World of X

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Fremdes Leben

von Kris

Kapitel 2

19:06



Der Abend kam schnell. Kaum dass sie alle Girlanden und Lichterketten angehangen hatten, trafen die ersten Gäste ein, brachten Salate und Kuchen mit, um gemeinsam mit ihren Freunden den 4. Juli zu feiern. Der Tag war etwas besonderes, da das Ehepaar genau vor einem Jahr von Buffalo nach Belmont gezogen war, um ihrer Familie wieder näher zu sein. Jeff stand bereits am Grill und kümmerte sich um die Hamburger. Mary empfing die Gäste und wies sie auf die Veranda. Delia zog die Kinder noch warm an, bevor sie Emma auf den Arm und Billy an die Hand nahm, um sich mit ihnen der Feier anzuschließen. Billy schien heute Abend besonders nervös und Delia selbst ging es nicht anders. Sie konnte nicht einmal mehr sagen, von wem die Nervosität zuerst ausgegangen war und sich dann auf wen übertragen hatte. Billy blieb die ganze Zeit an ihrer Seite und beobachtete sie misstrauisch. Manchmal wusste sie nicht, ob er an ihr zweifelte oder ihr nicht ganz vertraute, doch als sie Emma, die doch schon etwas müde war, sanft in ihren Armen barg, um sie nach unten zu tragen, verlangte er nach Delias Hand und wollte sie nicht mehr loslassen. Er klammerte sich nicht an ihr fest, aber er brauchte ihre Wärme. Sie fragte ihn, ob er zu seiner Mom wollte, was er auch bejahte, doch als sie auf der Veranda standen und sie ihn zu ihr bringen wollte, schüttelte er den Kopf, als fühlte er sich unverstanden. Also übergab sie Emma an Ruby, die gar nicht genug von der Kleinen bekommen konnte und sie augenblicklich knuddelte und mit ihr schäkerte und setzte Billy auf ihren Schoß. Ab und zu streichelte sie seinen Rücken und strich durch sein weiches, hellbraunes Haar, das sich im Nacken zu kleinen Löckchen zusammenzog. Er wirkte etwas angespannt, auch wenn er sich von den Freunden, der Familie, immer wieder zu einem Lachen überzeugen ließ. Mary fiel ebenfalls auf, dass Billy heute sehr anhänglich war. Er war vormittags schon nicht von Jeffs Seite gewichen und wollte die gemeinsame Zeit am Fluss gar nicht enden lassen, dann hatte er sich eine extra lange Geschichte für den Mittagsschlaf von Mary vorlesen lassen und war schließlich, seitdem er wieder wach war, nicht von Delias Seite gewichen. Sie fragte sich, ob er vielleicht krank wurde und warf Delia einen fragenden Blick zu, doch diese verneinte mit einem Kopfschütteln. Delia legte vorsichtig ihre Arme um die Brust des Kleinen und barg ihn vorsichtig in ihrer Umarmung: „Hey Baby, ist alles in Ordnung?“ Er starrte nur vor sich her und reagierte nur kaum merklich. Jeff erschien neben Delias Stuhl und beugte sich zu seinem Sohn herab: „Na Billy, magst du ein Würstchen?“ Er zwinkerte Billy zu und hielt ihm den Teller mit Burger und Würstchen unter die Nase. Er nickte und begann wieder zu strahlen – Würstchen liebte er einfach.



Eine Stunde später beherrschte lautes Geplapper, Geklirre und ausgelassenes Lachen die Runde. Emma schief in Marys Armen, mit ketchupverschmiertem Mund, Billy schien auch schon etwas ausgelaugt zu sein, aber er bestand darauf, das Feuerwerk sehen zu wollen. Delia erhob sich mit Billy im Arm und ging zu Mary: „Ich werde jetzt Emma zu Bett bringen, die Kleine schläft ja schon.“ Sie setzte Billy auf den Boden ab, dem das gar nicht zu passen schien und nahm Emma zu sich, die sich in ihrem Schlaf gar nicht stören ließ. „Danke, das ist lieb!“ Sie wusste, dass sie sich nicht bei Delia bedanken musste, aber sie schätze ihre Umsichtigkeit sehr. Delia betrat das kleine Zimmer und bemerkte, dass es heute anders wirkte. Es war dunkler und kälter, als sonst. Sie begutachtete den Thermostat und stellte ihn um ein paar Grad höher, damit sich Emma nicht erkältete. Sie ging hinüber zur Kommode und stellte die kleine Stehlampe an, um etwas erkennen zu können. Dann legte sie das Mädchen langsam auf die Kommode, um sie umzuziehen und nach ihrem Ausschlag zu schauen und begann leise Brahms Lullaby zu summen, um die Ruhe auf das Kind zu übertragen. Sie liebte dieses kleine Abendritual und doch fühlte sie sich heute unwohl. Es war, als würde ihr etwas im Nacken sitzen. Sie spürte eine pulsierende Wärme in ihrem Genick und wusste dass dieses Gefühl mit Unannehmlichkeiten einherging und doch konnte sie es sich nicht erklären. Sie nahm Emma wieder auf und brachte sie zum Bettchen, sie spürte den Hauch, der sich im Zimmer breit machte und sah in den Augenwinkeln eine Bewegung. Doch als sie sich wieder vom Bett aufrichtete, war alles still. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten, doch alles schien normal, sogar die Temperatur war etwas angestiegen. Das Mobile mit den weißen Büffeln bewegte sich leicht, doch Delia ging davon aus, dass sie dagegen gekommen war, als sie Emma ins Bettchen gelegt hatte. Sie blickte sich noch einmal um und verließ dann das Zimmer mit dem Babyfon in der Hand, damit sie immer wusste, wie es Emma ging.



Sie nahm gerade die letzte Stufe nach unten, als sie ein Klopfen an der Haustür vernahm und einen Schemen hinter dem Glas sah. Sie öffnete die Tür und blickte den Unbekannten mit fragendem Gesicht an. Er lächelte sie zuvorkommend an und reichte ihr seine rechte Hand: „Hi, ich bin Michael, Jeffs neuer Lieferant!“ Delia nahm seine Hand an und lächelte freundlich zurück: „Freut mich sehr, ich bin Delia.“ Ihr Händedruck hielt etwas zu lang an. Es war ein merkwürdiger Händedruck – so sehr, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie sah Michael tief in die braunen Augen und hatte das unverständliche Gefühl, dass etwas an diesem festen Händedruck nicht stimmte, aber sein Lächeln lullte sie ein. Sie wurde erst durch ein Geräusch hinter ihnen aufgeschreckt und sah Billy in der Verandatür stehen und den Fremden ängstlich ansehen. „Hey Billy, das ist Michael, ein Freund von deinem Dad. Komm her und sag hallo!“ Sie streckte ihre Hand nach dem Jungen aus und lächelte ihn zuversichtlich an. Aber Billy schüttelte nur energisch mit dem Kopf und rührte sich nicht von seinem Platz. „Was soll denn das heißen, Schatz? Du musst doch keine Angst haben!“ Sie ging auf Billy zu und nahm ihn auf den Arm, worauf er sich an sie schmiegte, ohne Michael aus den Augen zu lassen. „Ist schon in Ordnung, Partner. Du bist wohl schon etwas müde nicht war!“ Michael schaute den Jungen aufmunternd an. „Okay, dann eben nicht. Kommen Sie, die Party steigt draußen.“ Delia machte eine einladende Geste und lud Michael an, ihr auf die Veranda zu folgen. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein kühler Wind entgegen und fuhr ihr durch die leichten Locken. Mit Billy auf dem Arm war es ihr schwer die Haare aus dem Gesicht zu streichen, um zu sehen wohin sie trat und stolperte kurz gegen Michael, der sie sanft abfing. Sie richtete ihren Blick auf, da er fast 1,80m groß war und sie mit ihren 1,60 ein beachtliches Stück kleiner war. „Danke“, sie lächelte ihn an und versuchte durch ihre Haare einen Blick in seine Augen gewinnen zu können. „Hey, Mike, schön, dass du doch noch kommst!“ Jeff erhob sich stürmisch und begrüßte den neuen Freund und Kollegen. „Ja, schön, dass ich es doch noch geschafft habe!“ Die beiden Männer tauschten einen kräftigen Händedruck und begrüßten einander. Michael begrüßte Mary und überreichte ihr ein kleines Geschenk für die Einladung. Ganz gespannt öffnete sie die Schachtel und machte ein deutlich überraschtes Gesicht. Es war eine kleine Schale, die wie aus Messing wirkte und doch mehr glänzte, als Messing es gewöhnlich tat. Alle umsitzenden Gäste fielen in einheitliches Staunen über das scheinbar antike Geschenk ein. Auf der feinen, glatten Oberfläche waren Verzierungen, die aus der Entfernung wie Ornamente wirkten. Delia hatte sich mit Billy wieder hingesetzt und beobachtete genau die Szene. Mary bedankte sich, fast ehrfürchtig, bei Michael. Jeff bot Michael einen Platz an und reichte ihm einen vollen Teller mit Steak, einem Maiskolben und einer großen Backkartoffel mit Sour Cream. Er bedankte sich und ließ sich von Mary eine Flasche Root Beer reichen. Delia verfiel in eine Unterhaltung mit Ruby. Eine humorvolle Frau, Mitte Vierzig, die an der gleichen Grundschule wie Mary unterrichtete und in Kindern ein Geschenk Gottes sah. Sie selbst liebte amerikanische Geschichte und Literatur und hatte ihre Leidenschaft schließlich zum Beruf gemacht. Allerdings war das Gespräch für Delia alles andere als angenehm, war doch ihr Exfreund Rubys Sohn und außerdem wurde sie ständig von den Blicken Michaels angezogen, der sie genauso verwirrt ansah, wie sie ihn bei der Begrüßung.



„Leute, kommt mal alle, es geht jetzt los!“ Ben, Rubys Ehemann, rief alle auf, zusammenzukommen, da das Feuerwerk gerade begann. Die Gäste erhoben sich und verließen die Veranda, um einen besseren Blick auf den Himmel zu erlangen und versammelten sich davor in einer kleinen lockeren Runde. Delia nahm Billy wieder auf den Arm, damit er zwischen den Anderen auch einen guten Blick erhielt und machte sich auf, sich der Gruppe anzuschließen. Michael wollte gerade die drei Stufen nach unten nehmen, als Delia seine Höhe ereichte und er ließ ihr galant den Vortritt und legte ihr eine Hand auf den Rücken, was wiederum eine Gänsehaut und dieses merkwürdige Gefühl in Delia weckte. Sie konnte es nicht erklären, aber die Anwesenheit des Fremden versetze ihre Sinne in Alarmbereitschaft und doch fühlte sie sich von ihm angezogen, als wäre er etwas, dass zu ihr gehören würde. Sie fragte sich ernsthaft ob er Eindruck bei ihr hinterließ und sie sich einfach nur für ihn interessierte, aber das glaubte sie selbst nicht. Schwärmereien fühlten sich anders an, vor allem fühlte man nicht ein gewisses Gefühl von Ausgeliefertheit. Sie gesellte sich zu Mary, die ihrem Jungen sanft über das Haar strich und anlächelte. „Sieh mal, mein Schatz, das sind alles Sterne, die vom Himmel fallen“, sie deutete auf die vielen, leuchtenden Formationen am Himmel, die von den Umherstehenden bestaunt wurden. Der Junge schien ernsthaft über diese Option nachzudenken, schüttelte dann aber vehement den Kopf, wandte seinen Blick wieder gen Himmel und bemerkte: „Aber das ist doch nur Feuerwerk, Sterne fallen nicht so runter!“ Delia war immer wieder überrascht wie intelligent und scharfsinnig Billy war. Für sein Alter, zweifellos, etwas zu intelligent. Er begann bereits erste, leichte Worte zu lesen. Erkannt Zusammenhänge, in den Dingen, die ihm erklärt wurden und war schon unheimlich selbstständig, auch wenn er für sein Alter wenig redete. Nach dem Feuerwerk fand sich die Gesellschaft wieder am Tisch ein und füllte sich die Gläser mit neuem Wein und andere nahmen ein weiteres Bier. Delia entschuldigte sich, um nun auch Billy ins Bett zu bringen, der schon reichlich müde wirkte. Noch während sie mit dem Jungen die Treppe hinauflief, stimmte sie in ein Lied ein. Sie wusste, dass er sie gern singen hörte und sie machte ihm jeden Abend diese Freude, auch wenn sie nie ein passendes Lied im Kopf hatte, doch machte sie sich über die Inhalte der Texte weniger Sorgen:



„Nach langer Wintersruh’
Bin ich nachts aufgewacht
Er kam zur Tür herein
Vergessen lässt mich sein Kuss
Die Zeit der Trauer nur
Das Licht schon halb geahnt
Vor Kälte noch gelähmt
Verboten doch das Gefühl“



Sie unterbrach das Lied für einen Moment, als sie Billy auf sein Bett setzte und nach einem geeigneten Pyjama suchte, summte aber noch ein wenig die Melodie. Billy genoss das ruhige langsame Lied, sichtlich, doch noch viel mehr Delias weiche Stimme. Sie hatte wirklich ein Talent zum Singen, da ihre Stimme so viele Klangfarben erreichen konnte. Diese Lied tonte sie leicht dunkel, leise, ruhig und mit warmer Stimme, die nur in kurzen Passagen kurze, höhere Töne annahm, die sie dafür aber rauchiger sang, damit sie die Ruhe und Samtigkeit des Liedes nicht zerstörten. Sie zeigte Billy kurz den ausgewählten Pyjama und er bestätigte mit einem Nicken. Sie begann ihn umzuziehen und wieder zu singen:

“Nur nicht weinen kleiner Prinz
Nur nicht weinen kleiner Prinz
Selbst ein Eisberg schmilzt nicht gleich
Nimm dir Zeit, ach nimm dir Zeit

Was lässt mich zaudern noch
Das Denken fällt mir schwer
Doch ist er nah bei mir
Vergessen lässt mich sein Kuss
Die Zeit der Zweifel noch
Ein helles warmes Licht
Die Kälte von mir weicht
Verboten doch das Gefühl“



Sie beugte sich zu Billy hinab, dessen Augen schon fast geschlossen waren und strich ihm übers Haar. Sie wusste, dass er immer noch verspannt war, aber er kam kaum noch gegen die Erschöpfung des Tages an. Sie versank etwas in Gedanken und dachte an den Fluss, in der Nähe des Hauses und sah Billy dort mit Jeff spielen und vergnügt durch das Wasser springen. Obwohl das ein schöner Gedanke war, begleitete dieses Bild ein unruhiges Gefühl, das einen Schlag andeutete. Ihre Muskeln verkrampften ein wenig und ihre Sinne verschärften sich ein wenig. Sie glaubte, einen merkwürdig, rauchigen Geruch in der Nase zu haben und erschreckte plötzlich grundlos, aus dem Inneren heraus. Sie blickte in Billys Gesicht, der sie aufmerksam musterte. Seine Müdigkeit schien dahin und er nickte ihr zu: „Sieh noch mal nach Emma, ja!?“ Sie blinzelte kurz, um das Bild abzuschütteln und nickte dann ebenfalls: „Sicher, Baby, aber jetzt schlaf erst einmal!“ Sie streichelte sein Gesicht und stimmte nochmals den Refrain an:

“Nur nicht weinen kleiner Prinz
Nur nicht weinen kleiner Prinz
Selbst ein Eisberg schmilzt nicht gleich
Nimm dir Zeit, ach nimm dir Zeit
Lege deinen hellen Blick
Lege deinen hellen Blick
Auf mein noch zerstörtes Herz
Bald schon wird es wieder blüh’n
Nur nicht weinen...“



Die letzten Verse waren kaum noch ein Flüstern, um den Jungen nicht wieder zu wecken. Sie erhob sich langsam vom Bett, löschte das Nachtlicht und drehte sich zum Gehen um, als sie vor Schreck herumfuhr: „Entschuldigung, ich wollte sie nicht erschrecken. Ich habe nur das Badezimmer gesucht und jemanden singen hören und konnte dann nicht widerstehen!“ Michael lächelte sie begeistert an. Sie war froh, dass es im Zimmer dunkel war, sodass er ihre Röte über das offensichtliche Kompliment nicht wahrnehmen konnte. Sie legte sich einen Finger auf die Lippen und bedeutete Michael leise zu sein, um Billy nicht zu wecken, griff sich auch sein Babyfon und verließ dann das Zimmer und lehnte die Tür vorsichtig an. Sie richtete ihren Blick auf, vermied es aber ihm direkt in die Augen zu sehen: „Das Bad ist hier.“ Sie deutete auf die Tür gegenüber Billys Zimmer. „Sie haben sehr schön gesungen!“ Sie spürte die Röte wieder aufkommen und versuchte sie krampfhaft zu unterdrücken. Auf Grund ihrer Position konnte sie weder an Michael vorbei, noch nach hinten, da sie immer noch die Zimmertür im Rücken hatte. „Danke“, war das einzige, was sie herausbrachte. Sie war nicht schüchtern oder wirklich verlegen, aber sie wollte sich nicht wieder diesem Gefühl hingeben, das er in ihr auslöste, vor allem nicht, da sie nun allein waren, doch er machte keine Anstalten sich zu bewegen. Langsam hob sie ihr Gesicht und blickte ihm direkt in die Augen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass seine Augen so schnell kamen, dass sein Blick so angelnd sein würde und doch musste sie fast taumeln, da sie die Kraft seines Blickes unterschätzt hatte. Sie erkannte eine Mauer in seinen Augen, die in der Dunkelheit nicht mehr braun, sondern annähernd schwarz strahlten und doch löste sein Blick so viele Bilder in ihr aus. Selbst Menschen, die sie Jahre kannte, hatten das nicht erreicht. Sie erkannte es als normal jemanden in die Augen zu sehen und verschiedene Bilder zu sehen und etwas von deren Gefühle zu vernehmen, obwohl sie sich nicht erklären konnte, seit wann und warum sie es konnte, nur das es sie manchmal ängstigte, zumal diese Bilder nur selten einen klaren Sinn ergaben. Doch dieses Mal hatte sie das Gefühl, dass Michael ihr absichtlich Bilder geben würde und gleichermaßen ihre nahm. Sie sah einen künstlichen Arm, der zu einer verschwommen Pfütze verlief und einen merkwürdigen, silbrigen Gegenstand formte und glaubte ein Zischen zu hören. Sie spürte Kraft, unbändige Kraft, die in keine Hülle passen konnte. Ein Herz würde unter solch einer Kraft bersten. Sie sah Lichter, sehr viele bunte Lichter, die umhertanzten und scheinbar ineinander explodierten und dann war da diese Kälte. Es wurde so kalt, dass sie fröstelte. Er griff nach ihrer Hand, um deren Temperatur zu fühlen und ließ dabei nicht einmal ihren Blick los, doch als sich ihre Hände berührten zuckte sie zusammen. Da war etwas, dass sie noch nie gefühlt hatte. Sie wusste, dass sie immer etwas anders war und schob es darauf, das sie lieber allein war und eher wenig Freunde hatte, weil sie gern träumte und ihren Gedanken nachsann, aber dieses Gefühl war anders. Sie spürte, dass er ihr in entscheidenden Punkten gleich war und fragte sich auf einmal, was er dann von ihr gerade sah. Aber genau dadurch wurde ihr erst klar, dass hier etwas Außergewöhnliches geschah. Sie wurde sich selbst darüber bewusst, dass er, wie sie selbst Bilder und Emotionen anderer sehen konnte, blickte er ihnen in die Augen. Es war keine seherische Gabe oder telekinetisch, sondern einfach nur eine Sache der Sinne und Instinkte, die bei beiden so verschärft waren, dass das Atemgeräusch des anderen, in ihren Ohren widerhallte. Sie griff fest nach seiner Hand und fühlte sich selbst dabei so offen. Ohne Vorwarnung zog er sie ungestüm an sich und presste seine Lippen fest auf ihre. Sie brauchte keine Zeit um zu reagieren oder die Situation zu verarbeiten. In dem Moment, wo sie seine Lippen schmeckte, war es so klar und richtig und so erwiderte sie in gleicher Intensität den Kuss. Sie schob alle trivialen Gedanken beiseite und vergaß, dass er beachtlich älter war, als sie selbst. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn jetzt einfach küssen musste. Es gab nichts anderes und genau das spiegelte sich auch in diesem Kuss wieder. Es war, als würden sich beide verschlingen wollen. Delia hatte nach kurzer Zeit einen leicht metallischen Geschmack im Moment und assoziierte ihn mit Blut. Michael hatte ihr Gesicht fest in beide Hände genommen und versuchte Leiter dieser Begegnung zu werden und doch schien es ihm nicht zu gelingen. Es war, als hätte er eine fast ebenbürtige Gegnerin. Es war, als würden beide um Kontrolle über den anderen und diese gemeinsame Sache ringen, wodurch es gerade nicht gelang. Er drückte sie gegen den Türrahmen und ließ sie, von dem leichten Schmerz in ihrem Rücken, aufkeuchen. Sie entließ heißen Atem in seinen Mund, was ihn nur noch besessener auf sie machte. Da war kein Reiz dabei oder dergleichen erklärbares. Natürlich waren beide attraktive Menschen, die allerdings in einer normalen Situation nicht mal auf den anderen geachtet hätten, doch nun hatten beide einander berührt und wussten, dass sie so enden mussten. Delias Hände verließen ihre Position auf seinen Schultern und fuhren abwärts zu seiner Brust, wo sie sich stark gegen ihn drückten, als würde sie sich von ihm lösen wollen. Er entfernte sich kurz von ihr und studierte ihr Gesicht. Ihre Lippen waren, von den harten Küssen, ganz geschwollen, ihre Wangen rot und ihr Blick leicht wässrig. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und trat einen Schritt näher auf ihn zu und zog ihn zu sich herab. Sie wollte keine Zeit, um zu Verstand zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen, sie wollte ihn, hier und jetzt. Mit den Händen auf seiner Brust dirigierte sie ihn den Flur entlang, zwei Türen weiter zu ihren Zimmer und zog an den Knöpfen seines Hemdes, gab diese Strategie nach einer Weile auf und fuhr einfach unter sein Hemd und massierte seine glatt rasierte Brust mit ihren schlanken Fingern. Sie spürte, wie jeder Zentimeter Haut, den sie berührte unter ihren Fingern pulsierte und kleine Ströme, wie von Elektrizität, aussandte. In der Tür ihres Zimmers hatte er ihre Hose, mit der Doppelknopfleiste, geöffnete und drängte sie wiederum an die Wand. Er schob seine Hand in ihren Slip, um nach der Feuchtigkeit zu suchen und schien äußerst zufrieden, stöhnte er doch leise in ihrem Mund auf. Er zog seine Lippen von ihren, die ihr schon ganz wund erschienen und setzte sie wieder auf ihren Hals an, direkt über ihrer Schlagader und begann begierig ihre Haut einzusaugen, womit er ein hartes Keuchen bei ihr auslöste, sie zog die Luft zischend ein und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Die leichten Blutsspuren unter den Nägeln, die von den Kratzern auf seiner Brust stammten, bemerkte sie nicht. Während er mit seinen Lippen zu ihrem Schlüsselbein hinab glitt, zog er ungestüm ihre Hose, samt Slip, herunter. Das rosige Fleisch, in ihrem Schoß pulsierte wild, in Erwartung seiner Erektion, die sich hart gegen ihren Oberschenkel drückte. Er war so leer, in seinem Verlangen nach ihr, dass er nicht einmal wusste, wann er jemals eine Frau hatte oder gewollt hatte, alles was er wollte, war in ihr zu sein und ihm war, in der letzten Ecke seines Verstandes, klar wie unsinnig das war. Sie war gerade mal 20 Jahre jung, auch wenn sie geistig unglaublich reif war. Er war 38 und führte ein Leben, in das nie jemand involviert werden konnte. Aber darum ging es auch nicht. Er wusste, dass es nicht sein Wille war, der dieses Mädchen brauchte. Es war ein Antrieb in seinem Inneren, der in dazu brachte sie zu verlangen. Es war, als würde eine andere Persönlichkeit die Kontrolle über ihn ergreifen und ihm klarmachen, dass diese Zusammenkunft essentiell wäre. Er richtete sich wieder auf, schüttelte kurz den Kopf, als würde er seine kleine Gedankenwelt abschütteln und blickte sie nochmals an. Sie erschrak fast unter seinem Blick. Er war so kalt, fast berechnend und doch von einem klaren, emotionslosen Verstand geprägt. Sie wusste, dass er kein normaler Mann war und bedachte kurz die Möglichkeit das hier abzubrechen, doch spürte sie im nächsten Moment seine Lippen wieder ihren Mund verschließen. Sie war nicht mal in der Lage etwas zu sagen oder sich zu wehren. Es war, als würden dieser Blick und der Atem, den er in ihren Mund schickte, sie lähmen. Er griff hart nach ihrer Hüfte und nach ihrem rechten Bein und hinterließ rote Druckspuren in ihrer Haut, brachte sie zum Stöhnen. Sie gab ihm, bereitwillig ihr Bein und schlang es um seine Hüften. Mit einem Ruck, war sie angehoben und fest gegen die Wand, in ihrem Rücken, gedrückt. Sie hatte fast das Gefühl, dass die Raufasertapete ihr den Rücken zerkratzen würde. Er öffnete, unter klirrenden Geräuschen, seinen Gürtel und zerrte an seiner Hose, um seine Erektion ausreichend herauszubekommen und dirigierte sie, ohne Umschweife, an ihre Öffnung. Er ließ ihnen keinen Moment mehr, um sich auf das folgende Gefühl einzustellen, sondern schob seine Männlichkeit einfach in sie, bis er auf Widerstand stieß. Sie stöhnte fast gepeinigt auf, musste sich ihr Körper doch erst einmal an den Eindringling gewöhnen. Sie fühlte sich wütend und doch glücklich überwältigt zugleich und fand keine Zuordnung ihrer Gefühle mehr und brauchte einen Weg sie freizulassen. Sie versuchte sich aus dem Kuss zu befreien, seine Lippen abzuschütteln, als er begann sie tief zu stoßen. Sie fühlte sich nicht nur körperlich zu voll, sondern alles in ihr pulsierte von überquellender Energie. Die Wand in ihrem Rücken schien aus der Fassung zu geraten und leicht zu wanken und übertrug die Wellen auf das Glas der Scheiben, das leise unter der unerwarteten Begegnung dieser zwei starken Gegner klirrte. Er wurde immer schneller und härter in ihr. Ihr fester Atem traf auf seinen und umgekehrt und die Bretter des Fußbodens knarrten laut unter ihren Füssen. Sie drängte ihm ihr Becken mehr und mehr entgegen und legte ihre Beine noch fester um seinen Hintern, klammerte sich fest an seinem Rücken, um ein wenig Halt zu erlangen. Sie spürte, wie er sich seinem Höhepunkt näherte und auch sie war nicht mehr weit von der exquisiten Erlösung entfernt. Er rieb seine Hüfte hart an ihrer Klitoris, die sich ihm bereitwillig darbot und um mehr bat. Er griff ihr, verloren in seinem unmenschlichen Verlangen, unsanft ins Haar, um ebenfalls Halt zu erlangen und verkrampfte seinen Griff in ihrem Hintern. Er schob sich so tief, wie möglich in ihr Innerstes, als würde er gegen ihren körpereigenen Widerstand ankämpfen und verzog sein Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Sie wimmerte leise von Schmerz und Leidenschaft gepeinigt auf und verkrampfte jeden einzelnen Muskel. Noch mal glitt er aus ihr hinaus und gab ihr einen kurzen Entspannungsmoment, doch bei dem nächsten Stoß wurden sie beide von der Energie des anderen überrollt. Sie waren nicht laut, verschlossen sie doch einander die Möglichkeit zu Stöhnen. Sie waren so in ihrer Fesslung versunken, dass sie nicht einmal bemerkten, dass die kleine Fensterscheibe dieser Energie nicht mehr standhalten konnte und einen Sprung versetzt bekam. Er sank mit ihr gegen die Wand und spürte, wie seine Knie aufgeben wollten. Er war die Kraftlosigkeit nicht gewöhnt, verfügte er doch über außergewöhnlich Ausdauer und Stärke, aber hier war etwas geschehen, das ihn matt gemacht hatte. Ihr ging es, in seinen Armen, nicht anders. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, fast leerer als zuvor. Er ließ sie langsam auf den Boden und richtete sein Blick auf sie herab. Sie spürte ein Zittern in ihren Muskeln, die eindeutig übersäuert waren. Sie bückte sich, um nach ihrer Hose zu greifen und sich wieder anzuziehen. „Ich….es..!“ Er versuchte etwas zu sagen, wusste aber nicht was und warum. „Nein, ich auch nicht!“ Sie unterbrach ihn in seinem Versuch und machte ihm klar, dass es nichts brachte, worauf er verstummte und ebenfalls seine Kleidung ordnete. „Geh du nach unten, ich mach mich noch frisch und komme dann nach.“ Sie kehrte ihm den Rücken zu und verschwand in ihrem kleinen Badezimmer. Im Spiegel betrachtete sie ihr Bild, das ihr auf einmal unheimlich falsch erschien. Sie hatte keine Ahnung, was sie dazu getrieben hatte, mit einem vollkommen fremden, ihr merkwürdig erscheinenden Mann zu schlafen. Sie versuchte die vergangenen Minuten auszublenden. Sie warf sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder einen klaren Kopf zu erlangen. Ihre Kleidung war völlig durcheinander und so ging sie zurück in ihr Schlafzimmer, um sich frische, warme Kleidung zu holen. Sie wählte eine einfach Jeans und einen schwarzen Pullover, mit leichtem Halsansatz. Sie schloss die Schranktür wieder, um in den Spiegel blicken zu können. Ihre Haare waren noch ganz durcheinander. Also entschloss sie sie mit einer Haarspange zusammenzubinden. Sie wollte sie von ihrem Schreibtisch holen, als ihr eine Spiegelung im Fenster auffiel und sie darauf zuging, um sie genauer zu untersuchen und dabei den kleinen Sprung entdeckte. Sie fuhr mit den Fingern darüber und spürte die Schärfe des Glases.



Sie ging wieder nach unten und musste feststellen, dass die meisten Gäste schon gegangen waren. Es war mittlerweile nach eins. Mary erkundigte sich kurz, wieso es so lang gedauerte hätte und Delia erklärte ihr, dass Billy sie nicht so schnell gehen lassen wollte und sie sich dann noch etwas Wärmeres übergezogen hätte. Michael war ebenfalls gegangen, was ihr auch sehr recht war. Sie wollte seinem Blick nicht mehr ausgesetzt sein, sondern allein mit ihren Gedanken bleiben. Sie verabschiedete sich von Ruby und Ben, die sie an ihre Einladung für den nächsten Tag erinnerten, auf die sich Billy ganz besonders gefreut hatte, weil er dort in deren großen Pool spielen konnte. Delia wollte einfach nur noch ins Bett und schlafen. Ihr Kopf war so leer, dass sie sich fast ausgehöhlt fühlte. Schlaf war dagegen eine gute Medizin. Sie griff sich das große weite Hemd und eine Panty, schlüpfte schnell hinein und ließ ihre Kleidung, unbeachtet, auf dem Boden liegen. Die weichen Laken und das warme Bett hüllten sie ein und ließen sie schnell in einen, diesmal traumlosen, Schlaf fallen.



Belmont, 08:45, 05.07.2004



Sie erwachte später als gewöhnlich und fühlte sich unglaublich gut. Seit langem hatte Delia nicht mehr so gut geschlafen, sie fühlte sich entspannt und frisch. Nachdem sie aus dem Bett gesprungen war und ihre Morgentoilette erledigt hatte, machte sie sich auf den Weg in die Küche, wo Mary einen Kuchen backte und nebenbei den Unterricht des nächsten Tages vorbereitete. „Na, ausgeschlafen?“, zwinkerte ihr Mary zu. „Oh ja, und wie. Ich habe schon lange nicht mehr so gut geschlafen!“ Sie nahm sich eine Tasse aus dem Hängeschrank und goss sich eine volle Tasse ein. Sie lehnte sich an den Küchenschrank und schlurfte mit dem freien Fuß über die rauen Fliesen des Küchenfußbodens. „Magst du Toast?“, Mary deutete auf das einzelne Frühstücksgeschirr, das noch für Delia auf dem Küchentresen stand. „Nein danke, ich bin gar nicht hungrig.“ Stattdessen nahm sie noch einen große Schluck Kaffee, der schon wieder langsam abkühlte. „Aber du musst etwas essen, frühstücken ist wichtig!“ Mary sah sie vorwurfsvoll an. In dem Moment begann Emma in ihrem Laufstall im Wohnzimmer zu quengeln. Mary blickte kurz zum Ofen und legte dann ihre Schürze ab, um nach Emma zu sehen. „Wo sind Jeff und Billy?“ Delia hatte dem Kleinen versprochen den ganzen Tag mit ihm zu spielen und wollte ihr Versprechen jetzt einlösen. „Na, rate mal. Es ist so warm, dass Billy jetzt schon für den großen Pool üben wollte!“ Delia verstand, nahm den letzten Schluck Kaffee und machte sich auf, das Haus zu verlassen. „Hey, Delia, wo willst du denn in deinem Aufzug hin?“, Mary lief ihr entrüstet, mit Emma auf dem Arm, hinterher. „Zum Fluss, schwimmen!“, rief sie noch im Rennen. Sie lief mit nackten Füssen durch den Sand, in dem sie immer wieder von kleinen spitzen Steinen gepiekt wurde, aber das war ihr egal. Jetzt in den Fluss zu springen, erschien ihr genau richtig und sie sehnte sich nach dem kühlen Wasser. Nach fünf Minuten erreichte sie die beiden. Billy spielte mit seinem Boot im flachen Wasser. Jeff trieb ihn an, Acht zu geben und nicht weiter hinaus zu gehen. Er saß im flachen Gras und beobachtete seinen Sohn. „Guten Morgen Jeff“, leicht keuchend trat Delia an Jeff heran und stupste ihn leicht an. „Oh, was machst du denn hier, schon auf?“ Er musterte sie kurz: „Oder direkt vom Bett her gelaufen?“ Er grinste sie schelmisch an. „So ungefähr, wobei meine Kondition deutlich nachgelassen hat“, gab sie zu und ließ sich neben ihn ins Grass fallen. Sie war vertieft in Billys wildes Treiben. „Dea“, rief der Kleine vergnügt aus und bahnte sich einen Weg aus dem Wasser, um Delia stürmisch um den Hals zu fallen, sodass er sie ganz nass machte. „Du kleines Schlitzohr, jetzt bin ich ganz nass!“ Der Kleine quietschte nur vergnügt auf und freute sich sichtlich über sein Werk. Delia, immer noch ein wenig außer Atem, sprang auf und schnappte sich den Kleinen: „Na warte, jetzt kannst du was erleben!“ Sie hatte ihn in einem festen Griff und ging mit ihm auf das Wasser zu. Er schrie vor Schreck und Freude gleichzeitig und Jeff spornte ihn an, sich doch zu wehren. Delia nahm ihn etwas vorsichtig und tauchte einmal komplett mit ihm unter Wasser. Als sie wieder auftauchten, japsten beide aufgeregt nach Luft und fielen gleichzeitig in eine stürmische Wasserschlacht. Delia hatte immer noch ihr Schlafzeug an, doch störte sie das nicht, es war einfach zu schön. Nach einiger Zeit trat Jeff näher ans Wasser: „So ihr beiden, jetzt wird’s langsam Zeit, dass ihr herauskommt.“ Billy schaute Jeff traurig an: „Oh, nur noch 5 Minuten, bitte.“ Er flehte ihn fast an, sodass ein Vater kaum widerstehen kann. „Also schön, ich gehe kurz zum Haus und hole noch ein Handtuch für Delia und dann geht’s aber Heim!“ er lachte amüsiert auf. „Vielen Dank Jeff, das ist sehr nett.“ Delia sah ihn dankend an, ließ dabei aber nicht Billy aus den Augen. „Kein Problem“, Jeff kehrte um und ging zum Haus, während die beiden wieder anfingen herumzutollen. Als sie sah, dass Billy langsam blaue Lippen bekam, bemerkte sie, dass es schon lange her war, dass Jeff gegangen war. Sie ging mit Billy aus dem Wasser, damit er nicht weiter unterkühlte. Sie wickelte ihn in sein großes Badetuch, das immer noch am Wasserrand lag und blickte sich nach Jeff um, der immer noch nicht in Sichtweite war. „Also gut, dein Dad wird wohl aufgehalten worden sein. Dann gehen wir ihm wohl entgegen, damit du in trockene Sachen kommst.“ Delia reichte Billy ihre Hand und schlug den Weg Richtung Haus ein. Billy wurde mit jedem Schritt unruhiger und langsamer. Seine Unruhe übertrug sich auch auf Delia. Sie trieb ihn allerdings ein wenig zur Eile an, da ihr langsam sehr kalt wurde, in der nassen Kleidung, die an ihrer Haut klebte. Von weitem konnte sie schon das Haus sehen. Aber irgendetwas stimmte dabei nicht. Es war komisch, doch sie konnte sich selbst nicht erklären was es war. Einige Schritte weiter sah sie etwas am Boden liegen. Es dauerte keine Sekunde bis ihr klar wurde, um was es sich handelte. Alles in ihr zog sich zusammen und lähmte sie augenblicklich. Sie stand, wie angewurzelt auf der Stelle und konnte sich nicht rühren. Erst einige Momente später realisierte sie, dass Billy das gleiche anstarrte, wie sie. Sie beugte sich zu ihm herunter und sah in sein verstörtes Gesicht: „Okay Baby, hör mir jetzt genau zu! Ich will, dass du dich umdrehst und nicht zurückschaust, in Ordnung?! Du bleibst genau hier stehen und rührst dich nicht vom Fleck, es sei denn ich sage dir etwas anderes, verstanden?“ Sie sprach eindringlich auf den Jungen ein, doch er brachte nur ein Nicken zu Stande und drehte sich um. Delia erhob sich wieder und begann auf das Objekt am Boden zuzulaufen. Als sie den Körper am Boden endlich erreicht hatte, schien eine endlose Zeit vergangen zu sein. Sie stürzte sich, direkt neben Jeff, auf die Knie und unterdrückte dabei den Schmerz. Sie ließ ihren Blick über den Körper gleiten und tastete nach seinem Puls, der kaum noch spürbar war. „Jeff, oh Gott, Jeff, was ist passiert, was ist los?“ Erst jetzt bemerkte sie die Blutlache, in der er lag und legte ihre Hand auf die Wunde, auf seinem Bauch. „Billy?“ Seine Stimme war von einem bedrohlichen Rasseln begleitet, so dass sie davon ausging, dass seine Lunge verletzt war. „Er ist bei mir, es geht ihm gut. Was ist mit Mary und Emma?“ Seine Augen wurden glasig bei der Frage und Tränen verließen seine tiefen Höhlen. Der Schock breitete sich in Delia aus, bei dem Gedanken, was den beiden geschehen sein mochte. Sie wollte zurück und nach ihnen sehen, wollte Emma in den Arm nehmen und ihren süßen Babyduft riechen. „Ich werde einen Arzt rufen! Du musst deine Hand auf die Wun….“, sie legte gerade seine Hand auf seine Schusswunde, doch er unterbrach sie: „Lauf weg, geh und nimm Billy…“, er musste schwer husten und spukte pechschwarzes Blut dabei aus. „Ich kann doch nicht“, sie schüttelte energisch den Kopf. „Bitte, geh“, Jeffs Kräfte schwanden und sein Puls sackte gänzlich zusammen. Die Stille wurde von einem lauten Knall zerrissen, der wie ein Schuss klang und in der Ferne meinte Delia etwas Schwarzes im Sonnenlicht aufblitzen zu sehen. Erst jetzt wurde ihr der Ernst der Lage bewusst. Sie musste den Schock und den Schrecken beiseite schieben. Sie mussten hier weg. Delia sprang auf und rannte auf Billy zu: „Billy, komm her“, schrie sie dem Kind verzweifelt zu, das sofort reagierte und ihr auf halben Weg entgegenkam. Sie nahm Billy auf den Arm und rannte wieder in Richtung des Flusses. Mit Billy zusammen war es ihr sehr schwer schnell voranzukommen. Sie war nicht schwach, aber das zusätzliche Gewicht machte es ihr schwer. Sie spürte, wie der kleine Körper in ihren Armen immer mehr erstarrte und regungslos steif wurde. Sie drehte sich kurz um und sah, dass sich schwarze Gestalten am Ende ihres Sichtfeldes bewegten. Sie konnte noch nicht erkennen, ob sie auf sie zukamen oder einfach nur dastanden, aber ihre Sinne begannen wieder auf Hochtouren zu arbeiten. Da war sie wieder, diese Stimme, die sie anschrie zu rennen. Sie achtete nicht auf die spitzen Steine, die sich in das Fleisch ihrer Füße gruben. Sie beschleunigte nochmals ihr Tempo und rannte so schnell es ihr, mit Billy auf dem Arm, nur möglich war. Sie hielt Billy so ungeschickt, dass er ihr immer wieder wegzurutschen schien, zumal dass nasse Hemd an ihr klebte und Billys Handtuch auf halber Höhe an ihm herabhing und ihr immer wieder zwischen die Beine rutschte. Sie hatte das Gefühl, dass sich ihre Beine überschlugen und hatte Schwierigkeiten ihren Oberkörper gerade zu halten, weil sie das Gewicht, wie Blei in den Armen lag. Sie übersah eine Wurzel und spürte wie sie den letzten Halt verlor und zu stürzen drohte. Sie versuchte sich im Fallen so zu drehen, dass sie Billy über ihren Körper bekam und ihn so abfangen konnte. Der Junge hob schon seine Arme schützend vor sich und verlagerte ihr Gewicht so noch mehr nach vorn und machte es Delia noch schwerer sich herumzudrehen. Sie schlug hart mit der Seite auf den Boden und schlug sich dabei den Ellbogen auf. Sie meinte fast die Besinnung zu verlieren, weil sie so hart auf ihre Rippen gestoßen war, aber sie riss sich standhaft zusammen. Sie schüttelte leicht an dem Jungen, der seinen Griff um sie etwas lockerte, damit sie aufstehen konnte und wieder losrennen konnte, dabei aber etwas hinkte. Als sie das Wasser sah atmete sie tief durch. Die Gestalten schienen mittlerweile näher zu kommen und Delia beten dafür, dass sie sie noch nicht entdeckt hatten. Sie stürzte auf das Wasser zu und überlegte kurz, ob sie einfach durch das seichte Wasser laufen sollte und auf der anderen Seite versuchen sollte auf die Wälder zu kommen, um aus dem Sichtfeld zu gelangen, wusste aber das der Weg bis zu den Wäldern etwa fünf Kilometer weit war. Sie entschied sich für den Fluss: „Okay Baby, wir schwimmen jetzt ein wenig. Du musst mir aber etwas helfen, ja!? Du schwimmst doch so gern.“ Billy antwortete nicht auf ihre Frage, reagierte aber und hielt sich nicht mehr so sehr an ihrem Hals fest, damit sie sich besser bewegen konnte. Sie ließ sich so tief wie möglich in das Wasser gleiten und schwamm, mit der Strömung, abwärts. Sie wusste, dass der Fluss nach einiger Zeit immer mehr bewuchert sein würde und sie so besser geschützt waren. Delia versuchte sich so weit wie möglich ins tiefere Wasser zu legen, damit sie besser abtauchen konnte. Billy hatte es sichtlich schwer, sich an ihr festzuhalten und dennoch nicht unterzutauchen und schluckte eine Menge Wasser. Immer wieder, wenn der Strom etwas sanfter wurde und sie ihre Ohren über Wasser halten konnte, meinte sie Stimmen zu hören und blickte sich gehetzt, nach den schwarz gekleideten Männern um. Im allgemeinen kam sie so nur langsam voran, abgesehen von Billys zusätzlichem Gewicht an ihrem Hals, behinderte sie das viel zu große Hemd, dass von Wasser ganz voll gesogen, noch länger wurde und sie zusätzlich belastete. Ständig musste sie husten und dachte dabei an das rasselnde Geräusch, das Jeffs Tod angekündigt hatten.



Der Wasserlauf war nun immer dichter bewachsen und sie näherte sich mit Billy dem Ufer, um sich an einzelnen Ästen vorwärts zu hangeln und es so etwas leichter zu haben, als sie Schritte zu hören glaubte und in ihrer Bewegung stockte. Sie zog sich tief unter das Gestrüpp und schob Billy ein Stück höher, damit er nicht unter Wasser geriet. Er röchelte nach Luft, weil seine Lungen schon ganz voll Wasser waren und die Schritte schienen sich zu nähern. Über den Ästen glaubte sie einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. „Schhhh, ganz leise!“ Sie sah Billy beschwörend an und hielt ihn an das Husten zu verdrücken, was ihm äußerst schwer fiel. Der Schatten wurde größer und der Ansatz eines vermummten Kopfes war zu sehen und der Lauf eines Maschinengewehres. Der Mann trat noch näher an den Flusslauf und ein paar Äste barsten unter seinen schweren Stiefel. Nur seine Augen waren unter der Maske zu sehen, die nun verkrampft die Gegend absuchten. Billy machte wieder Anstalten zu Husten und Delia hielt ihn den Mund zu. Sie blickte ihn bittend und entschuldigend zugleich an, da sie einfach keinen anderen Weg sah, um beide in Sicherheit zu waren. Sie konnte sich kaum noch an dem glitschigen Ast festhalten und hatte Angst man konnte ihr Geraschel hören. Sie schaute wieder nach oben, um zu sehen was der nächste Schritt des Mannes war. Sie konzentrierte sich auf ihre Stille und Ruhe, suchte nach ihren Instinkten. Sie starrte voll Spannung auf den Mann, wollte erfahren mit wem sie es zu tun hatte. In ihrem Kopf baute sich mit zunehmender Konzentration ein metallisch klingendes Surren auf. Der Ton schwoll schnell zu einem lauten, dumpfen Kreischen an, als würden Metallkrallen auf einer Tafel reiben. Sie verzog ihr Gesicht zu einer verzerrten Maske aus Schmerz und sah, dass Billy genauso in ihrem Arm lag. Der Mann überblickte noch einmal das Gebiet und entschied sich dann wohl, dass es kein Sinn hatte und sprach dann etwas in sein Walky Talky: „Sektor sieben ebenfalls sauber. Sie sind nicht hier, Sir.“ Er ließ den Finger vom Sprechknopf und wartete auf weitere Anweisungen. „Wir haben einen Spruch auf dem Anrufbeantworter, dass Au Pair und Kind erwartet werden. Wir ziehen dorthin ab“, erklang es rauschend aus dem Gerät. Delias Blick verfinsterte sich. Sie musste an Ruby denken und an die Gefahr, in der sie wohl schwebte und fragte sich, was diese Männer wohl von ihr wollten. Das metallene Kreischen, in ihrem Kopf, schwoll wieder an und lähmte ihre Muskeln schier. Der Soldat steckte sein Walky Talky wieder in den Gürtel, drehte sich um und verschwand. Das Geräusch wurde schwächer und endlich konnte sie sich etwas bewegen, schüttelte ihren Kopf und wurde damit das Klirren gänzlich los. Billy war schon ganz blass und drückte, verzweifelt, kurze Atemzüge gegen Delias Hand. Delia lauschte noch mal angespannt und nahm dann die Hand von seinem Mund, damit er das Wasser aushusten konnte und zu Luft kam. „Es tut mir so leid, Baby, aber es ging nicht anders!“ Sie streifte ihm ein paar Haare aus dem Gesicht und nahm ihn wieder fest in den Arm. „Es war so laut!“ Der Kleine blickte sie entsetzt an. „Oh, ich weiß, aber jetzt ist es weg und wir sollten auch verschwinden und noch ein bisschen schwimmen, okay?“ Sie sah Billy enthusiastisch an. „Wir können nie wieder in Rubys Pool!“ Billys Blick wurde wässrig und er schien um Fassung zu ringen, da er immer noch wusste, dass er leise sein musste. „Baby, das wissen wir noch gar nicht. Ihnen passiert bestimmt nichts!“ Sie wollte dem Jungen, aber auch sich selbst Mut machen. „Aber das weißt du doch selbst!“ Billy schaute sie eindringlich an. Kinderaugen können so sanft sein, aber Billys Blick war nie sanft und jetzt war er besonders erschütternd. Delia nahm ihn fest in die Arme, schickte ihm alle Wärme die sie hatte und brachte ihn dann wieder in eine, für sie günstige, Position und hangelte sich weiter an dem Geäst entlang.



Es war bereits Mittag, als sie es endlich wagte, das Wasser zu verlassen. Sie hatte keine Ahnung wie weit sie vorangetrieben war, aber sie hoffte, dass sie besiedeltem Gebiet ein entschiedenes Stück näher war. Sie wusste, dass der Fluss, der dem Lake Little Pont entsprang etwa zehn Kilometer von der Prospect Street entfernt war. Sein Lauf war schon um einiges enger geworden und der Strom sachter und sie befand es für leichter zu Fuß zu gehen. Wenn sie die Hauptstraße erreicht hatte, könnte sie ein Auto anhalten und sich zur Polizei bringen lassen. Erst als sie wieder festen Boden unter den Füssen hatte und Billy abgesetzt hatte, merkte sie wie stark sie zitterte. Billy hatte ganz blaue Lippen und konnte kaum stehen vor Kälte. Allerdings schien die Sonne auf ihrer Seite, so heiß wie es heute war. Nicht eine Wolke stand am Himmel. Sie nahm Billy bei der Hand und erklärte ihm, dass sie jetzt zur Straße laufen müssten. Doch er hielt nicht lange aus. Der Junge war einfach zu erschöpft und zu müde und so blieb Delia keine andere Möglichkeit, als ihn zu tragen. Während sie in schnellen Schritten ging, verfolgte sie den Lauf der Sonne und glaubte, überhaupt nicht voran zu kommen. Der Weg und der Sand schienen endlos. Eine Wüste hätte, in dem Moment, nicht schlimmer sein können. Billy schlief langsam ein und wurde, in ihren Armen, immer schwerer, zumal er scheinbar schlecht träumte und sich immer wieder hin und her winden wollte. Delia verlagerte sein Gewicht, so dass sein Kopf nun auf ihrer Schulter lag und sie ihre Arme um ihn schlingen konnte. Sie streichelte seinen Rücken, um ihn etwas zu beruhigen und begann leise ein Lied zu singen, dass Billy besonders gern mochte:



„Paff, der Zauberdrachen, lebte am Meer
auf einem Inselparadies, doch das ist schon lange her!
Der kleine Jackie Paper liebte den Paff so sehr
und ritt auf Paff vergnügt und froh oft über Land und Meer.

Und lockte sie die Ferne, schwamm Paff bis nach Shanghai -
von seinem Rücken rief dann lauf der Jackie froh "Ahoi!"
Die Schiffe der Piraten, die nahmen gleich Reißaus,
und alle riefen: "Paff in Sicht, wir segeln schnell nach Haus!

Ein Drachen, der lebt ewig, doch kleine Boys, oh nein.
Und so kam für Paff’ der Tag, und er war ganz allein!
Jackie kam nie wieder, einsam lag der Paff am Strand
und hieb mit seinem Drachenschwanz hoch in die Luft den Sand

Er weinte Drachentränen, traurig war sein Blick -
doch seine Tränen brachten ihm, den Jackie nicht zurück!
Weil er mit Klein-Jackie den besten Freund verlor,
schloss er sich in die Höhle ein und kam nie mehr hervor!

Paff, der Zauberdrachen, lebte am Meer auf einem Inselparadies, doch das ist schon lange her!“

Billy schien einigermaßen ruhig zu schlafen, was allerdings nichts daran änderte, dass es Delia immer schwerer fiel voranzukommen. Kleine Steinchen und Wurzeln hatten ihre Füße blutig geschnitten und jeder Schritt sandte heiße Schmerzströme ihre Beine hinauf, ihr Rücken schien unter der Last beinahe zusammenzubrechen und sie war furchtbar durstig. Sie war nur froh, dass Billy schlief und nicht noch wegen Hunger und Durst quengelte. Er zitterte zwar ganz erbärmlich, vor Kälte, aber er schlief und das ließ ihr Ruhe nachzudenken.
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