World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Miracles do happen

von Konstanze Faust

Kapitel 2

XXX



Das Zimmer erinnerte Mulder an die Schlafstätten in alten Armeekasernen. Die drei Doppelstockbetten, die sich darin befanden, waren aus Stahl und standen in den Ecken des Raumes; jeweils links und rechts neben der Tür und links an der gegenüberliegenden Wand. Rechts davon befand sich ein Fenster, um welches ausgegilbte Spitzengardinen und dunkelgraue Vorhänge hingen. In dem Regal, das der Tür gegenüberstand, lagen Bekleidungsstücke, Tand sowie kleine Zinnfiguren und Handtücher.



Meredith deutete auf ein wie es schien frischgemachtes Bett rechts neben der Tür, das untere der beiden.



"Hier werden Sie schlafen. Wir haben Ihnen auch ein paar Bekleidungsstücke zusammengesammelt. Sie müssen sehen, ob es Ihnen passt, ansonsten besorgt Ihnen Ruth einige Neue aus der Stadt."



Sie blickte abschätzend auf Mulders Armanianzug. "So was haben wir zwar nicht zu bieten...."



Mulder hob eine Hand. "Ist schon okay. Ich nehme, was Sie da haben."



XXX



Zwei Stunden später hatte sich Mulder umgezogen und gewaschen - der Luxus einer Dusche existierte hier noch nicht. Er trug eine braune Hose und ein naturfarbenes Baumwollhemd, das in die Hose gesteckt war. Er saß mit Meredith an dem kleinen Tisch in seinem Zimmer, der sich rechts neben dem Regal unter dem Fenster befand.



Sie hatte ihm erzählt, dass in dem Zimmer noch vier andere Personen schliefen. Unter ihnen Meredith selbst, ihr Mann, Herbert Körner, ein Franzose namens Jean Taris und die Engländerin Tracy Wiggins, die im Bett über ihm schlief.



"Meredith? Warum wurde dieses Heim gegründet?"



Ihr Blick wurde plötzlich traurig. "Hier wohnen nur Menschen, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert worden. Wir leben hier ohne Ständeunterschiede, wie es draußen üblich ist. Stellen Sie sich vor, Tracy stammt aus einer Adelsfamilie und Han Griffin, der einen Stock unter uns wohnt, hatte Ruth vor dem Hungertod gerettet. Er hatte in einer alten Fabrik geschlafen..." Sie seufzte. "Viel weiß ich nicht. Ich weiß auch kaum etwas über Ruth. Sie besorgt uns Essen und Kleidung, aber niemand weiß, woher sie kommt oder wer sie ist."



Ein heller Glockenton erfüllte plötzlich den Raum und Mulder blickte sich verwirrt um. Meredith legte ihre Hand auf seine. "Das ist nur das Zeichen dafür, dass es Essen gibt. Jetzt können Sie die anderen auch endlich mal kennen lernen. Sie waren heute wohl im Billardzimmer. Ein Teil des Hauses, der schön für das Hotel gebaut worden war."



Sie stand auf und Mulder folgte ihr wortlos. Immer noch schwirrten tausende von Fragen im Kopf herum, aber Meredith schien auch nicht viel mehr zu wissen. Aber zumindest hatte er jetzt eine Verbündete gefunden.



XXX



Der Essenssaal war im gleichen Stil wie die Zimmer eingerichtet. Zwei lange Tische, an denen etwa jeweils zwanzig Personen Platz nehmen konnten, standen parallel zu den seitlichen Wänden im Raum. Jeder hatte eine Blechschüssel und einen Esslöffel vor sich liegen.



Meredith setzte sich an das hintere Ende des rechten Tisches und Mulder setzte sich ihr gegenüber. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein grünlich-graues Baumwollkleid mit langen Ärmeln.



Langsam füllte sich der Saal und ein junger Mann mit hellblonden Haaren und grünen Augen setzte sich neben Mulder.



"Darf ich vorstellen, Mulder, das ist Steve Lambert. Er stammt aus den Londoner Bürgerkreisen. Steve, das ist Fox Mulder," merkte Meredith an.



"Hallo," sagte Lambert und schüttelte Mulders Hand. "Wie ich hörte, sind Sie heute erst angekommen."



"Scheint sich ja ziemlich schnell herumgesprochen zu haben..."



"Mister!" Der Junge schien verlegen zu sein. "Es tut mir leid..."



"Nein, es ist in Ordnung. Ja, ich bin neu hier. Ich kenne mich auch noch nicht so gut aus."



Steves Gesicht hellte sich auf. "Ich würde Ihnen gerne alles zeigen. Das heißt, sofern Sie das wünschen."



Mulder legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Danke für das Angebot, das wäre sehr nett von Ihnen. Und... nennen Sie mich Mulder."



Eine rundliche Frau mit langen schwarzen Locken fuhr mit einem Servierwagen um die Tische. In jede Blechschüssel füllte sie eine Art von Gemüsesuppe. Ein Geklapper von Schüsseln und Löffeln im Hintergrund stieg an. Meredith unterhielt sich lebhaft mit ihrem Mann, der neben ihr saß, während Mulder stumm seine Suppe in sich hineinlöffelte.



"Sie kommen aus Washington, Mulder?" fragte ihn Steve nach einer Weile.



Mulder nickte und schluckte die Suppe, die er im Mund hatte, herunter. "Ja, richtig."



`Aus dem Washington eurer Zukunft,` setzte er in Gedanken hinzu.



"Dann haben Sie den Präsidenten doch sicher schon mal getroffen?"



Mulder merkte plötzlich, dass es noch ein langer Abend werden würde.



XXX



Nach dem Abendessen führte Steve Mulder durch alle, aber auch wirklich alle Räume des dreistöckigen Hauses. Mulder hatte dank seines fotografischen Gedächtnisses viele Details im Kopf behalten, unter anderem auch, dass alle Türen nach draußen, durch die Ruth ihn geführt hatte, vermauert waren. Das Essen bereiteten sich die Bewohner, unter denen sich sogar ein paar ausgebildete Köche befanden, selbst zu. Es existierten sechs Badezimmer im Haus, zwei auf jeder Etage. Insgesamt wohnten hier 38 Personen. Der ursprüngliche Hotelkomplex existierte nur im Erdgeschoss. Die Eingangshalle, das Billardzimmer und die Lifts waren in diesem Stil eingerichtet. Im hinteren Teil des Erdgeschosses befand sich ein Wintergarten. Der Keller war zur einen Hälfte Vorratskammer, zur anderen eine Art Sporthalle mit einem kleinen Pool und einem variablen Sportfeld. Der Essensraum lag in der 2.Etage, zur linken Seite. Steve hatte Mulder noch eine ganze Menge mehr gezeigt, von dem er aber nicht viel im Kopf behalten hatte.



Schließlich hatten die beiden ihre Tour beendet und standen in der Eingangshalle. Mulder bedankte sich für den Rundgang, aber bevor er Steve ins Billiardezimmer begleitete, lastete ihm noch etwas auf der Seele.



"Steve, kann ich von hier aus ein Telefongespräch führen?"



Abgesehen davon, dass Scully, die Einzige war, die er kontaktieren wollte, sich im Jahre 2000 befand, war sich Mulder gar nicht so sicher, ob das Telefon zu dieser Zeit schon erfunden war; seine Kenntnisse über diese Periode der Geschichte - er schätze auf Anfang des 20.Jahrhunderts -waren mehr als begrenzt.



Steve war zu Mulders Erleichterung nicht verwirrt, doch er schüttelte den Kopf. "Wir haben hier kein Telefon. Aber Sie können Briefe schreiben, wenn Sie möchten."



Mulder überlegte kurz, ob es klug wäre, Steve die Wahrheit zu erzählen. Würde Scully den Brief erhalten, wenn er ihn schrieb? Aber Ruth hatte sich ja auch im Jahr 2000 befunden...



Er holte tief Luft und strich sich durchs Haar. "Steve, es gibt da etwas..."



"Ja, Sir?"



"Ich... ich muss mit Ruth sprechen."



Das Blut wich plötzlich aus Lamberts Gesicht und er starrte Mulder mit großen ängstlichen Augen an. "Wollen Sie... gefällt es Ihnen hier nicht?" stotterte er betroffen.



Mulder legte einen sanften, beschwichtigenden Ton in seine Stimme, als er weitersprach. "Mir gefällt es hier so gut, aber es gibt da etwas, was ich sie fragen wollte."



Steves Gesicht bekam wieder etwas Farbe. "Ich führe sie zu ihrem Zimmer. Aber seien Sie vorsichtig."



Mulder nickte und während sie den Lift betraten, fragte er sich, warum Steve eine solche Angst gehabt hatte, dass Mulder gehen wollte.



XXX



Dana Scully saß auf der weißen Holzbank im vom Morgentau bedeckten Garten ihrer Mutter. Die dicken Äste der Eiche über ihr bedeckten ihr Gesicht mit Schatten. Dana hatte ihre Knie fest an ihren Körper gepresst und trug eine Bluejeans und ein kariertes Flanellhemd, das sie eigentlich wärmen sollte, aber die Sorge ließ sie frieren.



Mulder war jetzt schon seit sechs Tagen in Deutschland und hatte sie immer noch nicht angerufen. Sie wollte es sich nicht wirklich eingestehen, aber es war Tatsache, dass sie nachts vor Sorge um ihn nicht schlafen konnte und tagsüber völlig rastlos war.



Hatte er vielleicht die Nummer ihrer Mutter nicht? Nein, sie war in seinem Handy gespeichert und Scully war sich sicher, dass er es mitgenommen hatte. In ihrem Kopf bauten sich unfreiwillig Horrorszenarien auf. Ein Unfall. Vielleicht lag er im Krankenhaus und war nicht in der Lage zu telefonieren. Oder vielleicht hatte sein Handy auch nur keinen Empfang. Oder eine andere Frau! Scullys Herz krampfte sich entgegen ihrem Willen zusammen. Diana war nach Europa gezogen! Fowley, diese....! Nein, sie war tot. Wie hatte sie das nur vergessen können! Es war vorbei, aber es gab noch genug gutaussehende Frauen in Deutschland. Und sie war so weit weg...



Was? Wie zum Himmel kam sie auf solche Gedanken? Sie waren unprofessionell und vertrauenslos und sie passten einfach nicht zu ihr!



`Ach, Mulder, was stellst du bloß an?`



"Dana!" Die Stimme ihrer Mutter riss sie jäh aus ihren wirren Gedanken.



Erschreckt blickte sie auf und sah Margaret Scully über den mit grauen Steinplatten bedeckten Weg auf sie zukommen. In ihrer Hand hatte sie einen Briefumschlag.



"Mom, was ist denn los?" fragte Dana ihre aufgeregt wirkende Mutter.



"Es war gerade jemand aus dem Bureau da, der hier in der Gegend Ermittlungen durchführte. Es war ein Brief an dich ins Bureau geschickt worden und er hat ihn vorbeigebracht, ein gewisser Agent Michaels."



Scully hob misstrauisch eine Augenbraue. "Wieso bringt er mir meine Arbeitspost in meinen Urlaub? Und woher hat er deine Adresse?"



"Dana," Maggie setzte sich neben sie auf die Bank, "er hat Skinner gefragt. Und dieser Brief *wird* dich interessieren, er ist nämlich von Fox."



Scullys Augen leuchteten plötzlich auf und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. "Von Mulder?"



Sie nahm ihrer Mutter den Briefumschlag aus der Hand und begutachtete den vergilbten Umschlag.



Erstaunt runzelte sie die Stirn. "Deutsche Reichspost? Ich kenne mich nicht besonders gut mit der deutschen Geschichte aus, aber existiert das deutsche Reich nicht schon lange nicht mehr?"



Margaret Scully zuckte unwissend mit den Schultern. "Das hat mich auch gewundert. Aber ich laß dich jetzt allein. Du willst sicher den Brief in Ruhe lesen."



Dana nickte geistesabwesend und öffnete, als ihre Mutter im Haus verschwand, das unverkennbar von Mulder beschriftete Kuvert und faltete den rauen Briefbogen auf.





"Hallo Scully! 10.03.1910



Es tut mir leid, dass ich mich nicht bei Ihnen gemeldet habe, aber es war mir wirklich nicht möglich. Dieser Brief ist die einzige Art, wie ich zur Zeit mit Ihnen kommunizieren kann. Sie werden wahrscheinlich eine Menge Fragen haben, auch was das Datum des Briefes angeht. Ich kann das verstehen, denn ich weiß selbst noch gar nicht, was hier wirklich los ist. Ich befinde mich jedenfalls im Jahre 1910. Und wenn ich Ihnen das erzähle, bitte, bitte glauben Sie mir, nur das eine Mal. Ich habe Meredith Körner getroffen! Ja, wirklich. Ich habe sie getroffen und sie ist erst 32 Jahre alt. Ich weiß, was Sie jetzt sagen wirst, dass das alles eine Täuschung sein könnte, aber es ist einfach zu perfekt dafür. Die Wohnung in dem Haus in Deutschland ist in Wahrheit ein Bett in einem Zimmer, in dem noch fünf andere Leute schlafen. Das hier ist ein Wohnheim für Menschen, die in der Gesellschaft nicht akzeptieren wurden. Wenn Sie es nur sehen könntest. Ich weiß nicht, was ich machen kann um es für Sie glaubhaft zu beschreiben. Eine Frau namens Ruth hat mich hierher geführt und sie ist die Einzige, die das Haus verlassen kann. Sie hat auch diesen Brief nach draußen gebracht und irgendwie hat er es ins Jahr 2000 geschafft. Ich habe wirklich schon alles versucht, um nach draußen zu kommen. Selbst die Fensterscheiben scheinen hier aus Beton zu bestehen. Ich weiß nicht, wer für dieses Haus zuständig ist, aber die Technik scheint mir nicht zu der Zeit zu passen. Bitte, versuchen Sie etwas zu unternehmen. Erzählen Sie Skinner davon, denn ich weiß wirklich nicht, wie ich hier jemals herauskommen soll. Versuchen Sie es ihm glaubhaft zu machen. Und bitte schreiben Sie mir zurück. Das hier ist wirklich kein Scherz. Die Menschen in der Stadt hatten erzählt, dass das Haus abgerissen werden sollte und Sie müssen das irgendwie verhindern, denn ich weiß nicht, was dann mit mir passiert.



Ihr Mulder





Fox Mulder

Rheinberger Str.45

D-5676 Bad Leuten

Germany "



Wie von Sinnen blickte Scully auf das gelbliche Papier in ihren Händen. Immer und immer wieder überflog sie die Zeilen, die scheinbar von Mulder kommen sollten. Das konnte nicht wahr sein. So etwas gibt es nicht, das ist pure Science-Fiction! Wie in Trance versuchten sich diese Gedanken standhaft in ihrem Kopf festzuhämmern, doch sie fanden keinen Boden, denn da waren diese Worte.



Scully *wusste* einfach, dass Mulder diesen Brief wirklich geschrieben hatte. Es war seine Schrift, und es klang so nach ihm. Und sie wusste auch, dass er alles, was er geschrieben hatte, nur ernst meinen konnte, weil er sie nie auf diese Weise hinters Licht führen würde. Doch gerade diese Gewissheit war es, die ihr Angst machte, und die ein Teil von ihr noch nicht zu akzeptieren bereit war.



Der Schock saß ihr noch in den Gliedern, doch sie zwang sich zur Kontrolle, als etwas in ihr die Herrschaft über ihr Tun übernahm, das ihr sagte, dass sie tun musste, was er geschrieben hatte. Mit zitternden Beinen erhob sie sich von der Bank und musste sich noch einmal an der Armlehne abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schnurstracks begab Dana sich ins Haus und ging zu dem Telefon auf der Kommode neben der Treppe, die hochwärts führte.



Sie nahm ohne nachzudenken den Hörer und tippte die Nummer des FBI ein. Nach einem kurzen Tuten hob jemand am anderen Ende der Leitung ab. Gegen ihren Willen begann Scullys Herz schneller zu klopfen und sie stand in der Gefahr zu hyperventilieren.



So oft hatten sie schon Ergebnisse präsentiert, die Mulder und ihr nicht geglaubt worden. Doch damals waren sie zu zweit. Jetzt war Dana allein und die Tatsache, dass sie Skinner von etwas überzeugen musste, was sie selbst unter normalen Umständen niemals zu glauben bereit war, machte ihr Angst.



`Dana, beruhig dich. Du schaffst es. Es geht um Mulders Leben...`



"Federal Bureau of Investigation, Agent Gladys, was kann ich für Sie tun?" erklang eine tiefe Frauenstimme mit britischem Akzent aus dem Hörer.



"Susanne, ich bin's, Dana," antwortete Scully und versuchte, so viel Stabilität in ihre Stimme zu legen, wie ihr möglich war, obwohl sie sich überhaupt nicht danach fühlte.



"Dana, hast du nicht Urlaub?" fragte Scullys Freundin besorgt.



Dana ignorierte ihre Frage und sprach weiter. "Ich muss mit Skinner sprechen."



Ihre Stimme klang abgebrochen und beinahe schrill. Gladys schien dadurch erschreckt zu sein und merkte, dass es Scully völlig ernst war. "Natürlich, Dana, ich stelle dich durch."



"Danke, Susanne."



XXX



Meredith hatte sich in dem Badezimmer in der zweiten Etage eingeschlossen. Es war schon spät abends, aber sie war nicht müde. Seit Mulders Ankommen war sie extrem angespannt, und die Hoffnungen, die sie in ihn gesetzt hatte, begannen, zermürbend zu werden.



Er schien sich eigentlich hier wohlzufühlen, aber wie Meredith vermutet hatte, suchte er immer noch nach einem Ausgang. Sie hatte jedoch nicht erwartet, dass er dies mit einer solchen Ausdauer tun würde, obwohl sie es besser hätte wissen müssen - sie hatte es hier schließlich mit einem Bundesagenten zu tun. Es war sein Job, hartnäckig zu sein. Und wie sie durch Anja erfahren hatte, war er einer der besonders hartnäckigen Sorte.



Es gab eigentlich keinen Grund, beunruhigt zu sein. Es gab keinen Ausgang, jedenfalls nicht bis zu dem Tag.



*Der* Tag.



Schon bei dem Gedanken daran spürte Meredith wieder einer altbekannte Traurigkeit in ihr aufsteigen. Sie schluckte sie hart herunter und bedeutete sich, nicht aufzugeben.



Sie kannte die Situation. Die Menschen in der Stadt wollten, dass das Haus abgerissen wurde und sie dachten, dass damit alles vorbei wäre.



Sie dachten, dass es nur ein böser Spuk wäre, der mit den Bestandteilen des Hauses für immer dem Erdboden gleich gemacht werden konnte. Aber so war es nicht. Es würde immer weiter gehen. Wie sollte sie es Mulder nur erkennen lassen?



Er war ihre einzige Hoffnung.



Herbert hatte ihr erzählt, dass Fox gestern einen Brief geschrieben hatte. An seine Partnerin. Beim FBI. Meredith vermutete, dass er Hilfe anforderte, doch sie war einfach nicht frei genug, den Brief zu lesen. Er war einfach nicht für ihre Augen bestimmt. So etwas machte man nicht, wenn man in diesem Haus wohnte, auch wenn es nicht entdeckt wurde.



Meredith betete, dass Mulder sie nicht gebeten hatte, zu veranlassen, das Haus abreißen zu lassen, um befreit werden zu können.



Obwohl, vielleicht dachte er ja auch, dass das auf keinen Fall geschehen dürfte, weil er dann auch sterben könnte. Meredith schüttelte langsam den Kopf und ging zu Richtung Tür. Sie müsste etwas tun. Die einzige Möglichkeit die Wahrheit zu erfahren, war schlicht und einfach ihn zu fragen. Sie *musste* es tun.



XXX



Mulder lag mit offenen Augen in dem ungemütlichen Bett in seinem Schlafzimmer. Um sich hörte er schon tiefe Atemgeräusche und vermutete, dass er der Einzige war, der noch wach lag. Wie sollte es auch anders sein. Diese Menschen hier hatten diese Probleme wahrscheinlich schon lange nicht mehr.



Die, die freiwillig hierher gekommen waren, hatten sie sowieso nicht und da das hier alles Landesflüchtige waren, glaubte er nicht, dass sie viel in der "Welt da draußen" vermissten. Er war kein Landesflüchtiger. Auch wenn man sein Leben nicht gerade als `normal` bezeichnen konnte und es viele Risiken in sich barg, gab es immer noch Gründe, warum er es nie verlassen wollte.



Seine Suche nach der Wahrheit. Samantha....



Und Scully!



Scully war *der* Grund, der alle anderen unwichtig erschienen ließ. Er stellte sich ihr hübsches, regelmäßiges Gesicht vor, die leicht welligen rötlichen Haare, die immer so perfekt aussahen, ihr Lächeln, dass sich viel zu selten zeigte.... Sein Herz zog sich in einem schmerzhaften Reflex zusammen.



Hatte sie ihren Brief bekommen? War es wirklich möglich, so etwas durch die Zeit zu schicken? Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Es war alles so bizarr. Wenn er es schon nicht glaubte, wie sollte es Scully dann glauben? Und wieso sollte ernsthaft auf diesen Brief reagieren?



Etwas in ihm kannte die Antwort schon: weil sie es wusste. Sie wusste immer, wenn etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Verdammt, diese Frau hatte hellseherische Fähigkeiten! Bei dem Gedanken daran musste Fox schmunzeln und bei diesem Gedanken übermannte ihn schließlich die Müdigkeit.



XXX



Scully betrat etwas unsicher Skinners Büro und versuchte, entgegen ihres Seelenzustandes, wenigstens etwas Professionalität auszustrahlen. Es ging um Mulders Leben und was auch immer wirklich die Wahrheit war, sie musste bei dem, was sie erzählte, um jeden Preis überzeugend klingen.



Sie wusste, dass Skinner kein Unmensch war, und dass er alles in Bewegung setzen würde, Mulder zu retten, wenn er nur sicher wüsste, dass er auch wirklich in Gefahr war. Das FBI hatte auch nicht soviel Geld, ein Team von einem Dutzend Agenten nach Deutschland zu schicken, ohne jeden wirklichen Grund. Aber dennoch wollte Scully das irgendwie glauben...



"Agent Scully, bitte setzen Sie sich."



Scully nickte und nahm auf dem lederüberzogenen Bürostuhl vor dem Schreibtisch des Assistent Direktors Platz.



"Um was geht es, dass Sie mich so dringend sprechen wollten?"



Scully öffnete ihre Handtasche und holte den Brief von Mulder heraus. Sie reichte ihm ihrem Vorgesetzten und versuchte das Zittern ihrer Hand zu unterdrücken. "In diesem Brief hat mir Mulder geschrieben, dass er sich in Gefahr befindet. Er ist vor sechs Tagen nach Deutschland gereist, um sich eine Wohnung, die er geerbt hatte, anzusehen und hier schreib er, dass das Haus, wo sie sich befand, eine Art Wohnheim für Landesflüchtige ist, dass es kein Ausgang existiert und..." Sie räusperte sich und sendete ein Stoßgebet an Gott aus, dass sie überzeugend klang, als sie fortfuhr. "...und sich im Jahr 1910 befindet."



Sie spürte den stechenden, ungläubigen Blick Skinners auf sich liegen, obwohl sie nicht aufblickte. "Mulder sagte, dass die einzige Art, wie er mit mir kommunizieren könnte, der Briefverkehr war. Er hat mich auch gebeten, auf den Brief zu antworten und eine Adresse angehängt..."



"Agent Scully?" unterbrach sie Walter Skinner.



"Ja?" fragte sie erschreckt und blickte auf. In seinem Blick lag eine Mischung aus Mitgefühl und Unglauben, die in Scully Zorn auslösten.



"Sind Sie sicher, dass das keine Täuschung ist?"



Er hatte ja so was von Recht. Es könnte eine verdammte Täuschung sein. Es war so was von wahrscheinlich, doch es gab nichts in Scully, was das glauben wollte. "Natürlich könnte es eine Täuschung sein, Sir," antwortete sie leise," aber ich weiß irgendwie, dass es keine ist. Ich spüre, dass Mulder in Gefahr ist." In ihrer Stimme klang ein bittender, fast verzweifelter Unterton mit, der für sie völlig untypisch war. "Ich weiß, das ist kein Beweiß, aber wir müssen... wir können es doch nicht einfach ignorieren."



"Agent Scully, sind Sie sich im Klaren, dass das FBI die finanziellen Mittel..."



"Ja, ich bin mir im Klaren!" Erschreckt über ihr eigene Temperament, legte sich Scully ihr Gesicht in ihre Hände und blickte schließlich auf, die Zeigefinger an den Schläfen. "Es tut mir leid, Sir. Ich wollte nicht so reagieren."



"Agent Scully, Dana, ich verstehe Ihre Reaktion sehr gut, und dieser Brief, auch wenn ich ihn bisher nur überflogen habe, beunruhigt mich auch. Ich werde sehen, was ich tun kann. Sie können gehen."



Langsam stand Scully auf und ihre Beine, die sich eben noch wie Gummi angefühlt hatten, gewannen wieder an Stabilität.



"Danke, Sir."



Sie lächelte und drehte sich um, um das Büro zu verlassen, als Skinner noch sagte: "Schreiben Sie ihm zurück, dass wir versuchen, ihm zu helfen. Und fragen Sie ihn, ob es eine Möglichkeit gibt, noch jemanden in das Haus zu holen."



Scully drehte sich verblüfft um. "Sie wollen noch jemanden in das Haus bringen? Aus welchem Grund?"



"Vier Augen sehen mehr als zwei."



Scully nickte und wandte sich wieder dem Ausgang zu, um schließlich das Zimmer zu verlassen.



XXX



Es war ein schöner Morgen. Die Sonne schien durch die halb-durchsichtigen Fensterscheiben am oberen Teil der Wände des Kellers und wärmte Tracy Wiggins` Haut. Sie schloss die Augen - eine völlig unsinnige Geste, die nur der Gewohnheit entsprang - und setzte sich an einen hellbestrahlten Fleck am Rande des Whirlpools.



Das frische, lauwarme Wasser massierte in seiner zirkulierenden Bewegung ihre Beine und sie genoss das Gefühl. Sie kam praktisch jeden Morgen gleich nach dem Frühstück hierher, um es zu erleben, ganz allein und ohne die irritierenden Nebengeräusche anderer Personen. Sie mochte die anderen, aber dies war ein Vergnügen, dass sie sich mit niemanden teilen wollten.



Umso mehr zuckte sie zusammen, als sie Schritte die kleine Wendeltreppe herabkommen hörte. Es waren schwere, aber keineswegs träge Schritte, die ein schnelles Tempo besaßen.



Tracy spürte einen Hauch von Panik in sich aufkommen, weil sie diese Schritte nicht kannte. Normalerweise erkannte sie die Gangart jedes Einzelnen in diesem Haus. Vielleicht... wahrscheinlich war es ein Neuer und Tracy fürchtete sich vor Neuen, weil sie ihre Intentionen nur ahnen konnte. Und jetzt war sie allein und die Schritte kamen näher und näher.



"Ist da jemand?" fragte sie beunruhigt und obwohl sie es nicht wollte, zitterte ihre Stimme.



"Ja," sagte Mulder und fragte sich, warum die kleine Frau mit dem hellblonden Kurzhaarschnitt das fragte, obwohl er direkt vor ihr stand. Aber er hatte schon einen Verdacht, doch es wäre unhöflich gewesen, sie darauf anzusprechen. "Ich bin Mulder, Fox Mulder. Ich schlafe im Bett unter Ihnen."



Tracy nickte. Ihre Sorge legte sich etwas. Meredith hatte ihr etwas von dem Neuen namens Mulder erzählt, aber sie hatte gestern fast den ganzen Tag im Wintergarten verbracht und als sie wieder in ihr Zimmer kam, schliefen alle schon tief und fest. Auch die Tage davor hatte sie ihn nicht bemerkt. Sie bekam so wenig mit, dass es sie schmerzte.



"Tracy, Tracy Wiggins. Nennen Sie mich Tracy." Sie streckte ihre Hand in die Richtung, von der seine Stimme gekommen war.



Er schüttelte sie sanft. Tracy war überrascht über die Vorsicht, die in seinem Händedruck lag. Ihr Misstrauen verschwand allmählich.



"Sie können mich Mulder nennen. Ich hasse nur meinen Vornamen." Er blickte auf den Platz neben Tracy. "Darf ich mich setzen?"



Tracy nickte. Dieser Mulder hatte eine sanfte tiefe Stimme und auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, empfand sie ihn plötzlich als würdig, ihn an ihrem kleinen privaten Vergnügen teilhaben zu lassen.



Fox setzte sich und eine Zeitlang lauschten sie nur dem stetigen Plätschern des Wassers, das um ihre Beine lief. Die Sonne schien in Mulders Gesicht und er schloss die Augen. "Meredith hat mir erzählt, Sie kommen aus Adelskreisen?"



Er bereute die Frage, sobald er sie ausgesprochen hatte, als er den traurigen Ton in ihrer Stimme bemerkte, als sie zu erzählen begann: "Ja, ich komme aus Plymouth. Mein Vater hatte Verwandte im englischen Königshaus und meine Mutter hatte sich in Adelskreise geheiratet. Ich war glücklich und kam mir vor wie was besseres, nur weil ich reiche Eltern hatte. Bis zu dem einen Tag im April 1901..." Ein Schluchzen entrann ihrer Kehle und Mulder legte vorsichtig einen Hand auf ihren schmalen Oberarm. "Es tut mir leid...."



Sie schüttelte den Kopf und trotz der Tatsache, dass eine Träne ihre rechte Wange hinunterlief, rang sie sich zu einem Lächeln durch. "Nein, es war nicht schmerzhaft. Ich hatte schon einige Zeit vorher immer weniger gesehen, aber an diesem Morgen sah ich nichts mehr, und mein Vater konnte nichts dagegen tun, obwohl er die besten Ärzte im Land konsultiert hatte. Und plötzlich wurde mir bewusst, dass es Dinge gab, die man mit Geld... nicht kaufen... konnte..."



Sie grub ihr Gesicht in ihre Hände und schluchzte herzzerreißend. Mulder legte die Hand, die an ihrem Arm gelegen hatte, um ihre Schultern und obwohl er sie kaum kannte, nahm er ihren kleinen Körper in die Arme. Unbewusst wünschte er sich, dass die zierliche Frau an seiner Brust Scully wäre. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, den Schmerz in seiner Mitte herunterzuwürgen. Es klappte nicht.



Tracy drückte sich enger an ihn und langsam beruhigte sie sich.

"Danke," flüsterte sie. Sie setzte sich wieder langsam aus seiner Umarmung auf, lehnte ihren Kopf jedoch an seine Schultern.



Sie fühlte eine seltsame Vertrautheit in Gegenwart dieser Mannes, deswegen traute sie sich auch weiterzuerzählen.

"Es... auch wenn es niemand zugeben wollte, wurde ich mehr und mehr Außenseiter. Ich wurde das schwarze Schaf der Familie, die ihr ihre Scheinperfektion nahm. Besonders mein Vater wollte es öfters nicht wahrhaben und verlangte von mir die gleichen Dinge, wie vor meiner Erblindung. Und wenn ich sie nicht schaffte, dann schlug er mich. Und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und flüchtete. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft hatte, aber irgendwann war ich sehr weit weg von meinem Elternhaus und hat mich Ruth gefunden..."



"Es tut mir leid," flüsterte Mulder und rieb ihr sanft über ihren Rücken.



Tracy schüttelte den Kopf und lächelte - diesmal aufrichtig.



"Nein, es war das Beste, das mir passieren konnte. Es war ein hoher Preis, aber ich bin glücklich, dass ich hier bin. Ich war so in mein Geld vernarrt, dass noch nicht einmal meins war, und ich habe sehr herablassend behandelt..."



"Aber das haben Sie nicht verdient, Tracy!"



"Keiner verdient glaub ich so was... aber ich bin hier glücklich. Wirklich." Sie deutete mit dem Kopf Richtung Whirlpool. "Wollen Sie mit mir eine Runde schwimmen gehen?"



Mulder nickte und setzte dann noch hinzu: "Gerne."
Rezensionen