Kopf hämmerten die Geschehnisse des Tages auf sie ein und hinterließen ein heilloses Chaos und starke Kopfschmerzen. Sie kam mit ihrem Ellbogen gegen die kühlen Fliesen und spürte, wie sich der frisch gebildete Schorf wieder lösen wollte und zog die Luft scharf ein. Erst als sie das Gefühl hatte endlich wieder sauber zu sein, stellte sie das Wasser ab und hüllte sich in ein Handtuch, dass an einem Haken neben dem Waschbecken hing. Sie wischte mit der Hand über den Spiegel, um den Beschlag zu entfernen, doch wendete sie sofort ihren Blick wieder ab, um nicht ihrem Spiegelbild ausgesetzt zu sein. Die Kratzer auf ihren Wangen und dem Jochbein waren angeschwollen und vom heißen Wasser ganz rot. An der Schläfe hatte sie eine Prellung, von einem der Äste, die sich langsam lila färbte. Sie öffnete die Badezimmertür und fand Michael in dem Sessel, indem Billy zuvor gesessen hatte und suchte das Zimmer nach dem Jungen ab, der direkt vor ihr in dem hinteren Bett lag und schon schlief. Sie schaute ihn kurz an und dachte daran, dass sie ihm gar nichts vorgesungen hatte. „Er wollte warten, bis du ihm etwas vorsingst, aber er war zu erschöpft“, riss Michael sie aus ihren Gedanken und ließ sie schwer schlucken. Jetzt wo sie wieder einen klaren Kopf gewinnen konnte, wo sie Abstand zwischen sich und den Ereignissen geschaffen hatte, fuhren ihre Sinne wieder hoch. Es war nicht nur das Gefühl, dass Michael wiederum in ihr auslöste, sondern die Tatsache, dass er ihren Gedanken so nahe war und sie seinen. Sie hielt ihr Handtuch fest und ging auf die kleine Sitzgruppe zu und setzte sich ihm gegenüber. „Ich habe ein Hemd und eine Boxershorts für dich. Nicht das Beste, aber es wird erst mal nicht rutschen, wie meine Hose und ist warm.“ Er reichte ihr die Sachen und sie nahm sie dankend entgegen, zog sie an, ohne dabei das Handtuch fallen zu lassen. „Was ist mit deinen Füßen?“ Er hatte das Blut, das bereits wieder verkrustete, an ihren Füßen wahrgenommen und streckte den Arm danach aus, um einen Fuß anzuheben. „Es ist nichts weiter. Nur ein paar Schrammen.“ Sie winkte ab und ließ sich wieder in die Couch fallen. „Ich hol kurz den Verbandskasten aus dem Auto und… es ist besser, wenn wir es… naja.“ Er schien selbst mit der Situation überfordert zu sein und verließ das Apartment, um das Erste Hilfe Set zu holen. Als er wieder hereinkam, kniete er sich direkt vor ihr nieder und nahm erst den rechten und dann den linken Fuß, desinfizierte sie und legte einen leichten Verband um. Sie mieden dabei jeden Blick und jedes Wort. „Du schuldest mir ein paar Antworten!“, erinnerte sie ihn an ihr Gespräch vor seinem Haus. „Und du mir nicht?“, war seine einfache Gegenfrage. „Was meinst du?“ Dieser Mann machte sie verrückt. Warum sprach er immer in Rätseln. „Woher kommst du?“, fing er wieder an und sah ihr fest in die Augen. „Aus Berlin, Deutschland.“ Sie hielt seinem Blick, ohne zu Blinzeln, stand. „Was machst du hier?“ Ihr schien das hier wie ein Kreuzverhör zu werden. „Ich bin eine einfach Au-Pair, die vielleicht hier studieren will. Was sollen die Fragen? Wer bist du denn?“ Sie entzog ihm ihren linken Fuß und beugte sich leicht nach vorn, um ihn besser in die Augen sehen zu können. Er stand auf, beugte sich vor und griff ihr in den Nacken, woraufhin sie sein Hand abschüttelte. „Hey, was soll das? Was machst du denn da?“ Er setzte sich ihr wieder gegenüber und schaute sich selbst auf die Hände. „Wie lange kannst du das schon und was kannst du alles?“ Er hob sein Gesicht und sah sie herausfordernd an. Sie verstand ganz genau was er meinte, das tat sie vermutlich die ganze Zeit, aber sie redete nie darüber. „Ich weiß es nicht. Ich glaube es war schon immer da.“ Sie ließ ihren Kopf resigniert sinken. „Hattest du eine normale Kindheit?“ Er wusste selbst nicht, wie er es besser umschreiben konnte, aber wenn sie Teil eines Programms gewesen wäre, dann wüsste er schließlich von ihr und so wäre es also durchaus möglich. „Was meinst du? Außer das meine Mutter mein Leben vorherbestimmt hat, weil ich etwas intelligenter bin?“ Er blickte erstaunt auf. „Wie meinst du das?“ Sie seufzte tief: „Mein IQ liegt über den normalen Durchschnitt und deswegen hat meine Mutter mich so früh wie möglich auf ein Internat nach England verfrachtet, damit ich mal was tolles werde.“ Sie spürte, dass es sie reizte, dass diese Unterhaltung zu nichts führte, aber er bohrte nur mit weiteren Fragen, die ihre Familienverhältnisse und ihren bisherigen Werdegang darlegten, bis zu dem Punkt, an dem sie hierher gekommen war. „Und dein Vater? Was ist mit ihm?“ Sie hatte ihn nicht erwähnt, weil es ihn, prinzipiell, nicht gab. „Ich weiß nicht viel von ihm. Er hat ein Wochenende mit meiner Mutter verbracht, als er einen Auftrag in Berlin hatte. Genaues weiß ich auch nicht. Meine Mutter hat immer von ihm geschwärmt, weil er so viel Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Er war wohl eine sehr charismatische Person, allein schon weil er für das Außenministerium gearbeitet hat.“ Michael horchte auf: „Was hat er in Berlin gemacht?“ Delia zuckte mit den Achseln: „Ich weiß es nicht. Er hat recht wenig über sich und seine Arbeit gesprochen, aber es könnte was mit der Teilung Deutschlands zu tun gehabt haben.“ Michael ahnte, dass das wohl nicht der springende Punkt gewesen war. „Kennst du seinen Namen?“ Delia konnte sich kaum vorstellen, dass Michael etwas mit dem Namen anfangen konnte. „Brian. Mehr wusste auch meine Mutter nicht.“ Michaels Augen leuchteten auf, als würden sie eine Erscheinung sehen: „Du heißt Hope!“ stellte er mehr fest, als das er fragte. Delias zuckte zusammen und starrte ihn voller Unglauben an. „Woher weißt du das?“ Michael erhob sich und ging zu der Kommode, auf der er den Karton abgestellt hatte, suchte nach etwas und kam mit einem Ordner zum Sofa zurück. „Ich war ein enger Vertrauter deines Vaters, hier ist ein Bild von ihm“, er reichte ihr ein Foto, das einen Mann abbildete, der Mitte sechzig sein musste. Er hatte graues Haar und ein sehr faltiges Gesicht, schmale Lippen und grüne Augen, mit einem leichten Braunstich. Es war eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, wobei sie nicht die markante Nase hatte, aber im Gegensatz zu ihrer Mutter, die eine sehr blasse haut hatte – nahezu weiß – hatte sie einen etwas dunkleren Hauttyp, der eher ins bronzene ging, was sie scheinbar von diesem Mann auf dem Foto geerbt hatte. Sie studierte das Bild so gründlich wie nur möglich. Seine Augen hatten einen eigenartigen Blick, als würden sie Abscheu, Stärke, Unnahbarkeit und Mitleid zugleich widerspiegeln. Er zog die Stirn kraus, als würde er über etwas nachdenken. Sie meinte genauso auszusehen, wenn sie nachdachte. „Er hat tatsächlich lange Zeit für das Außenministerium gearbeitet, nur hat er irgendwann mit ein paar Männern eine Gruppe innerhalb der Regierung gegründet, die sich das Syndikat nannte. Hier sind Akten, die ihre Arbeit dokumentierten“, er reichte ihr einige Akten, von denen ein paar schon recht alt waren. „ Sie kooperierten mit den Außerirdischen, um sich Zeit bis zur bevorstehenden Kolonisation zu erkaufen und um einen Impfstoff gegen sie zu entwickeln“, er schlug einen Ordner der ersten Begegnung in Roswell auf und zeigte ihr Fotos und Berichte. „Was?“ Delia sah, mit weit aufgerissenen Augen, auf. „Willst du mir jetzt etwa sagen, dass es Außerirdische gibt? Das ist doch Quatsch. Wenn ich von Männern mit solchen Wahnvorstellungen gejagt werde, bin ich wirklich in Gefahr!“ Sie stieß die letzten Worte abschätzend heraus. „Hör zu, ich weiß, dass es zu viel verlangt ist, es einfach so zu glauben, aber du hast hier die Berichte in deiner Hand und Fotos. Du kannst es dir nicht leisten mir nicht zu glauben!“ Sie sah wieder auf den Ordner in ihrer Hand und erkannte ein medizinisches Gutachten, das eine Aufschlüsselung über eine unbekannte Substanz darstellte. „Du wirst auch Akten über Billy finden und seine Mutter. Seine leibliche Mutter.“ Delia sah ihn ungläubig an. Sie wusste von Mary, dass Billy adoptiert war und welche Ängste sie ausgestanden hatte, als sie ihn bekommen hatte. „Was kannst du mir über Billy sagen? Du hast ihn die letzten drei Monate rund um die Uhr versorgt, du kennst ihn.“ Michael spornte sie zur Konzentration an. „Ich… ich weiß nicht. Er ist sehr intelligent, vermutlich sogar hochbegabt. Mary und Jeff haben das noch nicht testen lassen. Er fing gerade an ein paar Wörter zu lesen und Mary hat ihn dabei unterstützt und etwas unterrichtet, aber sie wollte ihm Zeit lassen.“ Delia zuckte die Achseln. „Was noch? War mal irgendetwas Außergewöhnliches?“ Delia musste an das Fenster denken, das gesprungen war und sah Michael erschrocken an: „Ist er wie du?“ Michael schüttelte den Kopf: „Zum Glück nicht. Wir wissen auch noch nicht viel über ihn, außer das er phänotypisch menschlich ist, aber sein Genotyp bestand für uns nur aus Vermutungen.“ Er zuckte die Achseln. „Seine Mutter hat alles versucht ihn vor uns zu verstecken und hat ihn daher auch zur Adoption freigegeben.“ Er sah sie an, als würde er sich entschuldigen wollen. „Heißt das, dass du ihn auch „gejagt“ hast?“ Delia erschrak erst über den Gedanken, als sie ihn ausgesprochen hatte und blickte ihn dann herausfordernd an. „Um ehrlich zu sein, wollte ich zunächst, dass er gar nicht geboren würde. Hätten die Außerirdischen von ihm erfahren, wäre die Kolonisation sofort losgegangen. Verstehst du? Seine Mutter war unfruchtbar, auf Grund von Tests, die im Namen der Regierung an ihr vorgenommen wurden und dann wurde sie schwanger. Er ist etwas ganz besonderes. Er wird einmal eine zentrale Rolle einnehmen und auf welcher Seite er dabei stehen wird, liegt ganz allein…“, er schluckte, als ihm scheinbar etwas bewusst wurde. „Mein Gott!“ Er richtete seinen Blick wieder auf Delia und schaute sie entgeistert an. Sie verdrehte die Augen und erwiderte verunsichert seinen Blick. „Was ist?“ Er rang nach Atem: „Du wirst deinen Vater nie kennen lernen, aber… aber… du hast… du hast einen Bruder!“ Delia Mund öffnete sich, doch brachte sie keinen Ton heraus. Sie hatte sich, natürlich, als junges Mädchen oft über die andere Seite ihrer Familie nachgedacht, aber sie wusste, dass sie unerreichbar für sie war. „Kennst du ihn? Weißt du wo er ist?“ Sie wurde fast euphorisch. „Es gibt auch eine Akte über ihn, aber ich weiß nicht, wo er sich momentan aufhält. Und ich bin nicht der Einzige, der das gern wüsste!“ Delias Miene verfinsterte sich wieder. „Sind die etwa auch hinter ihm her?“ Michael machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge: „Und das FBI!“ Delia stand auf, ging zum Fenster und fuhr sich durchs Haar: „Mein Güte, wo bin ich da nur hineingeraten? Ich könnte jetzt in Harvard studieren, aber nein, ich musste ja Erfahrungen sammeln. Schöne Erfahrung.“ Sie drehte sich zu Michael: „Ich hoffe er ist einer von den Guten!?“ Sie sah ihn fast flehend an. „Naja, nach deiner Definition wohl schon. Er hat in seiner Laufbahn als FBI Agent immer versucht die Verschwörung aufzudecken, um die geplante Kolonisation ans Licht zu bringen.“ Sie nickte: „Dann müssen wir ihn finden!“ Michael stand auf, ging auf sie zu und nahm sie bei den Schultern: „Du verstehst wohl nicht!? Er ist untergetaucht. Er könnte sich in China aufhalten. Ich weiß noch nicht mal, was ich mit euch anstellen soll und dann soll ich auch noch Fox Mulder suchen?“ Delia zog ihre linke Augenbraue hoch: „Fox? Soll das ein Name sein?“ Sie ließ Michaels Einwände einfach an sich abprallen. „Hör mal, die haben Billy gefunden, dann muss es doch auch einen Weg geben meinen Bruder zu finden!“ Michaels Augen entflammten wieder zu dieser berechneten Kälte. „Na schön, ich habe eine Idee, aber ich muss nach Washington und darf dabei kein Aufsehen erregen. Also müsst ihr hier bleiben.“ Michael ging in Gedanken durch, wen er zuerst kontaktieren würde, und dass er dafür etwas Wichtiges brauchen würde. „Was soll das heißen? Was ist wenn die wiederkommen?“ Delia brach in leichte Panik aus. Sie kannte sich hier überhaupt nicht aus und würde diesmal keine Möglichkeit zur Flucht haben. „Ich brauche nicht lange. Ich bin spätestens heute Abend zurück und für den Notfall“, er stockte und dachte kurz nach: „Lass ich dir eine Waffe da.“ Er suchte ihren Blick, um ihr mit Nachdruck zu verstehen zu geben, dass Widerworte sowieso nichts nützen würden. Er ging ins Bad und kehrte fünf Minuten später in frischer Kleidung und rasiert zurück in den Wohnraum. Es war deutlich zu erkennen, dass er unter der Lederjacke eine Waffe trug. Er ging auf die Kommode zu und suchte in dem Karton nach etwas, das sich als kleiner schwarzer Apparat herausstellte, der aus der Entfernung wie ein Walky Talky aussah. Delia hatte sich derweil wieder mit den Akten auf das Sofa gesetzt und begonnen sie zu studieren. „Also schön, hier ist etwas Geld. Verlasst das Zimmer nicht. Bestellt euch was vom Zimmerservice. Ich bring euch frische Kleidung mit, wenn ich wiederkomme.“ Er legte ihr 50 Dollar in kleinen Scheinen auf den Tisch und griff dann in seinen Hosenbund und zog eine kleine Handfeuerwaffe heraus. „Hast du schon mal eine Waffe in der Hand gehabt?“ Delia sah ihn kritisch an: „Ja, ein Luftdruckgewehr.“ Michael schien etwas zu zweifeln. Ihm war wohl klar, dass ihr die Waffe wenig helfen würde, wenn sie sie brauchen würde. „Das hier ist etwas leichter. Der Rückstoß ist zwar hier auch nicht zu verachten, aber es ist nur ein Revolver. Ein volles Magazin ist drin und hier sind zwei Reservemagazine. Es ist ein ganz einfaches Prinzip: laden, entsichern, zielen, schießen. Noch Fragen?“ Er zeigte ihr alles, als würde er täglich mit solchen Waffen agieren und Delia fragte sich, ob sich etwas wie Abscheu für ihn entwickelte. „Kann Töten jemals einfach sein?“ Er hatte keine Lust, eine Grundsatzdiskussion mit ihr zu beginnen, also stand er wieder auf und drehte sich noch mal zu ihr um: „Vielleicht nein, aber wenn du euch verteidigen musst, dann wirst du es wohl in Kauf nehmen müssen!“, und damit ließ er sie allein mit dem Aktenstapel und ihrem dröhnenden Kopf. Sie konnte kaum glauben, was ihr in den letzten 16 Stunden widerfahren war und was sie gehört hatte. Sie zweifelte langsam an ihrem Verstand, war das doch alles gar nicht möglich. Da war ein Mann, der ihr Dinge vorgelegt hatte, die sie nie wirklich interessiert hatten, weil sie für sie einfach nicht existent gewesen waren. Und nun gab es nicht einmal eine Diskussion darüber, sondern es sollte einfach so sein. Billy regte sich in seinem Schlaf und wimmerte ein wenig. Delia betrachtete ihn und sagte ihn in ihren Gedanken, dass er sich keine Sorgen machen und ruhig schlafen solle, und begann leise zu summen. Augenblicklich wurde der Junge wieder ruhig und Delia widmete sich wieder der Akte über ihren Vater zu und begann sie zu studieren. Nach seinem Werdegang war er ein sehr einflussreicher Mann, wenn man bedachte für was er arbeitete. Er war einer der Köpfe dieser Regierungsverschwörung gewesen und hatte scheinbar viel Blut an seinen Händen kleben. Er war einmal verheiratet gewesen und hatte einen ehelichen Sohn namens Jeffrey Spender. Seine Frau Cassandra hatte er, als Pfand in einem Projekt zu Testzwecken, den Außerirdischen zur Verfügung gestellt. Später galt sie in ihrem Projekt, das sich der Schaffung eines Hybriden verschrieben hatte, als voller Erfolg. Sein unehelicher Sohn wurde erst im Rahmen eines anderen Projekts erwähnt, indem er sich von Fox Mulder genetisches Material implantieren ließ, um eine körpereigene Immunität gegen einen Virus, das als Purity bezeichnet wurde, zu entwickeln, woraufhin er allerdings schwer erkrankte. Delia suchte nach einer Akte mit der Aufschrift „Purity Control“, um mehr über die Zusammensetzung des Virus herauszufinden. Wie hier aufgelistet war, handelte es sich dabei um die Zusammensetzung des Blutes der Außerirdischen. Es war sozusagen ihr Lebenselixier und entwickelte, außerhalb ihres Körpers, eine Art Eigenleben. Um die Wirkungsweise besser kennen zu lernen und zu verstehen, wurden ahnungslose Menschen entführt und der Substanz ausgesetzt. Als es noch keinen Impfstoff gab, wurden die Testpersonen danach verbrannt und in der Entwicklungsphase, sprich als die Mittel noch nicht wirkten oder nur teilweise, ebenfalls. Delia wurde bei dem Gedanken an die unzähligen Opfer beinahe schlecht. Eine andere Akte verwies auf Tests, die an jungen Frauen durchgeführt wurden. Die Tests wurden fast bis in Detail beschrieben, was furchtbare Bilder vor Delias geistigem Auge heraufbeschwor. Wissenschaftler aus Japan und Amerika machten Versuche an den Frauen, die sich hauptsächlich auf ihre Eignung zu einem Hybridenprogramm beliefen. War diese nicht gegeben wurden die Körper mit Strahlen beschossen, um die Zellreaktionen zu testen. Unter anderem mit SGR, was Delias Wissen zufolge galaktische, kosmische Strahlung war. Ab 1965 begann man während dieser Testreihen den Frauen ein Mittel zu injizieren, wodurch eine Superovulation verursacht wurde. Die gewonnenen Eizellen wurden den Frauen schließlich entnommen, um genetisches Grundmaterial für das Hybridenprogramm zu erhalten. Als Folge der Tests wurden nicht nur Unfruchtbarkeit und gewisse körperliche Schäden aufgeführt, sondern auch der Tod, da bei vielen Frauen unbekannte Substanzen getestet wurden oder sie mit genetischen Material der Außerirdischen konfrontiert wurden. Delia schluckte schwer bei dem Gedanken daran, dass ihr Vater in diese Entführungen involviert war und was diese Menschen erleiden mussten. Sie griff nach ihrer eigenen Akte, die sehr dünn war. Es waren gerade mal drei Blätter darin enthalten, eine Gewebeprobe und eine Ultraschallaufnahmen. Die Akte war handgeschrieben und mit den Initialen ihres Vaters unterzeichnet. Sie war nicht, wie üblich, medizinisch, wissenschaftlich geschrieben, sondern eher eine Erklärung. Ihr Vater sah 1983 bereits voraus, dass sie sich irgendwann den Außerirdischen ergeben werden müssen und kaum eine Chance gegen sie haben würden. Die Arbeit an einem Impfstoff beschrieb er als müßig und schleppend. Er hatte keine Hoffnung, dass sie voran gehen würde. Er beschrieb eine Kontaktaufnahme durch eine andere Alienspezies, die seit langem versuchte etwas gegen die Vormacht im All zu unternehmen. Sie baten ihn um Kooperation, um gemeinsam an einem Plan gegen die Vasquass zu arbeiten. Sie unterschieden sich genetisch nur sehr gering von dieser Spezies, waren aber auf Grund eines Krieges mit den Vasquass, nur noch eine kleine Streitmacht, ohne Erfolgschancen. Sie waren der Meinung, dass ein Zusammenschluss der Menschen und ihrer Spezies eine wirkliche Chance bergen würde, etwas gegen die Vasquass auszurichten, doch stimmten sie mit ihrem Vater überein, dass die Menschen noch nicht reif genug waren und sie noch mehr von ihnen lernen mussten. Allerdings fehlten Zeit und Möglichkeiten, um sich umfangreichen Studien zu widmen. Ihr Vater machte den Vorschlag einen Hybriden aus Mensch und ihrer genetischen Struktur zu erschaffen und gab ihre Mutter, als freie Testperson an. Delia wurde schlecht bei dem Gedanken, was wohl ihrer Mutter angetan wurde. Allerdings stellte sich heraus, dass der Eingriff so gering, wie möglich gehalten wurde. Es wurde auf die Bilder verwiesen und beschrieben, wie der eineiige Zwilling einem weiblichen Alien, nach genetische Bearbeitung, eingepflanzt wurde. Sie erstarrte im Lesen, als ihr klar wurde, dass sie einen Zwilling hatte. Sie wusste, dass ihre Mutter einen Brief an das Außenministerium gerichtet hatte, um ihren Vater davon zu informieren, dass sie schwanger war, sie hatte ihr aber immer gesagt, dass er nicht darauf reagiert hatte. Diesem Schreiben zufolge, wurde ihre Mutter in der achten Woche entführt. Die Embryonen wurden entfernt und genetisch behandelt. Zusätzliche DNS-Frequenzen wurden der menschlichen zugefügt und einige menschliche Teile entfernt. Über das genaue Ergebnis konnte nur spekuliert werden, aber man ging davon aus, dass die Kinder körperlich und geistig einem normalen Menschen überlegen waren, dafür aber mit dessen Emotionen, Empfindungen, geistiger Stärke und Willen ausgestattet wären. Um dennoch den Mensch besser ergründen zu können, wurde der identische Zwilling behalten und von der anderen Spezies ausgetragen. Über ihren Verbleib, beziehungsweise Entwicklung gab es keine Angaben. Ihr Vater war aber darüber in Kenntnis gesetzt, dass Delia per Kaiserschnitt entbunden wurde und wusste von ihrer außergewöhnlichen Intelligenz. Er gab an, dass er für Stipendien sorgen würde, um dem Kind die besten Grundlagen zu schaffen, aber dass er ihre Existenz vor den Mitgliedern des Konsortiums geheim halten würde, um sie in ihrer Entwicklung nicht zu gefährden. Sie ließ die Akte sinken. Sie hatte genug von sich gelesen und wollte nicht noch mehr wissen. Sie wusste, dass der nächste Teil der Akte auf ihre psychischen Fähigkeiten einging und ein Teil ihrer Gehirnentwicklung beschrieb, die für besondere Fähigkeiten grundlegend verantwortlich war. Sie widmete sich nun der Akte ihres Bruders, um mehr über ihn zu erfahren.

Motel, 6:53, 06.07.2005

Sie wurde durch das Rütteln an ihrem Arm geweckt, nach dem sie von furchtbaren Szenarien getesteter Frauen geträumt hatte und ständig ihre Mutter, festgeschnallt auf einem Tisch gesehen hatte. Sie hatte bis sechs Uhr morgens alle Akte gelesen, bis sie darüber eingeschlafen war. Billy stand neben der Couch, in einem viel zu großen, grauen T-Shirt und sah sie verschlafen an. „Guten morgen, Baby, hast du gut geschlafen?“ Sie griff nach dem Jungen und nahm ihn auf ihren Schoß, wiegte ihn ein wenig hin und her. Er hatte alles verloren. Seine Mutter hatte ihn weggeben müsse, um ihn zu schützen, seine Adoptiveltern waren kaltblütig erschossen worden und er wurde gejagt, weil er als genetisch perfekter Hybrid galt. Für sie war er weiterhin ein kleiner Junge, egal wie außergewöhnlich oder nicht. Billy schmiegte sich fest an sie und ließ sich von ihr streicheln und liebkosen. „Na, hast du auch Hunger?“ Sie blickte ihm ins Gesicht und lächelte ihn aufmunternd an. „Und wie!“, stieß der Kleine aus und hielt sich, um die Sache zu betonen, den Bauch fest. Delia bestellte beim Zimmerservice Rühreier mit Speck und Toast, Pfannkuchen mit Sirup, Orangensaft und eine Kanne Kaffee. Nach dem Frühstück badete sie Billy und initiierte, mit Absicht, eine Wasserschlacht, um ihn von den Geschehnissen abzulenken. Danach durfte er sich Cartoons ansehen, während Delia ihren Gedanken nachhing und darüber nachdachte wie es weitergehen sollte. Sie spähte durch einen Spalt der Gardine, um nach Michael Ausschau zu halten, fand aber nur einen leeren Parkplatz vor. Sie drehte sich wieder zum Zimmer um und fand Billy, zufrieden fernsehend vor. Sie begutachtete das Zimmer genauer und blieb an dem Karton hängen. Sie ging darauf zu und fand weitere Akten, einige Chipkarten, einen silbernen Gegenstand, Geld und Brieftaschen. Sie nahm sich zuerst die Akten vor. Eine davon trug die Aufschrift „Super Soldier“ und erweckte sofort ihr Interesse. Sie begann sie zu lesen und verstand sofort wer ihre Verfolger waren. Sie ahnte wer da am Fluss gestanden hatte, während sie sich im Wasser versteckt und dieses Klirren gehört hatte. Diese Supersoldaten waren ein neues Programm, das den Begin der Kolonisierung einleiten sollte. Sie wiesen, auf Grund ihrer besonderen Anatomie, praktisch keine Verletzbarkeit auf. Außer auf ein spezielles Metall, bei dem es sich um Magnethit handelte. Sie wurden als emotionslose Killer eingesetzt, um den Willen der Kolonisten durchzusetzen und sollten nach geplanter Kolonisierung als Vorarbeiter dienen. Jetzt verstand sie, warum Michael ihr in den Nacken gegriffen hatte. Diese Supersoldaten hatten als prägnantes, äußeres Merkmal einen besonders stark ausgeprägten Halswirbel, der äußerlich sichtbar war. Eine weitere Akte zog Delias Interesse auf sich. Sie öffnete sie und fand ein Foto von Michael darin und seinen Lebenslauf, nur trug er hier einen anderen Namen. Er wurde als enger Mitarbeiter des Konsortiums beschrieben, der allerdings immer wieder gegen dessen Prinzipien arbeitete und damit deren Pläne oft durchkreuzte. Nach einer Schussverletzung in den Kopf wurde er dem Super-Soldier-Programm unterstellt und diente diesem zu Testzecken am toten menschlichen Körper, das erfolgreich war. Delia fiel die Akte aus der Hand und sie erstarrte. Was sollte das heißen. War das alles nur eine Show von ihm, um ihr Vertrauen zu erlangen und so Billy zu bekommen? Sie wusste um das merkwürdige Gefühl, das er in ihr weckte, aber sie hatte nichts gespürt, das sie essentiell geängstigt hatte. Sie entschied sich zu bleiben und zu warten, denn andere Alternativen hatte sie nicht und bisher hatte Michael oder Alex, wie er scheinbar wirklich hieß, nichts getan, das ihnen schadete.

Es wurde acht Uhr und sie machte Billy für das Bett fertig. Sie hatten beide viel geschwiegen und versucht die Zeit herumzubringen. Sie wollte allerdings, dass er seinen Rhythmus nicht verlor. Delia war der Meinung, dass es Billy wichtig war eine gewisse Kontinuität zu behalten, um nicht gänzlich aus dem Gleichgewicht zu geraten. Sie erzählte ihm die Geschichte von Hänsel und Gretel, die auch ihr Heim verloren hatten, aber mit einem Schatz wieder zurückfanden und hoffte, er würde die Geschichte auf sich selbst projizieren. Sie hingegen, konnte kaum aufhören, die Uhr anzustarren und darum zu bitten, dass die Zeit endlich verging und Alex zurückkehrte. Sie lief das Zimmer auf und ab, wie ein Tiger, der in seinem Käfig gefangen war und schreckte bei jedem Geräusch zusammen. Nach einer Weile beschloss sie, dass es in Ordnung wäre, kurz das Zimmer zu verlassen. Sie brauchte etwas Luft zum Atmen und musste etwas anderes sehen, als diese Zimmerwände. Sie suchte nach einem Zigarettenautomaten und zog sich ein Päckchen Lucky Strike. Sie wollte Billy allerdings nicht zu lang allein lassen, also ging sie rasch zurück ins Zimmer, vergewisserte sich, dass der Junge immer noch schlief, ging ins Bad und lehnte die Tür an, so dass sie immer noch Einblick in den Wohnraum hatte. Sie stellte sich auf das Toilettenbecken und öffnete das Fenster, damit Billy den Qualm nicht riechen konnte. So stand sie da und inhalierte den heißen Rauch, um etwas ruhiger zu werden. Nachdem sie aufgeraucht hatte, schnippte sie den Stummel weit aus dem Fenster und verschloss es wieder sorgfältig. Kurze Zeit später hörte sie ein heranfahrendes Auto, dass vor dem Zimmer parkte. Sie griff nach der Waffe und hielt sie im Anschlag, lief leise auf das Fenster zu und schob die Gardine ein Stück beiseite, um nach draußen zu sehen. Sie sah Alex, wie er einen Mann, dessen Hände gefesselt waren vor sich hertrieb. Der Man schien schwer in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Er sah, trotz seiner kräftigen Statur, geschwächt aus und lief nur gebeugt. Er schien starke Schmerzen zu haben und keuchte. Alex blaffte ihn hart an und stieß ihn vor sich her. Das ging, unweigerlich, zu weit. Dieser Mann wirkte nicht wie eine Bedrohung. Er hatte etwas von einer Schutzfigur an sich, der man trauen konnte. Delia trat ein Stück vom Fenster und der Tür zurück, um Alex freie Bahn zu lassen und hielt die Waffe hinter ihren Rücken. Alex öffnete die Tür und trat, mit dem Unbekannten im Schlepptau, ein. Er warf ihn ungestüm zu Boden und schaute sich nach den Rechten um. Billy war aus seinem Schlaf hochgefahren und beobachtet nun verängstigt das Szenario vor sich. Der Mann am Boden rang verzweifelt nach Atem und Delia stürzte auf ihn zu, um ihn den Kragen seines Hemdes zu öffnen und ihn zu stützen. Während sie seine Krawatte lockerte, sagte sie Billy, dass er ins Bad gehen sollte und die Tür zumachen sollte. Sie bemerkte kaum noch, dass sie einfach nach ihren Sinne und Instinkten funktionierte und nach einem Schema handelte, dass ihr selbst unbekannt war. Der Junge in seinem Bett regte sich nicht. Sie drehte sich kurz um und fuhr ihn etwas schroffer an: „Hast du mich nicht verstanden? Geh jetzt und tu was ich dir sage!“ Es tat ihr augenblicklich leid, aber wie sollte sie ihn sonst vor Dingen schützen, die sie selbst nicht voraussehen konnte!? Der Man in ihrem Arm schien schwer verprügelt worden zu sein. Trotz dessen er selbst unglaublich kräftig wirkte, schien er erlegen gewesen zu sein und wirkte allein deswegen vertrauenswürdig für sie. Er hatte eine tiefe Platzwunde auf seiner kahlen Stirn, ein geschwollenes Auge und mehrere Schürfwunden. „Was soll das? Was hast du mit ihm gemacht?“ Sie fuhr Alex wütend an. Sie fühlte sich schuldig, weil sie wusste, dass dieser Mann eine Verbindung zu ihrem Bruder war und er deswegen so von Alex zugerichtet worden war, der ihm als Supersoldat, zweifellos, überlegen war. „Du willst deinen Bruder finden, der Kerl weiß wo er ist, will es aber nicht sagen.“ Alex sah den Verletzten verachtend an. Der Fremde blickte Delia nur fragend und zweifelnd an. „Es tut mir Leid, Sir, das wollte ich nicht!“ Delia ging ins Bad und kam mit einem feuchten Handtuch zurück und begann die Wunden zu säubern. Alex hatte ihn inzwischen auf einen Stuhl gehievt, auf dem sich der Man kaum halten konnte. Unter Delia Berührungen zuckte er, mit schmerzverzerrtem Gesicht, zusammen. Sie schaute ihn entschuldigend an, was er nur zur Kenntnis nahm. „Also Skinner, nun sehen sie, dass es sie gibt und nun reden sie gefälligst!“ Alex trat einen Schritt auf Skinner zu und wedelte mit dem Steuergerät der Nanobots vor Skinners Nase herum. „Ich werde ihnen gar nichts sagen, Krycek!“ Skinner versuchte sich aufzubäumen, wurde aber aufgehalten, als Alex den Regler betätigte und ihn ein heftiger Schmerz durchzuckte. „Was tust du denn da, um Gottes Willen? Was ist das?“ Delia deutete auf das Gerät in Alex’ Händen. „Das ist etwas, das ihn zum Reden bringen wird!“, stieß dieser nur kalt heraus. „Dann töten sie mich doch endlich, Krycek!“, Skinner versuchte seine Kraft zu sammeln. „Hier wird niemand getötet.“ Delia erhob sich und ging auf Alex zu. Er stand emotionslos und starr vor Skinners Stuhl. Delia sah ihn beschwörend an: „Was soll denn das? Wie sollen wir ihn finden, wenn du diesen Mann tötest?“ Skinner sah beide verwirrt an. „Wer sind Sie?“ Delia wandte sich ihm zu: „Mein Name ist Delia Simon, ich komme aus Berlin und arbeite hier als Au-Pair oder habe… ich habe durch ihn“, sie deutete auf Krycek und fuhr fort: „…erfahren, dass ich einen Halbbruder habe, der Fox Mulder heißt. Ich werde von irgendwelchen Männern verfolgt, weil mein Vater…“, sie wusste wieder nicht weiter. Skinner nickte, als würde er verstehen, hatte er doch genug Erfahrungen mit Spender gemacht. „Ich hatte keine Ahnung von meinem Bruder, aber ich weiß nicht wo ich hin soll und wie es weitergehen soll und Michael meinte, dass mein Bruder mir helfen könnte.“ Skinner konnte der knappen Erklärung nicht ganz folgen: „Michael?“ Krycek trat einen Schritt nah vorn: „Ist schon gut, das bin ich.“ Skinner setzte einen finsteren Blick auf. „Sie sind es doch, der sie verfolgt hat, um so an Mulder heran zu kommen, aber da spiele ich nicht mit Krycek. Ich habe es Mulder versprochen. Ich sterbe lieber, als ihn zu verraten!“ Krycek umklammerte das Kontrollgerät, sichtbar, fester und ließ Skinner zusammenzucken. „Es ist ja sehr ehrenvoll, wie loyal sie sind, aber das können wir uns leider alle nicht leisten, verstanden? Jetzt sagen sie gefälligst, wo wir Mulder finden!“ Krycek schob den Regler ein wenig höher, sodass konstante kleine Stromstöße Skinners Herzmuskel durchzuckten. Er jaulte gequält auf. „Alex, verdammte Scheiße, hör auf!“ Delia schrie und stieß Alex zur Seite, der sichtlich erstaunt über ihre Kraft war. Sie griff nach dem Gerät und zog gemeinsam mit ihm daran. Sie zogen gemeinsam mit ganzer Kraft an dem kleinen Objekt und kamen immer wieder an den Regler, so dass Skinner unter heftigen Krämpfen zusammenzuckte. Alex griff nach Delias Handgelenken und drückte sie zusammen, so dass sie nicht mehr agieren konnte und hielt das Gerät weit von ihr weg. „Reiß dich zusammen“, fuhr er sie laut an. „Nicht bevor du mir erklärst, was das ist!?“ Er wollte sie von sich wegstoßen, konnte aber nichts daran ändern, dass er sie noch vorsichtig von sich schob. „Das hier ist ein Kontrollgerät, das die Nanobots in seinem Blutkreislauf kontrolliert. Und wenn er uns nicht die Informationen gibt, die wir brauchen, dann hetze ich sie ein wenig gegen ihn auf!“ Ein teuflisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „ Wenn du ihn umbringst, kann er uns auch nicht mehr helfen.“ Sie hielt sich die Rippen, die vom Gerangel wieder schmerzten. Skinner rang verzweifelt nach Atem, seine Hauptarterie hatte sich blau verfärbt, auf Grund der verstärkten Arbeit der Nanobots. Alex sah ihn misstrauisch an. Delia legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. „Okay, wenn sie es nicht sagen wollen, dann bringen sie mich einfach zu ihm, bitte!!“ Sie ging auf Skinner zu und kniete sich vor ihm hin. „Es tut mir leid, Miss, aber das geht wirklich nicht.“ Delia verzweifelte langsam, weil das alles zu viel für sie wurde. „Sir, bitte, ich weiß nicht was ich sonst tun soll. Ich muss ihn sehen. Er hat vielleicht Antworten für mich!“ Delia sprach die letzen Worte mit Nachdruck und Skinner zuckte zusammen. Wie oft hatte ihr Bruder nach Antworten gesucht, die Skinner ihm nicht hatte geben wollen oder können. Vielleicht wäre es nie so weit gekommen, dass Mulder sich hatte verstecken müssen, hätte ihn Skinner nicht so oft blockiert. Hier war seine Chance etwas gut zu machen. „Ich brauche die Garantie, dass der uns nicht folgt!“ Delia atmete erleichtert auf und drehte sch zu Alex um. „Du glaubst nicht wirklich, dass ich hier bleibe und nichts tue?“ Alex konnte es nicht fassen, dass sie glaubten, es wäre so einfach. Er war dem Kind und noch so viel mehr, mit Delia, so nahe. Das konnte er nicht einfach so aufgeben. „Alex, gib mir bitte den Schlüssel und lass uns gehen. Wir sind doch nicht deine Geiseln! Ich bin dir dankbar, dass du uns geholfen hast, aber das hier ist wichtiger, als Männerstolz!“ Delia sprach besänftigend auf ihn ein. „Woher willst du wissen, dass er dich wirklich zu ihm bringt? Vielleicht ist das auch nur ein Trick!“ Alex suchte nach Möglichkeiten weiter ihr Vertrauen zu halten und dennoch die drei begleiten und auch noch Mulder zu bekommen. „Dann gib mir das Gerät mit! So habe ich ihn unter Kontrolle.“ Delia wusste, dass sie dieses Gerät nie nutzen würde, doch konnte sie so verdeutlichen, dass sie Alex weiterhin traute. Skinner war sichtlich verwirrt über die skrupellose Art der beiden und hoffte, dass dieses junge Mädchen nicht auch noch dieses Gerät nutzen würde. Alex ahnte, dass es nichts bringen würde mit ihr zu diskutieren. Menschen, die verwirrt und gereizt waren, waren unberechenbar und er brauchte diesen Draht zu ihr weiterhin. „Na schön, du musst auf euch Acht geben. Ich will, dass du misstrauisch bleibst und vorsichtig bist. Melde dich zwischenzeitlich.“ Er war sanfter, als er es zu sein beabsichtigt hatte, aber das machte ihn nur noch vertrauenswürdiger für Delia. „Ich brauch deinen Wagenschlüssel und die Akten!“ Sein Mund stand offen über ihre berechnende Art. Er wollte Widerworte erheben, ahnte aber, dass es nichts bringen würde. Er reichte Delia den Schlüssel für die Handschellen, legte den Wagenschlüssel auf den Couchtisch und setze sich dann resigniert in den Sessel. Delia machte Skinner los und sah ihn noch mal prüfend an, ob er es auch schaffen würde. Er nickte ihr bestätigend zu und erhob sich dann schwerfällig. Delia ging ins Badezimmer und fand Billy unter dem Waschbecken kauern. Sie nahm ein großes Badetuch und wickelte ihn drin ein, damit er etwas vor der abendlichen Kälte geschützt war, sie prüfte die Waffe, die sie sich im Rücken in die Boxershorts gesteckt hatte und nahm Billy dann wieder hoch. Ihre Rippen und ihr Rücken schmerzten immer noch von gestern, aber das war jetzt egal. Sie kam wieder in den Wohnraum, in dem Skinner bereits an der Tür auf sie wartete. Sie schob Billys Körper mehr auf die rechte Seite, damit sie mit ihrem linken Arm den Karton mit den Akten greifen konnte und schritt auf die Tür zu. Skinner machte sich bereits auf den Weg zum Wagen, doch Alex hielt sie auf. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schaute ihr tief in die Augen. Sie spürte wieder dieses eigenwillige Kribbeln, bei dem sie nicht wusste ob sie wegrennen oder bleiben sollte. „Frische Kleidung für euch liegt im Wagen.“ Sie nickte nur, bedankte sich und ging dann zum Wagen.

Neuanfang in der Nacht

Interstate 90, 11:35, 06.07.2005

Skinner fuhr seit ungefähr drei Stunden auf der Interstate 90 in westliche Richtung. Er fühlte sich ausgelaugt und müde und wusste, dass er nicht mehr lange in der Lage war zu fahren. Er hatte seit ungefähr 36 Stunden nicht mehr geschlafen und konnte sich kaum mehr konzentrieren. Hin und wieder riskierte er einen Blick zum Beifahrersitz, auf dem Delia mit Billy auf dem Schoß saß. Billy war mittlerweile wieder eingeschlafen und lehnte mit seinem Kopf an ihrer Schulter. Delia hielt ihn fest umklammert, damit er ihr nicht von ihrem Schoß glitt. Ihre Augen waren geöffnet und der Blick ging starr geradeaus. Skinner erblickte ein Straßenschild, das Westfield ankündigte und entschloss sich, die nächste Ausfahrt zu nehmen, um dort ein Café zu suchen und sich etwas frisch zu machen. Krycek hatte ihn ziemlich schlimm verprügelt und verkrustetes Blut klebte immer noch an seiner Schläfe. Sein Hemd war an einigen Stellen gerissen und seine Gesäßtasche hatte sich halb gelöst. Er ging in Gedanken noch mal die Szene durch, die nun wie ein Film auf ihn wirkte. Krycek hatte ihm in der Tiefgarage seines Hauses aufgelauert und ihn angefahren, um den Vorteil des Überraschungsmomentes auf seiner Seite zu haben. Skinner hatte unter den Schmerzen des Aufpralles nicht die Gelegenheit, früh genug nach seiner Waffe zu greifen, aber sie hätte ihm auch nichts gebracht, wie ihm schlagartig klar wurde, als er Alex Krycek sah. Er hatte ihn eigenhändig getötet und doch lebte dieser Kerl immer noch. Es war ein präziser Kopfschuss, den niemand überleben konnte. Die Leiche war zwar verschwunden, aber er war tot. Nun stand er vor Skinner und verprügelte ihn mit zwei gesunden Armen. Er hatte dieses Gerät, das die Nanobots kontrollierten nicht einmal nötig, um Skinner in Schach zu halten. Er hatte keine Chance gegen diesen übermächtigen Gegner gehabt. Es war, als würde er gegen eine Mauer einschlagen, wenn er sich zu wehren versuchte. Auf der Fahrt zu diesem Motel versuchte ihn Krycek mehrmals zum Reden zu bringen, während er ihn Stromstöße mit dem Gerät verabreichte. Er hatte von Mulders kleiner Schwester geredet und das sie seine Hilfe bräuchte und er sie zu ihr bringen müsste, aber Skinner würde diesem Bastard niemals vertrauen und hatte geschwiegen. Jetzt saß er in diesem Auto mit einem jungen Mädchen, das höchstens 20 Jahre jung sein konnte und ein kleines Kind hatte und er brach sein Versprechen Mulder gegenüber. Er wusste nicht, was ihn dazu veranlasste, aber er hatte das Gefühl das richtige zu tun. Dieses Mädchen verwirrte ihn. Sie sah mitgenommen aus und verletzt. Vielleicht hatte Krycek auch sie verprügelt, dachte er zunächst, als er sie sah, doch dann hatte er gesehen, wie Krycek sich kaum getraut hatte sie anzufassen. Es schien nichts mit Respekt zu tun zu haben, aber es war eigenartig. Sie hatte ihn angegriffen, obwohl sie nicht ahnte, wen sie da vor sich hatte – was für ein Monster. Er hatte sie nur vorsichtig beiseite geschoben. Das konnte keine gewohnte Art dieser Super Soldaten sein. Er riss sich von seinen Gedanken los, als er ein kleines Hotel entdeckte, das ein gesondertes 24-Stunden-Restaurant führte. Hier konnten sie erst einmal eine Kleinigkeit essen und einen starken Kaffee trinken. Skinner fuhr daran vorbei, um ein paar Blocks und stoppte dann den Wagen. „Wir laufen jetzt zurück zu dem Hotel und essen dort eine Kleinigkeit und machen uns frisch. Danach sehen wir zu, wo wir einen anderen Wagen auftreiben können.“ Er sah Delia auffordernd an, die langsam in die Realität zurückkehrte. Sie hatte in den letzten drei Stunden auch ausschließlich ihren Gedanken nachgehangen und war noch ganz versunken, so dass sie nur leicht nickte. Skinner stieg aus und ging zu Delia, die vor dem Kofferraum stand und Billy leicht wiegte, da sein Schlaf wieder unruhig wurde. Es war eine frische Nacht und nur mit Boxershorts und einem großen Hemd bekleidet fröstelte sie leicht, zumal sie nur Tennissocken von Alex trug. Skinner hätte ihr gern sein Jackett gegeben, aber das lag noch in der Tiefgarage. „Können sie bitte den Kofferraum öffnen? Dort liegt der Karton mit den Akten und neue Kleidung für Billy und mich drin.“ Skinner nickte und öffnete den Kofferraum, in dem eine große Tüte eines Walmarts lag. Delia zog sie näher zu sich heran und begann darin etwas zu suchen. Im Dunkeln konnte sie nicht viel erkennen, aber sie fand durch Ertasten schnell, was sie suchte und zog es heraus. Es waren einfache weiße Sportschuhe, aber sie waren halbwegs stabil und warm und Delia konnte es kaum abwarten wieder Schuhe an ihren Füssen zu spüren. Skinner hatte den Karton bereits aus dem Wagen genommen und so konnte Delia Billy kurz ablegen, um sich die Schuhe anzuziehen. Die braune Decke, die im Kofferraum lag, nahm sie um darin Billy einzuwickeln. Sie wollte ihn nicht hier auf der Straße wecken und anziehen, also war das die einfachste Methode ihn warm zu halten. Skinner nahm die Tüte mit der restlichen Kleidung und fragte, ob es mit dem Jungen ging und schlug dann mit ihr die Richtung des kleinen Hotels ein.

Delia war nun seit einer knappen Viertelstunde mit Billy in dem Waschraum und Skinner überlegte ob er nach ihr sehen sollte. Er orderte zwei Kaffe und eine heiße Schokolade bei der Bedienung und sah sich verstohlen um. Delia hatte Billy nur schwer wach bekommen. Er war noch ganz verschlafen und hatte keine Lust sich anzuziehen, sondern wollte weiterschlafen. Sie wünschte, dass sie es genauso leicht hätte, wie ein kleines Kind, das getragen wurde, wenn es müde war und sich um nichts sorgen musste, wenn es bedrohlich wurde, denn alle kümmerten sich um es. Sie schaute sich die Kleidung an, die Alex gekauft hatte und hatte nicht erwartet, dass er so geschmackvoll und doch zweckmäßig eingekauft hatte. Er hatte eine Jeans-Latzhose für Billy mitgebracht, die zwar etwas groß war, aber sich leicht umkrempeln ließ. Alex hatte für jeden fünf Garnituren Unterwäsche mit beigelegt, wobei er es vermieden hatte, BHs zu kaufen, worüber Delia schmunzeln musste. Er hatte ihr Pantys und Höschen gekauft, Tops und Hemdchen und für Billy normale Kinderunterwäsche in einem Set, bestehend aus mehreren Farben, aber ohne irgendwelche Tier- oder Comicfiguren. Des Weiteren waren ein paar Shirts für beide dabei und eine einfach schwarze Bluse für Delia. Sie zog sich selbst eine dunkelblaue Jeans an und darüber ein enges, schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Sie hatte bemerkt, dass sie immer noch die Waffe bei sich hatte und steckte sie sich wieder im Rücken in den Hosenbund und streifte sich darüber einen dünnen beigefarbenen Wollpullover. Für Billy lag noch eine dünne, rote Regenjacke dabei, die sie ihm überzog, da er durch die Müdigkeit etwas mehr fror. Sie betrachtete sich im Spiegel und fuhr sich über die Kratzer auf ihrer Wange und die Prellung an ihrer Schläfe. Sie zupfte sich ein paar Harrsträhnen ins Gesicht, damit sie nicht ganz so auffällig waren und nahm dann wieder Billy auf und ging mit ihm in das kleine Lokal mit der verglasten Front. „Ich habe für sie einen Kaffee und für Billy eine heiße Schokolade bestellt, wenn das in Ordnung ist.“ Skinner sah sie eindringlich an und schob ihr dann eine der Kaffeetassen näher. Sie bedankte sich und nahm einen tiefen Schluck des heißen Getränkes. Kaffee hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Wenn er gut gekocht war und richtig würzig schmeckte und schön heiß war, gelang es ihr immer besser ihre Gedanken zu ordnen. Sie stellte ihre Tasse wieder ab und sah nach Billy, der den Mund voll Sahne hatte und immer noch begeistert mit dem Löffel nach seiner Tasse langte. Delia zog etwas aus der Tüte, die sie zwischen ihren Beinen abgestellt hatte und schob es Skinner zu. Sie sah traurig aus, als sie sich ihm zuwandte: „Es tut mir sehr leid, was Alex getan hat. Er hat nicht gesagt, was er vorhatte, als er ging, um jemanden zu finden, der uns hilft meinen Bruder zu finden.“ Skinner nahm das schwarze Objekt und erkannte es als dieses Kontrollgerät. Sein Mund stand offen, als er verstand, dass sie die ganze Zeit vorgehabt hatte, es ihm zu geben. Er steckte es erst einmal in den Karton und machte sich im Geiste Notiz, das Gerät umgehend zu zerstören. „Vielleicht können sie mir erst mal erzählen, was hier eigentlich los ist“, wandte er sich wieder dem Mädchen zu. Delia versuchte alles so genau, wie möglich wiederzugeben und startete daher mit dem Punkt, wie sie sich um die Stelle als Au Pair beworben hatte. Sie erzählte, wie gut sie sich mit der Familie verstanden hatte und sich fast selbst als Teil dieser gefühlt hatte. Sie berichtete von ihrem ersten Treffen mit Krycek, und dass er kurz zuvor eine Stelle als Düngemittellieferant bei Jeff angenommen hatte – sie erzählte ihm natürlich nichts davon, dass sie mit Alex Sex gehabt hatte. Die Kellnerin kam und schenkte neuen Kaffee nach und reichte Billy einen Schokoriegel, der sofort leuchtend große Augen bekam. Delia bedankte sich bei der Kellnerin und ging sicher, dass sie außer Hörweite war und fuhr fort den gestrigen Tag zu beschreiben. Während sie Skinner von ihrer Flucht durch den Fluss erzählte, brach sie ein Stück des Schokoriegels ab, damit Billy nicht zu viel Süßes aß. Sie erzählte Skinner, dass Alex zufällig auf der Hauptstraße unterwegs gewesen war und sie mitgenommen hatte und die beiden schließlich in das Motel brachte, um sie zu schützen. Dort hatte er ihr die Akten gezeigt und ihr Dinge über sie erzählt, die alles Erdenkliche überstiegen. Skinner winkte ab und machte Andeutungen, dass er selbst schon genug erlebt hatte, allerdings war es für ihn unfassbar zu hören, dass noch eine andere Spezies Außerirdischer sich einmischte und diese ebenfalls an Experimenten beteiligt waren und Delia ein gelungener Hybrid war. Allerdings wunderte es ihn nicht, dass Delias Vater maßgeblich daran beteiligt war. Er verstand, dass er sie zu Mulder bringen musste. Er hatte zwar einiges erlebt und hatte unsagbar viel gesehen, doch war er keineswegs paranoid genug, um sich ein Bild davon zu machen, was hier vorging. Er schlug vor, dass sie erst einmal ein wenig im Kreis fuhren, um mögliche Verfolgungen zu verhindern und dann zu Mulder zu fahren. Delia erkundigte sich nach dem Verhältnis, in dem Skinner zu Mulder stand und erfuhr mehr über die acht Jahre, mit Unterbrechungen, in denen er Mulders Vorgesetzter gewesen war. Skinner warf einen Blick in die Akten und hielt, sozusagen, Mulders heiligen Gral in der Hand. Mulder würde alles darum geben diese Akten, von der Regierung ausgestellt, unterschrieben, alles schwarz auf weiß, zu bekommen. Gegen ein Uhr zahlte er, erkundigte sich bei der Bedienung, wo es eine Autovermietung gäbe und machte sich mit den Delia und Billy auf den Weg.

Die Vermietung war nachts geschlossen, aber das hatte er auch erhofft. In dieser ruhigen Gegend würde es niemand bemerken, dass er hier einen Wagen aufbrach. Delia kommentierten sein Vorhaben nicht im Geringsten, schien es sogar zu verstehen. Es war besser einen anderen Wagen zu fahren, als Alex’. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten, deckte Billy etwas zu und zog ihn fest an ihren Körper, damit er schlafen konnte. Er schaute sie aus großen, müden Augen an und sie spürte selbst auch ihre eigene Erschöpfung wieder aufkeimen. Ihr Verstand war zwar hellwach und verdaute immer noch die neuen Fügungen, doch ihr Körper hielt dem nicht mehr stand. Billy zupfte an ihrem Pullover und sah sie bittend an: „Sing was!“ Er versuchte eine bessere Position in ihren Arm zu finden. „Nein Baby, nicht hier. Mr. Skinner muss sich konzentrieren, damit er keinen Unfall verursacht, da sollte ich lieber nicht singen!“ Sie schüttelte verlegen den Kopf. „Doch singen Sie ruhig. Wenn es dem Jungen beim Einschlafen hilft, singen Sie.“ Skinner sah sie ermutigend an. „Das ist absolut unmöglich.“ Sie wollte sich gegen diese Mehrzahl wehren, sah aber ein, dass es wenig Sinn machen würde. „Und bitte, nennen sie mich Walter und du, kleiner Mann“ er stupste Billys Bauch an und lächelte ihn sanft an: „Du nennst mich Onkel Walter, okay?“ Der Kleine lächelte ihn mit halb geschlossenen Augen an und nickte eifrig. Delia lächelte Walter an: „Ich bin Delia und auf jeden Fall zu jung um gesiezt zu werden.“ Er war verzaubert von ihren Augen. Sie waren so unergründlich. Als würden sie etwas verbergen. Das Braun war nachts so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Er vertiefte sein Lächeln: „In Ordnung, es freut mich sehr, auch wenn die Umstände äußerst ungünstig sind. Aber jetzt sing ihm etwas vor, sonst wird er wohl ungemütlich!“ Billy hatte sich etwas aufgerichtet und zog heftig an Delias Pullover. Sie dachte kurz über ein geeignetes Lied nach:

„Stars shining bright above you
night breezes seem to whisper “I love you”
Birds singin' in the sycamore tree
Dream a little dream of me.

Say nighty night and kiss me
just hold me tight and tell me “you'll miss me”.
While I'm alone and blue as can be
Dream a little dream of me.

Stars fading
but I linger on dear
still craving your kiss
I'm longing to linger till dawn dear
Just saying this:

Sweet dreams till sunbeams find you
sweet dreams that leave our worries behind you.
But in your dreams
whatever they be
dream a little dream of me.

Stars fading
but I linger on dear
still craving your kiss.
I'm longing to linger till dawn dear
just saying this:

Sweet dreams till sunbeams find you
sweet dreams that leave our worries behind you.
But in your dreams
whatever they be
dream a little dream of me.

Sweet dreams till sun beams find you
sweet dreams that leave our worries behind you.
But in your dreams
whatever they be

dream a little dream of me.”

Billy war fast sofort eingeschlafen. Skinner lächelte sie sanft an. „Das war wirklich schön“, bemerkte er und brachte Delia damit in Verlegenheit. Sie bedankte sich schläfrig und hatte es sichtlich schwer, ihre Augen weiter offen zu halten und kam schließlich der Versuchung nach sie zu schließen.

Sie erwachte aus einem langen und intensiven Traum, der ihr den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Sie zitterte noch immer weil sich all ihre Muskeln angespannt hatten und nun völlig übersäuert waren. Sie brauchte erst mal einen Moment um sich zu orientieren und wieder zu sich zu kommen. Sie saß noch immer im Auto, aber es war schon hell. Walter saß neben ihr und schien ebenfalls zu schlafen. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und erkannte, dass sie in einem Waldgebiet standen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass irgendetwas fehlte. Sie schrak auf und weckte dabei Walter neben sich. „Billy“, stieß sie atemlos hervor. „Was?“ Walter was noch sichtlich benebelt von seinem Schlaf. “Er liegt auf der Rückbank und schläft.“ Er deutete in den hinteren Teil des Wagens und Delia folgte seinem Blick und ließ sich erleichtert in den Sitz fallen, als sie den Kleinen, seelenruhig schlafend, vorfand. „Du warst so erschöpft, dass du ihn kaum noch halten konntest. Ich habe ihn dir abgenommen und nach hinten gelegt.“ Walter richtete sich etwas auf und rückte seine Brille zurecht. „Danke dir.“ Delia spürte noch immer den Schreck in ihren Knochen. „Hast du Hunger?“ Erkundigte sich Walter. „Hunger weniger, aber ein Kaffee und etwas Bewegung wäre gut“, bemerkte Delia und streckte sich notdürftig im Wagen. Walter startete den Wagen und fuhr die Landstraße bis zur nächsten Ortschaft entlang, um dort nach einem kleinen Café zu suchen. Er berichtete ihr, dass er sich bereits beim FBI gemeldet und erklärt hatte, dass er ein paar Tage Urlaub bräuchte, um private Angelegenheiten zu klären. Zum Glück war derartiges in seiner Position kein Problem, aber er konnte keine Aussage darüber machen, wie lange das hier andauern würde und das bereitete ihm Kopfzerbrechen.

Etwa 15 Minuten später erreichten sie Mary’s Diner. Es war klein und beschaulich, scheinbar familiär geführt und fast leer. Delia nahm Billy vom Rücksitz auf, der sich verschlafen die Augen rieb. Gemeinsam betraten sie das kleine Lokal, über dessen gesamte Länge sich ein Bartresen zog, vor dem rot bezogen Hocker standen. Gerade mal zwei waren besetzt, vermutlich von Fernfahrern, die sich eine kleine Pause gönnten. Die drei ließen sich in der hintersten Ecke, auf der Sitzbank, nieder und schauten sich nochmals um. „Ich glaube nicht, dass uns jemand gefolgt ist, aber wir sollten dennoch vorsichtig sein.“ Delia nickte nur und nahm sich eine Karte. Eine Kellnerin, in weißer Tracht mit grünen Streifen und gezücktem Notizblock, kam auf sie zu und erkundigte sich nach der Bestellung. Skinner orderte Spiegeleier mit Speck und Toast und dazu eine Tasse Kaffee, Delia wollte eine Schale Haferflocken und ein Glas Orangensaft für Billy und selbst nur eine große Tasse schwarzen Kaffee. Die Kellnerin blickte sie etwas verwundert an, Delia winkte aber nur ab und gab an keinen Appetit zu haben. Walter wollte etwas sagen, Delia entschuldigte sich aber kurz und ging in Richtung Toilette. Für Skinner war es seltsam mit Billy allein zu sein. Er mochte Kinder, aber das stand nicht zur Debatte. Er hatte keine Ahnung von ihnen. Er hatte Nichten und Neffen, aber seine Frau und er hatten nie eigene Kinder. Es hatte einfach nicht funktioniert und irgendwann hatten sie die Versuche aufgegeben. Er wusste, dass seine Frau sich Kinder gewünscht hatte und bot ihr einmal an, einen Arzt gemeinsam aufzusuchen. Er hatte seine Arbeit beim FBI, die ihn ausfüllte und seine Karriere ging steil bergauf, aber seine Frau hatte nur einen Halbtagsjob bei der Post, der weniger erfolgreich schien und fühlte sich nie ganz ausgefüllt. Er verstand sie, aber er wusste nicht, wie er mit ihr reden sollte, wie er ihr helfen konnte. Er liebte sie über alles und war gewiss kein kalter Mensch, aber er konnte sich emotional nicht gut ausdrücken, auch wenn er es gern wollte. Irgendwann kam es zur Scheidung. Es hatte ihm wehgetan und sie hatte ihm so unglaublich gefehlt, dass ihm nachts das Atmen schwer fiel, aber er konnte es nicht aussprechen. Er war froh darüber, dass sie von sich aus auf ihn zukam und ihm sagte, dass sie wüsste, dass er ihre Freundschaft wollte und es ihr genauso ging. Sie hatte ihm wieder etwas abgenommen, aber sie konnte ihm nicht weiter seine Liebe zu ihr abnehmen und das verstand er. Er wollte ihr Glück und nicht ihre Verzweiflung. Er hatte sich sogar gefreut, als sie einen neuen Man kennen gelernt hatte und heiraten wollte. Sie sah so glücklich aus und strahlte förmlich. Er war sogar einverstanden ihr Trauzeuge zu werden und er war es, mit dem sie reden wollte, als ihr Man sie bat ein Kind zu adoptieren. Er ist etwas offener geworden, durch sie, durch seine Freunde, doch leider zu spät und nun sah ihn ein kleiner Junge mit großen Augen an und stocherte unglücklich in seinem Haferbrei. „Magst du nicht mal probieren?“, fragte er ihn aufmunternd. Billy schüttelte angewidert seinen Kopf. „Das ist ibah“, prustete der Kleine. „Da kannst du dir doch gar nicht sicher sein, wenn du es nicht kostest, Sportsfreund!“ Er wollte die Sache diplomatisch regeln, doch wusste er nicht, wie schwer das mit Kindern sein könnte. „Dann probier du doch!“ Billy schob ihm die Schale herüber. Skinner sah zu der dampfenden Schale herunter und verglich sie kurz mit seinem Teller, auf dem die Eier schön klebrig und gelb strahlten und der Speck noch dampfend heiß war. Er verzog kurz das Gesicht, hoffte aber auf seine Strategie den Jungen zu überzeugen. Er nahm den Löffeln, lud etwas Brei darauf und schob ihn sich in den Mund. Das Gemisch schmeckte kaum nach etwas. Es fehlte an Zucker oder irgendetwas, das Geschmack liefern und nicht nur nach holzigem Getreide schmecken würde. Er verdrehte die Augen und stöhnte leise, um Gefallen auszudrücken: „Aber das ist ja großartig! Ich hatte vergessen, wie wunderbar Haferbrei schmeckt und vor allem wie gesund er ist!“ Log er mit strahlendem Gesicht. Billy griente ihn frech an und zog an Skinners Teller: „Prima, dann nehm’ ich deins!“ Er griff nach dem Speck und schob sich ein viel zu großes Stück in den Mund. Skinner blickte ihn entsetzt an, als sich Delia wieder an den Tisch setze und Billy zurechtwies. Er schaute traurig auf seine Hände, die er in seinen Schoß gelegt hatte und versuchte sich damit zu verteidigen, dass Walter auch denken würde, dass der Brei eklig schmeckt. Delia wusste, dass Mary oft Haferbrei für die Kinder gemacht hatte und sie wollte, dass es dabei blieb, damit er nicht zu sehr verwöhnt wurde. Außerdem wäre es pädagogisch nur richtig ihm den Teller wieder wegzunehmen. Walter lehnte zwar ab und meinte, dass er sich auch eine neue Portion bestellen könne, aber das ließ Delia nicht zu. Sie schob den Teller zurück und bestellte, diesmal mit Billys Einverständnis, ein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich, über das er sich überaus freute. Allerdings ließ Walter ihm einen kleinen Rest Speck und Eier auf dem Teller und schob ihn Billy danach verstohlen zu. Delia bedachte ihn dafür zu erst mit einem bösen Blick, musste dann aber über Billy lachen, der sofort das Sandwich fallen ließ und mit größter Lust den Teller leer aß und sich dabei furchtbar beschmierte. Nach der dritten Tasse Kaffee und einer Banane für Billy, machte Delia sich mit Billy in die Waschräume auf, um ihn ein wenig frisch zu machen. Sie setze ihn auf die Wickelkommode und nahm sich ein paar Papiertücher, machte sie nass und wischte damit Billy vorsichtig übers Gesicht. „Ich mag Walter!“ Erklärte er ihr. „Du meinst also auch, dass wir ihm trauen können?“ Sie sah ihn ernst an. „Du weißt doch, ich verlass mich auf meinen großen Helden!“ Sie wuschelte ihm durch das weiche braune Haar, das in dem grellen Neonlicht einen sanften Rotstich hatte. Er versuchte sich zu wehren und piekste sie in den Bauch, in die Seite und die Rippen, worauf sie nur lachen konnte und versuchte ihn festzunageln. „Er ist lieb!“, brachte Billy zurück zur Diskussion. „Das finde ich auch, Baby. Und wir müssen gut auf ihn hören. Er bringt uns zu meinem Bruder und kann uns beschützen.“ Sie schaute sich Billy Hände an und versuchte, die letzten Reste von verkrustetem Ei abzuwischen. „Und wer beschützt ihn?“ Billy sah sie herausfordernd an. Sie wusste, was Billy meinte. Sie hatte seine Akte nicht gelesen und auch nicht die über seine Mutter. Sie wollte nichts über ihn wissen, was sie nicht selbst spürte oder wusste. Er war ein normaler Junge, wie sie ein normales Mädchen war, mit Ausnahme ihrer beiden Instinkte. Aber die waren für sie nichts Außergewöhnliches, sondern einfach nur ein Vorteil, den sie beide nutzen mussten. Sie sah ihn alarmiert an, weil er selten ohne Grund Andeutungen machte. „Was meinst du, Baby? Er ist doch ein großer, starker Mann, er kann sich allein verteidigen!“ Sie versuchte es völlig beiläufig klingen zu lassen, damit Billy weitersprach. „Und warum hast du die Pistole?“ Delia griff sich unbewusst in den Rücken und fühlte das schlanke Metall, das sich fest an ihre Haut presste. „Nur zur Sicherheit. Nur zur Sicherheit.“ Sie hatte verstanden – sie war selbst kein gutes Beispiel, wieso sollte als Billy gänzlich ruhig werden? Sie setze ihn auf seine Füße und nahm ihn an die Hand und ging mit ihm nach draußen. Er sah Walter, der ein kleines Päckchen in der Hand hielt und damit Billy zuwinkte. Billy rannte auf ihn zu und erkannte, dass es Bundstifte waren, setze sich und ließ alle auf den Tisch fallen, um sich einen auszusuchen und das Platzdeckchen aus Papier zu bemalen. Delia lachte über so viel Eifer, nahm sich ihre Kaffeetasse, um sich selbst noch eine Tasse vom Tresen zu holen. Sie blicke kurz zum Fernseher auf, der gerade die neusten Nachrichten auf CNN übertrug. Sie berichteten von dem Mord einer kleinen Familie und dass die Leichen grausig zugerichtet waren. Sogar das neun Monate alte Baby sei kaltblütig erschossen worden. Es wurde ein Familienfoto gezeigt, obwohl Delia schon längst klar war, von wem die Rede war. In ihr zog sich alles zusammen und der Kaffee kam sauer wieder hoch, doch sie unterdrückte den Würgereiz und starrte weiter, wie hypnotisiert auf den Fernseher über ihr. Die Nachrichtensprecherin gab an, dass ein weiterer Dreifachmord mit dieser Tat in Verbindung gebracht wurde und berichtete Einzelheiten über den Mord der Bakers. Delia spürte, wie der Schock sie ergriff, sie wollte sich umdrehen und gehen, bevor der Schock sie gänzlich überwältigte, aber sie konnte einfach nicht. Sie sah ein Foto von Ruby und ihrem Man, wie sie auf der Veranda ihres Hauses standen und strahlten, sie sah Peter, mit dem sie noch vor drei Tagen…, vier Tagen Schluss gemacht hatte, wie er am Pool saß. Dann wurde ein Bild von Billy und ihr gezeigt und die Bevölkerung alarmiert sich beim FBI zu melden, falls sie sie sehen würden oder Hinweise über ihren Verbleib hätten. Sie galten als entführt und extrem gefährdet. Auf einmal packte sie eine Hand an der Schulter und Delia zuckte zusammen und fuhr herum – beinahe hätte sie vor Schreck laut aufgeschrieen, doch als sie in Walters besorgtes Gesicht schaute, beruhigte sie sich etwas. Er nahm sie bei der Schulter und zog sie hinter sich her, aus dem Lokal und zum Auto, öffnete die Beifahrertür und schob sie auf den Sitz. Er selbst setze sich mit Billy auf die Fahrerseite und fuhr los. Delia war kaum in der Lage sich zu rühren. Sie wurde überschwemmt von den Bildern übel zugerichteter Leichen. Sie sah Mary, wie sie diese maskierten Killer anflehte ihr Kinder leben zu lassen, aber sie hatten kaltblütig geschossen. Sie sah Ruby, die nichts ahnend auf sie gewartet und wahrscheinlich für Billy Pancakes gemacht hatte, weil er die so liebte und dann ihrem eigenen Mörder die Tür aufgemacht hatte. Vor allem mit Erdbeeren hallte Marys Stimme in ihrem Kopf wieder. Sie sah Peter mit seinen stechend blauen Augen und den blonden Haaren, die er sich immer mit Gel zurechtwuschelte, der noch mal mit ihr reden wollte und in einem Versuch zu flüchten, rücklings erschossen wurde, Ruby mit ihrer geblümten Schürze, wie sie mit blutverschmierten Gesicht über den Boden kroch, um irgendwo Zuflucht zu suchen. Sie hört ein Baby schreien. Erst weit entfernt und dann immer näher kommend. Es schrie so verzweifelt und verängstigt und wurde immer schriller. Delia musste sich fast die Ohren zu halten, so stechend war das Geschrei des Babys.
Rezensionen