World of X

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Ahead of Twilight - Wenn das Zwielicht fällt (1)

von Texxas Rose

Kapitel 2

Dana Scully Morrow saß noch lange nach Mitternacht in ihrem Zimmer am Schreibtisch. Alles war nun still im Haus, ihr Mann und ihre Stieftochter schliefen. Sie war nach stundenlangem Herumwälzen aus ihrem Bett gekrochen, denn sie hatte einfach keinen Schlaf gefunden. Es war soweit. Morgen musste sie den Anwalt anrufen, der Mulders Treuhandvermögen verwaltete und sie musste ein Treffen mit Mulder und dem Anwalt arrangieren, um dem rechtmäßigen Besitzer die Vollmacht über das Geld zu übertragen. Nach diesem Treffen würde ihre letzte Verbindung zu Mulder durchtrennt sein.

Das Bild in ihrer Hand wies schon Spuren der Abnutzung auf. Dana hielt es immer gut versteckt. Es hatte einen besonderen Platz in ihrer dritten Schreibtischschublade, zwischen den Seiten der 'M'-Worte in ihrem Wörterbuch. 'M' für Mulder. Es war ein Foto von den beiden, das ihre Mutter einmal gemacht hatte, auf dem Mulder spielerisch einen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte. Sie wusste, dass Mulder das Bild auf seinem Computer hatte—

Frohike hatte er ihr vor Ewigkeiten geflüstert. Sie wusste auch, dass sie eigentlich überhaupt nichts von dem Bild wissen sollte. Sie lächelte traurig, als sie sich an die alten Zeiten erinnerte. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und blickte wehmütig ins Leere, als sie die Pfade der Erinnerung zurück ging zu ihrer Partnerschaft, die sich in Freundschaft und letztendlich in Liebe vertieft hatte. Wären sie ein normales Paar gewesen, hätten sie zweifellos geheiratet und bis jetzt einige Kinder gehabt, doch bei Mulder war nichts normal. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass den regulären Alltag zu opfern der Preis dafür war, ihn in ihrem Leben zu haben. Sie hatte schon oft daran gedacht, sich jetzt zur Ruhe zu setzen und über die Dinge zu schreiben, die sie in der Zeit—relativ kurzen Zeit— erlebt hatten, und vom Schreiben zu leben. Sie beide hatten sicherlich mehr ungewöhnliche und unerklärbare Dinge gesehen, als irgendjemand anderes.

Sie dachte an die Zeiten, in denen sie niemand anderem vertraut hatten, sondern nur sich gegenseitig; nie wissend, wer auf ihrer Seite stand, aber immer mit der Sicherheit des unerschütterten Vertrauens ineinander. Es hatte ihnen geholfen, als nichts anderes es tat—das Gewissen, dass wenn alles drunter und drüber ging, es immer noch diese eine Konstante gab, auf die sie sich immer verlassen konnten. Dana wusste, dass sie nie die Kraft oder den Mut dazu gehabt hätte, gegen ihren Krebs zu kämpfen, wenn Mulder sie nicht ununterbrochen mit seiner Entschlossenheit dazu gebracht hätte, alles Menschenmögliche zu tun, um zu helfen. Letzten Endes war er derjenige, daran glaubte sie fest, der ihr das Leben gerettet hatte. Er hätte bestimmt nicht das erste Jahr im Gefängnis überlebt, wenn es nicht ihre Besuche gegeben hätte, auf die er sich regelmäßig freuen konnte, und ihre Liebe, auf die er sich verlassen konnte. Zumindest hatte er das, bis....

Entschieden legte sie das Bild wieder zurück, schloss die Schublade vor neugierigen Augen ab und verließ den Raum.

Die alten Zeiten waren jetzt vorbei.

Sie schlenderte in die Küche, und weil sie immer noch nicht müde war, machte sie sich eine Tasse Kakao. Während sie am Tisch saß und an dem Getränk nippte, sah sie ihr Spiegelbild, das sich im Glas zum Innenhof spiegelte. Wer war diese Frau? Sie sah so alt aus, irgendwie, und traurig.  Mit einem Kopfschütteln merkte Dana, dass sie älter und betrübter war als vor einigen Jahren. Seit Mulder im Gefängnis war, hatte sie mehr und mehr das Interesse am Leben verloren. Stattdessen hatte sich eine weite Leere in ihrem Inneren breit gemacht, die sie mit allen Mitteln zu füllen versuchte. Doch mit nicht sehr großem Erfolg. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist seit ihrer Heirat mit Zachary Morrow etwas angespannter geworden, aber Margaret Scully hatte es schließlich akzeptiert und ihr viel mit ihrer neuen Enkeltochter geholfen. Zachs Tochter war liebenswert und eine kleine Schönheit und Maggie hatte sie ebenso schnell lieb gewonnen wie Dana. Mit der Zeit hatte sich ihre übliche Mutter-Tochter Verbundenheit wieder gefunden, doch beide wussten voneinander, dass sie trotzdem nicht anders über die Sache dachten. Maggie Scully hatte sich so sehr Fox Mulder als Schwiegersohn gewünscht, und sie hatte Zachary nie völlig akzeptiert.  Dana wurde es klar, dass es nie anders sein würde, und alsbald sie sich über diese Angelegenheit einigermaßen ausgesprochen hatten, war dieses Thema nie wieder zur Sprache gekommen. Dana wusste, dass sie großes Glück hatte, eine Mutter zu haben, die sie liebte und die zu ihr hielt, sogar wenn sie Dinge tat, die sie enttäuschten. Niedergeschlagen fragte sie sich, ob für Mulder vielleicht nicht alles anders gelaufen wäre, wenn seine Mutter ähnlich hinter ihm gestanden hätte.

Sie hatte schon immer eher undankbare Gedanken gehabt, was Mrs. Mulder anging. Ihr Kontakt mit ihr war immer beschränkt gewesen und in den Zeiten, in denen eine Mutter immer an der Seite ihres Sohnes sein sollte—wenn Mulder krank oder verletzt gewesen war—war sie nie da gewesen. Sie wusste, dass die Beziehung zwischen ihrem Partner und seinem einzigen Elternteil mehr als nur gespannt gewesen war, und es war nie ein Gesprächsthema gewesen, über das sie sich beide gerne ausgelassen hätten.  Wegen dieser Erkenntnis war Dana auch so überrascht gewesen, als Teena Mulder nicht lange nach der Inhaftierung ihres Sohnes zu Besuch aufgetaucht war.

"Ich bin gekommen, um mit Ihnen über eine sehr ernste Angelegenheit zu sprechen, Miss Scully", hatte sie gesagt, nachdem Scully ihr in der kleinen Küche ihres Apartments Kaffee eingeschenkt hatte.

Scully hatte sich überrascht mit hochgezogenen Augenbrauen zurück gelehnt und gewartet. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Mrs. Mulder mit ihr besprechen wollte, das sie als 'ernste Angelegenheit' betrachtete.

"Ich weiß, dass Mr. Skinner mit ein wenig Unterstützung von Ihnen, wie ich vermute, versucht, die Unschuld meines Sohnes in diesen lächerlichen Anschuldigungen zu beweisen", war die Frau fortgefahren. Scully nickte und in ihr tat sich die Frage auf, ob die nicht aufhörende Hilfe und Liebe, die sie für Mulder hatte, als 'ein wenig' Beitrag zählte.

"Ich habe keine Zweifel daran, dass er eines Tages Erfolg haben wird, doch ich bin dennoch realistisch. Es könnte Jahre dauern, bis Fox wieder hier ist, und auch wenn er nach Hause kommt, wird er nicht in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen—zumindest nicht für die erste Zeit. "

"Mrs. Mulder, ich verstehe nicht... "

"Dann lassen Sie es mich Ihnen erklären, junge Dame", hatte Teena sie abrupt unterbrochen. "Ich werde nicht ewig leben. Ich hoffe, dass ich dann noch leben werde—ich habe es sogar vor—wenn Fox frei gelassen wird, aber falls das nicht der Fall ist... "

"Möchten Sie, dass ich mich um Mulder kümmere?" hatte Scully verwirrt gefragt.

Mrs. Mulder seufzte leise. "Ich habe mein Testament gemacht. Etwas, das ich noch nie zuvor gemacht habe." Sie zuckte leicht mit den Schultern. "Ich habe immer gedacht, dass Fox sich um solche Details kümmern würde. Er war eine so große Hilfe, als sein Vater gestorben ist. Und jetzt scheint es, als ob er nicht da sein wird."

Scully rutschte beklommen auf ihrem Sitz. Sie fragte sich, ob Mrs. Mulder sie bitten würde, sich um das Begräbnis zu kümmern, falls die alte Dame sterben sollte.

"Ich habe ihm natürlich alles hinterlassen, da er ja mein einziger lebender Verwandter ist", fuhr sie fort. Ihr Blick war gesenkt und Scully wusste, dass sie genauso wie sie selbst an Samantha gedacht hatte. Sie hatte schon fast den Mund aufgemacht, um die Frage zu stellen, doch dann hatte sie sich eines besseren besonnen.

"Ich weiß, dass Sie meinen Sohn lieben", sagte Teena urplötzlich und ihr durchdringender Blick richtete sich wieder auf Scully, als ob ihre blauen Augen direkt in ihre Seele sehen würden. "Ich weiß, dass man sich auf Sie verlassen kann, dass Sie ihm nie weh tun könnten. Deswegen würde ich Ihnen gerne die Erbschaftsverwaltung übergeben, wenn ich sterben sollte, bevor Fox wieder frei ist."

Scully fühlte sich, als ob ihr der Hals zugeschnürt würde. Sie hatte sicher nicht erwartet, dass Mrs. Mulder ihr eine derartige Verantwortung wie diese überlässt—sie hatte nicht einmal gedacht, dass die Frau sie überhaupt mochte.

"Wie ich aber schon sagte, ich hoffe an diesem Tag noch am Leben zu sein", sprach Mrs. Mulder weiter und ignorierte Scullys Erstaunen, "aber falls es nicht so sein wird, bin ich gekommen, um Sie zu bitten, diese Bürde auf sich zu nehmen als die engste und vertrauteste Freundin meines Sohnes."

Scully schluckte merklich. Sie wusste nicht, ob sie durch den emotionalen Moment so gerührt war, oder weil Mrs. Mulder wohl hingenommen hatte, dass es im Falle ihres Sohnes nie Gerechtigkeit geben würde. So unterschiedlich die beiden Frauen auch waren, sie glaubten beide fest an Mulders Unschuld und wünschten sich sehr, dass er wieder freigelassen würde.

"Es ist keine Bürde", sagte sie, als sie ihre Stimme wieder fand. Ihr kam es vor, als würde sie sich von der anderen Seite des Raumes beobachten, wie in einem Traum. "Ich würde mich sehr freuen, Ihnen und Mulder nach meinen Möglichkeiten zu helfen."

Mrs. Mulder hatte ihr ein schiefes Grinsen geschenkt und ihre Hand dankbar gedrückt. "Mein Anwalt wird Sie anrufen", sagte sie schon im Aufstehen, als sie ihre steife Formalität wieder gewonnen hatte, da der Moment vorbei war. Sie hatte Scully allein gelassen mit diesen neuen Umständen.

Nachdem Mrs. Mulder gegangen war, hatte Dana wie benommen in die Schwärze ihres Kaffees gestarrt. Sie dachte über Mulders Familie nach und über die Allianz, die sie nun mit ihr hatte. Sie fragte sich, wie viel Kontrolle genau Mrs. Mulder ihr in dieser Sache gegeben hatte (nicht sehr viel, so stellte es sich später heraus; das meiste wurde über die Anwälte abgewickelt, doch Scully wurde für die ein oder andere Unterschrift verlangt) und um wie viel Geld es eigentlich ging. Mrs. Mulder hatte offensichtlich keine Geldbeträge für Samanthas Rückkehr bestimmt, das wunderte Scully. Vielleicht hatte sie sich irgendwann damit abgefunden, dass ihre Tochter umgekommen ist. Oder vielleicht wusste sie, dass wenn Samantha jemals wieder auftauchen würde, ihr älterer in sie vernarrter Bruder dafür sorgen würde, dass sie versorgt sein würde. Oder vielleicht, kam es Scully in den Sinn, vielleicht wusste sie einfach, dass Samantha nie von denjenigen, die sie entführt hatten, zurück gebracht werden würde.

Es war nicht vor Teena Mulders Tod ein Jahr später, als Scully die genauen Ausmaße von Mulders Erbe erfahren hatte, und die zusätzlichen, ziemlich überraschenden Zusätze im Testament der Frau. Das Geld sollte verwahrt werden, worum sich Mrs. Mulders Anwälte und Scully kümmern sollten, bis zu Fox' Entlassung aus dem Gefängnis. Falls er im Gefängnis sterben sollte, ohne sein Vermögen je antreten zu können,  soll der ganze Besitz—die ganzen dreieinhalb Millionen Dollar—Dana Katherine Scully zukommen.

 

Dana schüttelte sich aus ihren Gedanken und vergrub müde ihr Gesicht in ihren Händen. Zachary hatte das Geld gewollt, sie konnte es in seinen Augen lesen, wenn er dachte, sie würde nicht hinsehen. Sie hatte ihm allerdings natürlich nie solch persönliche Angelegenheiten erzählt, da sie absolut nicht geneigt war, so etwas mit ihm zu diskutieren. Doch nach ihrer Heirat hatte sie herausgefunden, dass ihr Bruder Bill seinem Freund die ganze Story erzählt hatte. Sie war sehr wütend gewesen, als sie es herausgefunden hatte, doch da war es schon passiert. Sie und Zach hatten deswegen eine ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen, und sie sind sich tagelang aus dem Weg gegangen. Irgendwann hatte Dana dann beschlossen um ihrer Stieftochter Willen die Wogen wieder zu glätten. Es war zwischen ihr und ihrem Mann nie sehr einfach gewesen, aber seit dem Vorfall war es nie so gut wie es hätte sein können.

Sie war immer gewissenhaft gewesen mit ihren Besuchen bei Mulder. Ohne Ausnahme war sie jeden Samstag mit Klatsch und Neuigkeiten hingegangen und der besten Laune, die sie aufbringen konnte. Mulder hatte sich anscheinend gefreut, sie zu sehen, dankbar für jeglichen Kontakt mit der Außenwelt und besonders für ihre Gesellschaft. Sie wollte ihn so gerne berühren, seine Hand nehmen, bei ihm sein, aber sie waren jedes Mal durch eine dicke Glaswand getrennt gewesen. Manchmal sah sie diese Wand als ein Symbol ihrer ganzen Beziehung. Sie konnten sich sehen, miteinander reden, Witze machen, sich gegenseitig unterstützen, aber jedes Mal, wenn sie nach mehr griffen, war da eine Barriere zwischen ihnen. Manchmal war es eine selbst erbaute, und manchmal, wie jetzt, war es eine, die ihnen aufgezwungen worden war. Und das Hindernis war stark genug, egal, wie es entstanden war.

Mit der Zeit hatte sie gemerkt, dass Mulder sich mehr und mehr von ihr distanzierte, und es hatte ihr Angst gemacht. Sie glaubte nicht, dass sie noch mehr von ihm verlieren könnte, sie war jetzt schon so unsäglich einsam ohne ihn. Sie hatte ihren Job als Agentin beim FBI weiter gemacht, nachdem Mulder weg war, doch schließlich hatte sie sich zurück nach Quantico versetzen lassen, wo sie jetzt unterrichtete. Zuweilen kam es ihr vor, als ob sie nie gegangen wäre und ihre lange Partnerschaft mit Mulder nichts als nur eine Illusion gewesen war. Jedes Mal, wenn er sich ein Stück weiter zurückzog, starb ein kleiner Teil von ihr. Sie wusste, dass die empfindliche Beziehung, die sie zueinander hatten, mehr und mehr in sich zusammenfiel, und sie hatte Angst, dass sie hilflos dastehen ihrem Verfall zusehen musste. Ihr Herz verkümmerte mit jedem Besuch ein Stückchen mehr, bis sie sich irgendwann davor fürchtete, anstatt sich darauf zu freuen.

Manchmal fand sie ihn krank oder verprügelt vor, und sie fragte sich, wie viel er vor ihr geheim hielt. Es war klar, dass es im Gefängnis Prügeleien gab, und sie betete, dass sich Mulder nicht auf Probleme einließ und sich zurück hielt. Doch so war Mulder nie gewesen. Schon bald war ihr klar, dass er ein geeignetes Ziel für jemanden war, der nach Opfern suchte. Er war kleiner als viele der Insassen—und sein Appetitschwund und gleichgültige Einstellung trug nur zur Verminderung seiner Statur bei—und das Bewusstsein, dass er einmal ein Bundesagent gewesen war, machte ihren Hass auf ihn noch größer. Wenn sie ihn darauf ansprach, wechselte Mulder jedes Mal hastig das Thema. Er wollte nicht mit ihr über die Situation reden.  Letztendlich ließ sie davon ab, obwohl es ihr das Herz brach, die Schwellungen und Prellungen auf seinem Körper sehen zu müssen.

Seine Zurückgezogenheit von ihr wurde jedoch immer mehr offensichtlich, bis sie es irgendwann nicht mehr leugnen konnte. An einem Samstag, sechzehn Monate nach seinem Urteil, riss ihr der Geduldsfaden.

"Mulder, sag mir, was los ist." Ihre Stimme war tastend und kontrolliert gewesen, obwohl sie bei seinem Anblick weinen wollte. Er war wieder verprügelt worden, und dieses Mal sah nicht nur sein Gesicht schlimm aus, sondern er hielt zudem noch einen Arm an seinen Körper. Zuerst konnte sie nicht entscheiden, ob sein Arm oder seine Brust verletzt war, doch dann wurde es klar, dass es seine Rippen waren, die ihm höllisch weh taten. Sie fragte sich, ob der Gefängnisarzt ihn untersucht hatte.  Wahrscheinlich nicht. Mulder würde nie nach einem Arzt fragen, und hier gab es niemanden, der ihn dazu antrieb, wie sie es immer getan hatte.

Er schnaubte entrüstet. "Nichts ist los, Scully", grummelte er. "Alles bestens. Ich bekommen drei leckere Malzeiten am Tag, habe ein bequemes Bett zum schlafen, und ich muss nicht arbeiten. Was kann man schon mehr verlangen?"

Sie schluckte den bissigen Kommentar herunter, der ihr auf der Zunge lag. Mulder hatte es schon einmal an ihr ausgelassen, als er wütend war. Es hatte ihr damals nichts ausgemacht, und sie würde es jetzt auch nicht zulassen.

"Ich meine", erklärte sie vorsichtig, "warum ziehst du dich von mir zurück?  Du warst in letzter Zeit nicht sehr gesprächig, wenn ich dich besuchen kam, und vor zwei Wochen wolltest du mich gar nicht erst sehen!"

"Mir ging's nicht gut", murmelte er ohne ihr in die Augen zu sehen.

Sie sagte nichts einen Moment lang. "Okay", schließlich. "Es ging dir nicht gut. Das akzeptiere ich. Was ich allerdings nicht akzeptieren kann, ist die Art, wie du dich von mir distanzierst." Frust drang in ihrer Stimme durch.  "Was ist anders, Mulder? Es kommt mir vor, als würde ich dich gar nicht mehr kennen."

"Vielleicht tust du das auch nicht", entgegnete er bitter und hob seinen Blick, der sich durch das Glas in ihre Augen bohrte. "Du hast überhaupt keine Ahnung, Scully, du hast keinen blassen Schimmer, wie es hier drin ist! Jede Woche machst du deinen Mitleidsbesuch und dann gehst du wieder zurück in dein schönes, bequemes, sicheres Leben, und ich bleibe hier mit einer weiteren Woche in der Hölle vor mir!"

Seine Worte trafen sie wie ein Hammerschlag. Sie hätte nie gedacht, dass er ihre Besuche als "Mitleid" betrachtete. "Dem ist nicht so, und du weißt das, Mulder!" widersprach sie aufbrausend. "Ich komme her, um dich zu sehen, weil ich es will—nicht weil ich muss. Du bedeutest mir etwas."

"Ich habe dich nie darum gebeten." Seine Stimme war kalt geworden, und sie zuckte als ob er sie geschlagen hätte.

Nach einem stillen Moment versuchte sie es noch einmal. "Du weißt, dass wir alles tun, um dich hier raus zu holen", erinnerte sie ihn verzweifelt. "Es braucht nur seine Zeit..."

"Es dauert viel zu lange." Er schnaubte kurz in freudlosem Lachen.

"Andererseits, ich habe ja jetzt genug Zeit, was?"

Sie beugte sich vor zu ihm und ihre Seele schmerzte, als er von ihr zurück wich. "Du hast mich, Mulder", hatte sie gesagt. "Du wirst mich immer haben."

"Nein, Scully, ich werde dich nie haben", sagte er schneidend. "Nicht dich oder irgendjemand anderen. Und weißt du was? Das ist okay so. Ich brauche niemanden, und vor allem nicht dein Mitleid." Er hatte sich umgedreht und sich mit den Händen durch seine kurz geschnittenen Haare gestrichen, deshalb hatte er ihren Blick tiefsten Verrats nicht gesehen.

"Hör auf, dir um mich Sorgen zu machen, Scully", sagte er, als er sah, dass sie ihre Tränen zurück hielt. Der Anblick verschaffte ihm eine gewisse wütende Befriedigung. Er hatte heute fast sein Ziel erreicht. Wenn er noch einen drauf setzte, würde er erfolgreich sein. "Hör auf, auf mich zu warten. Hör auf mich zu besuchen." Er nahm einen langen, tiefen Atemzug, als ob seine nächsten Worte all seine Kraft kosten würde, und sagte, "Ich will dich nicht mehr sehen. Vergiss einfach, dass wir uns je kannten."

Scully griff blind nach hinten zu ihrem Stuhl, denn ihre Knie begannen nachzugeben. Sie wusste genau, was Mulder da tat. Sie konnte die Taktik nicht genau benennen, aber sie erkannte sie. Er fühlte sich schuldig, weil sie so viel in ihn und seinen Fall hineinsteckte, und er versuchte sie herauszuhalten, sie abzudrängen, sie freizulassen. Von seinem eigenen, egozentrischen Standpunkt aus glaubte Mulder, dass wenn sie ihn los wäre, er ihr einen Gefallen tun würde. Und in einem Moment absoluter Wut fragte sie sich, ob er es um ihretwillen tat oder nur sein Schuldbewusstsein lindern wollte.

"Mulder—" ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, kaum wahrnehmbar in dem Raum.

"Nein", erwiderte er resolut mit seinem üblichen "es hat keinen Zweck" Gesichtsausdruck. "Es ist vorbei. Was auch immer wir vielleicht gehabt haben ist vorbei. Wir hatten nie eine Chance."

Als sie ihre Stimme wiedererlangt hatte, gab ihr ihre Wut Kraft. "Ich werde es nicht zulassen", sagte sie mit wallenden Emotionen in ihren Worten. "Ich werde nicht zulassen, dass du mich aus irgendeinem verqueren Selbstmitleid aus deinem Leben streichst. Du kannst mich nicht so einfach loswerden."

Er schenkte ihr ein Lächeln, das sie mit seiner Schärfe durchteilte. "Doch, das kann ich, Scully. Es ist das letzte, worüber ich noch entscheiden kann."

Er drehte sich zu dem Wärter um, der sorgsam das Gespräch ignorierte, und Scully fragte sich insgeheim, wie viele solcher Szenen wie diese er im Laufe der Jahre schon gesehen hatte. "Bringen Sie mich zurück", kommandierte Mulder, und der Wärter machte sich daran, die Tür zu öffnen.

"Nein. Warten Sie!" rief Scully und drückte ihre Hand gegen das Glas, das sie trennte, als er von ihr entfernte.

Er hielt für einen Moment an, doch drehte sich nicht zu ihr um. "Es ist vorbei, Scully", sagte er zur Wand. "Geh, und lebe dein Leben. Ich kann nicht für dich da sein."

"Mulder, du musst gar nichts für mich sein", flehte sie. "Das ist nicht etwas, das ich von dir erwarte. Ich habe ein Leben, und ein Teil davon ist hier bei dir."

"Ich will nicht, dass du mich wieder besuchen kommst", wiederholte er grimmig. Er hatte seine Zähne fest zusammen gepresst, und sie wusste irgendwie trotz ihres eigenen Leids, wie viel ihn diese Worte gekostet hatten. "Ich will dich nicht mehr sehen."

"Mulder, tu mir das nicht an. Sag mir nicht, wie ich mein Leben leben soll", hatte sie gerufen, zitternd vor Angst und Wut. Das eiskalte Gefühl in ihrer Magengegend sagte ihr, dass wenn er jetzt gehen würde, sie ihn für immer verlieren würde.

Er griff nach der Türklinke und drehte sich ein wenig zurück zu ihr. Sie sahen sich einige Sekunden an, in denen sie den Schmerz in seinen Augen sehen konnte, bevor er dem Wärter zunickte und leise durch die Tür glitt.  Fort.

Sie sah ihm nach, schwer atmend. Jahrelange Erfahrung ermöglichte es ihr, ihre Tränen im Zaum zu halten, die ungebrochen über ihr Gesicht strömen wollten. Sie würde hier nicht weinen, sagte sie sich fest entschlossen, und schaffte es, sich zusammenzureißen, bis sie im Auto war. Dort hatte sie für ein paar Minuten vollkommen die Kontrolle über ihre Emotionen verloren - schreiend, weinend, auf das Lenkrad hämmernd aus purer Wut auf ihn, auf sich selbst, auf den Raucher—auf die ganze Welt, die ihn ihr weggenommen hatte und ihm alles genommen hatte, ihn zu einer leeren Hülle gemacht hatte, die sie gerade verlassen hatte.

Nach ein paar Wochen fast unerträglichen Leidens, in denen sie erkannt hatte, dass Mulder sie nicht wirklich aus seinem Leben haben wollte, sondern dass er sich lediglich wie Mulder benahm, war sie wieder ins Gefängnis gegangen, um ihn wieder regelmäßig zu besuchen. Doch er wollte sie nicht sehen.

Er war ihr seitdem nicht mehr unter die Augen getreten.

Mit der Zeit hatte es Scully geschafft, ihre Wut auf ihn immer weiter hochzukochen, die die anderen Gefühle übertraf, die sie hin und wieder übermannen wollten. Mulder war ein Idiot, sagte sie sich abweisend. Ein selbstsüchtiger Bastard, der ihre Zeit nicht wert war. Er wollte sie nicht, und er hatte es ihr unmissverständlich gesagt. Ihre Beziehung zu beenden— wenn man es überhaupt als Beziehung bezeichnen konnte—war das Beste für sie beide. Sie versuchte die leise innere Stimme davon zu überzeugen, die drohte, anderer Meinung zu sein. Sie würde ihm geben, was er wollte.  Gar kein Problem. Ihn zu verlassen war einfach.

Es war das Fernbleiben, das unmöglich war.

 

Walter Skinner setzte seine Brille ab und rieb sich müde den Nasenrücken. Er hatte gerade ein höchst unbehagliches Gespräch mit Scully hinter sich (er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, sie als 'Dana Morrow' zu bezeichnen, nicht einmal nach all der Zeit) und jetzt war er ein Mann mit einem Problem. Scully hatte am nächsten Tag ein Treffen mit dem Anwalt vereinbart, der sich um Mulders Erbschaft kümmern sollte. Er sollte sicherstellen, dass Mulder bei diesem Treffen erscheinen würde, um alle Formulare zu unterzeichnen, die ihn zum rechtmäßigen Bevollmächtigten über das Geld machen würden. Es musste sein. Es war unumgänglich. Es würde die Hölle für Mulder werden.

Skinner war müde, das Thema Scully ständig vor sich herzuschieben, aber er wollte Mulder nicht unnötig aufregen. Der Blick in den Augen seines Freundes, wenn er an Scully dachte, war herzzerreißend und erschreckend, als ob Mulder in jenen dunklen Abgrund sehen würde, von dem in der Literatur so oft gesprochen wird, und ihn angesichts seines eigenen Schmerzes lächerlich fand.

Es war nicht eine Woche nach ihrer Verlobung mit Zachary Morrow, als Mulder abermals in Einzelhaft gesteckt worden war - länger als er bisher dort verbracht hatte. Skinner war gerade für seinen Besuch zwei Mal im Monat gekommen, nur um darüber informiert zu werden, dass sein früherer Agent "verrückt geworden" sei. Er hatte einen Mitgefangenen in der Halle attackiert und geschlagen, bevor die Wärter ihn aufhalten konnten. Erst mehr als einen Monat später hatte Skinner ihn wieder sehen dürfen, und als es soweit war, war es ihm nicht möglich, eine Erklärung für sein gewalttätiges Verhalten zu bekommen. Mulder hatte über die ganze Sache Stillschweigen behalten und Skinner wusste, dass er ihn nicht drängen durfte.

Scully hatte ihn nach ihrem letzten Treffen mit Mulder angerufen, als sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle und zu ihrer üblichen kühlen, zuversichtlichen Art zurückgefunden hatte. Skinner hatte engagiert versucht, sie zu überreden Mulder nicht fallen zu lassen - wie er fand -, doch es hatte nichts gebracht. Als Scully daraufhin versuchte hatte, mit Mulder Frieden zu schließen und er sie drei Samstage hintereinander nicht sehen wollte, hatte sie Skinner wissen lassen, dass sie nicht mehr zu ihm gehen würde. Sie gab Mulder was er wollte. Er konnte in ihren Augen sehen, dass sie über die Wahrheit bezüglich Mulders Verhalten Bescheid wusste, aber sie war zu tief unter ihrem eigenen Schmerz vergraben, dass er bezweifelte, dass es etwas änderte.

Gut ein Jahr später hatte sie ihre Verlobung bekannt gegeben. Sie war zu ihm gekommen, um es ihm unter vier Augen zu sagen. Sie wusste, dass er es an Mulder weiterleiten würde. Skinner hatte die Tränen hinter ihrem Lächeln gesehen, aber Scully hatte sie in ihrer Eigenart abgeschüttelt.

"Er will mich nicht", hatte sie in neutralem Ton auf seine unausgesprochene Frage geantwortet. "Ich habe ihm genug Zeit gelassen, um damit fertig zu werden, aber er will mich immer noch nicht sehen. Er schickt meine Briefe zurück." Sie hatte tief und beruhigend durchgeatmet. "Ich kann Mulder nicht dazu zwingen, eine Beziehung mit mir einzugehen, Sir. Er hat es mehr als deutlich gemacht, dass es vorbei ist."

Aber Skinner wusste, dass es für Mulder nicht vorbei war - dass es nie vorbei sein würde.

Mulder die Neuigkeit zu berichten war eine der schwierigsten Aufgaben, um die Skinner je gebeten wurde. Mulder hatte Skinner angestarrt, mit toten Augen, hatte sich dann weggedreht und sein Gesicht in seinen Händen vergraben. Skinner hatte still und wie auf heißen Kohlen da gesessen in dem Bewusstsein, dass der andere Mann mit den Tränen kämpfte, bis Mulder endlich den Kopf gehoben hatte. Sein Gesicht war kreideweiß gewesen.  Skinner hatte dieses Gesicht viele, viele Male gesehen, normalerweise wenn Mulder verbal von Kollegen oder Vorgesetzten attackiert wurde, aber er hatte es noch nie gesehen, wenn Mulder die Tiefe seiner Emotionen zu verbergen versuchte. Er war aufgestanden, Hände in den Taschen, und hatte Mulder ruhig gefragt, "Gibt es etwas, was ich diese Woche für Sie tun kann?"

Bringen Sie mich um, hatten diese gequälten Augen gebeten, doch Mulder hatte nur kurz den Kopf geschüttelt und seinen Blick stur auf die Wand gerichtet, als Skinner die Besucherkabine verlassen hatte. Er wusste, dass früher oder später Mulders sorgsam aufgerichtete Fassade bröckeln würde, und er hoffte, dass Mulder allein sein würde, wenn das passierte. Jetzt, als er sich daran zurück erinnerte, stellte sich Skinner die Frage, ob Mulder sich absichtlich in Einzelhaft verlegen lassen hatte, um in Einsamkeit um Scully zu trauern.

Seit seiner Freilassung hatte es Mulder gewissenhaft vermieden, das Thema Ex-Partnerin anzuschneiden, und Skinner war sich sicher, dass er ein Wiedersehen nach Möglichkeit für immer aufschieben würde. Doch leider war es nicht möglich, und jetzt war die Zeit gekommen.

Skinner legte seinen Kopf auf seine Arme und dachte für einen Moment an die Komplikationen innerhalb Mulders Familie. Teena Mulder hatte ihren Sohn geliebt, zweifellos. Es war bei den Treffen, die er mit ihr nach Mulders Verhaftung gehabt hatte, offensichtlich gewesen - jedoch hatte sie ihren Sohn nicht ein einziges Mal im Gefängnis besucht. Er nahm an, dass sie den Anblicks ihres inhaftierten Sohnes nicht ertragen konnte. Es

würde für jede Mutter schwer sein, und Teena hatte in ihrem Leben sicherlich mehr als genug Probleme und Schrecken erleben müssen, wenn es um ihre Familie gegangen war.

Obwohl sie Mulder nie besucht hatte, hatte sie mit Skinner immer Kontakt gehalten, und er war froh gewesen, ihr regelmäßig Berichte über sein Befinden und über jegliche Versuche ihn zu befreien zu erteilen. Es war eine sehr schwere Zeit gewesen, und als er so über das Leben und den Tod nachdachte, fragte sich Skinner, ob Teena jetzt an einem Ort war, von dem sie sehen konnte, dass sie letzten Endes ihr Ziel erreicht hatten. Sie war immer eine starke Frau gewesen, bis zu ihrem Ende.

Er konnte sich noch an den Tag erinnern, an dem sie ihn angerufen und gebeten hatte, ob er ihr helfen könne, Mulders Sachen zu packen. Skinner hatte innerlich gestöhnt, und mit einem kalten Schauer am Rücken zugesagt. Er wollte nicht durch Mulders Sachen wühlen, er käme sich viel zu sehr wie ein Eindringling bei jemandem vor, der bereits genügend durchmachen musste. Vor allem wollte er nicht bei Mrs. Mulder sein, wenn sie irgendwann unvermeidlicherweise zusammenbrechen würde. Jedoch war er dazu bestimmt der "Stärkere" zu sein, und er war noch nie jemand gewesen, der sich vor seinen Pflichten drückte. Sie hatte ihn allerdings überrascht, indem sie ruhig und entschlossen durch die Habseligkeiten ihres Sohnes gegangen war, ohne auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Sie hatten Seite an Seite mit nur geringem Wortwechsel stundenlang gearbeitet, und als sie fertig waren, hatte sie bemessen die Möbelpacker kommen lassen, die alles an den Aufbewahrungsort bringen sollten.

"Ich glaube, ich muss seinen Wagen verkaufen", hatte sie Skinner leise gesagt, "aber ich fürchte, alles andere kann ich nicht abgeben. Er wird es brauchen, wenn er frei kommt."

"Mrs. Mulder—" begann er, doch sie schüttelte entschlossen den Kopf.

"Ich habe vollstes Vertrauen, dass Sie meinen Sohn retten werden, Mr. Skinner. Ich muss daran glauben. Ich kann ihn nicht auch noch verlieren." Mit diesen Worten schritt sie entschlossen aus dem Zimmer und Skinner sah ihr mit Bewunderung nach. Mumm, hätte es sein Vater genannt. Sie hatte Mumm.

Er ließ sich auf Mulders Couch nieder und blickte sich im Zimmer um, das nun von allen persönlichen Gegenständen befreit war, und er dachte an den Mann, der hier gewohnt hatte. Wie viele Jahre hatte er in dem kleinen Apartment gelebt? Skinner wusste es nicht. Mulder war hier gewesen, als sie sich getroffen hatten, aber es war zu lange her, um einen Eindruck zu hinterlassen.

Er war nicht oft hierher gekommen, obwohl einige seiner Besuche denkwürdig gewesen waren. Er hatte noch genau vor Augen, wie er auf dieser Couch gesessen hatte, während Scully ihre Waffe auf ihn gerichtet hatte. Sie hatten die Waffen aufeinander gerichtet—er wusste, dass sie ihn nicht umbringen würde, doch er hätte ihr zugetraut zu schießen, um sich zu schützen, sogar vor ihm --, als ein Geräusch an der Tür sie abgelenkt hatte. Zu ihrer größten Verwunderung war der Mann hineingekommen, von dem sie beide gedacht hatten er sei mit einem Container in New Mexico in die Luft gejagt worden. Der Ausdruck auf Scullys Gesicht bei Mulders unerwartetem Auftreten hatte er in den nächsten angespannten wenigen Minuten gar nicht wahrgenommen, aber als er sich später daran erinnerte, erkannte er, was er bedeutet hatte. Er fragte sich, wann sie sich ineinander verliebt hatten, und wie er so blind gewesen war es nicht zu bemerken.

Er konnte sich daran erinnern wie er an dem Morgen nach Mulders Selbstmord hierher gekommen war, und er wusste noch, wie er gefürchtet hatte, den Blick des Mannes, der nur wenige Wochen vorher sein Leben gerettet hatte, zu Gesicht zu bekommen. Und Scully—Scully war kontrolliert wie immer gewesen, und er hatte geglaubt, dass sie innerlich auseinander fiel.  Natürlich hatte er später herausgefunden, dass das ganze nur gestellt war, aber er zweifelte, dass unter anderen Umständen ihre Reaktion anders gewesen wäre. Er blickte nach oben an die Decke und ein Zittern durchlief ihn, als er sich an die Überwachungsmaßnahmen für Mulder erinnerte. Wie hatte der Mann all diese Dinge überlebt, die ihm angetan worden waren? Und die Scully angetan wurden? Sein Blick glitt zum Fenster—Scully ist an genau diesem Fenster angeschossen worden, obwohl man jetzt davon nichts mehr sehen konnte. Keinem von ihnen blieb mehr als Erinnerungen—gute und schlechte.

Es war so schwer gewesen, ihr Vertrauen zu gewinnen, und am Anfang war er sich gar nicht so sicher, warum er es überhaupt haben wollte. Er war ihr Vorgesetzter, sie arbeiteten für ihn, das sollte genügen. Aber irgendwann in der ganzen Zeit hatte er diese beiden Agenten wie keine anderen respektieren gelernt, und er verspürte den Wunsch, dass sie ihn ebenfalls in dieser Hinsicht respektierten. Letztendlich hatte er sein Ziel erreicht, und mit der Zeit kam ihm der Gedanke an die beiden als seine Freunde, trotzdem Skinner eher ein Einzelgänger war. Er hatte kein einziges Mal weder Mulder noch Scully angerufen, um sie zum Essen einzuladen, aber er wusste, dass wenn er sie je brauchen würde, er auf sie zählen konnte. Und genau das, das war seine Meinung, machte einen treuen Freund aus. Er wusste, dass seine Loyalität den beiden gegenüber zeitweise in Frage gestellt worden war, aber Mulder—und Scully auch auf eine gewisse Weise— hatte ihm geglaubt. Deshalb half er Mulder jetzt. Skinner hob den Kopf von seinen Armen und griff nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch, um Mulder über das Treffen zu informieren, doch dann entschied er sich anders. Solche Neuigkeiten sollte man besser persönlich bringen, dachte er. Auf die Art konnte Mulder auch nicht weg laufen. Er musste dieses Treffen mit Scully hinter sich bringen, um mit seinem neuen Leben anzufangen. Skinner wusste, dass Mulder sich dagegen wehren würde, und er würde ihn besser überreden können, wenn er Auge in Auge vor ihm stand. Mulder war das ganze Wochenende nach dem Besuch am Grab seiner Mutter in einem labilen Zustand gewesen, und Skinner war bedacht gewesen, ihm viel Freiraum zu lassen. Letzten Abend schien es ihm erheblich besser gegangen zu sein, er hatte bis spät in die Nacht Fußball mit ihm gesehen, und er hatte noch geschlafen, als Skinner am nächsten Morgen zur Arbeit gefahren war. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann zu überlegen, wie er Mulder diese schlechten Neuigkeiten am besten überbringen könnte.

 

"Mulder, Sie müssen ihr irgendwann gegenüber treten."

"Warum?" fragte Mulder stur. "Nennen Sie mir einen guten Grund warum."

Skinner schüttelte verärgert den Kopf. "Weil das Problem nicht aus der Welt geschafft ist und Sie sie nicht für immer meiden können. Weil sie früher oder später ihren Weg kreuzen werden und Sie können sich genauso gut jetzt mit ihr treffen. Weil diese Dokumente unterzeichnet werden müssen, und es für alle Beteiligten einfacher ist, wenn Sie und Dana sich zusammen mit einem Anwalt treffen."

Mulder spitzte die Lippen, sagte aber nichts weiter. Skinner ging in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Mulder hatte eine Diskussion angefangen, als er ihm sagte, dass der Anwalt ihm genauso gut die Sachen zum Unterzeichnen zuschicken könnte, aber Skinner war fest entschlossen, Mulder nicht einfach so aus dieser Sache herauszulassen. Er wollte mehr als jeder andere dieses Treffen zwischen Mulder und Scully hinter sich bringen.  Vielleicht konnte Mulder dann die Fragmente seiner Selbst wieder zusammenbauen.

In dem Augenblick, als Skinner aus der Tür war, sank Mulder erschöpft auf einen Stuhl, weil seine Beine ihn nicht mehr halten wollten. Sie nach all dieser Zeit wiedersehen? Wie würde er reagieren? Wie würde sie reagieren?  Würde sie kühl und distanziert sein, order ihm nett wie einen alten Freund begrüßen? Mulder wusste nicht, was schlimmer wäre. Seine Erfahrung sagte ihm, dass ihr eisiges Äußeres ihn scharf kritisieren konnte, aber so zu tun als ob.... Er schüttelte den Kopf. Sie konnten nicht einfach so tun, als wäre alles beim alten. Sie konnten die stechenden Worte bei ihrem Abschied nicht leugnen. Alles, was sie jetzt tun konnten war zu versuchen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Scully hatte ihr Leben weiter gelebt, reflektierte er grimmig. Es war höchste Zeit, dass er es auch tat. Mulder rieb sich sein Gesicht und verdrängte stur eine Welle der Emotionen. Dann stand er entschlossen auf. Skinner hatte recht gehabt. Er konnte es nicht weiter auf die lange Bank schieben.

"Wann ist der Termin?" fragte er, als Skinner aus dem Schlafzimmer kam, und Skinner atmete innerlich erleichtert aus.

"Morgen", sagte er ohne große Worte, seine autoritäre Haltung verriet nicht das kleinste Anzeichen seiner Sorge. "Zehn Uhr. Nehmen Sie meinen Wagen, ich fahre mit dem Taxi zur Arbeit."

Mulder zögerte. Er war seit über vier Jahren nicht mehr Auto gefahren, und jetzt bot ihm Skinner seinen Wagen ohne mit der Wimper zu zucken an. Ihm wurde ganz mulmig. Was, wenn er einen Unfall baute? Andererseits würde er nach dem Treffen mit Scully Zugriff auf eine große Menge Geld haben. Wenn er Skinners Auto zu Schrott fahren würde, würde er ihm einfach ein neues kaufen, sagte er sich. Veilleicht würde er sich selbst auch eins kaufen. Vielleicht war es schon höchste Zeit dafür.

Mulder war am nächsten Morgen früh auf den Beinen und lief in der Wohnung ruhelos umher. Skinner nervte das ziemlich, brachte ihn aber nicht aus der Ruhe. Skinner frühstückte und sah zu, wie Mulder mit seinem Frühstück herumspielte, aber nicht einen Krümel davon nahm. Er würde Mulder sowieso keinen Gefallen damit tun, wenn er ihn zum Essen überreden und er Scully mit einem vollen Magen treffen würde. Nicht mit seiner Neigung zu Übelkeit bei viel Stress. Erst als er aufstand, um zur Arbeit zu fahren, warf er Mulder seinen Autoschlüssel hin mit der Ermahnung, "Zehn Uhr, Mulder.  Seien Sie pünktlich."

Mulder fing den Schlüssel mit einem Kloß im Hals und ging auf sein Zimmer, um sich fertig zu machen. Scully das erste Mal seit Jahren zu sehen würde ihm eine Extraportion an Zuversicht abverlangen, von dem er in letzter Zeit leider nicht sehr viel hatte. Er beschloss ein Bad zu nehmen und etwas von seinen neuen Sachen anzuziehen. Zumindest hingen die nicht so lasch an ihm herunter wie seine alten Klamotten. Er hoffte, dass sobald dieses Treffen hinter ihm lag, er endlich seinen Appetit wiederfinden würde. Er konnte es überhaupt nicht leiden so dünn zu sein und kränklich auszusehen.

Nachdem er sich rasiert hatte, kämmte er sich und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Seine Rippen standen zu sehr hervor, aber sie würde es unter einem locker sitzenden Hemd nicht sehen. Seine Arme und Beine waren ebenfalls dünner als gewöhnlich, und er nahm sich vor, ein wenig zu trainieren. Wieder mit dem Laufen anzufangen hörte sich wundervoll an, und durch regelmäßiges Training würde er auch mehr essen und Muskeln ansammeln. Als sie am Montag Abend Fußball im Fernsehen gesehen hatten, hatte Skinner vorgeschlagen, einige seiner alten Basketball-Freunde anzurufen, aber Mulder hatte ihm etwas sarkastisch zu Verstehen gegeben, dass es sich nicht gerade einladend anhörte, sich mit ein paar Typen zu messen, die größer, stärker und in besserer Form waren. Skinner hatte kurz gelacht und sich wieder dem Spiel zugewandt, was Mulder mehr zu schätzen wusste, als Skinner je geahnt hätte. Er wollte nicht mit Samthandschuhen angefasst werden, er wollte einfach normal sein. Zumindest so normal wie möglich, gegeben den Umständen.

Skinner hatte ihm fünfhundert Dollar geliehen, so dass er sich ein paar Kleider und einige andere persönliche Gegenstände kaufen konnte. Mulder hatte das Geld für einen Moment verdattert angesehen, bevor er es mit einem wohlbekannten Gefühl von Dankbarkeit vermischt mit einer kräftigen Dosis Schuldgefühle in seine Jeanstasche gestopft hatte. Skinner sollte das alles nicht für ihn tun. Er war so eine Last für ihn. Betreten hatte er sein Dankeschön gemurmelt und Skinner hatte einfach anerkennend genickt und ihm lediglich gesagt, er könne es wieder zurückzahlen, wenn er ein reicher Mann wäre. Mulder konnte sich immer noch nicht richtig mit dem Gedanken abfinden, dass ihm einmal so viel Geld gehören würde. Für einen Moment überlegte er, einen beträchtlichen Teil davon zu verschleudern, wie zum Beispiel für einen brandneuen Ferrari, aber er verwarf diese Idee rasch wieder. Das war einfach nicht seine Art.

Mit einer Einladung zum Mittagessen hatte er Langly dazu überredet, ihn zu einem nahe gelegenen Einkaufszentrum zu fahren, damit er sich beim dortigen Friseur einen vernünftigen Haarschnitt zulegen konnte. Sie waren einige Zeit in verlegener Stille gefahren, dann hatte Mulder geseufzt und beschlossen, das Eis mit seinem alten Freund zu brechen.

"Tut mir leid, aber ich bin keine gute Gesellschaft", fing er an, aber Langly schüttelte den Kopf, um ihm zu zeigen, dass seine Entschuldigung völlig unnötig war. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll."

"Wir sind nur froh, dass du zurück bist, Mulder. Sorry, dass wir dich noch nicht besucht hatten, aber wir wollten dich nicht in Verlegenheit bringen.  Wir haben uns gedacht, dass wenn du soweit bist, du es uns wissen lässt, und ich glaube, damit hatte ich recht."

Mulder lächelte. "Tja, es gab eben niemand anderen, den ich hätte fragen können mich für eine Weile mitten in der Woche herumzukutschieren", witzelte er. "Alle meine anderen Freunde arbeiten um diese Tageszeit."

"Klar, Mulder, du musst sie dir sicher mit Müh und Not vom Leibe halten, was?" sagte Langly ironisch. Mulder musste lachen, weil es so absurd war, und schon bald lachte Langly mit. Langly ergriff die Gelegenheit Mulder zu fragen, ob er nicht 'mit den Jungs rumhängen wollte am Freitag'—sie vermissten seinen Witz und seine Gesellschaft.

Wieder musste Mulder grinsen. "Ihr vermisst doch nur das Bier, das ich euch bringe", sagte er, aber er willigte ein. Für einen Moment überlegte er, ob er Skinner nicht mit einladen sollte, aber dann dachte er sich, dass Skinner sicherlich froh sein würde, wenn er ihn für einen Abend mal los würde. Es war wirklich höchste Zeit, wieder zu leben.

Langly hatte angeboten, mit Mulder rein zu gehen, doch Mulder dankte ihm und sagte, dass er dieses kleine Abenteuer außerhalb seines sicheren Heims wohl alleine hinbekommen müsse. Es war ein komisches Gefühl für Mulder, in der Warteschlange an der Kasse zu stehen. Er fragte sich, ob die Verkäuferin an der Kasse merken würde, wo er die letzten vier Jahre gewesen war. Er fühlte sich fehl am Platz, als ob das Wort "Ex-Sträfling" auf seiner Stirn gestempelt wäre. Er war im Gefängnis dazu gezwungen gewesen, jeden als eine mögliche Bedrohung zu betrachten, so dass er nun jedem einzelnen misstrauisch gegenüber war. Er hatte extra eine Geschäft ausgesucht, das um diese Zeit nicht so voll sein würde. Egal, er würde jedenfalls froh sein, wenn dieses Unterfangen vorbei war.

Bridgette, das süße junge Ding, das ihm die Haare geschnitten hatte, hatte sich mit ihm unterhalten wollen, aber er konnte keinerlei Smalltalk aufbringen. Neckend hatte sie verlangt, wo er sich das Desaster, das sie da vor sich fand, wohl eingefangen hätte. Mulder hatte lediglich gegrint. "Frank."

"Frank?" fragte sie mit einer erhobenen Augenbraue.

"Ja. Ein alter Freund meines Vaters", log er todernst. "Er hat meine Haare geschnitten seit ich ein kleiner Junge war. Frank wird langsam alt und sein Sehvermögen ist nicht mehr das, was es einmal war, aber ich kann mich nicht dazu durchringen ihn einfach so abzuservieren."

"Und warum sind Sie dann hier?" fragte Bridgette, als sie flott schnippelte und kämmte und das Durcheinander, das sein Haarschnitt war, unter ihrer magischen Schere bezwang.

"Ich kann mich auch nicht dazu durchringen, mit so einem schlimmen Haarschnitt herumzulaufen."

Sie lachte. Das kichernde Lachen einer jungen Frau, die noch nicht erfahren hatte, wozu Menschen fähig waren, und die wegen ihrer Entschlossenheit und Sturheit sicher nie zur Zielscheibe durchtriebener Leute sein würde. Mulder seufzte innerlich und genoss den Gedanken daran, dass es noch Unschuld auf der Welt gab, während er zugleich den Verlust derselben in ihm selbst betrauerte. Es war so lange her, seit er das letzte Mal wirklich gelacht hatte.

Nachdem er sich mit neuen Sachen und neuem Haarschnitt endlich wieder wie ein Mensch fühlte, rief Mulder Langly von einem Münztelefon an. Langly war binnen weniger Minuten da und Mulder hatte den Verdacht, dass er gar nicht von dem Parkplatz des Einkaufszentrums gefahren war, aber er stellte keine Fragen. Er wusste, dass er sich glücklich schätzen konnte mit Freunden wie den Einsamen Schützen und Skinner - Freunde, die sich für ihn ins Zeug gelegt und Opfer gebracht hatten, und die ihn nie im Stich lassen würden.

Nur schade, dass man das von ihr nicht behaupten konnte.

Dana sah zum zwanzigsten Mal an diesem Morgen auf die Uhr. Es war immer noch erst 8.45 Uhr, und sie hatte noch etwa eine Stunde totzuschlagen, bevor sie Mulder treffen würden. Die Fahrt zum Büro des Anwalts würde nur etwa zehn Minuten dauern. Jeden Morgen spülte sie das Frühstücksgeschirr ab und machte die Betten, aber jetzt hatte sie nichts anderes zu tun als zu sitzen und zu warten. Mitten im Wohnzimmer saß ihre Stieftochter auf dem Boden und spielte zufrieden mit ihren Puppen. Sie musste lächeln beim Anblick der kleinen Vierjährigen und dachte über ihr jetziges Leben nach.  Es war nicht toll, aber Nymphe, wie Dana sie nannte, war der Lichtblick in ihrer Existenz. Als Dana schließlich die Spannung nicht länger aushalten konnte, fragte sie die Kleine, "Hast du Lust auf einen Spatziergang im Park?"

Die Augen des kleinen Mädchens leuchteten auf und Dana hüpfte das Herz. Sie liebte dieses Kind. Manchmal fragte sie sich, ob Zachary ihr seine Tochter so zeitig in ihrer Beziehung vorgestellt hatte, um ihre Entscheidung ihn zu heiraten zu beeinflussen. Ihr Bruder Bill war ebenfalls behilflich gewesen, da Zach ein alter Freund von ihm war. Er hatte schon seit Jahren versucht, sie und Zach zu verkuppeln, aber er hatte sich zurückgehalten, weil sie Mulder zum Partner hatte. Doch seit Mulders Verhaftung hatte Bill nicht eine einzige Gelegenheit verpasst sie darauf aufmerksam zu machen, dass Zach ein gesunder, zuverlässiger und unverheirateter Mann war, was andererseits auch ein verdeckter Seitenhieb an Mulder war. Scully hatte sich während der ersten zwei Jahre standhaft geweigert, bis sie schließlich einwilligte und mit dem eisernen Entschluss, mit ihrem Leben weiterzumachen, mit ihm ausging.

Nachdem Mulder sie abgewiesen hatte, hatte sie sich zuerst gegen den Gedanken gesträubt, mit anderen Männern auszugehen, weil sie noch zu sehr an ihm hing. Doch als die Zeit verstrich, und er stur den Kontakt mit ihr verweigerte, hatte Dana letztlich eingesehen, dass es eine ausweglose Situation war. Es war Mulders Entscheidung gewesen, und er hatte sie getroffen. Sie musste ebenfalls eine Entscheidung treffen - entweder herumsitzen, ihre Wunden lecken und auf ihn warten, oder sich um etwas Zufriedenheit (wenn schon nicht großes Glück) in ihrem Leben zu bemühen.  Als Zachary ihr nach einem Monat einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte Dana ein paar Tage darüber nachgedacht. Ein oder zwei Mal war sie sogar drauf und dran gewesen, Mulder zu besuchen, um mit ihm darüber zu reden - aber sie hatte sich umentschieden, als sie sich an den Schmerz erinnerte, den sie nach ihrem letzten Besuch durchgestanden hatte. Mulder wollte sie nicht, rief sie sich stur ins Gedächtnis. Er hatte keinen Blatt vor den Mund genommen, um es ihr deutlich zu machen. Sie würde nicht noch mehr ihrer Zeit wegen ihm verschwenden. Sie und Zach hatten eine kleine, aber schöne Hochzeit gehabt, und Dana hatte nie zurückgeblickt - zumindest nicht in der Öffentlichkeit.

Als sie jetzt mit ihrer Tochter auf dem Rücksitz in Richtung Park fuhr, versuchte sie sich abermals davon zu überzeugen, dass sie keine Gefühle mehr für Mulder hatte.

Mulder musste zugeben, dass es ihm gut tat, wieder hinter dem Steuer eines Autos zu sitzen. Nach einigen Minuten gewöhnte er sich langsam wieder daran und schon bald fuhr er bequem und ohne Probleme, wenn auch etwas vorsichtiger als gewöhnlich, in die entgegengesetzte Richtung der Adresse, die Skinner ihm gegeben hatte. Für kurze Zeit zog Mulder in Erwägung abzuhauen und einfach nicht zu hinzugehen, doch dann gestand er sich reuevoll ein, dass Skinners Wagen zu stehlen ihm nicht gerade gute Karten bei seinem Gastgeber bescheren würde—und wenn man ihn schließlich fände, würde Skinner ihn wahrscheinlich für so eine Aktion eigenhändig umlegen. Er hatte deutlich gemacht, dass er keinerlei Entschuldigungen für ein Nichterscheinen akzeptieren würde. So versuchte Mulder damit zurechtzukommen, dass er ihr heute gegenübertreten musste. Ohne Wenn und Aber. In seiner Verzweiflung redete er sich ein, dass die ganze Geschichte wohl nicht länger als eine halbe Stunde dauern würde. Dreißig kurze Minuten. Gerade mal lang genug, um eine alte Wiederholung von Night Gallery im Fernsehen zu gucken. Mit dem Unterschied, dass es hier keine Werbeunterbrechung geben würde - und keine Gnadenfrist. Er hatte bereits beschlossen, dass ein kräftiger Drink nach diesem Treffen genau das Richtige sein würde.

Er blickte auf die Uhr und stellte fest, dass er noch über eine Stunde hatte, bis er im Anwaltsbüro sein musste. Eine rasche Entscheidung getroffen, schwang er den Wagen auf den Freeway. Mit ziemlich dem gleichen Gefühl, das er hatte, als er seine alten Tagebucheintragungen auf seinem Computer gelesen hatte, näherte er sich seiner alten Wohngegend. Und er stellte sich dieselbe Frage - wollte er sich das wirklich antun? Doch mit jeder Minute, die er näher zu seiner früheren Wohnung kam, wurde die Antwort für ihn klarer. Ja, er würde sich das antun, und er würde es mit ziemlicher Sicherheit später bereuen.

Doch man musste Auf Wiedersehen sagen können, und Mulder wollte es hinter sich bringen. Er wollte alle Geister austreiben, die ihn in seinen Träumen verfolgten, und ihn mit den Erinnerungen an das, was er verloren hatte, verspotteten. Stelle dich deinen Ängsten, sagte er sich entschlossen.  Stelle dich und lasse sie hinter dir. Alles schön und gut, behauptete sein Ich, doch je näher er zum Hegal Place gelangte, desto stechender wurde der Schmerz in seiner Magengegend, bis er fürchtete, er müsse anhalten und sich übergeben. Als er endlich vor seinem alten Wohngebäude parkte, zitterten seine Hände stark und er fühlte sich schwindelig. Er lehnte sich zurück an die Kopfstütze und kniff die Augen fest zusammen, um für etwas Mut zu sammeln, wovon er bereits wusste, dass es keine gute Idee war.

Schließlich, nach einer intensiven innerlichen Auseinandersetzung, in der sein Verstand seinen Gefühlen einhämmerte, dass dieser Schritt für eine Heilung nötig war, stieg Mulder entschlossen aus dem Wagen aus und ließ nicht zu, dass seine Feigheit ihn von seinem Vorhaben abbrachte. Er war jetzt hier. Es würde nicht einfach werden, aber er musste sehen, wie...

Mulder klopfte an die Tür des Vermieters und blickte sich in dem bekannten Korridor um. Er sah genauso aus wie der oben. Plötzlich überkam ihn eine Vision ohne Vorwarnung  - er konnte die Szene fast wie einen Film vor sich sehen, der sich in einer transparenten Realität, wie ein Hologramm, vor ihm abspielte. Scully... er... der Korridor vor seinem Apartment... Er ballte die Fäuste und ließ sich von dem Schmerz wieder zurück in die Wirklichkeit treiben. Einen Moment später löste er die Fäuste und bemerkte, dass so stark gedrückt hatte, dass er an einer oder zwei Stellen blutete. Er wischte seine Hände an seiner Jeans ab, als die Tür sich öffnete und er starrte in das Gesicht seines früheren Vermieters.

"Mr. Mulder?" fragte der Mann sichtlich erstaunt.

Mulders Augen trafen nur kurz auf seine, dann senkte er seinen Blick zu Boden. Natürlich wusste Mr. Perrino wo er die letzten Jahre gewesen war.  Jeder wusste es. Mit einem gemurmelten "Es tut mir Leid", drehte er sich um und wollte gehen, als die Stimme der alten Mannes ihn aufhielt.

"Schön Sie zu sehen", sagte er aufrichtig. "Ich habe in der Zeitung über ihre Verfahren gelesen. Wie geht es Ihnen?"

Mulder drehte sich langsam zu ihm zurück, Ungläubigkeit auf seinem Gesicht.  Mr. Perrino war froh ihn zu sehen? Warum? Er war nicht gerade ein Mustermieter gewesen - Schießereien, unbefugte Überwachungen und der Vorfall mit dem Wasserbett, das er gar nicht haben durfte. Mulder war überzeugt gewesen, dass sein Vermieter froh war, ihn los zu sein.

"Ich habe sowieso nie daran geglaubt, dass sie schuldig waren bei diesen an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigungen", fuhr Mr. Perrino lebhaft fort und ignorierte Mulders sichtliche Zweifel. "Sie waren immer ein Mieter, der allen auf den Geist gegangen ist, aber Sie waren trotzdem immer ein netter junger Mann. Sie hätten nie das tun können, was die behauptet haben."

Immer noch auf den Boden starrend nickte Mulder unmerklich und murmelte ein geflüstertes "Danke sehr. Ich weiß das sehr zu schätzen. Jeglicher Ärger, den ich damals verursacht habe, tut mir sehr leid."

"Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen", sagte der alte Mann frohgestimmt. "Das ist doch alles schon ewig her. Brauchen Sie eine Wohnung? Wie das Schicksal so will, ist Ihr altes Apartment gerade leer.  Allerdings muss ich Sie darauf aufmerksam machen", sagte er mit erhobenem Zeigefinger, "keine Wasserbetten."

Bei seinen Worten stockte Mulder der Atem. Konnte er das tun? Sollte er das tun? Doch die Entscheidung nahm ihm Mr. Perrino selbst ab, der bereits den Schlüssel vom Schlüsselbrett neben seinem Schreibtisch gegriffen hatte und Mulder sanft aus seiner Tür schob.

"Lassen Sie uns einfach hoch gehen und Sie können es sich ansehen, in Ordnung? Ich weiß, dass der letzte Mieter die Wände gestrichen hat, vielleicht mögen Sie die Farbe nicht, aber wir können es ja jederzeit ändern, nicht wahr?"

Mit einem Gefühl der Resignation, wie ein Mann auf dem Weg in den Todestrakt, folgte er Mr. Perrino gehorsam in den Aufzug bis in den vierten Stock, seine alte Etage. Als er hier gewohnt hatte, hatte er meistens die Treppen genommen, weil er üblicherweise viel zu sehr in Eile war, und keinen Nerv auf den langsamen alten Lift hatte. Aber Mr. Perrino war Mitte achtzig und Mulder nahm an, dass Treppensteigen wohl zu viel für ihn sein würde. Seine Vorahnung verstärkte sich, als sie sich der Tür näherten, hinter der er so viele Jahre gelebt hatte. Während Mr. Perrino mit dem Schlüssel beschäftigt war, streckte Mulder vorsichtig eine Hand aus und berührte leicht die "2" an der Tür. Sie glänzte viel mehr als die "4", offensichtlich war sie vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden. Er grinste ein wenig, als er sich daran erinnerte, wie viele Nerven ihn diese "2" gekostet hatte.

"Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass die Mieten etwas gestiegen sind in der Zeit, in der Sie fort waren, aber ich..." Mr. Perrino hielt inne und sah Mulder etwas verlegen von der Seite an. "Haben Sie bereits einen Job gefunden, Mr. Mulder?"

Mulder schüttelte leicht den Kopf, seine Augen klebten an der Stelle, wo seine Couch so lange gestanden hatte. "Ich wohne bei einem Freund", sagte er gedankenverloren und ging weiter in das Zimmer hinein. Er war erleichtert, dass er nicht unter einer solchen Spannung stand, wie er erwartet hatte, sein Körper schützte sich selbst vor dem Leiden, das er auch beim Grab seiner Mutter empfunden hatte. Er ahnte, dass seine Nerven ihn zu einem späteren Zeitpunkt nicht vor einem emotionalen Zusammenbruch bewahren würden, aber das wichtigste war, dass es nicht hier passierte.  Nicht jetzt. Nicht vor dem Mann, der ein Symbol seines vorherigen Lebens war. Sein Gesicht hellte sich wieder auf, denn er erinnerte sich mit einer gewissen Freude an seine Fische, und er fragte sich, was wohl aus ihnen geworden war. Er würde Skinner heute Abend fragen. Er wusste, dass Skinner sich ihrer angenommen hatte, aber er hatte in der Wohnung kein Aquarium gesehen.

Er ließ sich von Mr. Perrino durch das ganze Apartment schieben und beachtete das Gerede des Mannes nicht besonders, als Welle um Welle an Erinnerungen über ihn hinwegrollten. Er bemerkte, dass der Teppich im Schlafzimmer erneuert worden war, und ihm fiel der Ozean wieder ein, in den er eines Morgens getreten war—wieder und wieder, obwohl ihm das niemand geglaubt hatte—als sein Wasserbett ein Loch hatte. In der Küche schloss er seine Augen und sah sich selbst eine Pizza in den Ofen schieben, während Scully im Wohnzimmer mit Akten, Computer und Notizen beschäftigt und darauf wartete. Dann hatten sie sich zusammen gesessen mit der Pizza und Unterlagen und bereiteten einen Bericht für Skinner vor.

Das war nicht lange nach ihrer Rückkehr von ihrer Entführung gewesen, und er war noch immer erfreut und aufgewühlt wegen ihrer Rückkehr gewesen.  Mulder ging zurück ins Wohnzimmer und starrte an die Decke. Er war definitiv auf der sicheren Seite, wenn er behauptete, dass seine Nachmieter nie überwacht worden waren und niemand jede ihrer Bewegungen beobachtet hatte.

Seine Augen schweiften über die nackte Wand, an der seine Ledercouch gestanden hatte, und Mulder fuhr es kalt den Rücken herunter. Für eine Sekunde konnte er fast Scullys Hand über seine Haare gleiten fühlen, als er erschöpft und müde dort gelegen hatte. Was hatten sie an diesem Tag gemacht? Scully hatte von seinem Telefon aus angerufen, daran konnte er sich erinnern. Sie hatte nicht laut gesprochen, um ihn nicht zu stören, als er mit geschlossenen Augen und gekreuzten Armen da lag und einfach ihre Anwesenheit genoss. Es war ein schlimmer Tag gewesen, das wusste er auch noch. Sie waren wieder einmal drauf und dran, alles zu verlieren. Doch wie ausweglos die Situation sein mochte, das bloße Streicheln ihrer Hand über seine Stirn hatte sehr geholfen.

Abermals schüttelte er den Kopf und zwang sich wieder in die Wirklichkeit zurück.

"Möchten Sie es haben? " fragte Mr. Perrino und sah ihn erwartungsvoll an, und für eine kurze Sekunde hatte Mulder bereits das Wort "ja" auf der Zunge.

Doch zum Glück siegte sein Verstand und er schüttelte wieder den Kopf - dieses Mal langsamer. "Es tut mir Leid, Mr. Perrino, aber ich weiß nicht, ob es eine so gute Idee ist, jetzt wieder hier einzuziehen. Hier gibt es so viele Erinnerungen..."

"Natürlich, ich verstehe." Mr. Perrino war nicht sauer und ohne ein weiteres Wort drehte sich Mulder um und verließ die Wohnung.

Er kam nicht weit, bevor die Wucht der Erinnerung ihn erfasste und er sich nach Luft schnappend an die Wand lehnen musste. Genau hier. Es war genau die Stelle, und Herr im Himmel, er konnte immer noch ihre Hände an seinem Nacken spüren, wie sie ihn festgehalten hatte, ihre weichen Lippen an seiner Stirn, konnte immer noch die Akzeptanz und Liebe in ihren mit Tränen angefüllten Augen leuchten sehen, als er sich näher heran beugte, und näher und näher, und fast ihren Mund berühren konnte, ...

"Mr. Mulder! Wir brauchen einen Krankenwagen!" hörte er Mr. Perrino aus weiter Ferne rufen.

Mulder hielt sich seinen linken Arm und kämpfte gegen den stechenden Schmerz an, der durch seine Brust schoss und glitt langsam zu Boden. Er zwang sich zu ruhigen Atemzügen, stetig und gleichmäßig. "Nein", keuchte er, aber sein ehemaliger Vermieter ignorierte ihn und hämmerte bereits an die Tür des Nachbarn.

"Nein!" brachte er hervor, dieses Mal etwas lauter. Der Schmerz fing bereits an nachzulassen. "Mr. Perrino, es geht mir gut."

"Es geht Ihnen nicht gut, sie haben einen Herzinfarkt!" Mr. Perrino ließ nicht locker. Er bearbeitete die Tür neben Mulder.

"Nein", sagte er schwach, und sammelte dann seine Kräfte. Der hämmernde Schmerz in seinem ganzen Körper war jetzt fast ganz weg. "Es ist kein Herzinfarkt, es ist eine Panik-Attacke." Er versuchte zu grinsen, um ihn zu überzeugen, doch sein Grinsen verzog sich augenblicklich zu einer schmerzverzerrten Grimasse, als ein letzter Stich seinen Körper durchschoss. "Das passiert mir manchmal. Es geht vorbei. Wirklich."

"Sind Sie sicher?" fragte Mr. Perrino zweifelnd. Er wollte immer noch den Notarzt rufen, aber mit einem schnellen Blick auf seine Uhr, bestätigte Mulder seinen Verdacht. Er würde zu spät zu dem Treffen kommen, wenn er nicht sofort fahren würde. Er wollte Skinner heute Abend nicht gegenübertreten, wenn er es versäumen würde.

Höflich lehnte er die Bemühungen des alten Mannes ab und stand auf, wobei er sich immer noch an der Wand anlehnte. Er brachte ein Lächeln für Mr. Perrino fertig und ging bedachtsam den Korridor hinunter. Jetzt war er für den Aufzug dankbar. Mr. Perrino sah, dass er nichts weiter tun konnte und folgte ihm, eine Hand ausgestreckt, sollte Mulder sein Gleichgewicht verlieren, aber Mulder gewann mit jedem Schritt mehr Trittsicherheit. Als sie im Erdgeschoss ankamen, fühlte sich Mulder wieder soweit normal, dass er Gott sei Dank Mr. Perrino davon überzeugen konnte, dass er imstande war, Auto zu fahren. Der Mann sah ihm nach, als er davon fuhr, und winkte ihm, und Mulder fühlte eine Welle unerwarteten Wohlgefühls. Es gab jemanden außerhalb seines kleinen Freundeskreises, der froh war ihn wieder als freien Mann zu sehen. Mr. Perrino war wirklich freudig überrascht über seinen Besuch gewesen, und Mulder konnte erleichtert ein schwieriges Unternehmen von seiner Liste der zu erledigenden Dinge streichen. Er fragte sich, ob er es je fertig bringen würde, in Scullys frühere Wohngegend zu fahren.

Um nicht von der drohenden Traurigkeit übermannt zu werden, die er bereits in sich aufbauen fühlte, schaltete Mulder das Radio an und entschied, dass bei Scullys Wohnung vorbeizufahren eine ausgesprochen bescheuerte Idee sei.  Die Panik-Attacke saß ihm immer noch in den Knochen und er musste auch noch zu diesem Treffen.

Er hatte keine Probleme, das Anwaltsbüro zu finden und stellte Skinners Wagen auf dem Parkplatz neben der Straße ab. Er stieg aus und nahm einen tiefen Atemzug der kühlen Morgenluft - und wieder überkam ihn das Gefühl, frei zu sein. Es war erstaunlich, was man alles vergessen kann. Zum Beispiel, nicht mehr jede Sekunde wachsam über seine eigene Schulter sehen zu müssen, und einfach aus dem Bauch heraus zu entscheiden wo man gerade hingehen möchte. Mulder hatte sogar kein Handy mehr, das ihn nervte, und er empfand dieses Gefühl der Privatsphäre und Freiheit als äußerst wohltuend.

 

Sie hielt den Atem an und vergaß für einen Moment, die Schaukel zu schwingen, bis ein Quietschen des kleinen Mädchens sie wieder in die Wirklichkeit holte.

Mulder war hier.

Er stand neben seinem Auto und blickte die Straße herunter. Sie hatte ihn gut im Blick. Gedankenverloren schob sie die Schaukel weiter an und sog seinen Anblick hungrig in sich auf. Er hatte abgenommen, was ihn sogar noch größer aussehen ließ. Seine Haare waren kürzer als gewöhnlich, doch es unterstrich sein Profil sehr gut. Er trug schwarze Kleidung, und sie fragte sich, ob das Absicht war. Sie konnte sich daran erinnern, ihm einmal ein Kompliment ausgesprochen zu haben -- das war mindestens hundert Jahre her -- wie gut er in Schwarz aussehen würde. Seine Jeans saß eng an seinen Beinen, doch nicht zu eng, und sein Hemd hing locker an ihm herunter, nicht im Hosenbund wie üblich. Als sie ihn so beobachtete, nahm er seine Sonnenbrille ab und warf sie in den Wagen, bevor er die Tür zuknallte. Er drehte sich um, um auf den Eingang des Gebäudes zuzugehen, und sie ertappte sich dabei, wie sie nach ihm rief.

"Mulder!"

Er erstarrte. Nach einer Sekunde drehte er sich um und suchte, woher der Ruf gekommen war, und sah wie Scully ihm von der anderen Straßenseite zuwinkte. Er schluckte und weigerte sich zuzulassen, dass sein Herz heute zusammenbrach. Er ignorierte sie und betrat das Gebäude.

Scully starrte ihm schockiert nach. Sie wusste nicht, welche Reaktion sie von Mulder zu erwarten hatte, aber sie hatte sicherlich nicht gedacht, dass er sie überhaupt nicht beachten würde.

"Mami, wer ist das?" fragte das Mädchen auf der Schaukel.

"Es ist nur ein Freund, Nymphe. Ein alter Freund", antwortete Scully wie in Trance, ihr Blick immer noch auf die Tür gerichtet, in der Mulder verschwunden war.  Sie schüttelte den Gedanken an ihn ab, lächelte das kleine Mädchen an und streckte eine Hand nach ihm aus. "Wir müssen jetzt zu Mamis langweiliger Verabredung gehen, aber ich verspreche, dass wir danach zum Mittagessen zu McDonald's gehen, okay?"

Die Kleine nickte glücklich, sprang eifrig auf die Beine und nahm Scullys Hand.

Nachdem sie achtsam die Straße überquert hatten (und Nymphe sie ernst daran erinnerte, dass sie nach beiden Straßenseiten gucken mussten), öffnete Scully die Glastür und führte ihre Tochter hinein. Die Sekretärin am Empfang begrüßte sie mit einem Lächeln.

"Mrs. Morrow?" fragte sie und nach fast unmerklichem Zögern nickte Scully.  Morrow. Sie hatte sich noch nicht dazu durchgerungen ihren Namen ändern zu lassen, und bevorzugte es, 'Dr. Scully' genannt zu werden. Nur wenige sprachen sie mit 'Mrs. Morrow' an, so dass sie sich noch nicht an diesen Namen gewöhnt hatte.

"Einfach durch diese Tür, bitte." Die Sekretärin deutete ihr den Weg. "Mr. Mulder ist bereits eingetroffen."

Scullys Herz hüpfte in ihren Hals, als die Frau seinen Namen sagte. Sie schob das Mädchen vor sich in das Büro und half ihr auf einen der Stühle in dem Konferenzzimmer. Aus ihrer Handtasche holte sie ein Malbuch und eine kleine Schachtel mit Wachsmal-Stiften, an die sie in letzter Minute noch gedacht hatte, bevor sie losgefahren war. Während der ganzen Zeit beschäftigte sie sich nebenbei mit ihrer Tochter, um Mulder nicht ansehen zu müssen. Aber sie spürte seine Anwesenheit, die über den Tisch hinweg nach ihr strebte, und für einen Moment konnte sie schwören, dass sie das Aftershave roch, das er immer getragen hatte.

Jetzt, wo Nymphe mit ihrem Buch beschäftigt war, hatte sie keine Ausrede mehr wegzuschauen und letztendlich ruhten ihre Augen auf Mulder, der nun versuchte wegzusehen. Keiner von beiden hatte mit der Frühreife des Kindes gerechnet.

"Sind Sie ein Freund von Mami?" fragte sie und blickte Mulder nachdenklich mit großen Augen unter ihren dunklen Zöpfen an.

Als Mulder nicht antwortete, half Scully aus. "Er ist ein sehr alter Freund von Mami, Emmie. Sein Name ist Mulder."

Sie sah ihn für einen Moment an und wandte sich dann wieder an Scully. "Er sieht aber nicht so alt wie Opa aus."

Der Anwalt kam gerade rechtzeitig zur Tür herein, um diesen Kommentar mitzubekommen, und sein Lachen brach etwas von der Spannung im Raum. Mulder lachte nicht wirklich, aber der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. Endlich sah er Scully an, aber er mied trotzdem noch ihren Blick.

"Emily?" fragte er mit seltsam erschrockener Stimme.

"Emmaline, Emmie ist die Kurzform", korrigierte sie ihn ruhig, und sah ihm dabei ebenfalls nicht in die Augen. Scully würde es nie zugeben, nicht einmal vor sich selbst, aber die Ähnlichkeit der Namen von Zacharys Tochter und ihrer eigenen waren ein weiterer Grund für ihre Entscheidung gewesen ihn zu heiraten. Doch sie war wahrlich nicht so oberflächlich. Es war ihr wohl bewusst, dass es einen Unterschied zwischen den beiden Mädchen gab.  Emily war blond gewesen und hatte ein rundliches Gesicht. Emmie hingegen besaß das dunkle Haar und die Augen ihrer Mutter, und ein fein gezogenes Gesicht. Emmie würde einmal eine richtige Schönheit werden, dachte Scully.  Es würde nicht viele Jahre dauern und die Jungs würden sich um sie reißen.

Als die lange Pause in betretene Verlegenheit auszuarten drohte, räusperte sich der Anwalt. Er wusste nicht recht das Karma zwischen diesen beiden Menschen zu deuten, aber es war fast greifbar. "Lassen Sie uns zur Sache kommen, in Ordnung?" forderte er auf und Mulder und Scully wandten ihm dankbar ihre Aufmerksamkeit zu.

"Hier ist ihre Kopie aller Unterlagen, Mrs. Morrow", sagte er und reichte ihr eine Mappe. Mulder zuckte unmerklich bei dem Namen.

Als sich Scully über den Tisch lehnte, um die Unterlagen anzunehmen, bemerkte Mulder einen dunklen Fleck auf ihrem Oberarm. Instinktiv streckte er seine Hand danach aus, doch er konnte sie im letzten Moment zurückziehen. Er wollte sie nicht berühren. Wenn er ihre Haut unter seinen Fingerspitzen spürte, würde er diese Nacht wohl kein Auge zu machen.

Scully entging sein fragender Blick nicht und versicherte, "Es ist nichts schlimmes. Ich bin gestern gegen ein Regal gerannt. Ich hab nicht hingesehen und bin ziemlich hart dagegen gestoßen. Ich habe mich auch am Kopf gestoßen, aber ich bin okay."

Er riskierte einen kurzen Blick in ihr Gesicht und wäre fast erstarrt, als sie ihn anlächelte. Er sah die Falten unter ihren Augen und erkannte mit einer gewissen Traurigkeit, dass sie zu seinen passten. Sie waren beide älter geworden in den letzten vier Jahren.

 

"Also, sie ist jetzt bei ihm, was?" fragte Bill Scully und schob Zach ein weiteres Bier zu. Sein Freund war ziemlich fertig gewesen wegen der Tatsache, dass seine Frau heute Morgen Mulder sah, so dass Bill aus Norfolk hergefahren war, wo er dieser Tage stationiert war, um den Tag mit ihm zu verbringen. Es war eine lange Fahrt gewesen, aber Bill und sein Schwager waren schon seit Schulzeiten gute Freunde. Die Kilometer auf seinem Tacho und das Spritgeld machten Bill nichts aus, wenn es bedeutete, dass er bei Zach sein konnte, wenn es ihm schlecht ging.

Zach war wirklich fertig heute, und es störte Bill ein wenig, dass er nicht den genauen Grund wusste. War es, weil Dana bei Mulder war, oder war es die Tatsache, dass Mulders Entlassung aus dem Gefängnis jegliche Chance für Dana zunichte machte, das Geld zu erben? Zach hatte sich schon über eine Stunde über beide Themen ausgelassen.

"Als Dana mir sagte, dass der Wille der alten Dame..." er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. "Ich hätte nie geglaubt, dass dieses Arschloch je aus dem Knast kommt."

"Er hätte nie entlassen werden dürfen", meinte Bill dazu und starrte in sein Bierglas. Sie hatten jeder sein Drittes und sie hatten keineswegs vor, bald mit dem Trinken aufzuhören. Jedes Mal, wenn Bill an Mulder dachte und daran, wie sehr seine Familie wegen ihm hatte leiden müssen, nahm er einen weiteren Schluck. Bis jetzt hatte er es geschafft, Mulder für jedes Unglück, dass der Scully-Familie in den letzten zehn Jahren widerfahren war, die Schuld zu geben. Je mehr er trank, desto kreativer wurde er. Nur mit Mühe konnte er seine Aufmerksamkeit auf seinen Freund wenden.

"Weißt du, was das Schlimmste daran ist?" fragte Zach stocksauer. "Als wir geheiratet haben, wollte sie ihm helfen raus zu kommen! Sie hat sich gegen sich selbst gestellt. Gegen *mich* gestellt! Du kannst deinen Arsch darauf wetten, dass ich dem ein Ende gesetzt habe", sagte er zufrieden zu seinem Freund.

"Wie hast du das gemacht?" fragte Bill, während er wieder einen Schluck nahm.

"Ich habe meine Möglichkeiten, sie im Zaum zu halten", sagte Zach geheimnisvoll und unterstrich es mit einem hämischen Grinsen. "Dana macht normalerweise immer das, was ich ihr sage."

"Wird auch Zeit, dass sie einen echten Mann gefunden hat, der ihr zeigt wo es lang geht", nuschelte Bill.

"Oh, und ich bin genau dieser Mann, mein Freund, ich bin genau so einer." Zach nahm einen langen Schluck von seinem Bier, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und rülpste. "Dieser Schweinehund hätte in dem Loch verrecken sollen", tönte er.

"Ja, das hätte er", stimmte Bill zu und fragte sich, warum Mulder immer auf seinen Füßen zu landen schien.

Zach lehnte sich konspirativ zu Bill und flüsterte, "Ich hab versucht, das zu arrangieren, aber leider läuft nicht immer alles wie man will."

Bill starrte seinen Kumpel nur an, er stelle lieber keine Fragen. Er wusste, dass Mulder während seiner Inhaftierung einiges an Prügel hatte einstecken müssen, einmal sogar so schlimm, dass er einige Wochen im Krankenhaus verbringen musste. Seine Schwester hatte diese Information von Skinner bekommen und an ihn weitergegeben. Er hatte angenommen, dass das eben das Leben im Gefängnis mit sich brachte, aber jetzt... Zach redete, als ob er damit etwas zu tun gehabt hatte. Aber das war absurd. Zach war ein netter, normaler Kerl mit Frau und Kind und einem Job. Er war nicht jemand, der verwickelt sein könnte in... oder doch? Mit einem weiteren ordentlichen Schluck Bier beschloss Bill, es gar nicht wissen zu wollen.  Sicherlich war es nur der Alkohol, der hier sprach. Zach wurde immer zu einem unglaublichen Prahlhans, wenn er trank.

"Jetzt ist es also weg. Die ganze Kohle, einfach weg", trauerte Zach der Erbschaft nach.

"Hm, vielleicht auch nicht", meinte Bill nach einem Moment benebelter Erkenntnis. "Du hast vielleicht immer noch eine Chance da ranzukommen, aber dann wirst du wahrscheinlich ein sehr alter Mann sein—"

"Was redest du da?" wollte Zach wissen. Er wirkte plötzlich viel nüchterner als ein paar Sekunden zuvor.

Bill zuckte die Schultern. "Ich weiß, dass bevor Mulder eingelocht wurde, er Dana zu seiner Erbin gemacht hat, für den Fall, dass seine Mutter ins Gras beißt solange er noch hinter schwedischen Gardinen ist", erklärte er.  "Natürlich war sein Vermögen damals noch lange nicht so groß wie jetzt, wahrscheinlich weniger als zehntausend Dollar." Er lehnte sich näher, als ob er ihm eine wichtige und äußerst geheime Tatsache eröffnen wollte. "Denn jetzt ist es eine ganze Menge mehr."

Zachary starrte Bill lange an. Lange genug, dass es Bill unbehaglich wurde.  Dann stand er auf einmal auf. Er holte Geld aus seiner Tasche und warf Bill einige Scheine hin. "Ich muss gehen", sagte er und klopfte ihm auf die Schulter. "Danke, dass du hergekommen bist und mir moralische Unterstützung gegeben hast, alter Freund."

"Wo gehst du hin?" rief Bill, aber Zach war bereits aus der Tür.

 

Es war vorbei. Die Papiere waren unterzeichnet, signiert und besiegelt und Mulder war ein reicher Mann. Zumindest für seine Verhältnisse. Das Wissen, dass er jetzt all das Geld zu seiner Verfügung hatte, war ein seltsames Gefühl für ihn, und irgendwie war es auch beängstigend. Nichtsdestotrotz hatte er bereits entschieden, dass die erste Anschaffung ein Auto sein würde. Dann würde er sich vielleicht nach einem Haus umsehen. Skinner hatte sich sehr gut um ihn gekümmert, ihn wie einen Freund behandelt anstatt wie einen Psychopaten oder Außenseiter. Doch früher oder später würde seine Anwesenheit zur Last werden.

Mulder verließ das Büro rasch, während Scully Emmie half, ihre Sachen zusammenzupacken. Er hoffte, dass er einen Abgang machen könnte, ohne mit ihr reden zu müssen. Dann plante er, sich irgendwo in eine nahegelegene Bar zu verziehen und den Nachmittag damit zu verbringen, sich gehörig einen hinter die Binde zu kippen. Das Gefühl in ihrer Nähe zu sein war unerträglich gewesen, viel schlimmer als er es sich je vorgestellt hatte. Er war fix und alle von den Anstrengungen, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Er hatte während des ganzen Alptraums keine Mine verzogen, und als es vorüber war, hatte er schnellstens seine Sachen gepackt und war regelrecht zur Tür heraus gerannt.

Scully beobachtete ihn mit einem Ausdruck ärgerlichen Unglaubens auf ihrem hübschen Gesicht. Sobald das Meeting begonnen hatte, hatte Mulder seine Business-Fassade übergezogen, sich völlig darauf konzentriert und sie ignoriert. Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, privat mit ihm zu sprechen, und als er in der Tür verschwand wusste sie, dass wenn sie ihn jetzt gehen lassen würde, sie nie wieder eine Chance dazu haben würde. Sie hatte nicht vor, all die Jahre ihrer Freundschaft wegzuwerfen, nur weil Zach und Emmie jetzt im Spiel waren. Scully warf die Wachsmal-Stifte ungeordnet in die Tasche und hob Emmie hoch, obwohl sie langsam zu schwer wurde, um getragen zu werden, und eilte ihm nach.

Mulder war schon bei Skinners Wagen angekommen, öffnete die Tür und stieg erleichtert ein. Ohne hinzusehen tastete er nach der Sonnenbrille, die er vorher aufs Armaturenbrett geschmissen hatte—es ist wohl besser, seine leicht feuchten Augen vor neugierigen Blicken zu verbergen. Gott, sie war immer noch so schön. Der Meinung war er trotz allem. Sie war dünner als er sich erinnern konnte, aber nicht so schrecklich knochig wie damals, als sie mit ihrem Krebs zu kämpfen hatte. Ihr Gesicht hatte etwas gealtert ausgesehen, doch als sie gelächelt hatte... Mulder zog die Luft ein, um den plötzlichen Schmerz in seiner Brust zu vertreiben. Als sie Emmie angesehen hatte, hatte er die alte Zufriedenheit an ihr gesehen und es brach ihm fast das Herz, dass nicht er der Grund dafür war. Es war sogar einem Außenstehenden klar, dass Scully dieses Kind liebte. Offensichtlich liebte sich auch den Vater des Kindes, fiel ihm zu diesem Thema ebenfalls ein. Sie hatte ihn geheiratet.

Er griff nach hinten, um die Autotür zu schließen und sein Magen drehte sich um. Sie stand da. Sie war ohne einen Mucks bis zum Auto gekommen.

"Mulder", begann sie, und er umgriff eisern das Lenkrad.

"Verschwinde, Scully", murmelte er.

"Nicht bevor wir miteinander gesprochen haben."  Sie blieb standhaft. "Du kannst nicht einfach so vor mir weg laufen."

"Warum nicht?" rief er aufbrausend, unfähig sich im Zaum zu halten. "Hast du das nicht auch gemacht?"

Sie starrte ihn mit roten Wangen an. "Du hast nicht mich nicht gewollt!" erinnerte sie ihn wütend. "Du hast darauf bestanden, dass ich gehe, und als ich versucht habe, dich zu besuchen, wolltest du mich nicht sehen! Meine Briefe kamen zurück... du hast mich total aus deinem Leben gestrichen." Sie atmete schwer vor Entrüstung, doch er ignorierte es.

"Oh, komm schon, Scully, du kanntest die Situation. Du kanntest *mich*. Du musst doch gewusst haben, dass das nicht das ist, was ich wirklich wollte." Er sah hinter seiner Brille zu ihr auf und sie verspürte auf einmal den Wunsch, sie ihm von der Nase zu reißen und ihn zu zwingen, sie anzusehen.

"Das habe ich sehr wohl gewusst, Mulder, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du mich absolut nicht an dich heran gelassen hast."

Er drehte sich ein wenig weg, ertappt. Er wusste, dass es stimmte, was sie sagte, er hatte sie ausgeschlossen, aber verdammt noch mal, sein Ego bestand darauf, er hätte auf sie gewartet, wäre er an ihrer Stelle gewesen!  Als er seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte, sagte er ruhig, "Es war falsch, Scully. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dein Leben damit vergeudest, auf mich zu warten."

'Habe ich ja auch nicht!' wollte sie keifen, aber sie tat es nicht, als sie merkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Es berührte sie plötzlich, dass Mulder sie immer noch liebte. Sie hatte es bis jetzt nicht wirklich geglaubt. Dieses Treffen musste eine wahre Tortur für ihn gewesen sein.

Scully ließ Emmie auf den Boden herab, behielt aber immer noch einen festen Griff an ihrer Hand, und lehnte sich an den Wagen. Ihre Züge waren sanft, als sie ihm den Rücken zuwandte. "Aber ich wollte auf dich warten, Mulder", sagte sie leise. "Ich wollte nichts anderes. Und ich war bereit zu warten, aber du hast mich nicht gelassen. Wenn du mich nicht völlig ausgeschlossen hättest, wenn du mir nur einen Funken Hoffnung gelassen hättest, an dem ich hätte festhalten können..."

"Scully..."

"Ich war einsam, Mulder." Ihre Stimme hatte einen dunkleren Ton angenommen, und ihm fiel auf, dass sie ihre Tränen zurückhielt. "Ich habe dich bereits damals schon so vermisst, und als du mich zurückgestoßen hast, hatte ich erst recht das Gefühl, dich verloren zu haben." Sie hielt inne und sah mit leerem Blick auf die andere Straßenseite, wo Kinder im Park spielten. "Zach war auf einmal da. Er war fürsorglich, seine Gesellschaft war nett, und er hatte eine Tochter, die ich sehr mochte." Sie drückte die Hand der Kleinen und lächelte sich versichernd an. Das kleine Mädchen sah ein wenig erschrocken aus wegen dem ernsten Ton der Unterhaltung. Scully bemerkte mit einer gewissen Traurigkeit, dass Emmie schon so viele Auseinandersetzungen zwischen Erwachsenen gesehen hatte, dass sie nicht besonders überrascht aussah. Sie zuckte die Schultern und fuhr fort, "Es tat einfach zu weh zu hoffen, dass wenn du frei kommst, du irgendetwas mit mir zu tun haben wolltest. Ich habe wirklich gedacht, dass ich dir nichts mehr bedeute."

Es kam ihm vor, als würde eine Last von der Schwere eines Elefanten auf ihn fallen und für einen Moment konnte er nichts weiter tun, als zu keuchen.  "Willst du damit sagen, dass es meine Schuld ist?" fragte er schließlich mit erstickter Stimme. "Ich habe dich dazu gebracht, Scully?"

Sie sah zu ihm hinunter, und das Leiden, das sie in seinem halb verdeckten Gesicht sah, erschreckte sie zutiefst. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, um ihn zu beruhigen, doch er schreckte zurück als hätten ihre Finger seinen Arm verbrannt.

"Ich konnte nicht in Ungewissheit leben, Mulder", sagte sie und in ihrer Stimme lag eine Bitte nach Verständnis. "Ich musste mich entscheiden. Als du mir deutlich gemacht hast, dass ich dich nicht haben kann, habe ich mich für Zach entschieden."

"Und für Emmie."

Trotzig hob sie ihr Kinn. "Ja, und für Emmie. Ich liebe Zach vielleicht nicht so wie ich dich geliebt habe, aber wir kommen gut miteinander aus."

Jetzt drehte er sein Gesicht wieder etwas zu ihr, doch sein Blick war immer noch gesenkt. "Geliebt?" fragte er mit erstickter Stimme, als er versuchte, seinen innerlichen Schmerz unter Kontrolle zu halten.

Sie sah ihn geradewegs, aber kurz an. "Ich habe diese Gefühle verborgen, Mulder. Ich musste es tun, um weitermachen zu können."

Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Nachdem Scully Emmie in den Wagen gesetzt hatte, stieg sie selbst ein und fuhr los.

Mulder sah sie davon fahren und wünschte sich die Stumpfheit und Trübheit, die er manchmal empfand. Doch dieses Mal empfand er nicht die willkommene Gefühllosigkeit, die ihm über den Emotionswirbel hinweg half. Da er viel zu aufgewühlt war, um jetzt Auto zu fahren, riss er sich die Sonnenbrille von den Augen, warf sie beiseite und stieg aus. Er schlug die Tür so fest er konnte zu und schlug mit den Händen in den Hosentaschen und gesenktem Blick den Weg zum Park auf der anderen Straßenseite ein.

 

Zachary hatte eigentlich nicht vor gehabt zu tun was er tat als er aus der Bar herauskam. Er war auf dem Weg nach Hause, nachdem Bill mit seinem Gerede über das Drecksschwein Mulder an die Grenzen seiner Geduld gestoßen war, als es ihn wie ein Blitz traf. Warum sollte er sich das Arschloch nicht mal ansehen? Er hatte Fotos von ihm gesehen, die meisten unscharf und grieselig aus Zeitungsberichten über die beiden Verhandlungen. Soweit Zach es beurteilen konnte, gab es nichts an dem berühmten Mulder, das das stetige und unerklärliche Interesse seiner Frau an ihm rechtfertigen würde.  Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass wenn er sich beeilen würde, er es noch rechtzeitig zum Anwaltsbüro schaffen würde, bevor das Treffen zu Ende war. Er bog an der nächsten Ampel rechts ab und schlug die Richtung seines neuen Ziels ein.

Als er den Häuserblock erreicht hatte, wo sich das Büro befand, fuhr er langsamer und näherte sich mit aufmerksamem Blick dem Parkplatz. Er blickte sich um und sah, wie die Tür des Hauses sich plötzlich öffnete. Ein großgewachsener, dunkelhaariger Mann ließ die Tür hinter sich zufallen und ging mit großen Schritten auf das Auto zu, das neben Danas parkte. Gerade als er eingestiegen war, sah Zach wie seine Frau mit Emmie auf dem Arm aus der Eingangstür herauskam. Rasch fing sie den Mann ab. Zach fuhr in einer Parklücke, um die Unterhaltung zu beobachten. Er konnte natürlich nichts hören, aber es war durch ihre Mimik ersichtlich, dass ihre Unterhaltung recht hitzig verlief. Zach lächelte selbstgefällig mit der Zuversicht, dass Dana ihren Ex-Partner gerade verabschiedete. Doch dann sah er, wie seine Frau eine Hand nach ihm ausstreckte. Selbst aus der Entfernung konnte er sehen, dass es eine hingebungsvolle Geste war, und sein Grinsen verzog sich zu einer Grimasse der Eifersucht. Im nächsten Moment steckte Dana Emmie auch schon hastig ins Auto und war bald mit dem Auto außer Sichtweite.

Zach beobachtete die Szene weiter und sah wie der Mann, der kein anderer als Fox Mulder sein konnte, aus seinem Auto ausstieg, die Tür zuschlug und auf den Park zu ging. Später sagte er sich, dass es einfach eine zu gute Gelegenheit war, um sie verstreichen zu lassen. Er hatte noch Bill Scullys Stimme im Ohr: 'Es ist jetzt viel mehr Geld'. Er fühlte nichts als Wut.  Ohne Vorwarnung trat er das Gaspedal durch und fuhr direkt auf den Mann zu, der gerade die Straße überquerte.

Mulder sah verwirrt durch den Lärm auf, gerade noch bevor der Truck ihn erwischte und er durch die Luft geschleudert wurde. Er kam hart auf dem Asphalt auf und blieb nach Luft schnappend liegen. Er hörte jemanden schreien, doch als er unter Schmerzen seinen Kopf nach dem Truck drehte, der ihn gestreift hatte, bemerkte er, dass der Fahrer gar nicht aus seinem Fahrzeug gestiegen war. Stattdessen musste er mit Schrecken zusehen, wie der Truck langsam zurückfuhr. Mulder versuchte sich aufzusetzen, doch er sank von Schmerzen gepeinigt wieder zurück. Das Stechen in seiner Brust war so plötzlich und so stark und keine seiner Muskeln wollten ihm gehorchen.  Er kämpfte gegen das Hämmern in seinem Oberkörper an und rollte sich auf die andere Seite, um den Angreifer sehen zu können. Mulder erstarrte vor Schreck und konnte nur zusehen, als der Pickup wendete und mit größer werdender Geschwindigkeit geradewegs auf ihn zukam. Hilflos schloss Mulder die Augen und wartete auf den Aufprall.

Zachary drückte abermals das Gaspedal mit einem hämischen Lächeln durch, mit der Absicht mit diesem Anlauf zu Ende zu führen, was er begonnen hatte, als er eine Frau mit wildem Geschrei auf das Geschehen zulaufen sah. Es war möglich, dass sie alles gesehen hatte. Sie war eine Zeugin. Wenn er Mulder umbrachte, konnte sie ihn möglicherweise später identifizieren. Zachary traf eine rasche Entscheidung das Risiko nicht einzugehen. Er hoffte, dass die Frau in ihrer Hysterie nicht daran dachte, sich sein Nummernschild zu merken. Er beschleunigte seinen Truck und wich in letzter Sekunde aus, bevor er Mulders Kopf erwischte. Mit quietschenden Reifen bog er um die nächste Ecke und lies den Verletzten auf der Straße liegen. Die Frau schrie ununterbrochen seinen Namen.

"Mr. Mulder! Mr. Mulder! " Joyce, die Sekretärin aus dem Anwaltsbüro war nach einem Gang zum Getränkeautomaten zu ihrem Arbeitsplatz zurück gekehrt, als sie zufällig nach draußen sah und mit Entsetzen beobachten konnte, wie Mulder von dem Truck angefahren wurde. Augenblicklich ließ sie ihre Cola fallen und stürzte mit lautem Geschrei hinaus. Ihr Chef, den sie durch ihr Geschrei auf die Situation aufmerksam gemacht hatte, war ebenfalls hinausgelaufen und hatte rasch die Lage eingeschätzt. Joyce war eine gute Sekretärin, aber sie war nicht jemand, den man in einer Notsituation als erste herbeirufen würde stellte er grimmig fest, als er die Polizei und einen Krankenwagen rief.

 

Mulder öffnete langsam die Augen, und stellte nach und nach fest, dass er einige starke Medikamente bekommen hatte. Dessen war er sich sicher, denn er spürte die Schmerzen in seiner Brust, aber irgendwie tat es gar nicht weh. Es war lediglich etwas, dessen er sich bewusst war. Er versuchte seinen Arm zu bewegen, doch er war zu schwer. Mit einem Seufzen fragte er sich, wer ihn dieses Mal zusammengeschlagen hatte und warum. Seine Wahrnehmung festigte sich und er stellte erleichtert fest, dass er sich gar nicht im Gefängniskrankenhaus befand. Das hier war ein normales Krankenhaus mit einem normalen Krankenbett und neben dem Bett saß Skinner, der in ein Magazin vertieft war.

"Willkommen zurück, Mulder", begrüßte Skinner ihn, rieb sich den Nasenrücken und legte das Heft beiseite. Er gähnte, streckte sich und lächelte ein wenig. "Ich würde Sie glatt fragen wie es ihnen geht, aber ich glaube, ich kann es mir vorstellen."

"'s geht ei'entlich", lallte Mulder, und Skinner musste lachen.

"Das ist immerhin etwas. Können Sie sich erinnern was passiert ist?"

Mulder nickte einmal, verzog das Gesicht und verzichtete auf ein weiteres Nicken. Großer Fehler. In Gedanken fing er mit der Inventur an: Kopf, Brust, Arm... welcher Körperteil an ihm war eigentlich noch heil? Er zwang seine Augen wieder auf und wagte einen Blick auf die untere Hälfte seines Körpers. Erleichtert seufzte er. Kein Gips oder Verband dort unten, seine Beine schienen in Ordnung zu sein, er hatte nur Schmerzen in seinem Oberkörper. Als er so ruhig da lag, begannen die Medikamente wieder zu wirken und minderten die Auswirkungen seiner Kopfbewegung.

"Ein Auto hat mich angefahren", sagte Mulder und merkte, dass sich seine Zunge einen Tick zu schwer anfühlte. "Ein großes Auto."

"Das stimmt", nickte Skinner. "Es war Fahrerflucht. Ich bin überrascht, dass Sie sich daran erinnern können."

Mulder drehte langsam seinen Kopf und sah Skinner an. "Das war keine Fahr'flucht", sagte er langsam. " 's war Absicht."

Skinner runzelte die Stirn und betrachtete Mulder. Er bekam gar nicht so erschlagende Mengen an Medikamenten. Andererseits hatte er immer schon ziemlich verrückte Einfälle gehabt. "Warum glauben Sie das?" fragte er dann.

Mulder verzog das Gesicht ein wenig. Er wusste, dass sein früherer Boss die Antwort nicht mögen würde. Nach einem langen Zögern sagte er, "Ich weiß es einfach. Er versuchte noch einmal mich anzufahren."

"Wer?"

"Der Fahrer."

"Konnten Sie ihn erkennen, Mulder?"

"Nein", murmelte er. Er schluckte, denn plötzlich war sein Hals ganz trocken geworden. Skinner hielt ihm ein Glas Wasser an die Lippen, von dem Mulder ein paar kleine Schlucke nahm.

"Wissen Sie wenigstens, ob es ein Mann oder eine Frau war?"

"Nein."

"Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass er sie noch mal anfahren wollte?" Skinner wollte nicht ungeduldig erscheinen, aber die einzige Augenzeugin in diesem Fall hatte klar und deutlich angegeben, dass der Truck Mulder angefahren hatte, zurück gefahren war und verschwunden war.  Die Sekretärin hatte einen überraschend zusammenhängenden Ablauf geschildert, wenn man mal bedachte, in welchem Zustand sie gewesen war. Und es gab Skinners Meinung nach nichts an ihrer Aussage das andeutete, dass der Vorfall etwas anderes als ein einmaliges Anfahren mit anschließender Fahrerflucht war.

"Zurück gefahren", erklärte Mulder und kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an, die ihn übermannen wollte. "Er wollte wieder auf mich zu. Sie hat geschrien un' er hat sich aus'm Staub gemacht." Seine Stimme ebbte zu einem Flüstern ab.

Mulder entspannte sich in den Kissen - erschöpft von dem Versuch es Skinner verständlich zu machen. Er hatte es in dem Moment gewusst, als er auf die vordere aufgemotzte Stoßstange des riesigen Trucks gesehen hatte, und ihn im Rückwärtsgang langsam Anlauf nehmen sah, dass er sterben würde, aber er war vollkommen unfähig gewesen es zu verhindern. Er konnte nicht einmal ausweichen, nicht nach Hilfe rufen, konnte nur da liegen und hilflos zusehen, wie der Pickup auf ihn zukam. Er hatte die Augen geschlossen und Sekunden später den Luftzug gespürt, als der Truck an ihm vorbeirauschte.  Er nahm an, dass er daraufhin das Bewusstsein verloren hatte, und erst hier mit den Nachwirkungen der Narkose aufgewacht war.

Skinner nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen, wonach er die Brille wieder aufsetzte. "Mulder", sagte er und sah seinem Freund in die Augen.  "Ich weiß, dass Sie davon überzeugt sind, aber ich habe absolut keinen Hinweis darauf gefunden, dass es so gewesen ist."

Mulder schüttelte verzweifelt den Kopf, soweit es ging, und ignorierte das plötzliche Hämmern, das ihn vollends wach machte. "Jemand hat versucht mich umzubringen."

"Glauben Sie, dass er Sie speziell im Visier hatte oder hätte es irgendein anderer Passant sein können?" fragte Skinner aus Interesse. Es war ja nicht so, dass Mulder noch nie Ziel für Anschläge gewesen war, aber jetzt gab es für niemanden einen Grund, ihn umzubringen. Er war nicht länger eine Gefahr für diejenigen, die ihn zuvor aus dem Weg haben wollten. Sie würden ihn sicher in Ruhe lassen. Außerdem, wenn sie Mulder umbringen wollten, würden sie ganze Arbeit leisten. Sie konnten sich keine Fehler wie diesen leisten und sie würden keine Amateure beauftragen.

"Weiß nich' ", sagte Mulder mit noch schwererer Stimme, als ihm die Augen zufielen und es wieder schwarz um ihn wurde.

Skinner dachte über das nach, was Mulder gesagt hatte, und ging auch noch einmal die Aussage der Sekretärin durch, doch er konnte beim besten Willen nicht zu dem Schluss kommen, dass Mulder Recht hatte. Sein früherer Agent muss sich geirrt haben. Wer würde ihn umbringen wollen? Eine Gestalt an der Tür riss ihn aus den Gedanken.

"Wie geht es ihm, Sir?" fragte Scully und trat leise in das Zimmer. Sie hatte Skinners Anruf bekommen, doch sie musste erst einen Babysitter für Emmie finden, bevor sie ins Krankenhaus eilen konnte. Zachary war nicht begeistert gewesen, als sie ihm sagte, dass sie den ganzen Abend weg sein würde, um einen alten Freund im Krankenhaus zu besuchen. Der daraufhin folgende Streit war so heftig gewesen, dass die Nachbarn ihn mit Sicherheit hören konnten, und sie fragte sich, ob er noch wach sein würde, wenn sie nach Hause kam. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.  Sie hoffte nicht. Sie hasste es, wenn Zach sich betrank, und er hatte den ganzen Tag getrunken. Zuerst mit ihrem Bruder Bill, später alleine. Die heftigsten Auseinandersetzungen hatten sie nur, wenn er unter Alkoholeinfluss stand. Was heute noch verstärkend hinzukam war, dass er sich schon den ganzen Tag über den Verlust von Mulders Geld beklagt hatte. Sein Interesse an Teena Mulders Erbe war ihr schon immer zuwider gewesen.

"Er ist ziemlich mitgenommen, aber er wird sich erholen", war Skinners Antwort.

Scully trat näher und Skinner bot ihr einen Stuhl an. Sie lächelte dankbar, setzte sich und nahm Mulders Hand in ihre. "Sein Puls ist etwas schnell", stellte sie fest.

"Er war vor einer Minute noch wach. Scully", sagte Skinner und hockte sich neben ihren Stuhl, so dass sie nicht zu ihm aufschauen musste, "haben Sie irgendetwas Verdächtiges gesehen oder gehört, bevor Sie gefahren sind?"

Sie sah ihn verwundert an. "Nein, warum?"

Skinner presste seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und Scully wurde zurückversetzt in die Zeit, als sie und Mulder vor ihrem Boss im Büro saßen und er genau diesen Gesichtsausdruck hatte. Üblicherweise bedeutete es, dass er anderslautende Informationen hatte und nicht so recht wusste, was er damit machen sollte.

"Mulder scheint zu glauben, dass es kein Unfall war, sondern ein Mordanschlag", sagte er gleichmäßig.

Ihre Augen weiteten sich bei dieser Andeutung. "Aber wer würde...? Und warum?" fragte sie. "Die Leute, die ihn entlassen haben..."

"Wenn sie gewollt hätten, hätten sie sicherlich eine Möglichkeit gefunden, seine Freilassung zu verhindern", unterbrach Skinner sie. "Sie haben eine Verhandlung manipuliert, sie hätten die zweite sicherlich ebenfalls anders ausgehen lassen können. Ich glaube nicht, dass es diese Leute waren. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass es überhaupt ein Anschlag war. Ich glaube, dass Mulder sich irrt, aber er besteht darauf, und Sie wissen, dass Mulder sehr hartnäckig ist. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf setzt..."

"... könnte es eine Atombombe nicht aus der Welt schaffen", stimmte sie lächelnd zu. "Aber wissen Sie, Sir, Mulder hatte öfter Recht als Unrecht. Zumindest teilweise."

"Ich bin überrascht, dass Sie das zugeben, Scully. Sie haben ihm doch immer das Gegenteil beweisen wollen." Scully stockte, und er beeilte sich hinzuzufügen, "Ich möchte nicht unhöflich sein, aber Sie haben Mulder seine paranormalen Ideen noch nie abgekauft."

Jetzt war ihr klar, dass Skinner sie mit dem was er sagte nicht beleidigen wollte. "Ich habe sie ihm nicht abgekauft. Ich kaufe sie ihm immer noch nicht ab. Aber es gelingt uns immer wieder, mit unseren jeweiligen Sichtweisen Kompromisse zu machen..."

"Aber nicht immer", endete er an ihrer Stelle.

Traurig schüttelte sie den Kopf und kämpfte gegen ihre Tränen an, als sie Mulders Hand drückte. "Nein, nicht immer", flüsterte sie. "Nicht oft genug."

Skinner deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann im Krankenhausbett.  "Wie wird er wohl reagieren, wenn er aufwacht und Sie hier vorfindet?" fragte er mit erzwungener Gleichgültigkeit. "Haben Sie beide sich ausgesprochen?"

"Nein", gestand Scully betreten.

"Ich möchte nicht, dass er sich aufregt", warnte er. Als er aufstand erinnerte das Knacken seiner Knie daran, dass er langsam in die Jahre kam.

Was du auch versuchst, gestand er sich selbst ein, du wirst jeden Tag älter. "Er hatte einen langen Tag. Ich will nicht, dass er sich Ihretwegen noch mehr aufregt, egal wie gut Sie es mit ihm meinen." Scully traute ihrer Stimme nicht und nickte nur, ihre Augen immer noch auf Mulder gerichtet.

"Ich werde dann mal gehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht", sagte Skinner.  Es schien der eleganteste Weg zu sein, ihr etwas Zeit alleine zu lassen, und Scully schien dankbar darüber zu sein. Sie nickte wieder. Skinner verließ den Raum und schloss die Tür leise hinter sich.

Scully betrachtete Mulder während er schlief, sein Kopf leicht von ihr abgewandt. Er hatte sich nicht sehr verändert seit sie ihn das letzte Mal vor vielen Monaten gesehen hatte. An dem Tag, an dem er sie aus seinem Leben geworfen hatte. Er hatte ein paar Falten mehr, aber sie ebenfalls. An seinen Schläfen kam das Graue schon langsam durch, und sie streckte ihre Hand aus, um  ihm liebevoll die kurzen Strähnen von der Stirn zu streichen.

Mulder fühlte ihre Hand auf seinem Gesicht und öffnete benommen die Augen.

"Scully?" fragte er. Er wusste nicht, ob es nur ein Traum war.

Sie antwortete nur, indem sie lächelte. Er fragte sie, wie oft sie diese Szene schon gehabt hatten: wie er in einem Krankenhaus aufwacht und sie neben seinem Bett sitzt und wartet. Auf ihn wartet. Warum hatte sie nicht dieses letzte, wichtigste Mal gewartet? Er seufzte und verdrängte diesen Gedanken. Sie hatte es ihm erklärt so gut wie man es erklären kann, nahm er an. Er würde Zeit brauchen, um das zu akzeptieren, was sie sagte, aber er wusste, dass sie die Wahrheit sagte.

"Es tut mir Leid, dass ich nicht früher hier sein konnte", sagte sie mit sanfter Stimme. "Ich musste warten, bis Zach nach Hause kommt, um auf Emmie aufzupassen."

Er bemühte sich, sie klar vor sich zu sehen. "Weiß er, dass du hier bist?" fragte er mit fester Stimme, bemüht, sich trotz seines morphiumumnebelten Verstandes deutlich zu artikulieren.

"Ja", log sie und redete sich ein, dass es eigentlich nur eine halbe Lüge war. "Er wünscht gute Besserung."

Mulder grinste schwach. "Wer's glaubt", war seine einzige Reaktion.

"Mulder, wegen unserem Gespräch vorhin..."

"Vergiss es, Scully. Ich verstehe jetzt, dass du getan hast was du für richtig gehalten hast. Vielleicht werde ich es mit der Zeit sogar akzeptieren können, aber das soll mein Problem sein. Es gibt allerdings etwas, das du jetzt für mich tun müsstest." Er sah ihr direkt in die Augen und versuchte, klar zu bleiben.

"Was denn, Mulder?"

"Derjenige, der mich angefahren hat, wer immer das auch war... Scully, es war vorsätzlich. Ich habe es Skinner schon erzählt, aber er glaubt mir nicht. Du musst herausfinden, wer mich umbringen will und warum." Der ernste Tonfall machte ihr Angst, und sie fragte sich auf einmal, ob Skinner mit Mulder über eine psychologische Therapie gesprochen hatte.

"Warum glaubst du das?" fragte sie sanft und wiederholte Skinners Frage.

Mulder hatte immer noch keine richtige Antwort.

"Ich bin einfach davon überzeugt", erwiderte er leise und senkte seinen Blick. "Ich kann es nicht erklären, aber ich weiß es. Ich konnte es in dem Moment fühlen, Scully. Skinner glaubt mir nicht, aber du siehst sicher, dass es ein viel zu großer Zufall wäre."

//Sie müssen mir glauben, Scully// flüsterte eine Stimme aus der Vergangenheit.

Sie schüttelte langsam den Kopf, als sie die Frustration auf seinem Gesicht breit machte. "Es tut mir leid, Mulder, aber ich glaube es nicht. Skinner sagt, dass es keine Hinweise gibt..."

"Was ist mit dem Truck?" unterbrach er sie und bekämpfte das Gefühl der Verzweiflung. "Hat irgendjemand den Truck näher ansehen können oder den Fahrer?"

//Niemand sonst auf diesem verdammten Planeten tut es...//

Scullys Augen weiteten sich bei der Erinnerung, aber sie nahm sich zusammen und ließ ihre Gedanken nicht in die Vergangenheit abschweifen. "Die einzige Zeugin ist Joyce, die Sekretärin aus dem Anwaltsbüro. Alles, was sie uns sagen konnte ist, dass es ein roter Truck war. Und dass es definitiv ein Anfahren mit Fahrerflucht gewesen ist", fügte sie betonend hinzu.

"Scully, das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist Joyce' hysterisches Gekreische", murmelte er sarkastisch und merkte, dass er jetzt doch langsam den Kampf gegen die Beruhigungsmittel verlor. "Sie ist sicherlich nicht die verlässlichste Zeugin."

"Du warst verletzt. Du warst bewusstlos. Macht dich das verlässlicher?" Sie drückte seine Hand, um die Schärfe ihrer Behauptung zu mildern, doch er zog seine Hand weg.

"Ich weiß, was ich geseh'n hab', un' ich weiß, was passiert is' ", beteuerte er, mit unklarer werdenden Stimme.

"Tja, wenn es bei deinen Eindrücken bleibt, haben wir nichts in der Hand", sagte Scully. Es hatte sie verletzt, dass er ihr seine Hand wieder entzogen hatte. "Die Polizei wird natürlich weiter nach dem Fahrer des Fahrzeugs suchen, aber wir wissen beide, dass die Chancen nicht sehr hoch stehen."

Er nickte wissend und drehte sich ein wenig, um sie besser ansehen zu können. Ihre Hand lag auf dem Bettrand und der Ärmel ihrer Bluse war ein wenig hochgeschoben, so dass er den dunklen Fleck über ihrem Handgelenk nicht übersehen konnte.

"Was ist das?" fragt er und deutete darauf.

Scully zog ihre Hand hastig zurück und verschränkte die Arme. "Was ist was?"

"Scully, komm mir nicht so!" sagte er ärgerlich. Er wusste genau, was es war. Sie hatte es bei dem Treffen am Vormittag zerreden können, und Mulder hatte ihr geglaubt, weil die Scully, die er kannte, vor jedem die Waffe ziehen würde, der es wagte, sie zu schlagen. Doch das hier war zu offensichtlich, um es zu ignorieren. "Das waren Handabdrücke. Hat er das getan?"

Scully war sauer. Es ärgerte sie, dass er es bemerkt hatte, und dass sie es nicht besser verborgen hatte. Zach hatte während ihrer Auseinandersetzung ihr Handgelenk gegriffen und es fester gehalten als er sollte, und sie musste ihn erst ermahnen, bevor er ihren Arm mit einem entschuldigenden Ausdruck losgelassen hatte. Er war ein großer Mann, sie war eine kleine Frau, und wenn sein Temperament gelegentlich mit ihm durchging, neigte er dazu, ihr Handgelenk ziemlich hart anzufassen. Wie konnte Mulder nur denken, dass es etwas anderes als das war? Was für eine Frau, glaubte er, sei aus ihr geworden?

"Vielleicht mögen Zach und ich es wild, Mulder. Hast du schon mal daran gedacht?" erwiderte sie kühl. "Was geht dich das an?"

Ihre Worte trafen ihn wie ein Strahl kalten Wassers. Er lehnte sich in den Kissen zurück, seine Augen glühten wie Kohlen. "Nicht das geringste", sagte er knapp. "Was du und dein Mann tun", sagte er und betonte das Wort extra, "ist deine Sache. Ich glaube kaum, dass er es toll fände, wenn du den Abend am Bett eines anderen Mannes verbringen würdest, also solltest du besser nach Hause gehen. Es gibt keinen Grund, warum wir uns noch sehen sollten."

Er konnte sie nicht ansehen, als sie von ihrem Stuhl aufstand und auf die Tür zuging. Dort hielt sie inne und drehte sich um, als ob sie etwas sagen wollte, doch sein Gesicht war wie zu Stein erstarrt und eine Sekunde später war sie verschwunden.

Mulder zwang sich zum gleichmäßigen und ruhigen Atmen, und umfasste die Bettkante so fest er konnte. Er wusste, dass wenn er sich dem Gefühlsschwall in ihm kampflos hingeben würde, er zusammenbrechen würde. Und er war fest entschlossen, seine Selbstkontrolle zu bewahren. Sie nicht an sich heranzulassen. Keine Träne zu vergießen.

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