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Ahead of Twilight - Wenn das Zwielicht fällt (1)

von Texxas Rose

Kapitel 1

Das Urteil war schnell gefällt, nachdem die Jury nur drei Stunden für ihre Entscheidung gebraucht hatte. Ein Bundesagent war des Mordes beschuldigt worden. Es war klar, dass dieser Fall alle Schlagzeilen in den Zeitungen und jede Nachrichtenstation füllen würde.

Reporter des ganzen Landes standen dicht gedrängt im Gerichtssaal, alle Augen auf einen Mann gerichtet, der bewegungslos da stand und Angst hatte zu atmen, während er auf sein Urteil wartete. Heute würde er erfahren, was aus ihm geworden war. Der Moment war gekommen, in dem ihm sein ganzes Leben aus den Händen gerissen wurde.

Bis jetzt hatte er noch Hoffnung gehabt, dass sie ihm einfach nur eine Heidenangst einjagen wollten—es war immerhin nicht das erste Mal, dass er verarscht worden war—aber jetzt war das letzte Krümelchen Hoffnung geschwunden. Das Urteil stand, und als es mit tonloser, gelangweilter  Stimme vorgelesen wurde, brach die ganze Welt über ihm zusammen. Endlich verstand er, dass sie viel zu mächtig waren und er ein Nichts war. Jemals anders gedacht zu haben, war ein idiotischer Fehler gewesen.

Seine Schultern zuckten, als der Richterhammer fiel und sein Leben endete.  Von jetzt an war das Leben da draußen für ihn nichts weiter als kalte Existenz. Es würde selbstverständlich Einsprüche geben, aber Mulder wusste tief in seinem Innern, dass es vorbei war. Er war jetzt ein toter Mann, obwohl sein Herz in seiner Brust die kommenden Jahre weiter schlagen würde.

Es war einfach passiert, aber nicht urplötzlich. Die Zeit hatte sich seit Monaten unerbittlich bis zu diesem Moment geschleppt, aber erst jetzt erkannte er, als er der Realität ins Auge blickte, dass er nie wirklich an diesen Moment geglaubt hatte.

Schuldig.

Schuldig des Mordes.

Es kam ihm vor, als ob sich die ganze Welt um ihn herum schwarz färbte, als sich sein Blickfeld zu einem schmalen Streifen verengte, der auf dem Richterhammer endete. Wie konnte das passieren? Wie konnte sein Leben jetzt schon vorbei sein? Es war allen egal, dass er unschuldig war. Der Richter würde alles sagen, was 'Die' ihm befahlen und 'Die' hatten ihn zu Lebenslänglich verdammt. 'Die' würden ihn nicht einfach so umbringen. Wo war da der Spaß? 'Die' wollten, dass er litt. Und welcher Weg war wohl einfacher und besser, dieses Ziel zu erreichen, als ihn in Ketten zu legen und abzuführen, weg von seiner Familie, seinen Freunden und der Welt, die er nie wieder sehen würde?

Eine Hand berührte seinen Arm und er drehte sich um, immer noch unter Schock, um dem Menschen ins Gesicht zu sehen. In ihren Augen standen die Tränen, die sie hier vor all den Reportern und Schaulustigen nicht vergießen wollte, und ihr Gesicht war ein Spiegelbild ihrer Qualen—genau wie seines.

Wortlos legte sie ihre Arme um seine Hüften und ihren Kopf auf seine Brust.  Benommen wollte er seine Hände heben, um sie zu umarmen doch er fühlte den Widerstand, als sie hinter ihm zusammengehalten wurden.

Jetzt schon? Sie wollten ihn jetzt schon abführen? Aber er hatte doch noch keine Gelegenheit gehabt.....

Bevor er überhaupt seinen Gedanken beenden konnte, fesselten sie seine Hände hinter seinem Rücken; das scharfe Zuschnappen des Metalls ließ sie beide zusammenfahren. Das eiskalte Messer der Wirklichkeit durchschnitt Mulders Seele. Es war seine allerletzte Gelegenheit gewesen, sie zu umarmen, und er hatte sie verstreichen lassen. Stolpernd, und für einen Moment widerstehend, versuchte er soweit zu Atem zu kommen, um nach ihr zu rufen.

"Scully..." murmelte er, als sie ihn bei den Armen nahmen und ihn grob wegführten. Seine Füße wollten dem Pfad nicht folgen, den die Männer für ihn bestimmt hatten, um ihn zu zermürben. Er fand mit einem Mal wieder seine Stimme, als er immer weiter weg von ihr gedrängt wurde. "Scully!" rief er, und wollte sich seinen Weg zu ihr erkämpfen. Die beiden bulligen Wärter rissen ihn zurück und schleiften ihn auf die Tür zu, als hinter ihm der ganze Gerichtssaal laut wurde. Sie erreichten den Ausgang und er schaffte es noch einmal, soweit von ihnen loszukommen, dass er einen letzten Blick auf die Frau werfen konnte, die ihm alles bedeutete.

Eine einzelne Träne entwich ihr, die ihm auf ihrem Weg über ihre Wange das Herz brach. Skinner spürte, dass sie Trost brauchte und legte einen Arm um ihre Schulter. Mulder sah zu, wie er sie weg führte.

Sein Atem ging heftig und flach und der Schmerz in seiner Brust war am Rande der Unerträglichkeit, doch Mulder warf noch einen Blick in den Saal.  Das letzte Bisschen Freiheit. Der letzte Mensch, den er sah, bevor die Tür sich hinter ihm schloss, war der Raucher, der am Richtertisch lehnte und sich gemächlich eine seiner Höllen-Zigaretten anzündete. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment und der alte Mann lächelte, nickte Mulder zu. Mulder wandte seinen Kopf und alles wurde ihm entrissen.

 

Vier Jahre später

Die Freiheit hat schon was Seltsames an sich, dachte Mulder, als er zusah, wie sich die Szene vor ihm abspielte. Man kann sie nie für selbstverständlich nehmen. An einem Tag hat man sie, und am nächsten Tag kann man sie schon wieder verlieren, sie wird einem einfach ohne Vorwarnung genommen. Für ihn hatte es alles mit einem Hämmern an der Tür angefangen. Die Polizei hatte an einem späten Abend mit einem Haftbefehl gegen ihn Einlass verlangt. Er würde nie die nackte Angst vergessen, die ihn befiel, als sie ihm Handfesseln umlegten und ihn aus dem Haus in den Streifenwagen begleiteten. Trotzdem er wusste, dass er unschuldig war, hatte er Angst gehabt. Er hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt. Irgendwie hatte er geahnt, dass das hier mehr war, als nur ein belangloses Missverständnis.

Die folgenden Wochen und Monate hatte er wie durch einen Schleier erlebt.  Er musste lange Zeit sinnlos eingesperrt in einer Zelle eines kleinen Gefängnisses verbringen. Mulder wusste, dass ein harter Kampf um seine Freiheit außerhalb dieser Mauern stattgefunden hatte, aber in seiner drei mal drei Meter großen Welt konnte er nichts dazu beitragen. Die Zeit war viel zu langsam für ihn hingekrochen. Sie war wie ein Herzschlag, der mit jeder Sekunde wertvolles Leben verlor, langsamer und langsamer und langsamer, bis zu dem Tag, an dem im Gerichtssaal das Urteil verlesen wurde und die Kraft des Lebens völlig versiegte.

Die nächsten vier Jahre würde er damit verbringen, den Rest seiner Zeit auf Erden zu vergessen. Ein Großteil der Tage (eintausendsiebenhundertunddrei, rechnete Mulder) war in relativer Finsternis vergangen, zu viele in Abgeschiedenheit—zum Teil, um ihn zu schützen, zum Teil weil Mulder, der ohnehin nicht gerade von gehorsamer Natur war, herausgefunden hatte, dass

es ohne Hoffnung auf Entlassung keinen Unterschied machte, ob man sich an Regeln hält oder nicht. Er arbeitete von Zeit zu Zeit wie er sollte, um ein wenig von den Leuten wegzukommen. Es wäre vielleicht quälend einsam gewesen, aber es war besser für ihn so. Als Bundesagent einzusitzen war keine schöne Sache. Da würde ihm jeder zustimmen. Trotz dieser Sicherheit gab es Nachteile. Die Tage in Isolation hatten sich sogar noch langsamer dahin geschleppt und Mulder hatte festgestellt, dass sein Leben zwar zu Ende war, seine Existenz sich aber weiter quälte.

Eine vierundzwanzigstündige Periode hängte sich unmerklich an die nächste, jede verschmolz unumgänglich mit der nächsten und der nächsten, bis Mulder sich vorkam, als ob man ihn aus dem Leben in die Hölle gestoßen hätte, in der es den Tod als Ausweg nicht gab. Ein Moment zog sich erbarmungslos in den nächsten - Zeit, die ihn mit ihrer Hartnäckigkeit folterte und ihm zusetzte. Er war sich sicher gewesen, dass er im Gefängnis nicht überleben würde, und er hatte Recht behalten. Der einzige Faktor, mit dem er sich verschätzt hatte war, wie lange ein Organismus brauchte um zu sterben, wenn die Seele aufgegeben hatte.

 

Einige Momente der vierjährigen Monotonität hatte er immer noch kristallklar vor Augen, und das waren genau die Momente, die Mulder für alle Ewigkeiten aus seinem Gedächtnis verbannen wollte. Fragmente von ihnen drängten sich immer noch in sein Bewusstsein, in einer Serie von Standbildern—Erinnerungen, wie er von einem anderen Häftling gefesselt wurde, während ihm ein Wärter die Seele aus seinem Leib prügelte; wie zwei der schlimmsten Mörder, die er je erlebt hatte, ihn während einer Übung in die Ecke getrieben hatten… wie er an der Betonwand der Zelle festgesetzt wurde… als er verzweifelt versuchte, sich herauszuwinden, während…… Er verdrängte diese Erinnerung wie ein Dutzend ähnliche. Es hatte keinen Sinn, diese Torturen noch einmal durchzustehen. Es war vorbei. Er war ein freier Mann.

Mulder warf Skinner einen Blick zu, der hinter dem Steuer saß. Der ältere Mann erhaschte ihn und lächelte. Mulder starrte ihn verblüfft an. Skinner konnte lächeln? Er war sich sicher in all den Jahren, in denen er für ihn gearbeitet hatte, er diese Lippen nie anderes gesehen hatte als fest zu einer Linie zusammengepresst bei Gelegenheiten, in denen er ihn zur Sau gemacht oder Kommentare über seine und Scullys neueste Eskapade zurückgehalten hatte. Nicht, dass Skinner je einer gewesen war, der viel zurückgehalten hatte, grübelte er und seine Gedanken drifteten zu Scully.  Er war in den letzten anderthalb Jahren gut darin geworden, jegliche Gedanken an sie zu vermeiden -- (vierhundertvierundneunzig Tage, flüsterte sein Unterbewusstsein), und obwohl er wusste, dass er jetzt nach seiner Freilassung um das Thema 'Scully' nicht herumkommen würde, schien es im Moment einen auszeichnete Idee, es fürs erste zu vergessen. Später hatte er noch genug Zeit, sich darum zu kümmern. Im Moment war er zu genüge damit beschäftigt sich zu erinnern, wie sich Freiheit anfühlte.

Sie näherten sich jetzt einem dicht bewohnten Gebiet, in dem Geschäfte und Restaurants die Aussicht zierten, und Mulder ertappte sich dabei, wie er sich die Menschen ansah—er suchte Gesichter, die nicht von den Strapazen gezeichnet waren, die seine Mitgefangenen in den letzten Jahren erleben mussten. Mütter mit kleinen Kindern faszinierten ihn; er starrte schamlos aus dem Fenster und nahm die Eindrücke der Freiheit in sich auf.

"Haben Sie Hunger?" Skinners Stimme erschreckte ihn ein wenig. Mulder dachte über die Frage nach. Er konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern, an dem er ein Hungergefühl verspürt hatte. Er hatte schon seit langem seinen Appetit verloren, und er war sich sicher, dass er nie wieder welchen bekommen würde. Doch er konnte nicht abstreiten, dass das Angebot von echtem Essen (Freiheits-Essen) sich nicht schlecht anhörte. Also nickte er und Skinner fuhr in die Einfahrt des nächsten Burger Kings. Als sie den Lautsprecher erreichten, in den man seine Bestellung sprechen konnte, warf Skinner Mulder einen Blick zu—er verstand, dass nach all den Jahren, in denen fast jede Entscheidung n von anderen für ihn getroffen worden war, Mulder jetzt beim besten Willen keine schnelle Wahl treffen konnte. Er bestellte zwei Burger, Pommes Frites und etwas zu trinken und rückte dann mit dem Wagen auf. Mulder lehnte sich währenddessen in seinem Sitz zurück, schloss die Augen und zog erwartungsvoll den Geruch ein, der durch das offene Fenster ins Auto strömte. Gerüche der Stadt. Die Abgase der Autos in der Warteschlange, und der alles übertrumpfende Lärm der Kinder auf dem Spielplatz. Mulder versuchte den Kloß in seinem Hals, der sich auf einmal gebildet hatte, herunterzuschlucken und hoffte, dass Skinner nicht gerade jetzt ein Gespräch mit ihm anfangen wollte.

Dem schien jedoch nicht so, und Skinner fuhr Stück für Stück weiter bis zum Ausgabefenster, bei dem er bezahlte und Mulder etwas Kaltes zu Trinken und eine wohlriechende Papiertüte reichte. Er nahm seinen eigenen Becher und stellte ihn in der dafür vorgesehenen Halterung vor ihm ab. Dann fuhr er langsam über den Parkplatz. Als er eine freie Parklücke direkt vor dem Spielplatz gefunden hatte, stellte er den Wagen ab und schaltete den Motor aus. Mulder öffnete die Augen, die bis jetzt geschlossen waren, als er den Duft des Fastfoods inhaliert hatte, und sah wie Skinner ihn fragend ansah.  Es war ihm peinlich, als er feststellte, dass er die Tüte fest an sich drückte, als ob er vermeiden wollte, dass jemand sie ihm wegnahm. Er hielt sie Skinner hin, der sich einen Burger und Pommes daraus nahm und sie dann zurückgab. Mulder nahm sich seine Mahlzeit und schob zögernd, aber froh wie ein Schneekönig die erste Pommes Frites in den Mund. Es gab nichts, entschied Mulder, das auch nur im Entferntesten mit Pommes und Burgern aus einem schmierigen Fastfood-Laden mithalten konnte.

 

Skinner hielt sich nicht lange mit seinem Essen auf, doch Mulder ließ sich Zeit und genoss es. Als sie fertig waren, sammelte Skinner den Müll auf und warf ihn in einen Papierkorb neben dem Auto. Als er sich wieder zu Mulder wandte, blickte dieser gedankenverloren auf die spielenden Kinder vor ihnen. Da war ein kleines Mädchen, ungefähr vier Jahre alt, mit rotblonden Haaren. Skinner seufzte innerlich. Er wusste, dass er sich quälte, weil er Scully einfach nicht loslassen konnte. Er fragte sich, wie lange ein Mann brauchen würde, um über die Frau hinwegzukommen, die er leidenschaftlich und mit all seiner Hingabe liebte—denn das empfand Mulder zweifellos für seine frühere Partnerin.

"Mulder", sagte er und fasste ihn leicht am Arm. Mulder drehte sich mit einem Blick zu ihm um, der dermaßen gequält aussah, was Skinner noch nie zuvor gesehen hatte. Er dachte, er hätte in Vietnam schon alles gesehen, doch damit lag er falsch. Kein Anblick traf ihn tiefer als der des blanken Schmerzes in diesen braunen Augen. Einen Moment später war er jedoch schon verschwunden, als Mulder Scully aus seinem Kopf verdrängte. Er konnte den Gedanken an sie jetzt nicht ausstehen. Er würde sich später damit auseinandersetzen.

Wortlos fuhren sie weiter. Nach einer halben Stunde wurde Mulder langsam müde. Er lehnte seinen Kopf auf die lederne Kopfstütze und merkte, dass er zum ersten Mal einschlafen konnte ohne fürchten zu müssen, im Schlaf weggeschleppt und... verletzt zu werden. Er blickte zu Skinner und ein seltsam ungewohntes Gefühl befiel ihn. Es war so lange her, dass er einen Moment brauchte, um zu erkennen, was es für ein Gefühl war.  Sicherheit. Es war ein Gefühl der Sicherheit. Bei Skinner fühlte er sich sicher.

  

Mulder erwachte mit einem Mal, als der Wagen zum Stehen kam. Perplex sah er sich in der Tiefgarage um. Skinner war bereits dabei, seine große Tasche aus dem Kofferraum zu ziehen, als Mulder zögerlich aus dem Auto stieg.

"Sir?" begann er stotternd, aber Skinner war anderer Meinung.

"Mulder, Sie arbeiten nicht mehr für mich, und Sie brauchen mich nicht so formell anzureden. Nennen Sie mich Walter." Er knallte den Kofferraum zu und schob Mulder in Richtung des Aufzugs.

"Wo sind wir, Sir—Walter?" fragte Mulder. Er hatte Mühe mit dieser ungewohnten Anrede. Er würde wohl etwas Zeit brauchen, bis es saß.

"Wir sind bei meiner Wohnung. Sie bleiben erst mal eine Weile bei mir, bis Sie wieder auf die Füße gekommen sind und das Geld erhalten haben."

Das Geld. Mulder wusste, dass er einiges geerbt hatte, als seine Mutter gestorben war—Scully hatte ihm bei einem ihrer letzten Besuche über den Willen seiner Mutter unterrichtet. Teena Mulder war zuversichtlich gewesen, dass Skinner und Senator Matheson irgendwann Erfolg haben und ihren Sohn aus dem Gefängnis holen würden, und hatte ihm all ihren nicht zu verachtenden Besitz hinterlassen. Sie hatte ihrerseits sowohl von ihren Eltern als auch von ihrem verstorbenen Mann Geld geerbt. Sie hatte jedoch ein bescheidenes Leben geführt, also hatte sich mit den Jahren durch Investitionen und Zinsen eine beträchtliche Summe angesammelt. Sie betrug, laut Scully, etwas über dreieinhalb Millionen Dollar. Mulder hatte das glatt umgehauen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass seine Eltern oder Großeltern so reich gewesen waren. Sie hatten überhaupt nicht den Anschein gemacht, aber rückblickend konnte er sich an eine oder zwei Gelegenheiten erinnern, an denen sie sich etwas gegönnt hatten, was bei dem Einkommen seines Vaters kaum möglich gewesen wäre.

Er war überrascht gewesen, dass sie nichts für Samantha hinterlassen hatte.  Seine Mine verdunkelte sich, als er erkannte, dass seine Mutter zweifellos über einige streng geheime Dinge Bescheid gewusst hatte. Er fragte sich, ob es damit zu tun hatte, dass sie sich sicher gewesen war, dass Sam nie zurückkommen würde. Er fragte sich auch, ob seine Mutter mit Scully darüber gesprochen hatte.

Jetzt, wo er aus dem Gefängnis war, sollte ihm das Geld legal überwiesen werden. Allerdings nahm Mulder an, dass es wie so vieles andere im Rechtssystem eine ganze Weile dauern würde. Nach dem Geständnis des wirklichen Mörders hatte es Monate gedauert, bis Skinner und Matheson seine Freilassung durchgebracht hatten. Es war eine neue Verhandlung nötig gewesen, und obwohl sie rasch verlaufen war, sobald sie einmal in Gang gesetzt war, hatten sie sich auf den Kopf stellen müssen, um sie erst einmal einberufen zu lassen. Mulder schien es, als ob das Rechtssystem nur widerwillig jemanden wieder loslässt, den es erst einmal eingekerkert hatte -- als ob man sichergehen wollte, dass dieser Jemand hundertprozentig etwas Unrechtes getan hatte und dementsprechend genau dort war, wo er hingehörte.

Mulder lag nicht sehr viel daran, mit einem Mal so viel Geld zu bekommen, aber während der Zeit, in der er sich entschied, was er mit dem Rest seines Lebens anstellen sollte, würde er Mittel brauchen um zu leben. Er konnte nicht wieder zurück zum FBI, das war klar. Irgendwie hatte Mulder seine Zweifel daran, dass das Bureau ihn wieder einstellen würde, trotzdem seine Unschuld bewiesen worden war. Und er war sich nicht sicher, ob er überhaupt zurückgehen wollte. Es würde nicht dasselbe sein ohne Scully.

Nichts war dasselbe ohne Scully.

Er folgte Skinner in den Aufzug und sie fuhren wortlos bis in den siebten Stock, wo sie ein menschenleerer Flur erwartete. Skinners Wohnung war nur ein Stück den Gang hinunter. Er schloss die Tür auf und ließ Mulder herein.  Mulder war ziemlich beeindruckt, dass die Wohnung seines früheren Chefs groß, geräumig und eigentlich ganz ordentlich und einladend war.

Skinner sah Mulder seine Überraschung an. "Eine Haushälterin kommt zweimal die Woche hierher." Skinner hängte seinen Mantel an den Haken hinter der Tür, als Mulder immer noch unschlüssig in der Tür stand.

Er gehörte nicht hierhin. Er gehörte nirgendwo hin. Es stimmte ihn missmutig, dass Skinner so viel dran setzen musste, um ihn aus dem Knast zu holen und jetzt wusste er nicht wohin er sollte. Er räusperte sich, "Si—

Walter, ich weiß nicht..."

"Was ist, Mulder?" fragte Skinner und sah ihn fragend an. Er wusste, dass es in der ersten Zeit sehr schwer für Mulder sein würde, und er hätte nicht im Traum daran gedacht, ihn in dieser Situation allein zu lassen. Er hatte genug in Mulders Freilassung investiert, um sich jetzt nicht für seinen ehemaligen Agenten verantwortlich zu fühlen.

"Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen", sagte Mulder mit gesenktem Blick und einer Stimme, die gerade etwas lauter als ein Flüstern war.

Skinner betrachtete den gebrochenen Mann vor ihm und wollte diejenigen auf der Stelle umbringen, die den willensstarken Menschen zerstört hatten, der Mulder einmal gewesen war. Eine Welle purer, blinder Wut durchfuhr ihn und er atmete tief durch, um sich im Zaum zu halten. Mulder brauchte jetzt keine Wut, es würde ihm nur Angst machen. Skinner musste jetzt ruhig und gelassen sein, so ruhig und gelassen wie er nur sein könnte. Sogar wenn der Drang ihn fast verbrannte, dem Raucher und allen anderen, die für Mulders Gerichtsverhandlung verantwortlich waren, ein für alle Male einen Strick um den Hals zu legen und ihn langsam Stück für Stück zuzuziehen.

"Sie sind keine Last, Mulder. Ich freue mich sogar über ein wenig Gesellschaft. Ich habe ein Gästezimmer mit Bad, also ist es nicht so, dass wir uns auf der Pelle hocken werden." Er hob Mulders Tasche auf. "Jetzt kann ich wenigstens mit jemandem samstagabends Football gucken", rief er über seine Schulter, als er den Flur herunter ging. Mulder folgte ihm nach kurzem Zögern, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte.

Sie gingen in das Gästezimmer, das Mulder wie benommen in Augenschein nahm. Einige seiner Sachen waren bereits hier—Bücher, persönliche Gegenstände, sogar sein Computer. Er war vollkommen geplättet, als er sah, wie viel Skinner augenscheinlich daran lag, dass er es hier gemütlich hatte. Es war offensichtlich keine Entscheidung von jetzt auf gleich gewesen. Skinner hatte genug Zeit gehabt, es sich anders zu überlegen und etwas anderes für ihn beschaffen können. Vielleicht hieß das ja, dass Skinner wirklich seine Gesellschaft wollte. Das Gefühl, erwünscht zu sein, war völlig neu für ihn.

Skinner warf seine Tasche auf das Bett und öffnete sie. "Ich habe heute Morgen einige Ihrer Sachen aus ihrem Bekleidungsbestand geholt", erklärte er. "Sie sind vielleicht ein wenig groß, bis Sie wieder etwas zunehmen, aber sie sind besser als das." Er deutete auf das nichtssagende Outfit, dass Mulder bei seiner Entlassung bekommen hatte.

Mulder sah sich im Zimmer um. Sein Blick blieb an dem großen Bett hängen— war das wirklich für ihn? -- und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er versuchte, seine überschäumenden Emotionen unter Kontrolle zu halten und atmete zitternd und tief durch. Skinner, der zu verstehen schien, dass er gerne allein sein wollte, nickte in Richtung des Nebenzimmers. Das sei sein Bad, sagte er zu Mulder, dann verschwand er in der Tür.

Sobald die Tür hinter Skinner ins Schloss gefallen war, gab Mulder den Kampf auf und ließ seinen Tränen freien Lauf. Er wurde von seinen Emotionen überwältigt. Allen voran empfand er ein fast erdrückendes Gefühl der Dankbarkeit Skinner gegenüber—ein Gefühl, das Mulder nach der langen Zeit in der Rolle des Opfers überhaupt nicht umsetzten konnte. Skinner hatte nie aufgegeben, bis Mulder freigelassen wurde. Er hatte nie aufgehört, an seine Unschuld zu glauben. Es wäre mit der Zeit so einfach für Skinner gewesen, Mulder im Gefängnis vor sich hin rotten zu lassen und sich um seinen eigenen Sachen zu kümmern. Aber das hatte er nicht getan.  Skinner hatte sein Vorhaben mit einer Entschlossenheit fortgesetzt, die Mulder einmal besessen hatte, und anders als er hatte Skinner in seinen Bemühungen Erfolg gehabt. Senator Matheson hatte zwar seinen Teil dazu beigetragen und die Schützen waren auch nicht untätig gewesen, aber Mulder wusste, dass Skinner der Grundstein der ganzen Operation gewesen war.

Hand in Hand mit der Dankbarkeit kam auch Traurigkeit, als er erkannte, was er alles verloren hatte. Dinge, die er nie zurückbekommen würde, oder die er sich nie zurückholen könnte. Seinen Job, seine Mutter, die letzten vier Jahre seines Lebens und vor allem.....

Langsam ließ es sich auf das Bett nieder und vergrub sein Gesicht in dem Laken, um die Tränen aufzufangen und das Schluchzen zu ersticken, als er rasch seine hart erkämpfte Kontrolle verlor. All die Angst, der Frust und die Verzweiflung brachen mit einem Male durch. Mulder konnte die Flut nicht mehr aufhalten. Wie ein Kind weinte er lange; jedes Mal, wenn er dachte, dass er sich gefangen hatte, übermannte ihn eine weitere Welle des Schluchzens, der er sich nur hilflos hingeben musste. Dann, endlich, streckte er sich völlig erschöpft auf dem Bett aus, genoss dessen Größe und schlief ein.

Skinner sucht in der Küche nach etwas nicht allzu Schwerem, das Mulder zumAbendessen zu sich nehmen könnte. Er wusste, dass er einen empfindlichen Magenhatte. Scully hatte sich immer Sorgen über die Appetitlosigkeit ihres Partners gemacht, und er fürchtete, dass Mulder nach dem Emotionsausbruch, den er aus dem Schlafzimmer hören konnte, lediglich eine leichte Mahlzeit zu Abend essen könnte. Die meisten Leute würden es gar nicht mitbekommen, aber er stand den beiden so nahe wie eh und je, und nachdem Mulder mit Scullys Hilfe seinen Hintern mehr als einmal gerettet hatte, waren sie regelrecht Freunde geworden. Freunde kümmern sich umeinander, so ist er erzogen worden, und genau aus diesem Grunde hatte er Mulder nie aufgegeben.  Das, und weil es sich absolut sicher war, dass Mulder unschuldig war. Sein Gesicht verhärtete sich, als das gedämpfte Schluchzen nicht enden wollte und immer weiter und weiter ging. Er ballte seine Hände zu Fäusten und musste dem Drang widerstehen, sie in die nächste Wand zu rammen.

  

Ein Klopfen an der Tür weckte Mulder. Er bemerkte, dass es schon spät war. Draußen war es bereits dunkel und sein Blick zur Uhr wanderte, war es 18.30 Uhr. Er setzte sich auf und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Augen waren rot und geschwollen, seine Nase zu und in seinem Kopf trieb ein Presslufthammer sein Unwesen.

"Herein", rief er und schnüffelte verstohlen, als Skinner den Kopf zur Tür hereinsteckte.

"In ein paar Minuten ist das Abendessen fertig", verkündete er und ignorierte die offensichtliche Tatsache, dass Mulder geweint hatte. "Wenn Sie möchten, können Sie duschen und sich umziehen."

Mulder saß bewegungslos auf dem Bett, unsicher was er als nächstes tun sollte. Skinner sah ihm seine Unentschlossenheit an, machte die Tasche auf und händigte ihm ein paar Sachen zum Umziehen. Mulder nahm die Kleidung dankbar an, stand auf und streckte seine steifen Gliedmaßen.

"Ich lasse Sie dann allein", sagte Skinner und zog sich zurück. Mulder öffnete neugierig die Tür zu dem Badezimmer und stellte erfreut fest, dass es recht geräumig war. Doch als er die große Wanne entdeckte, befielen ihn plötzlich wieder Erinnerungen an die Gefängnisduschen. Er kniff die Augen zusammen und für einen Moment war er wieder dort - er spürte den Drang, so schnell wie möglich sauber zu werden und wieder da rauszukommen, bevor jemand ihn findet, der nicht das Geringste dagegen hat, ihn leiden zu sehen. Mulder hasste es, dass die simple Aufgabe sich zu waschen tagein tagaus ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen gewesen war. Mit einem tiefen Seufzen ließ er diesen weiteren unerfreulichen Gedanken fallen und schwor, nie im Leben wieder eine Dusche zu nehmen. Er steckte den Stöpsel in die Wanne und ließ das Wasser so heiß wie möglich laufen. Von nun an bräuchte er sich auch nie wieder beeilen, bevor das lauwarme Wasser eiskalt wurde. Nie wieder.

Mulder schloss die Tür zum Badezimmer und sank mit dem erfreulichen Gedanken, endlich wieder Privatsphäre im Bad zu haben, dankbar in die Wanne. Natürlich dachte er nichts Falsches von Skinner, aber alte Vorsichtsmaßnahmen waren schwer wegzulegen. Es fiel ihm schwer, sich zu entspannen wenn die Tür nicht abgeschlossen war. Er hatte nicht viele Dinge in seinem Leben so genossen, dachte er, als er untertauchte und das heiße Wasser den Gefängnisgestank von seinem Körper waschen ließ. Dann griff er nach dem Shampoo, das Skinner bereitgestellt hatte, und nahm sich vor, gleich morgen früh zum Friseur zu gehen. Der Gefängnisfriseur war ein gutherziger Mensch, aber seine Haarschnitte waren keinen müden Dollar wert.  Sein viel zu kurzer Haarschnitt—für Mulders Geschmack—war zudem noch ungleich und zackig. Er wollte sich erst mal einen ansehnlichen Haarschnitt verschaffen und dann es solange wachsen lassen wie es ihm gefiel. Um die Bekleidungsvorschriften des Bureaus brauchte er sich immerhin keine Sorgen mehr zu machen.

Eine Dreiviertelstunde später erschien Mulder in frischen und bequemen Klamotten wieder in der Badezimmertür und sog den Duft des Essens ein, der ins Zimmer hineinströmte. Nach seinem Zusammenbruch zuvor hatte er gedacht, dass er seinen Appetit für den Rest des Abends los sein würde, aber Skinner hatte es mit was auch immer er vorbereitet hatte geschafft, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Als Mulder in die Küche kam, fand er ihn in Jeans und T-Shirt am Herd vor, und er konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. Selten hatte er ihn so legier gesehen.

"Fühlen Sie sich besser?" fragte Skinner nonchalant, wobei er innerlich über Mulders kleines Grinsen einen Freudentanz aufführte.

"Viel besser." Noch ein Fast-Lächeln. "Ich hätte nie gedacht, dass Sie so häuslich sind", sagte Mulder leise und senkte seinen Blick.

"Tja, niemand entkommt der Hausarbeit", sagte Skinner philosophisch.

"Setzen Sie sich, Mulder."

Mulder nahm an dem kleinen Küchentisch platz und beobachtete Skinner, der jeweils die Hälfte der Suppe in die beiden Schüsseln goss und den leeren Topf in die Spüle stellte. Mulder hatte bereits das Sandwich auf seinem Teller beäugt. Es war Mortadella mit Käse und einer dicken Schicht Mayonnaise und sah sehr verlockend aus.

Skinner setzte sich und deutete auf den Löffel neben Mulders Schüssel.  "Hauen Sie rein", sagte er und biss in sein eigenes Sandwich. "Es ist nichts Besonderes, aber es schmeckt."

"Es riecht gut", sagte Mulder schüchtern und rührte ein wenig in seiner Suppenschüssel herum, bevor er kostete. Er nippte langsam und genoss den salzigen Geschmack. Skinner nickte zufrieden.

Nachdem er ein paar Löffel gegessen hatte, wobei er nicht einmal vom Tisch aufgeschaut hatte, sagte Mulder endlich etwas. Er kam sich wie der letzte undankbare Volltrottel vor, weil er Skinner nicht ausreichend gedankt hatte dafür, dass er ihm das Leben gerettet, ihn zu sich genommen hatte und ihm das Gefühl von Sicherheit wiedergegeben hatte,

aber Worte schienen hier so unzureichend. Er holte tief Atem und versuchte sein Bestes.

"Sir, ich—Walter—ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie ich Ihnen danken soll..." begann er, doch Skinner schüttelte nur langsam den Kopf.

"Sie brauchen mir nicht zu danken, Mulder." Skinners Augen waren hinter seinen Brillengläsern freundlicher, als er sich je vorstellen konnte.

"Aber Sie haben so viel getan, so hart gearbeitet, um mich da rauszuholen..." protestiert Mulder. Er spielte betreten mit der Ecke der Tischdecke.

"Ich hasse Ungerechtigkeit, Mulder", schnitt Skinner ein. "Das ist der Grund, warum ich überhaupt beim FBI bin." Als Mulder nichts erwiderte, fuhr er gedämpfter fort, und Mulder merkte, dass Skinner selbst schmerzhafte Erfahrungen darüber gemacht hatte. "Außerdem hätte es genauso gut mich treffen können. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, in der Sie mir genauso heraus geholfen hätten, wenn ich für einen Mord, den ich nicht begangen hatte, ins Gefängnis gekommen wäre. Ich finde, ich war es Ihnen schuldig."

Mulders Kopf schoss bei diesem Kommentar in die Höhe. "Sie haben mir gar nichts geschuldet", sagte er verwirrt, "Sie haben uns mehr als einmal geholfen, Scully und mir..." Er verstummte, konnte den Satz nicht zu Ende führen.

Skinner seufzte innerlich. Er wusste, dass das der schwerste Teil sein würde. Früher oder später musste Mulder der Tatsache ins Auge sehen, dass Scully jetzt unerreichbar für ihn war. Er hoffte nur, dass er stark genug sein würde, damit umzugehen. "Mulder, ich weiß nicht, was zwischen Ihnen beiden passiert ist, warum Sie wollten, dass sie Sie nicht mehr besuchen kommt, aber ich weiß, dass sie, nachdem Sie fort waren.... fertig mit der Welt war. Sie hat Sie geliebt, Mulder, egal was Sie vielleicht denken."

Mulder hatte größte Mühe, seine Tränen im Zaum zu halten, doch wieder einmal verlor er den Kampf. Er wischte sie ärgerlich fort, als sie unaufhaltsam seine Wangen hinunter liefen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Er hasste es, dass er sein Schluchzen nicht zurückhalten konnte. Skinner stand auf und legte versichernd seine Hände auf Mulders Schultern und tröstete seinen alten Freund mit einer Umarmung. Skinner musste grinsen bei dem Gedanken, dass er hier in seiner eigenen Küche saß und einen weinenden Mann umarmte. Es war gut, dass er sehr weit oben wohnte und so vor neugierigen Blicken durch das Küchenfenster verschont blieb. Das würde nämlich völlig seinen Ruf als gestandener Ex-Marine ruinieren.

Er war noch nie jemandem mit einem mit einem so zerbrechlichen Gemüt begegnet, wie es der Mann vor ihm hatte. Für einen Moment fragte sich Skinner, ob Mulder das alles seelisch jemals überstehen würde. Doch gleich darauf schüttelte er diesen Gedanken ärgerlich ab, denn Mulder war stark und er hatte schon Krisen über Krisen in seinem Leben hinter sich gebracht. Mit Sicherheit würde er diese letzte, größte Hürde meistern, ohne daran zugrunde zu gehen.

"Wie soll ich...." stammelte Mulder unter Schluchzen, "... je ohne sie weiter machen? Ich brauche.... sie.... so sehr...."

"Ich weiß es nicht", sagte Skinner. Er wusste nicht, was er sagen sollte, "aber Sie werden es. Irgendwo in Ihnen ist die Stärke, die Ihnen in schweren Zeiten immer geholfen hat. Sie sind ein Kämpfer, Mulder."

"Aber was passiert.... wenn ein Kämpfer.... nicht mehr kämpfen will?" fragte Mulder, als er allmählich seine Kontrolle wieder erlangte. Er wischte sich mit den Handrücken über das Gesicht und starrte auf den Boden, während er auf die Antwort wartete.

Skinner hatte keine.

 

Er hatte an dem Tag so viel geschlafen, erst im Auto und später nachdem er sich ausgeweint hatte, dass er am Abend hellwach war. Nachdem er eine Stunde ohne ein Auge zuzumachen in dem frisch gemachten, komfortablen Bett gelegen hatte, setzte sich Mulder auf und machte die Nachttischlampe neben sich an. Er ging hinüber zum Bücherschrank, doch er fand nichts Interessantes. Ironisch grinsend ging er die Titel der Bücher durch, die ihm einmal gehört hatten. Bevor alles passiert war. Mulder schüttelte mit amüsiertem Ekel den Kopf als ihm auffiel, für welche Dinge er sich damals interessiert hatte. Jetzt schien es alles so unwichtig.

Irgendwann wandte er sich von den Büchern ab und setzte sich an den Computer. Er fragte sich, wie das Gerät nach all den Jahren wohl laufen würde. Als der Computer hochfuhr, erhellte sich die Mattscheibe und Mulder erstarrte. Das Bild, das er als Hintergrundbild ein paar Monate vor seiner Verhaftung installiert hatte, war so klar und deutlich wie am ersten Tag.

Ihre Mutter hatte das Bild gemacht, erinnerte er sich, als er die Augen schloss und tiefe, kontrollierte Atemzüge durch die Nase atmete. Sie waren zu dritt Mittagessen gegangen, um Scullys Geburtstag zu feiern, und er hatte ihr einen neuen Fotoapparat geschenkt. Mrs. Scully wollte ihn unbedingt als erste testen und verlangte, dass sie sich nebeneinander stellen und lächeln. Mulder erinnerte sich, wie er in der letzten Sekunde, bevor das Bild gemacht wurde, seinen Arm um Scullys Hüfte gelegt hatte, und wie Mrs. Scully ihm konspirativ zugezwinkert hatte kurz bevor sie auf den Knopf gedrückt hatte, der diesen Moment festhalten würde. Er hatte seinen Abzug des Bildes zu Frohike gebracht, der es gescannt und bearbeitet hatte und es ihm per e-Mail zugeschickt hatte. Mulder hatte es sogleich installiert, also war es das erste, das er sah, wenn er seinen Computer hochfuhr. Er hatte Scully nie davon erzählt.

Rasch fiel Mulder ein, wie man es einstellt und änderte das Bild in der Systemsteuerung, so dass er jetzt auf einen makellos weißen Bildschirm starrte. Er konnte jetzt noch nicht mit dieser Erinnerung umgehen. Er konnte das Bild aber auch nicht ganz löschen.

Mulder konnte sich nur vage an die Dateien erinnern, die er auf seiner Festplatte hatte, also sah er sie einer nach der anderen durch, um unbrauchbare zu löschen und sich wieder an das Arbeiten am Computer zu gewöhnen. Auf einmal saß er kerzengerade und zog scharf die Luft ein.

Er hatte sein Tagebuch völlig vergessen.

Er hatte nicht jeden Tag etwas herein geschrieben, nur wenn ein Fall besonders interessant oder aufwühlend war. Andere Gelegenheiten in seinem alltäglichen Leben waren auch mit Eintragungen vorhanden, und als er so auf den Bildschirm starrte, fühlte sich Mulder um Jahre zurückversetzt in seinen Erinnerungen, von denen er wünschte, sie genauso einfach aus seinem Gedächtnis löschen zu können, wie die Dateien von seiner Festplatte.

Er lag in einem Krankenhausbett, nachdem er kurz vor dem Ertrinken aus dem Wasser gezogen worden war, und das plötzliche Verlangen, Scully zu sagen wie er fühlte, hatte ihn überwältigt. Es war vielleicht den Medikamenten zuzuschreiben, die man ihm gegeben hatte, redete er sich zynisch ein. Aber dieses Gefühl hatte er ganz sicher nicht aufgrund der Mittel empfunden.

Nachdem er die Worte gesagt hatte, wusste er, dass er es nicht sollte. "Ich liebe Sie", hatte er gesagt, und ihre Reaktion war so vorhersehbar scullyhaft gewesen, dass er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte, als sie aus seinem Zimmer gegangen war. Er wusste, dass sie ihm zwar glaubte, es sich aber nicht eingestehen wollte. Sie liebte ihn auch. Dessen war er sich sicher. Es musste einfach so sein, nach allem, was sie zusammen gesehen und getan hatten. Die Hingabe, die sie füreinander hatten, war viel stärker als die in einer normalen freundschaftlichen Beziehung. Es war unumstritten. Er hatte sie nach ihrer Entführung nicht aus der Antarktis zurückgeholt, und sie hatte ihn nicht aus dem Bermuda Dreieck gerettet, weil sie gute Freunde waren, oder weil sie es als berufliche Pflicht empfunden hatten. Sie hatten es getan, denn indem sie den anderen bewahrten, bewahrten sie sich selbst.  Mit einem Mal erkannte Mulder, dass er bis zum Ende gehofft hatte, dass Scully und er eines Tages zusammenkommen würden.

Es brannte ihm in den Fingern, sein Tagebuch zu öffnen und es zu lesen, irgendwie sein altes Leben wieder zu berühren. Vielleicht konnte er einige erfreuliche Momente zurückholen, die zwar selten gewesen waren, die es aber gegeben hatte. Es waren zwar nur wenige gewesen und sie lagen immer weit auseinander, aber es hatte auf jeden Fall solche Momente gegeben - meistens hatten sie mit ihr zu tun gehabt. Er dachte ernsthaft darüber nach und gab schon fast nach, aber im Grunde wusste er, dass es keine so gute Idee war.  Er würde nie wieder Special Agent Fox Mulder vom FBI sein. Nie wieder würde er mit Dana Scully an seiner Seite die X-Akten untersuchen. Diese Zeit war für immer vorbei, entrissen und unerreichbar. All diese Tage und all diese Fälle, die er mit Scully verbracht und erlebt hatte, schienen ihm jetzt wie ein Traum, als ob sie nie passiert wären.

Ein Kloß machte sich in seinem Hals breit und er dachte wieder zurück an den Tag, an dem sie zum ersten Mal in sein Leben gekommen war. Sie war in seine Welt getreten mit einem Ausdruck der Verwunderung auf ihrem Gesicht.  War es Verwunderung über seine Arbeit, oder Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit? Sogar jetzt war er sich nicht sicher. Scully hatte nie wirklich an die Dinge geglaubt, die sie gesehen hatten, denn ihre rationale Denkweise hielt sie einfach davon ab. Sie war jedoch eine echte Partnerin gewesen, die immer zu ihm hielt und ihm half, sogar wenn sie nicht unbedingt verstand, was vor sich ging. Sie waren so jung gewesen, so unschuldig, und das Wissen, das sie besessen hatten, hatte gerade mal an der Oberfläche von den Tiefen geschabt, die sich bis heute aufgetan hatten.  Die Kriminellen waren nichts weiter als das—Kriminelle. Nicht wirklich böse. Rückblickend konnte er den genauen Moment nennen, in dem sie für ihn böse geworden waren. Es war der Moment, in dem er erkannt hatte, dass 'Die' ihm Scully weggenommen hatten. Dass es nicht nur Duane Barrys verrückte Aktion gewesen war. Und in genau der Sekunde ist es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen.

Sein Blick glitt über die Eintragungen von 1998. Er wusste genau, in welcher seine Gedanken über sein Geständnis zu Scully standen. Er war so froh darüber gewesen, dass er endlich den Mut gefunden hatte, es ihr zu sagen, doch er war gleichzeitig auch enttäuscht gewesen, dass sie ihn danach nie darauf angesprochen oder es irgendwie sonst erwähnt hatte.

Vielleicht hatte sie es ihm nicht geglaubt, vielleicht hatte er seine Hoffnungen zu hoch geschraubt. Scully hatte ihn geliebt, verdammt, das wusste er. Sogar, als er sie aus seinem Leben geworfen hatte, hatte er ihre Liebe noch lange danach spüren können. Und dann war eines Tages Skinner gekommen, der ihm die schrecklichen Neuigkeiten gebracht hatte...

Er bewegte den Cursor zu dem Tagebuch-Icon. Übelkeit kam in ihm auf und er überlegte, ob er es sich überhaupt antun sollte. Wenn er es jetzt lesen würde, würde er sie glatt noch einmal verlieren. Entschlossen schüttelte er den Kopf und ließ es bleiben. Er klickte auf den Ordner mit den Tagebuch-Einträgen und löschte ihn unwiderruflich. Genau wie das Leben, das sie repräsentierten. Genau wie Scully.

Letztlich hatten sie sich doch nicht gegenseitig retten können.

Mulder starrte für einen Moment auf den leeren Fleck, auf dem zuvor etwas gewesen war, das für all die schönen Dinge in seinem Leben stand. Alles zusammen in sechs—viel zu kurzen—Jahren. Gott, nur ein so kleiner Prozentsatz seines Lebens war glücklich gewesen. Es war sie. Sie war der Grund. Ihre Freundschaft war die einzige, die ihm etwas bedeutet hatte. Erinnerungen wallten ungebeten auf, Erinnerungen an die Meinungsverschiedenheiten, die Fälle, ihr seltenes Lächeln... der Schmerz war fast unerträglich.

Und dann schlug es ein wie eine Bombe aus dem Nichts.

"Oh, Gott, Scully, was habe ich getan?" Er sprang von dem Computer zurück und verlor fast das Gleichgewicht. Er starrte auf den Monitor und seine Augen füllten sich mit noch mehr Tränen. Weg. Sein ganzes Leben war mit einem einzigen Klick einer Maus weggewischt. 'Oh Scheiße!' schoss es ihm durch den Kopf. 'Oh Gott NEIN!'

Ein gellender Schrei aus Mulders Zimmer riss Skinner aus seinem Bett. Er rannte den Flur hinunter und alle Sorge, Mulder eventuelle Peinlichkeiten zu ersparen, verließen ihn bei der Verzweiflung, die er hörte. Er warf die Schlafzimmertür auf und suchte nach der Ursache, aber soweit er sehen konnte, war alles in Ordnung. Kein Blut, keine Explosion, nichts. Nur Mulder, der wie wahnsinnig auf die Tastatur seines Computers hämmerte.

"Mulder, was ist los? Was ist passiert?" Nichts. Mulder schien gar nicht zu merken, dass er im Zimmer war. Skinner kam auf Mulder zu und merkte, dass er etwas vor sich hin sprach. Was sagte er da? Er wurde nicht ganz schlau daraus.

"Oh Gott nein! Das hab ich nicht gewollt! Scheiße! Gib's wieder her!" Mulder holte mit dem Arm aus, um den Computer vom Tisch zu fegen, doch Skinner ergriff noch rechtzeitig und drehte Mulder in dem Stuhl zu ihm.

"Mulder, was ist los? Was zum Teufel ist passiert?"

Doch Mulder starrte ihn nur an. Sein Mund öffnete und schloss sich, doch kein Ton kam heraus. Skinner griff seine Schultern und sah ihm mit festem Blick in die Augen, um ihn zum Reden zu bringen. "Beruhigen Sie sich. Atmen Sie tief durch. Nochmal. Und noch einmal." Mulders Augen wurden wieder klarer und zu Skinners Erleichterung fügte er sich. Als sich Mulder wieder gefasst hatte, fragte er noch einmal, "Was ist los?"

"Ich.... ich... hab's gelöscht. Alles! Ich wollte es nicht und jetzt ist alles weg.... einfach so..."

Skinner blickte verwirrt auf den Computer, dann wieder auf Mulder. "Es ist

nicht gelöscht, Mulder, es ist nur im Papierkorb. Da kann man es wiederherstellen."

Doch Mulder schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe keinen Papierkorb, ich habe es so eingestellt, dass alles sofort ganz gelöscht wird."

"Okay, nur die Ruhe, keine Panik. Gerade Sie müssten wissen, dass nichts wirklich verschwindet." Er ging zum Telefon und wählte. Nach einer kurzen Pause, "Hi, ich bin's. Bitte kommen Sie schnell her. Ja, gut, es gibt nur ein Problem mit seinem Computer."

Zwanzig Minuten später öffnete er einem verschlafenen Byers die Tür. Die Schützen waren ihm während der Zeit, in der Mulder im Gefängnis war eine große Hilfe gewesen - sie waren eine unglaublich große Hilfe gewesen in moralischen und technischen Dingen. Sie hatten sich mit Skinner abgewechselt, so dass Mulder jeden Samstag Besuch hatte, um Unterlagen durchzugehen und zu helfen wo sie nur konnten. Und im Laufe der Zeit waren sie ebenso Freunde von Skinner geworden.

"Hey, Mulder, wie gehts?" war alles, was Byers von sich gab, als er ins Zimmer kam.

Mulder seufzte und erklärte, was passiert war. Byers hörte genau zu.

"Also, du hast ihn nicht ausgemacht?"

"Nein." Mulder vergrub sein Gesicht in seinen Händen. "Ich kann nicht glauben, dass ich so etwas Idiotisches gemacht habe."

"Ach, kein Problem", sagte Byers heiter. "Das passiert jedem mal." Er schob Mulder vom Computer weg und setzte sich davor. Mit lautem Geklapper der Tastatur verließ er Windows und ging ins DOS-System. Er machte ein paar Mal 'uh-huh, hmmm', aber das war auch das einzige, was man im Raum außer der Tastatur hören konnte.

"Hier", kündigte er ein paar Minuten später an. "Welche Ordner willst du wieder haben?"

"Du hast sie gefunden?" fragte Mulder eifrig und beugte sich über den Computer."Ich weiß nicht mehr genau, wie sie heißen, aber sie fangen alle mit einem 'j' an und enden auf '.txt'."

Wieder flogen Byers Finger über das Keyboard und ein paar weitere Minuten später war alles wiederhergestellt.

"Fertig", grinste er, stand auf und winkte Mulder zurück in den Stuhl.

Mulder begann sofort, ein paar Dateien zu öffnen und überzeugte sich, dass auch wirklich alles da war. "Danke", warf er über seine Schulter, als Skinner und Byers sich leise zurückzogen.

"Wie geht es ihm?" fragte Byers, als sie ins Wohnzimmer kamen. "Wir haben uns gedacht, dass es das Beste wäre, wenn wir ihn nicht gleich am ersten Tag überfallen."

Skinner seufzte abermals. "Besser als erwartet, aber nicht so gut, wie ich's gehofft hatte. Ich versuche, ihn zu beruhigen."

"Scully?" fragte Byers neugierig, doch Skinner schüttelte warnend den Kopf.

"Im Moment kein gutes Thema für eine Unterhaltung."

"Sie hat nicht angerufen?"

"Nein, und ich bezweifle, dass sie es tun wird. Ich würde sie sowieso nicht

mit ihm reden lassen, selbst wenn sie anruft. Er wäre noch zu viel für ihn."

Byers gähnte ausgiebig, nickte und machte sich auf zu Gehen. Skinner blickte noch einmal über den Flur auf das Gästezimmer, doch ging dann schließlich in sein eigenes Zimmer, um zu schlafen und ließ Mulder in Ruhe.

  

Mulder hatte schon eine Woche Freiheit genossen bevor Skinner endlich den Nerv gefunden hatte, das Thema anzuschneiden. Er freute sich überhaupt nicht auf Mulders Reaktion; er fürchtete, dass er denselben Ausdruck in seinen Augen sehen würde, den er hatte, wenn Scully ins Gespräch kam.  Skinner kannte und fürchtete diesen Ausdruck, denn er wusste, dass Mulder sich stundenlang ohne etwas zu sich zu nehmen in seinem Zimmer einschließen würde. Seufzend und mental die Daumen drückend sprach Skinner das Thema eines Tages nach dem Frühstück an. Jetzt, wo Mulder wieder frei war, würde er einer Menge Probleme ins Auge sehen müssen—und dieses war eines der schlimmsten.

"Mulder, ich habe über etwas nachgedacht."

Mulder hob den Kopf von seinem Teller, auf dem er sein Rührei hin und her geschoben und so getan hatte, als würde er essen. Er legte die Gabel beiseite und sah Skinner erwartungsvoll an.

Er hatte eine schlimme Nacht mit Alpträumen hinter sich, und Skinner fragte sich insgeheim, wie viele davon vom Gefängnis und wie viele von anderen grausamen Erinnerungen handelten, die ihn nicht losließen. Er hatte die Schreie in Mulders Zimmer gehört und zuerst geschwankt bei der Entscheidung, zu ihm zu gehen und ihn zu beruhigen oder ihn allein zu lassen, damit er selbst damit fertig werden konnte. Die Antwort auf die Frage bekam er, als er vor Mulders Tür gestanden hatte und sein gedämpftes Schluchzen mitanhören musste, das von dem Kissen nicht völlig verschluckt werden konnten. Skinner hatte sich umgedreht und war leise zurück in sein Zimmer gegangen, um ihm seine Würde zu lassen. Er konnte nichts für ihn tun.

"Sie waren noch nicht beim Grab Ihrer Mutter", sagte Skinner ruhig. "Soll ich Sie hinfahren?"

Mulder wich alle Farbe aus seinem Gesicht und er begann, nervös seinen Toast in kleine Stücke zu zerreißen, die er auf den Teller neben den ungegessenen Rühreiern fallen ließ. Mulder starrte auf das Durcheinander auf seinem Teller und nickte stumm. Eigentlich wollte er, nachdem er freigelassen worden ist so früh wie möglich zu seiner Mutter gehen, aber Skinner hatte schon so viel für ihn getan, da wollte er nicht fragen. Er hatte kein eigenes Auto mehr und er wollte Skinner nicht um seinen Wagen bitten. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er nach all den Jahren überhaupt noch fahren konnte—obwohl man so was eigentlich nie ganz verlernt.

Der Gedanke daran, sich hinters Steuer zu setzen und mit dem Stadtverkehr herumzuschlagen, macht Mulder Angst. Und die Idee, am Grabe seiner Mutter zu stehen, gezwungen ihren Tod zu akzeptieren, erschreckte ihn ins Unermessliche. Bis jetzt hatte er es geschafft, diesen Gedanken genauso wie viele andere schmerzhafte Erinnerungen zu verdrängen, und er hatte sich eingeredet, dass sie am Leben war und dass es ihr gut ginge. Es war ja nicht so, als ob er sie oft gesehen oder mit ihr geredet hatte, bevor....  Trotzdem - er wusste, dass sie immer für ihn da gewesen war, wenn er sie brauchte. Und jetzt.....

Er schluckte. Er wollte jetzt auf keinen Fall wieder anfangen zu heulen.  "Ja, das würde ich gerne tun, Sir." Er konnte sich nicht daran gewöhnen, seinen ehemaligen Chef mit seinem Vornamen anzureden, und ihn einfach 'Skinner' zu nennen, stand außer Frage.

Skinner seufzte innerlich bei dem 'Sir'. Wann würde Mulder endlich dazu übergehen, ihn als Freund anzusehen, und nicht als strikten Vorgesetzten?  Er nahm an, dass es schwer für ihn war, im selben Haus mit dem Mann zu leben, der vorher eine zu respektierende Autorität war, doch er hoffte, es würde sich mit der Zeit geben.

"Gut, dann können wir fahren, sobald wir hier fertig sind", sagte Skinner und aß weiter. "Es ist nicht weit. Wir haben sie hier in der Nähe begraben.  Ich dachte mir, dass Sie es so vorziehen würden."

Mulder musste lächeln. Es versetzte ihn immer wieder in Erstaunen, dass Skinner weder in seiner Entschlossenheit sein Gewissen zu beruhigen nachgab, noch aufhörte, fest daran zu glauben, dass er ein es eines Tages schaffen würde. Mulder hatte die Hoffnung jemals frei zu kommen schon lange aufgegeben, als Skinner mit der unglaublichen Nachricht gekommen war, dass der wirkliche Mörder gefasst worden sei. Er hatte offensichtlich wieder zugeschlagen—dieses Mal aus eigenen Motiven—und als man seine Wohnung durchsucht hatte, hatte man Beweisstücke gefunden, die auf den Mord verwiesen, wegen dem Mulder einsaß. Weil sie ihn bei seinem letzten Mord auf frischer Tat ertappt hatte, hatte ihn das D.A., beeinflusst durch einen hoch stehenden Senator und einem Assistant Director des FBI, zu einem Geständnis bewegt, das sowohl seinem Seelenfrieden, als auch—in seinem Fall—seiner Gesundheit wohl tat. Sie versicherten ihm, dass wenn er gestehen und demzufolge Mulder entlasten würde, er der Todesstrafe entkommen würde. Der Anwalt des Verdächtigen war sich im Klaren, dass sein Klient höchstwahrscheinlich einer Verurteilung oder sogar einer Exekution nicht entkommen würde, also hatte er ihm geraten, auf den Deal einzugehen und alle Hebel für Mulders Freilassung wurden in Bewegung gesetzt.

Das war alles, was man Mulder über die ganze Geschichte erzählt hatte. Er wollte auch gar nicht mehr wissen. Jedes Mal, wenn Skinner ihn darauf ansprach, wechselte Mulder das Thema. Manche Dinge, fand Mulder, vertrugen keine Diskussionen. Er wusste nur, dass es jetzt ein freier Mann war und dass er lieber sterben würde, als jemals wieder zurück zu müssen.

 

Als sich ihr Wagen dem Friedhof näherte, fühlte Mulder wie die Kälte in ihm mehr und mehr zunahm, bis er sich schließlich vorkam, als wäre er völlig gelähmt. Sein Verstand versuchte verzweifelt dem zu entkommen, was Mulder eigentlich zu akzeptieren versuchte. In seinen Händen hielt er einen Strauß pinkfarbener Rosen fest umklammert—es waren die Lieblingsblumen seiner Mutter gewesen. Die spärliche Unterhaltung, die er und Skinner während der Fahrt gehabt hatten, hatte sich vor einigen Meilen ganz verlaufen. Jetzt befiel ihn wieder die gewohnte Tunnelvision. Sein Atem ging schwerer, und er wusste, dass er den Rest des Tages brauchen würde, um sich von diesem Alptraum wieder zu erholen.

"Sie liegt hier drüben", sagte Skinner und zeigte auf einen großen Grabstein nicht weit von ihnen entfernt. "Sieht aus als ob S.... jemand kürzlich hier gewesen ist." Gerade noch rechtzeitig konnte er es verhindern, Scullys Namen zu äußern. Was Mulder jetzt am wenigsten brauchte, war eine Erinnerung an die Liebe, die er verloren hatte. Skinner merkte, dass er jetzt die einzige Verbindung zu Mulders vorherigem Leben war, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Mulder auch die Stricke zu ihm durchtrennen würde, um wirklich so viele Erinnerungen wie möglich auszulöschen. Irgendwie schien es ihm unumgänglich. Er hatte den Mann immer gut leiden können, aber erst durch die letzte Woche hatte er erkannt, wie sehr er ihn in den vier Jahren vermisst hatte. Wie sehr ihm die Diskussionen gefehlt hatten, die sie immer in seinem Büro über Fälle geführt hatten, wie sehr er seinen leidenschaftlichen Einsatz und brennende Intensität vermisst hatte. Mulder war einer der stärksten Persönlichkeiten, die er jemals getroffen hatte—zumindest war er es einmal gewesen. Als er nun beobachtete, wie er über den Friedhof zum Grab seiner Mutter ging, machte er einen sehr müden Eindruck. Müde und traurig. Kein Funke des alten Mulders war mehr in ihm zu sehen, obwohl Skinner Spuren von ihm während der einen Woche in Freiheit schon gesehen hatte. Er war davon überzeugt, dass der Mulder, den er gekannt hatte, noch irgendwo in ihm schlummerte, und er war fest entschlossen alles zu tun, um ihn wieder hervor zu holen. Andererseits, Mulder war ohne Scully irgendwie... 'unvollständig'. Das war ein zu banales Wort, um zu beschreiben, was Mulder jetzt war. Zerbrochen. Ja, das war es. Mulder war zerbrochen. In Stücke gerissen.

 

Mulder näherte sich beklommen dem Grab seiner Mutter. Er wusste, dass er sich verdammt nochmal zusammenreißen musste, aber er wusste auch, dass es ein richtiger Zug war. Etwas, dass er tun sollte. Etwas, dass er tun musste.  Neben dem Grabstein stand ein Topf mit Nelken und Mulder fragte sich, wer die wohl gebracht hatte. Doch nicht etwa....?

Diesem Gedanken ging er ebenfalls aus dem Weg und kniete neben dem Stein, auf dem er die Konturen der Buchstaben sanft mit dem Finger nachfuhr. Teena Mulder. 'Geliebte Mutter' stand dort. Er dachte über diese Worte nach. Ja, er hatte sie geliebt, wie jeder Sohn seine Mutter liebt. Er wollte auch glauben, dass sie ihn ebenfalls geliebt hatte, er sehnte sich nach Zuwendung und Zärtlichkeiten. Wenn sie doch nur da gewesen wäre an seiner Seite, wären die schrecklichen Erfahrungen der letzten zehn Jahre vielleicht leichter zu ertragen gewesen. Doch sie war einfach nicht diese Art Mutter gewesen. Sie schien immer eher zurückhaltend und kühl - erst recht nach Samanthas Verschwinden. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, wäre er jetzt vielleicht nicht da, wo er nun mal war. Er hätte vielleicht nicht etliche Jahre damit verbracht, eine schwer zu ergreifende Wahrheit zu suchen, die er nie gefunden hatte. Eine Wahrheit für seine Schwester, von der er jetzt wusste, dass er sie nie finden würde.—dann hätte er vielleicht nicht die letzten vier Jahre seines Lebens verloren. Dann hätte er vielleicht nicht Scully verloren.

"Mom", flüsterte er leise, fast ängstlich zu laut zu sprechen, doch er empfand das Bedürfnis, mit ihr zu reden. "Ich vermisse dich. Ich wünschte, dass alles zwischen uns..... anders gewesen wäre, einfacher. Ich wünschte... ich wäre für dich da gewesen, Mom. Ich wünschte.... " seine Stimme schwankte und er musste aufhören, bevor er zusammenbrach. Er ließ sich aus der Hocke auf den Boden nieder, zog die Knie an seine Brust und legte seine Arme darum. Mulder starrte ins Leere, als er sich schutzsuchend umschlang und an die Zeiten in seinem Leben dachte, in denen seine Mutter ihre Liebe für ihn gezeigt hatte. Davon hat es nicht viele gegeben, doch jetzt hielt er verzweifelt an den wenigen Malen fest, an die er sich erinnern konnte. Er musste an die schönen Dinge an ihr denken. Er konnte sie fast nach ihm rufen hören, als er sich seinen Erinnerungen hingab, die so greifbar waren, dass sie ihn reizten und unaufhörlich plagten.

So saß er da für eine lange Zeit, in der er gelegentlich die Augen schloss, wenn es zu schmerzhaft wurde, bis er nach und nach wieder zurück zur Wirklichkeit gelangte und schuldbewusst an Skinner dachte, die persongewordene Geduld, die auf ihn wartete. Er blickte hinüber zu dem Wagen, wo Skinner still für sich ein Buch las. Mulder bewunderte immer noch alles, was sein früherer Boss für ihn getan hatte. Er war sich nie sicher gewesen, ob Skinner ihn je gemocht hatte, aber jetzt hatte er den Eindruck, dass er es wirklich tat. Der Gedanke gab ihm etwas innerliche Wärme, die er nach der Kälte des Morgens dankbar willkommen hieß.

Mulder erhob sich und klopfte den Schmutz von seiner Hose. Es war an der Zeit sich zu verabschieden. Traurig stellte er fest, dass er sie im Grunde kaum gekannt hatte—er vermisste sie mit einer schmerzenden Einsamkeit, die er nie erwartet hätte. Als er zurück zum Auto ging, dachte er beiläufig, dass er sich neue Sachen zum Anziehen besorgen musste. Diese hier waren immer noch viel zu groß.

Skinner sah auf und steckte wortlos sein Buch weg, als er ihn kommen sah.  Er bemerkte Mulders feuchte Augen, doch er sah auch, dass sein Gesicht frei von vergossenen Tränen war. Skinner schickte innerlich ein Dankesgebet zum Himmel—er hatte befürchtet, dass dieser Besuch zu viel für ihn sein könnte, doch offensichtlich war er so stark, wie vermutet hatte. Es war vielleicht sogar das, was Mulder gebraucht hatte, um wieder anfangen zu leben, dacht er, als er den Wagen nach Hause lenkte.

"Wissen Sie, wer die Blumen an ihr Grab gebracht hat?" fragte Mulder plötzlich. Skinner dachte nach, bevor er antwortete.

"Nein", log er ohne eine Miene zu verziehen. Er hatte nicht vor, Scully in Mulders Gegenwart zu erwähnen. Nicht heute. Sogar jetzt nicht, wo Mulder gerade so stark war. Ein Mann kann nur ein gewisses Maß an Schmerz ertragen. Er biss die Zähne zusammen, als er sich bemühte, einen plötzlichen Emotionsstoß vor dem Mann an seiner Seite zu verbergen.

Gott verdamme sie alle, dachte er mit innerlich rasender Wut. Sie sollen alle zur Hölle fahren. Mulder hat das nicht verdient. Scully hat das nicht verdient. Zusammen hätten sie so viel erreichen können, wenn man ihnen nur die Chance gegeben hätte.

Mulder hatte seit Jahren viel für Scully empfunden, so viel war klar.  Mulders Gefühle waren oftmals wie ein offenes Buch. Skinner war sich nicht sicher gewesen, ob sie auch so fühlte. Bis zu dem Tag von Mulders Gerichtsverhandlung. Ihre Hingabe zu ihrem Partner in der Zeit und ihre ausgesprochene Niedergeschlagenheit, nachdem Mulder in Ketten von ihr weg geführt worden war, haben alle möglichen Zweifel vernichtet. Scully liebte Mulder ebenfalls.

Deshalb war es so schwer zu verstehen, warum sie getan hatte, was sie getan hatte.

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