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Fremdes Leben

von Kris

Kapitel 1

Lufthansa Maschine über Boston 12:50, 01.04.04



Etwas aufgeregt saß sie in ihrem Flugzeug. Sie betrat eine neue Welt, einen neuen Lebensabschnitt, ohne zu wissen wie der Weg sein würde und dennoch mit der Sicherheit, dass die Wurzeln, die sie gebrochen hatte, nicht mehr verwachsen würde. Es gab nur dieses Geradeaus, ohne andere Möglichkeiten, wenngleich es nicht ihr Traum war, den sie zu leben begann. Seit ihrer Geburt stand fest, dass sie irgendwann nach Amerika ziehen würde, dort studieren würde und Karriere machen würde. Womöglich als Ärztin oder Anwältin oder Wissenschaftlerin, in dieser Hinsicht war ihre Mutter tolerant!



Sie fühlte sich alt, obwohl sie erst 20 Jahre war. Sie war gezwungen gewesen, früh erwachsen zu werden. Ihre Mutter setzte es einfach voraus. Sie hatte nur ein Wochenende mit ihrem Vater verbracht und empfand heute weder Liebe noch nostalgische Gefühle für ihn, aber sie wusste, dass er etwas Besonderes war. Intelligent, eindrucksvoll, eine Führungspersönlichkeit, mit einer geheimnisvollen Aura, zweifellos jemand außergewöhnliches. Sie hatte nicht beabsichtigt schwanger zu werden. Es war eine Wochenendliebe, aus der nichts werden sollte, außer Sex, Nähe und Spaß. Erst zwei Monate, nachdem er aus ihrem Leben verschwunden war, beinahe spurlos, bemerkte sie ihre Schwangerschaft. Ihr wurde klar, dass es wohl keine Möglichkeit mehr in ihrem Leben geben würde, außer dieser einen. Sie hatte nie darüber nachgedacht Mutter zu sein oder den Wunsch danach verspürt. Dieses Thema war einfach nicht präsent. Doch nun sah sie ihre Schwangerschaft als ein Zeichen und wusste, dass es ein besonderes war. Sie wollte dieses Kind und es zu dem Besonderen formen, dass auch sein leiblicher Vater repräsentiert hatte.



Schon früh wurde sie privat unterrichtet. Wäre es nicht zwei Jahre zuvor zur Wiedervereinigung gekommen, wäre dies zweifellos nicht so problemlos vonstatten gegangen. Aber sie musste schnell Englisch lernen, lesen und schreiben und sollte künstlerisch gefördert werden. Es ging nicht um ihre Interessen oder speziellen Begabungen, sondern darum alles zu können und zu wissen. Obwohl ihrer Mutter früh klar wurde, dass sie tatsächlich ein außergewöhnliches Kind war und dies auch von Ärzten bestätigt wurde, war sie kein Kind, das gern verbissen lernte. Natürlich las sie gern, wollte entdecken und verstehen und war immer äußerst wissbegierig, so gab es viele Momente, in denen sie einfach nachdenken, träumen und ihre Gedanken ordnen wollte. Als ihre Mutter sie als alt genug empfand, beendete sie den Privatunterricht, auch auf Anraten des Lehrers und schrieb Delia in einem Internat in England ein. Also bezog sie ein neues Heim, ein neues Land, eine neue Schule im Alter von sieben Jahren. Das Kent College war eine qualifizierte Einrichtung, die sich gut auf die Förderung des Individuums verstand und für eine ausgezeichnete Bildung sorgte und dennoch war es in ihrem Alter einfach schwer allein zu sein.



Nach dem Abschluss als Jahrgangsbeste, zog sie zurück nach Berlin und fand sich wieder in einer fremden Welt. Ihre Mutter hatte in den vergangenen 10 Jahren Englisch, so gut es ihr möglich war, gelernt. Sie sah es als die Muttersprache ihrer Tochter an und wollte das entsprechende Beispiel sein. So kehrte Delia zurück in eine Heimat, in der sie an eine andere Welt erinnert wurde, in der sie sich immer als Fremde gefühlt hatte. Ihre erste Aufgabe war es sich an Schulen zu bewerben, die ihrer Person entsprachen – Harvard, Oxford, Yale, Princeton. Sie wusste, dass sie ein volles Stipendium erhalten würde, genauso wie in Kent, aber sie wollte mehr. Sie war 18 und wollte die Welt kennen lernen, wollte etwas arbeiten, Erfahrungen sammeln, doch ihre Mutter erinnerte sie an ihre Wurzeln, die für sie keine waren und bewog sie, schließlich in einem Kompromiss, nach Amerika zu gehen.



Hier saß sie, in ihrem Flieger, nach 19 Stunden erschöpfenden Fluges, um ihre Au Pair Stelle bei einer Familie in Massachusetts anzunehmen. Die Anschnallleuchten waren bereits vor 20 Minuten erleuchtet und verhießen den Landeanflug auf den Logan International Airport, in Boston. Die Aufregung auf die Familie, die sie erwarten würde, stieg bereits und doch war sie nicht ängstig. Sie hatte so viel im Alleingang geschafft, dass sie sich keine Sorgen darum machte, dass nicht auch gut zu meistern. Sie freute sich auf die zwei kleinen Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Er hatte gerade erst seinen zweiten Geburtstag gefeiert und sie war erst sechs Monate alt. Abermals zog sie das Foto, mit der freudig strahlenden Familie, aus der Tasche. Sie sahen wirklich lieb aus. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich immer Geschwister gewünscht hatte, doch ihre Mutter hatte ihr immer erklärt, dass das nicht möglich wäre, dass sie so besonders war, dass sie all die Aufmerksamkeit ihrer Mutter verdiente und ein anderes Kind sie daran nur hindern würde. Wie erfrischend würde es sein sich um zwei kleine Wesen zu kümmern, deren liebste Beschäftigung es sein würde, durch einen Park zu schlendern bis sie Schaukeln und Rutschen entdeckten, die es sofort zu stürmen galt. Sie sah die zwei schon mit eisverschmierten Mündern, fröhlich glucksend vor sich her laufen. Der Mann hatte ein warmherziges Lächeln, ebenso wie seine Frau. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Wohl der Kinder, aber auf eine liebevolle, fürsorgliche Weise, ohne sie zu erdrücken oder einzuengen. Durch Gespräche und Emails, die sie zuvor gewechselt hatten, wusste Delia, in was für einer Familie sie im nächsten Jahr leben würde. Es waren bodenständige, gute Menschen, die so viel Zeit wie möglich miteinander verbrachten, viel lachten, liebevoll und ehrlich waren. Sie sorgten füreinander und für ihre Freunde und sie freuten sich ebenso, wie Delia, auf das Abenteuer Au Pair, obgleich sie die Unterstützung brauchten. Auch wenn Emma erst sechs Monate alt war, befanden es beide Eltern als richtig, dass Mary wieder arbeiten ging. Die Kinder sollten einfach nicht zu sehr verhätschelt werden und mehr Möglichkeiten bekommen, Dinge im Alleingang zu erleben, ohne ständig die Mutter im Hintergrund zu wissen. Sie wusste selbst, dass sie die beiden zu sehr verwöhnte und manchmal zu ängstig um sie war und so versuchte sie über die Au Pair, die etwas freier war, sich zu lösen und so wieder als Lehrerin zu arbeiten.



Die Maschine hatte bereits aufgesetzt und Delia begutachtete nochmals ihr Aussehen, in dem kleinen Fenster. Sie griff nach ihrer Harrspange, um ihre hellbraunen Haare zusammenzubinden, damit ihnen nicht angemerkt wurde, dass sie nach dem Flug kaum noch in Form waren – normalerweise trug sie ihre leichte Naturwelle offen, da sie ihr Gesicht besser zur Geltung brachten. Ihre grün-braunen Augen hatte sie mit einem leichten Kajalstrich akzentuiert, wodurch sie noch etwas undurchdringlicher wirkten und nicht nur sanft, wie sonst. Sie hatte volle, geschwungene Lippen, die kaum Lippenstift bedurften. Ihr Gesicht hatte einen klaren Schnitt, war vielleicht etwas zu rund, mit einer Stupsnase, die, ihrer Meinung nach, ein wenig zu groß war. Sie suchte ihr Gepäck zusammen, angelte nach ihrem Blazer und reihte sich in die endlose Schlange der Passagiere ein, die alle froh waren diese Sardinenbüchse verlassen zu können. Auch wenn die Klimaanlage in einem Flugzeug immer unglaublich hoch eingestellt war, so war die Luft nach 20 Stunden Flug einfach nur abgestanden, fast konnte sie den schalen Geschmack auf ihrer Zunge spüren. Sie durchquerte die Gangway und streckte dabei ihre müden Knochen, die mit knackenden Geräuschen antworteten. Sie wusste, dass noch etwa drei Stunden Autofahrt auf sie warteten bis sie die Farm erreichen würde und sich eine entspannende Dusche genehmigen und in bequeme Kleidung schlüpfen konnte. Sie trug zwar gern klassische Hosenanzüge, doch wäre dieser Kunstfaserbluse ein einfaches Shirt um einiges vorzuziehen.



Beladen mit dem Handgepäck und dem schweren Koffer machte sie sich auf in die Halle, um auf ihre Gasteltern zu treffen. Augenblicklich hatte sie das Gefühl in einer einzigen Menschentraube zu stehen. Menschen umarmten sich, waren glücklich einander wieder zu haben, es wurde, geweint, gelacht, geschrieen, geküsst und gerempelt. Sie suchte nach den Gesichtern von den Bildern, konnte aber kaum etwas erkennen, bis sie ein Pappschild, weit über den Köpfen der Umherstehenden sah. In krakeligen, bunten Buchstaben stand dort ihr Name und sie sah winkende Hände. Nach ein paar Schritten in die Richtung, erkannte sie bereits die strahlenden Gesichter des Ehepaares. Sie hatten den kleinen Jungen in ihrer Mitte, der verkrampft an den Händen seiner Eltern zog, um an ein Fenster zu gelangen, um die Flugzeuge betrachten zu können. Delia musste schmunzeln, weil seine Anstrengungen so hoffnungslos schienen, aber sein Gesicht von Enthusiasmus und Vorfreude geprägt waren. Als sie die drei erreichte, wurde sie sofort umarmt und liebevoll empfangen geheißen. Im Auto wurde munter geplappert, auch wenn der Kleine sie erst mal misstrauisch begutachtete. Sie fuhren durch Cambridge und zeigten ihr den Campus, der sich fast durch die ganze Stadt zog, vorbei an Sommerville, einem wirklich beschaulichen kleinen Ort, in dem jeder jeden kannte. Sie erfuhr, dass eigens für ihre Ankunft eine kleine Begrüßungsfeier gegeben wurde. Es war, als hätte sie wirklich ein kleines zu Hause gefunden.


Belmont, Massachusetts 17:30



„Du brauchst sicherlich erst einmal eine Dusche und ein wenig Ruhe, bevor wir dir alles zeigen!? Aber wir denken, dass wir dich bis heute Abend wach halten werden, damit du nicht dem Jetlag erliegst“, wandte sich Mary an Delia. Sie war so beeindruckt von der Farm und dem warmen Heim der beiden, dass sie ihre Müdigkeit fast vergessen hatte. „Später kommen dann unsere engsten Freunde, die ganz gespannt auf dich sind und bringen Emma mit und wir essen gemeinsam. Aber nur wenn es dir recht ist?!“ Sie wollte ihren neuen Gast nicht überstrapazieren, aber sie fühlte sich sofort mit Delia verbunden. Sie wirkte zierlich und erschöpft und löste dadurch Marys Mutterinstinkt aus und doch auch reif, erwachsen, intelligent und mit einem wunderbaren schwarzen Humor. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie Delia sofort in ihr Herz geschlossen hatte, aber es war die perfekte Grundlage für die anstehende Zeit, in der sie ihr ihre Kinder überlassen würde.



„Na, komm erst mal mit, ich zeige dir dein Zimmer und dann kannst du in Ruhe entscheiden. Meine Frau ist da manchmal etwas stürmisch“, Jeff zwinkerte Delia verschwörerisch zu, wodurch sein Gesicht, wie ein rundes Mondgesicht wirkte. Er war bereits Mitte 40 und man sah Spuren harter Arbeit in seinen Gesichtszügen und an seinen Händen. Er hatte eine kräftige Struktur, fast imposant, aber dennoch machte sie ihn freundlicher und gemütlich. „Ach, ich bin überhaupt nicht müde und ich finde es schön so stürmisch willkommen geheißen zu werden“, meldete sich Delia nun verteidigend zu Wort und folgte Jeff, der anbot ihr das Haus zu zeigen. Es war ein typisches Farmhaus. Warm eingerichtet, hauptsächlich in Holz- und Erdtönen, ein großes Wohnzimmer, mit großzügiger Beleuchtung. Delias Zimmer lag im Obergeschoss und war angenehm möbliert. Direkt der Tür gegenüber lag ein übergroßes Fenster, mit einer großen Fensterbank, auf der man abends gemütlich mit einem Buch sitzen konnte. In der Mitte des Raumes, an der Querwand zum Fenster, stand ein großes Bett, frisch gemacht, mit weißen Bezügen und einer blassblauen Wolldecke, als Überwurf. Daneben ein kleiner Nachttisch, mit einer kleinen Lampe und dem gegenüber stand ein großer, schwerer Kleiderschrank aus gebeiztem Holz, mit leichten Schnitzereien. An der gegenüberliegenden Wand stand ein kleiner Schreibtisch und ein Stuhl – äußerst zweckmäßig - aber durch die sesamfarbene Wand und den Bildern, die lichtdurchflutete Wälder und Sonnenblumen zeigten, wirkte der Raum belebt. Sie stand in der Mitte des Raumes, auf dem runden Teppich, der das hellbraune Parkett durch seinen hellen Ockerton erfrischte und ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten und nahm ihn in sich auf. Es war kein Vergleich zu ihrem Zimmer, das sie jahrelang in Kent bewohnt hatte und hauptsächlich Studienzwecken diente und, als einzige persönliche Note eine kleine, kahle Zimmerpflanze enthielt. Oder ihrem Zimmer bei ihrer Mutter, dass eingerichtet war mit Regalen, die bis zur Decke vollgestopft waren mit Büchern, die ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern sollten oder wissenschaftliche Abhandlungen über die menschliche Anatomie, Psyche und Medizin enthielten. „Du kannst ein paar Poster oder so anhängen, wenn’s dir gefällt oder ein bisschen was umstellen oder verändern, wenn das nicht so ganz dein Geschmack ist. Es war immer unser Gästezimmer und wir haben es nur noch mal etwas renoviert und aufgefrischt. Aber wir lassen dir da freie Hand“, riss Jeff sie aus ihren Gedanken. „Oh nein, es ist wirklich sehr gemütlich so, wie es ist“, gab Delia, noch immer etwas verträumt, zurück. Sie ließ ihre geschulterte Tasche auf das Bett fallen und machte drei Schritte Richtung Fenster, um den Ausblick zu begutachten. „Dann ist es gut. Direkt neben deinem Zimmer ist das Gästebad. Es hat zwar nur eine Dusche, aber es gehört allein dir. Unser Bad kannst du, natürlich, immer nutzen wenn du, zum Beispiel, mal ein Bad nehmen magst“, man merkte Jeffrey an, dass er nervös war, weil er es diesem Mädchen einfach schön machen wollte. Er konnte sich kaum vorstellen, wie es für ein Kind sein mochte so weit von zu Haus, in einem fremden Land, bei einer fremden Familie, zu leben und wollte es ihr so angenehm wie möglich machen. Delia konnte ihm nur danken. Sie spürte seine Nervosität durchaus, konnte sie aber keineswegs verstehen, da sie sich von Anfang an bei den beiden wohl gefühlt hatte.

„Hey ihr zwei, ich habe Kaffee gemacht!“ Mary war strahlend im Türrahmen erschienen: „und wie gefällt dir das Zimmer? Magst du erst einmal duschen und dich umziehen?“, sie schien beinahe aufgeregter, als Delia. „Es ist wirklich sehr warm eingerichtet und ich denke, dass ich mich hier sehr wohl fühlen werde und ja, eine Dusche wäre wirklich ausgezeichnet und Kaffee noch besser, aber dennoch wohl, am besten, alles nacheinander!“ Delia schmunzelte Mary an. „Natürlich, lass dir Zeit, Jeff und ich müssen so und so noch die Veranda für heute Abend vorbereiten. Handtücher liegen im Schrank, Zahnpasta und Shampoo stehen auf der Anrichte im Bad und wenn du etwas brauchst, frag einfach!“ Es schien fast, als wäre Delia nicht zum arbeiten hierher gekommen, sondern nach Hause. „Mary, Jeff, Sie sind wirklich ausgesprochen freundlich, aber Sie sollten mich nicht zu sehr verwöhnen, sonst gewöhne ich mich noch daran und vergesse darüber hinaus, dass ich ihre Au Pair bin!“, erinnerte sie die beiden an ihre Aufgabe. „Na hör mal, du wirst das nächste Jahr hier leben, schlafen essen und vor allem für unsere Kinder da sein, also wirst du uns erst einmal duzen und das nicht als Arbeit ansehen, sondern du sollst dich hier wohl fühlen und auch zu Hause.“ Damit ließen sie die beiden allein, damit sie sich erst einmal eingewöhnen konnte.



Eine halbe Stunde später, nachdem sie in eine bequeme, beigefarbene Stoffhose mit passenden, grobmaschigen, schwarzen Pullover geschlüpft war, kam sie die Treppe nach unten, in die große Wohnküche. Noch wirkte sie etwas verloren, suchte nach ihrem Platz in diesem Haus. Durch die angelehnte Verandatür sah sie Jeff und Mary an einem großen Eichenholztisch sitzen und Kaffee trinken. Sie beobachteten ihren kleinen Jungen, der mit ein paar Autos im Sand spielte und dabei brabbelnde Geräusche von sich gab. Sie streifte sich durchs Haar und ging nach draußen, tief die Luft einsaugend. Die Durchschnittstemperaturen lagen in Massachusetts im Sommer bei etwa 28°C, aber gegen Abend kühlte es etwas ab und so war der Pullover eine gute Entscheidung gewesen. Mary schenkte ihr Kaffee ein und reichte ihr einen großen Becher, nachdem sie Zucker und Milch abgelehnt hatte. Sie gab zu, dass sie nie ohne Kaffee auskam und wenn, dann müsste er stark und unverdorben sein. Sie nahm einen kräftigen Schluck und genoss den würzig, herben Geschmack und die Wärme, die er verbreitete, stellte die Tasse dann auf dem Geländer ab und nahm die drei Stufen hinab um zu dem Kleinen zu gehen. Sie kniete sich neben ihn. Sie wusste, dass man nicht aus dem Größenunterschied heraus mit Kindern reden sollte, sie wollte sich ihm sofort gleichstellen:“ Hey Billy, was spielst du denn da?“ Der Junge schaute sie aus großen grünen Augen an, schien sie erst einmal zu studieren, bevor er sich sicher war, dass er antworten konnte, dann beugte er sich verschwörerisch nach vorne und deutete an, ihr etwas zuflüstern zu wollen. Sie kam ihm näher und hielt ihm ihr Ohr entgegen: „Ist ein Geheimweg!“ Er widmete sich wieder seiner kleinen Schaufel zu und fing konzentriert an, an etwas zu graben. „Ist denn da auch ein Tunnel, in dem man sich verstecken kann?“, fragte Delia in neugierigem Ton. Billy blickte sie erstaunt an und schien ernsthaft darüber nachzudenken und schaute dann etwas traurig und schüttelte nur den Kopf. „Wie wäre es wenn wir dann einen graben würden?“ Er hielt kurz inne und überlegte die Option und schüttelte dann abermals den Kopf: „Mmhmm, aber machst du mir ’n Fluss?“ Er schaute sie fest an und rieb sich dabei die sandigen Hände an der Hose ab. „Das würde ich sehr gern tun, aber vielleicht verschieben wir das auf morgen, denn bald gibt es Abendessen und bis dahin müssen wir dich auch noch waschen und umziehen, so wie du aussiehst!“ Sie lächelte ihn sanft aus ihren braun-grünen Augen an, die abends eher Braun, als grün wirkten. Er dagegen hatte einen tiefbraunen Kreis um seine grüne Iris, wodurch seine Augen irgendwie mystisch erschienen. Sie streckte ihm die Hand entgegen: „Was hältst du davon, wenn du mir dein Zimmer zeigst und wir dich zusammen fertig machen?“ Ohne zu zögern griff er nach ihrer Hand, schaute ihr aber nochmals tief in die Augen bis er sie breit anstrahlte, aufsprang und losrannte und dabei vergnügt vor sich aufquietschte. „Jetzt wirst du ihn wohl fangen müssen“, lachte Jeff sie an. „Ist diese Mühe wenigstens ein gutes Zeichen?“, gab sie ebenfalls lachend zurück und machte sich auf den Weg zurück ins Haus, zu Billy’s Zimmer.



Es war in der gleichen Farbe, wie ihres gestrichen, hatte aber zwei Fenster mit einer Kindersicherung. Sein Bett stand direkt unter dem linken Fenster und war, natürlich, nicht gemacht, sondern völlig verwühlt. Darunter lagen Massen von Stofftieren, überall im Zimmer waren Bauklötze und Autos verteilt, die ihm wahrscheinlich heute Morgen zum Spielen gedient hatten. Eine Kommode aus, ebenfalls gebeiztem, Holz stand an der gegenüberliegenden Wand, ein Nachtlicht mit Disneyfiguren darauf würde hier abends für sanftes Einschlaflicht sorgen. Ansonsten fand man noch ein großes Regal mit Spielsachen und Kinderbüchern, an der rechten Wand, unter dem sich noch einige Aufbewahrungsboxen befanden, die wahrscheinlich für die Bauklötze und Autos bestimmt waren. Von Billy war aber keine Spur zu finden. Delia rief nach dem Kleinen und lauschte dann angestrengt in die Stille, um verräterische Geräusche nicht zu überhören, aber alles was sie vernahm waren die Vögel vor dem Haus. „Hey Billy, ich kitzle dich aus bis du keine Luft mehr bekommst, wenn du nicht heraus kommst!“, warnte sie ihn in verspieltem Ton, aber immer noch war nichts von ihm auszumachen. Im Geiste notierte sie sich nie mit ihm Verstecken zu spielen. „Na schön, wenn du herauskommst, dann singe ich dir nachher ein Schlaflied“, versprach sie in letzter Hoffnung, um ihn so zu locken. „Gleich!“ kam eine vorlaute Stimme, aus Richtung der Treppe, zurück. Delia lief schnell zur Treppe und fand Billy dort auf der untersten Stufe hockend. „Du kleines Schlitzohr“, zischte sie ihn neckend an und griff nach ihm, um ihn hoch zu heben und herumzuwirbeln. Billy gluckste vor kindlicher Freude und machte bald Geräusche, die ein Flugzeug darstellen sollten.


Unbekannte Bedrohungen


Belmont, 07:30, 04.07.2004



Sie lief ohne nachzudenken, sie lief und sie lief und lief. Ihre Füße brannten und ihre Arme schmerzten, als trüge sie Blei auf ihren Schultern. Ihre Füße tasteten sich durch ein Nichts, das außer mit Kälte, durch nichts zu beschreiben war. Einige Male glaubte sie, ein Licht zu sehen, erkannte aber jedes Mal, dass es nur ein Sinnenstreich gewesen war. Alles um sie herum war dunkel, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen – nicht einmal ein Stern schien am Himmel zu stehen. Ihr wurde bewusst, dass sie aufhörte den Unterschied zwischen Himmel und Erde zu erkennen. Der Schmerz an ihren Füssen ließ nach, obgleich sie so schnell rannte, dass ihre Lungen zum Zerbersten gespannt waren. Sie versuchte sich zu erinnern, warum sie rannte, aber alles was sie wusste, war die Angst, die sie gesehen hatte und ihr Instinkt, der ihr, riet zu rennen. Ihr Instinkt war außerordentlich gut. Sie konnte ihn nicht objektiv mit anderen vergleichen, aber sie wusste, dass er außergewöhnlich war und er trichterte ihr förmlich ein, zu rennen. Es war, als höre sie eine Stimme, tief in ihrem Inneren, die sie anschrie, sich zu bewegen und mit jedem Schrei stieg die Panik in ihr. Sie wollte ja rennen, aber wie wenn sie nichts sah, wenn alles so unglaublich dunkel war, sie nicht sah wohin sie trat. Im Hintergrund vernahm sie Emmas Schreie und wollte augenblicklich umkehren. Sie konnte doch nicht das Baby zurücklassen, aber in dem Moment, in dem sie sich der Richtung des Schreis zuwenden wollte, drohte sie ihr Gleichgewicht zu verlieren, zu fallen. Die Stimme in ihrem Inneren wurde lauter und lauter, schrie sie an weiterzulaufen, nicht zurückzuschauen.



Sie schlug die Augen auf und rang nach Luft. Sie kannte kaum noch eine Nacht, ohne solche Träume – nur die Szenen variierten. Sie drehte sich im Bett um, um besser zu sich zu kommen und erschrak noch in der Bewegung, weil etwas vor ihrem Bett stand. „Billy“, keuchte sie erschreckt auf und versuchte ihre Lungen endlich wieder mit Luft zu füllen. „Baby, was machst du schon wieder hier, du erschreckst mich jeden morgen aufs neue!“ Billy stand direkt vor ihrem Bett und starrte sie aus versunkenen Augen an, fast als wäre er völlig abwesend. Fragend und suchend studierte Delia den Jungen: „Baby, was ist denn nur wieder los?“, sie schob die Decke beiseite und realisiert, dass sie völlig nass geschwitzt war. Langsam stieg sie aus dem Bett und ging auf Billy zu, sank in die Knie und nahm ihn bei den Schultern, drehte ihn direkt zu sich. „Billy, was machst du hier?“, Zum ersten Mal blinzelte der Junge und sah in diesem Moment unheimlich alt aus: „Du träumst wieder!“ Delia sah ihn verwirrt an, glaubte dann aber zu verstehen: „Oh, habe ich etwa im Schlaf geredet?“ Billy sah sie unverwandt an und schüttelte dann den Kopf: „Nein.“ Sie schaute Billy tief in die Augen und schwieg. Sie starrten sich einfach nur an, ohne ein Wort zu sagen. „Emma ist noch im Bett!“, stellte Billy fest, drehte sich um und ging dann nach unten. Delia strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und lief in Emmas Zimmer. Die Wände waren wie der Himmel, von lauter Wolken überzogen, die den strahlend blauen Himmel zusätzlich aufhellten. In der Mitte des Raumes stand das Himmelbettchen, mit dem Büffel-Mobile. Immer wieder streckten sich kleine, freche Händchen in dessen Richtung, um es anzustupsen, aber sie erreichten es einfach nicht. Aus dem Bett war ein leises Quietschen und Glucksen zu vernehmen. Delia ging auf das Bett zu und fand Emma lachend und strampelt darin liegend. „Guten Morgen mein kleiner Schatz. Du scheinst ja schon richtig munter!“ Sie beugte sich nach vorn, um die Kleine auf ihren Arm zu nehmen. Sie vergrub ihre Nase in Emmas Strampler und zog den weichen Babyduft ein, den sie so liebte – er machte dieses Heim besonders warm. Sie wiegte das Baby ein wenig und wandte sich der Tür zu, um gemeinsam mit ihr in die Küche zu gehen. Das Quietschen, das sie im Zimmer zurückließ, bemerkte sie nicht.



In der Küche wusch Mary bereits das Frühstücksgeschirr ab. „Guten Morgen ihr zwei. Gut geschlafen Delia?“, sie lächelte Delia an und zwinkerte ihr wissend zu. „Vergiss es Mary, es war furchtbar gestern“, sie verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. Delia setzte Emma auf den Küchentresen und begann sie ein wenig zu kitzeln, worauf die Küche mit lautem Geschrei und Lachen erfüllt wurde. Mary stellte ihr einen großen Becher heißen Kaffee auf den Esstisch, damit er bei dem Gerangel nicht herunterfallen würde. „Wieso, ich dachte Peter wäre so ein netter Junge“, sie trocknete sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab und legte es neben das Spülbecken, um sich dann selbst mit einer Tasse Kaffe, in die sie noch etwas Milch fügte, an den Tisch zu setzen. Delia hob Emma wieder auf den Arm und ließ sich dann an dem runden Esstisch, genau neben Mary, nieder: „Ja, leider ist er das!“, gab sie mit einem Zwinkern zurück. „Wer kommt eigentlich alles heut Abend?“ Die Beziehung zu Peter war ihr keine wirkliche gewesen und doch war das Gefühl, jemanden an ihrer Seite zu wissen, doch schön gewesen. Mary blickte sie etwas verwundert an: „Ich denke, niemand in deinem Alter, ein paar Freunde und Kollegen, Steve und Joan, Kim, Ruby und Ben, Alex und Mathew, ein neuer Lieferant von Jeff, ich glaube sein Name ist Ben!“ Emma streckte sich aufgeregt vor, um die Tassen der beiden zu erreichen, aber es gelang ihr nicht. Delia rückte sie ein wenig zurecht. „Naja, ich glaube die Jungs in meinem Alter passen nicht ganz zu mir!?“ Sie blickte aus dem Fenster und dachte nach. „Wo ist Billy?“, fragte sie. „Er ist mit Jeff am Fluss und lässt sein Boot fahren. Du kennst ihn, er ist so gern da“, Mary musste bei dem Gedanken lächeln. Delia setzte ein Lächeln auf. Sie war immer beunruhigt, wenn Billy nicht in ihrer Nähe war. Er war nicht nur ein Kind, auf das sie Acht gab, er war mehr und sie hatte eine starke Bindung zu ihm entwickelt, auch wenn sie erst drei Monate hier war. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie sich wie eine Mutter um ihn sorgte. Sie verdrängte die Gedanken, nahm einen tiefen Schluck Kaffee und wandte sich wieder Mary zu: „Na schön, dann werde ich jetzt duschen gehen und dir dann bei den Vorbereitungen helfen!“ Sei reichte Emma zu Mary hinüber, die die Kleine sanft in den Arm nahm und anlächelte. „Sie ist ganz schön schwer geworden!“, stellte Delia fest. „Nicht wahr?! Sie wächst unglaublich schnell!“, stimmte Mary Delia zu. „Nicht wahr meine Süße, du bist schon ein richtig großes Mädchen“, sie hob das Baby hoch und wiegte sie etwas hin und her.
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