World of X

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Es ist vorbei

von Andrea Muche

Kapitel 4

Am nächsten Tag stellte Kate fest, daß ihr Fahrrad aus dem Hof gestohlen worden war. Ein wenig später wollte der Supermarkt ihre Kundenkarte plötzlich nicht mehr akzeptieren. Und ein Brief lag zerfetzt in seine Einzelteile im offen zugänglichen Posteingang im Hausflur. „Ein Nachbar, der einen Scheck gesucht hat?“ mutmaßte Mulder. „Oder Rose auf der Suche nach der nächsten Maus?“

Es ließ sich einfach nicht klären. Weder diese noch all die anderen Merkwürdigkeiten. Und der Tag von Mulders Abreise rückte immer näher. Langsam hatte er das Gefühl, daß er vielleicht wirklich überarbeitet war und gar nicht nach London hätte kommen sollen. Aber: Kate, die ihn um Hilfe gebeten hatte, im Stich lassen?!

„Kannst du nicht noch ein bißchen länger bleiben?“ fragte Kate, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.

Er brummte unbestimmt und schüttelte dann den Kopf. „FBI-Agenten haben nicht sehr viel Urlaub.“

Sie seufzte. „Ja, ich weiß.“

Alles, was sonst noch zwischen ihnen lag, blieb einmal mehr unausgesprochen.

Sie traten aus der Tür, und Kate wechselte das Thema, als sie sich auf dem Gehweg fragend zu ihm umdrehte: „Also, wohin? Hühnerbeine essen oder zum Japaner?“

„Japaner“, sagte er, „der ist ja gleich in der nächsten Straße.“ Als er das sagte, trat er einen Schritt zurück, auf die Fahrbahn.

Im selben Moment weiteten sich Kates Augen vor Schreck. „Nicht!“ rief sie und stürzte sich auf ihn, um ihn von der Straße zu ziehen. Als er seinen Fehler realisierte, war es schon zu spät. Er war zu lange schon aus England fort. Für einen kurzen Moment hatte er den Linksverkehr völlig vergessen – und im allgemeinen Lärm nicht gemerkt, daß sich ein Lastwagen näherte. Kate schaffte es zwar, ihn zur Seite zu schieben, stolperte dabei jedoch und fiel, bevor Mulder seinerseits zupacken konnte. Er hörte Bremsen kreischen, sah Kate hilflos mit den Armen rudern, und dann gab es einen dumpfen Aufprall.

Mulder fühlte sich, als sei er plötzlich nur noch Zuschauer in einem Kinofilm. Wie gelähmt stand er an der Kante des Bürgersteigs, unfähig, zu Kate zu laufen, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. In seinem Kopf formte sich nur wieder und wieder ein Wort: „Nein.“ Er fühlte sich wie in Watte gepackt. Der helle Londoner Sommertag erschien plötzlich dunkel. Er sah nicht die zusammenlaufenden Menschen, er sah nicht, wie der Lastwagenfahrer ausstieg, nicht, wie Polizei und Krankenwagen eintrafen, hörte keine Sirenen, keine aufgeregten Stimmen. Er blickte nur starr auf Kates Bein, das reglos unter dem Lastwagen hervorragte, sah dann eine schmale, rote Spur von Blut über den Asphalt rinnen, fühlte, wie ihn mitten an einem warmen Tag auf einmal Kälte schüttelte und die Knie unter ihm nachgaben. In dem Moment meldete sich sein Verstand wieder und sagte ihm, daß er unter Schock stand. Dennoch brachte er Wissen und Gefühl nicht in Einklang. Hilfreiche Hände faßten ihn unter den Achseln, bevor er endgültig aufs Pflaster sinken konnte.



Er wußte weder, wie er in diesen Krankenhausflur mit seinen kalten Neonleuchten gekommen war, noch konnte er sagen, wie lange er hier nun schon wartete. Immer wieder hatte er in Richtung der Türen zum OP-Bereich gesehen, wenn sie aufgingen und jemand mit auf dem glatten Boden leise quietschenden Gummisohlen herausgekommen war, aber nie war eine der Gestalten auf ihn zugegangen.

Seufzend erhob er sich schließlich und schlurfte mit mühsamen Schritten zum Getränkeautomaten. Er warf Münzen ein und drückte die Taste für heiße Schokolade. Gleich darauf spritzte ein Teil des heißen Strahls, der aus der Düse kam, auf seine Hose, bevor der Kakao, für den er soeben bezahlt hatte, im Ausguß-Gitter verschwand. „Verdammter Mist!“ Ganz offensichtlich waren der Maschine die Plastikbecher ausgegangen.

Als sich im gleichen Moment von hinten eine Hand auf seine Schulter legte und jemand „Mister Mulder“ sagte, überraschte ihn das kein bißchen. Und er hatte das Gefühl, auch ganz genau zu wissen, was man ihm als nächstes sagen würde.



Als er spät in der Nacht mit Kates Schlüssel versuchte, die Haustüre zu öffnen, klemmte sie. Der Schlüssel drehte sich, die Türe ging nicht auf. Er stemmte sich dagegen, er rüttelte. Nichts. Erst nach dem fünften Versuch hatte er Glück. Er stieg langsam zur Wohnung hinauf und strauchelte auf der letzten der ausgetretenen Stufen. Er stolperte nach vorne, blieb mit dem anderen Fuß an der Kante des nicht fertig verlegten Teppichs hängen und lag im nächsten Moment platt auf der Nase. „Oh, Kate“, stöhnte er, als er sich langsam wieder aufrichtete.

Das Treppenlicht war inzwischen ausgegangen. Er stand gerade wieder und suchte nach dem Schalter, als ihm auf einmal jemand in die Kniekehlen schlug, wie es schien. Nur, daß da niemand war. Er wußte doch genau, daß sich keiner mit ihm im Treppenhaus befunden hatte, als das Licht ausging! Und auf den knarrenden Stufen hätte man auch jeden gehört, der sich näherte. Mulders Herz hämmerte wie verrückt. War das Kates Geist, der versuchte, seine Beine festzuhalten? Bei dem Durcheinander, das im Augenblick in seinem Inneren herrschte, war er geneigt, so gut wie alles zu glauben. Ihm brach der Schweiß aus.

Doch im nächsten Moment fühlte er, wie sich etwas weich und warm über seine Füße schob – und hörte ein lautes, forderndes „Miau!“.

Er bückte sich und streichelte die Katze, die sich zu seinen Füßen auf den Rücken geworfen hatte und ihren Kopf an seinen Schuhen rieb. „Meine Güte, Rose, hast du mich erschreckt.“

Die Katze begleitete ihn in die Wohnung, marschierte diesmal aber nicht in die Küche, sondern schnurstracks in Kates Arbeitszimmer. Mulder folgte ihr zögernd. An der Tür blieb er einen Moment stehen, so als wollte er um Erlaubnis bitten, bevor er eintrat. Dann atmete er tief durch und drückte die nur einen Spalt geöffnete Tür ganz auf. Der Raum war extrem schmal, an einer Seite verkleinerte ihn zusätzlich das aufgeklappte Gästebett, das zuletzt Kates Bett gewesen war. Der Duft ihres Parfüms hing im Raum, und auch ihr eigener. Der Duft ihrer Haut; das ungemachte Bett verströmte ihn ebenso wie die zuletzt getragenen Kleidungsstücke, die noch über dem Schreibtischstuhl hingen. Der Schreibtisch war eine unter dem Fenster direkt in die Wand eingelassene Platte. Mulder sah hinaus, als er ein Rauschen hörte: Oben, auf der Bahntrasse, fegte soeben ein blau-weiß-gelber Eurostar mit hell erleuchteten Fenstern vorbei, auf dem Weg nach Brüssel oder Paris. Er erinnerte Mulder daran, wie Kate erst vor ein paar Tagen von ihrem Erlebnis in eben diesem Zug erzählt hatte.

Dann erinnerte die auf dem Schreibtisch herumturnende Rose ihn an die Arbeit, an der Kate gesessen haben mußte. Neben dem Computer stand eine Schale mit Wasser, auf dessen Oberfläche zwei Rosenblütenblätter schwammen, an einander gegenüberliegenden Seiten. Mulder runzelte die Stirn. Doch neben dieser Schale sah er ein altes Buch liegen und schlug es auf. Eine vergangene Sprache, die er nicht lesen konnte. Obwohl manche Worte auch vertraut aussahen. Es mußte sich um Alt- oder Mittelhochdeutsch handeln. Der Agent klappte das Buch wieder zu und legte es fort. Dann entdeckte er die ausgedruckten Seiten mit dem Text, den Kate bereits übersetzt hatte. Er begann zu lesen und stellte fest, daß das Buch offenbar genau jenes Thema behandelte, über das Kate auch mit ihm gesprochen hatte: Legenden aus dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod, unerledigte Aufgaben, die entweder dazu führten, daß ein Toter nicht zur Ruhe kam und „umging“ – oder daß das Problem die ihm am nächsten stehende Person gewissermaßen erbte, wenn sie den Tod miterlebte.

Mulder dachte an den Getränkeautomaten, an die Haustür, sein Stolpern, die Katze. Kate lag im Koma. Ihre letzten bewußten Gedanken hatten ihm, Marten, gegolten, als sie ihn davor bewahrte, unter die Räder des Lastwagens zu geraten, der sie dann selbst erfaßt hatte. Und sehr nahe stand er ihr ganz eindeutig. Der Fluch. War der Fluch nun bei ihm angekommen? Andererseits: Kate war nicht gestorben. Als ihm das Mißgeschick mit dem Automaten passiert war, war er völlig sicher gewesen, daß man ihm sagen würde, seine Freundin sei tot. Aber er hatte sich geirrt. Sie lag im Koma, und man hatte ihm geraten, nach Hause zu gehen, er könne nichts tun. Sie werde aufwachen oder auch nicht. Und falls sie aufwache – niemand könne vorhersagen, wann. Das könne in einer Stunde sein oder auch in einem Monat.

Als das Telefon im Arbeitszimmer klingelte und gleich darauf Kates Stimme von der Anrufbeantworteransage zu hören war, gab es Mulder einen Stich durchs Herz. Es meldete sich Scully, und er hob ab.

„Auf Ihrem Mobiltelefon konnte ich Sie nicht erreichen. Ich habe gerade erfahren, was passiert ist. – Mulder, es tut mir so leid.“

Er zog sein Telefon aus der Tasche, während er dem warmen, mitfühlenden Klang ihrer Worte lauschte. Das Display war dunkel. Offenbar hatte die Batterie sich unerwartet verabschiedet.

„Glauben Sie eigentlich an Flüche?“ fragte Mulder seine Partnerin unvermittelt. „Oder daran, daß man sie erben kann?“

Scully schwieg einen Moment. „Nein, warum?“

„Es könnte sein, daß ich beladen zurückkomme, Scully.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Scully, ich auch nicht. Ich habe seit Tagen die Lösung zu finden versucht und keine entdecken können.“ Sie sprachen noch kurz über mehr oder weniger belanglose Dinge, dann legte er auf und schloß gequält die Augen. Er mochte gar nicht daran denken, daß er schon sehr bald zurück nach Washington fliegen mußte.

Kaum hatte er aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Diesmal war das Krankenhaus dran: „Gute Neuigkeiten, Mister Mulder. Sie ist aufgewacht.“



„Hallo, Mulder.“ Scully klopfte vorsichtig an die Tür zum Büro ihres Partners. „Wie geht es Ihnen?“ Was für eine blöde Frage, dachte sie im selben Moment. Erstens wußte sie ja, was alles passiert war, zweitens sah er aus, als sei er überhaupt nicht fort gewesen. Die X-Akten waren immer noch da – und Mulder saß genauso unlustig davor wie am Tag, als sie ihren Zwangsurlaub angetreten hatten. Er spielte gedankenverloren mit einem Stift und klopfte damit auf ein Manuskript, das er trübsinnig anstarrte. „Meinen Sie abgesehen davon, daß die Fluggesellschaft meinen Koffer verloren hat und abgesehen hiervon?“ fragte er und blickte zu ihr hoch, während er ihr ein Foto reichte, das ebenfalls vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte.

Sie trat näher und nahm die Aufnahme entgegen. Das Foto war offenbar durch das Fenster eines Flugzeugs gemacht worden. Und draußen sah man eine Turbine ohne Abdeckung, mit allen möglichen freiliegenden Kabeln, während das Flugzeug klar erkennbar in großer Höhe unterwegs war. Scully runzelte die Stirn und sah ihn an. „Was ist das?“

„Die rechte Turbine meines Flugzeugs, als in etwa fünftausend Kilometern Höhe soeben die Abdeckung davongeflogen war. Die Mechaniker hatten vergessen, sie nach der Wartung wieder richtig festzuschrauben.“

„Liebe Güte“, sagte Scully. „Zum Glück sind Sie unversehrt wieder hier. Das hätte auch gewaltig schief gehen können.“

Mulder brummte etwas Unbestimmtes. Dann sagte er: „Vielleicht wird es das beim nächsten Mal. Scully, ich glaube, der Fluch ist bei mir angekommen.“

Scully schüttelte den Kopf. „Mulder, Sie steigern sich da in etwas hinein. Erstens handelt es sich bei den Geschichten aus dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod um Legenden, wie sie selbst ganz richtig angemerkt haben. Und zweitens: Selbst wenn es so etwas wie die Übertragung eines Fluches oder einer Lebensaufgabe oder was auch immer geben sollte – es setzt voraus, daß der andere Beteiligte tot ist. Und das ist Ihre Freundin – Gott sei Dank – ja nicht. Sie ist im Gegenteil wieder zu sich gekommen, und die Ärzte sagen, sie wird wieder ganz gesund.“

„Ich weiß.“

„Und?“

Zögernd sprach der Agent weiter. „Im Krankenhaus, als ich mir zu hundert Prozent sicher war, sie sei soeben gestorben und ich der neue Träger des Fluches...“

„Ja?“

„Die Ärzte sagen, Kate hatte kurz vorher einen Herzstillstand.“

„Mhm.“ Scully schwieg kurz, als sie sich die möglichen Konsequenzen durch den Kopf gehen ließ. „Aber sie lebt“, sagte sie dann.

Mulder nickte. „Ja, sie lebt...“

Scully setzte sich ihm gegenüber und legte ihre Hände auf den Schreibtisch. „Okay“, begann sie dann mit fester Stimme zu sprechen. „Gehen wir einmal davon aus, daß dieser Fluch wirklich existiert. Zwar haben Sie mir am Telefon erzählt, dieser Alan habe nichts mit schwarzer Magie am Hut. Aber das bedeutet ja nicht zwangsläufig, daß seine bösen Wünsche, die er ausgesprochen hat, ohne Konsequenz geblieben sind. Es gilt inzwischen ja auch als sicher, daß Beten beim Gesundwerden hilft – und zwar auch einem nichtreligiösen Menschen, für den andere beten, und auch, wenn er selbst nicht einmal etwas davon weiß, daß für ihn gebetet wird. Es ist unklar, wie das funktioniert, man ist sich nur inzwischen ziemlich sicher, daß es das tut. – Vielleicht hat Alan Blödsinn geredet, an den er selbst nicht glaubte; aber der böse Wunsch kann trotzdem Wahrheit geworden sein – denn schließlich hat ja Liz daran geglaubt. Was hieße das in der Konsequenz? Daß nur Alan den Fluch auch wieder aus der Welt schaffen kann? Aber wie? Liz ist tot. Und er hat ja nie Kate verflucht, auch wenn er von ihr nichts hält. Was für eine ,Aufgabe‘ könnte Liz Kate also hinterlassen haben? Alan zu ändern? Daß das zwecklos ist, haben Sie selbst gesagt. Und was sonst könnte sie schon tun? Ihn erschlagen?“ Die Agentin lächelte freudlos.

Mulder nickte. „In genau dieser Sackgasse bin ich mit Kate auch angekommen.“

„Vielleicht verstärkt der Fluch – oder der Glaube daran – aber auch nur andere Probleme?“ schlug Scully dann nachdenklich vor.

„All die problematischen Ereignisse sind aber durchaus real, sie existieren nicht nur in der Einbildung, Scully.“

Die Agentin nickte. „Sonst wäre die Geschichte ja auch keine X-Akte, und nach allem, was Sie mir am Telefon geschildert haben, bin ich sicher, daß sie recht hatten und eine nicht greifbare Macht diese Dinge auslöst. Dennoch vermute ich, daß die Gefühle der beteiligten Personen der Auslöser sind. Lassen Sie uns nachdenken. Liz war depressiv. Ich vermute, sie hat an einem großen Minderwertigkeitskomplex gelitten. Alan hätte ihr nicht so erfolgreich Wertlosigkeit und negative Ausstrahlung einreden können, wenn sie nicht genau dieses Bild ohnehin von sich gehabt hätte. Sie hat das Problem nicht lösen können und Suizid begangen. Kommen wir zu Kate. Sie hat eine enge Freundin verloren. Und schlimmer noch: Sie hat sie springen sehen und nichts mehr dagegen tun können. Gibt sie sich die Schuld daran? Weil sie es nicht geschafft hat, zu verhindern, was geschehen ist? Hält sie sich deswegen nun auch für zu nichts nütze?“

Ihr Partner überlegte. „Sie verneint es. Aber ich halte es für wahrscheinlich.“

„Und sie wollte den selben ,Fehler‘ nicht zweimal begehen...“

„Was meinen Sie?“

„Ihr Unfall“, sagte Scully. „Sie wollte Sie retten. Und genau genommen war die Situation wieder die gleiche. Als ihre Freundin springen wollte, sah sie die drohende Gefahr und konnte das Geschehen nicht mehr verhindern. Diesmal, mit Ihnen, hat sie ebenfalls die drohende Gefahr erkannt – und Sie gerettet.“

„Um den Preis, daß sie selbst beinahe gestorben wäre. – Denken Sie, sie hat den Fluch damit durchbrochen? Und die Dinge, die mir seitdem passiert sind, sind nichts als die üblichen Wirren des Alltags?“

„Naja. Vielleicht?“

„Und wenn nicht?“

„Sollten Sie möglicherweise versuchen, den Problemen in Ihrem Leben auf den Grund zu gehen.“ Ihre blauen Augen blickten ihn auffordernd an.

Er stöhnte. „Mein Problem ist, daß alle mich für einen durchgeknallten Ufo-Spinner halten. Und ich keinen Schimmer habe, wie ich irgend jemand vom Gegenteil überzeugen soll.“ Er sah auf das Manuskript, das vor ihm lag. „Ich habe in London einen Moment mit dem Gedanken gespielt, ganz dort zu bleiben“, sagte er dann leise. „Und ich fühle mich schuldig, weil ich jetzt nicht bei Kate sein kann, um ihr bei ihrer Genesung zu helfen.“

„Denken Sie denn, daß Sie das erwarten würde?“ fragte Scully. Und er hörte sehr wohl die andere Frage, die unausgesprochen darin mitschwang: Was empfand er für Kate? Wie stand er zu ihr?

Als ob er sich diese Frage nicht selbst stellen würde. Was war das Begehren, das er in London Kate gegenüber gespürt hatte? Getarntes Mitleid? Der Versuch, dort anzuknüpfen, wo die alten Zeiten geendet hatten? Er seufzte.

„Wissen Sie was, Scully? Sie hatten recht. Ich hätte nicht nach London fliegen sollen.“ Man konnte an alte Zeiten nicht wieder anknüpfen. Vorbei war vorbei. Die Vorstellung, ein Leben ohne das FBI und ohne den Kampf gegen die Regierungsverschwörung zu haben, war ihm in London einen Moment lang verlockend erschienen. Aber hätte er all das überhaupt hinter sich lassen können? Vermutlich nicht. Denn niemals würde er die Suche nach seiner Schwester aufgeben, und genau deswegen war er schließlich bei den X-Akten im FBI-Keller gelandet. Er erinnerte sich außerdem zu gut daran, wie Kate schon in ihrer Studienzeit zu ihm gesagt hatte, in seinem Leben werde für einen anderen Menschen wohl niemals wirklich ein Platz sein. Er arbeite wie ein Besessener, und die Dinge, denen er sich verpflichtet fühlte, fräßen ihn mit Haut und Haar. Er zog ein Gesicht, als ihm wieder in den Sinn kam, daß Scully genau dasselbe auch schon gesagt hatte.

Da war es wieder: Kate und Scully waren sich in mancher Hinsicht ähnlich. Fast war es, als habe Scully in seinem Leben den Platz eingenommen, den Kate früher darin hatte. Und vielleicht war er letzten Endes deswegen wieder hier. Weil er Scullys Halt in der rationalen Welt brauchte. Ihren Rat, ihre Nähe. Sie war seine Vertraute. Der Mensch, auf den man sich immer verlassen konnte, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stand. Die ihn immer wieder auf die Erde zurückholte, wenn er gerade dabei war, sich endgültig in einer wirren Idee zu verlieren...

Die ihn jetzt immer noch forschend ansah.

„Glauben Sie, daß ich beziehungsunfähig bin?“ fragte er sie unvermittelt. „Ich habe nicht einmal ein Liebesleben. Oder denken Sie, meine Pornosammlung zählt als solches?“

Jetzt sah er sie an, es traf sie ein verletzlich wirkender Blick aus seinen grau-blauen Augen.

Sie faßte über den Schreibtisch hinweg nach seiner Hand. „Mulder.“ Ihre Stimme war ganz sanft. „Fangen Sie nicht an, an sich zu zweifeln. Jeder kennt Beziehungen, die schief gehen. Das heißt nicht, beziehungsunfähig zu sein. Es bedeutet lediglich, noch nicht den einen Menschen gefunden zu haben, mit dem man sein ganzes weiteres Leben verbringen möchte. Oder aber Sie kennen diesen Menschen längst und haben nur die Bedeutung für Ihr Leben noch nicht erkannt.“

Wieder mußte er an Kate denken. Aber gleichzeitig spürte er, daß nicht Kate dieser Mensch sein konnte. Auch wenn er es sich in London kurz gefragt hatte. Doch irgend etwas hatte sich nicht richtig angefühlt. Auch wenn Rose sie nicht unterbrochen hätte.

Sie gab ihm das Foto zurück. „Vergessen Sie das Flugzeug und den Fluch. Ich glaube, Sie sind einfach überarbeitet.“

„Würden Sie mir einen Gefallen tun und sich trotzdem das hier ansehen?“ Er reichte ihr das Manuskript.

Sie streckte die Hand danach aus. „Was ist das?“

„Die Übersetzung, an der Kate arbeitet. Der Teil, der schon fertig ist. Ich habe eine Kopie gemacht.“



Es war spät am Abend, als Scully ihrem Partner die Aufzeichnungen zurückgab. „Ich habe mir alles angesehen.“

„Und?“

„Nichts weltbewegend Neues. Legenden und Geistergeschichten. Menschen, die plötzlich sterben und umgehen, weil Aufgaben unerledigt geblieben sind. Menschen, die ihre Probleme im Augenblick des Todes an diejenigen übertragen, die ihnen nahestehen. Man kann daran glauben oder auch nicht. Und wie gesagt: Es geht immer um Tote. – Ist Ihnen heute noch irgend etwas Außergewöhnliches zugestoßen?“

„Nein“, mußte der Agent zugeben.

„Und was das befürchtete Defizit in Liebesdingen angeht...“ Sie streckte die Hand nach vorne, die sie bislang hinter ihrem Rücken verborgen gehalten hatte, und reichte ihrem Partner eine langstielige Rose.

„Für mich?“ fragte er verblüfft.

„Ja. Sie sollten niemals an sich zweifeln. Und jetzt stellen Sie die Rose entweder einfach nur als freundschaftlichen Gruß ins Wasser – oder Sie verwenden sie für eine Blüten-Prophezeiung.“

„Eine Blüten-Prophezeiung?“

„Das kommt in der Übersetzung auch vor, haben Sie die Stelle überlesen? Wenn man wissen will, ob man binnen eines Jahres die Liebe findet, gibt man am Abend zwei Rosenblätter in eine Schale mit Wasser. Schwimmen sie am Morgen so darin, daß sie sich berühren, kommt die Liebe. – Gute Nacht, Mulder.“

Und damit war sie aus der Tür. Er betrachtete die Rose, die sie ihm überreicht hatte, und fühlte sich eigenartig geborgen. Scully, sein Fels in der Brandung.

Er schlug das Manuskript auf, um nach der Stelle mit der Blütenprophezeiung zu suchen. Doch statt der Stelle, die er suchte, sprang ihm auf einer Seite, auf der von ausgleichender Gerechtigkeit die Rede war, plötzlich eine rot gedruckte Zeile ins Auge: „Es ist vorbei“ stand dort. Er runzelte die Stirn. Er hatte beim Ausdrucken des Textes doch nicht mit einer anderen Farbe gearbeitet. Und beim Durchlesen war ihm auch kein roter Text aufgefallen. Hatte Kate die Stelle hervorgehoben? Und er sie beim ersten Lesen genauso übersehen wie die Blüten-Prophezeiung? Aber rote Schrift fiel doch stark auf. Und wieso sollte Kate gerade diese Zeile markiert haben? War hier eine Lösung des Problems zu finden? Was hatte „es ist vorbei“ hier zu bedeuten? Wann war was vorbei?

Gerade wollte Mulder sich dem Text widmen und die Stelle genauer nachlesen, als das Telefon klingelte. Er hob ab und meldete sich.

„Dr. Waits von der Gerichtsmedizin in London“, antwortete eine Frauenstimme. „Sind Sie Danas Partner, der vor kurzem hier in London war?“

„Ja.“

„Dann habe ich eine Mitteilung, die Sie vielleicht interessiert. Sie hatten sich doch nach Liz Kramer erkundigt. Dana sagt, deren Exfreund hieß Alan Brady?“

„Ja.“

„Ich habe hier gerade einen Alan Brady auf dem Tisch. Ein Makler. Ist er das?“

„Ja. Was ist passiert?“

„Alkohol und Tabletten.“

„Selbstmord?“

„Yep.“

„Weiß man etwas über die Gründe?“

„Nach dem, was ich von meinen Kollegen gehört habe, hat ihn wohl seine reiche Lebenspartnerin verlassen. Und sein Laden war pleite.“

„Eine Ratte weniger“, murmelte Mulder in Erinnerung an den Touristenführer in den Docklands. „Haben Sie vielen Dank.“

Er legte auf und wandte sich wieder dem Manuskript zu, um der Bedeutung der rot gedruckten Worte auf den Grund zu gehen. – Doch da war nirgends eine rote Zeile! Der Agent runzelte die Stirn. Hatte er in Gedanken umgeblättert? Er blätterte vor und zurück. Nichts. Und die Überschrift, die etwas von ausgleichender Gerechtigkeit sagte, stimmte. Er hatte definitiv dieselbe Seite aufgeschlagen wie vorher auch. Aber da war keine rote Schrift!

Er las die gesamte Seite aufmerksam durch. Da stand auch nirgends der Satz: „Es ist vorbei.“

„Es ist vorbei“, murmelte der Agent, starrte das Manuskript und dann das Telefon an. Ausgleichende Gerechtigkeit. Und auf einmal war er sich sicher, daß der Fluch zu Ende gegangen war.

Er nahm das Manuskript, stand auf, zog einen Rollschub im Aktenschrank auf, ließ den Text in einem Ordner verschwinden und schob wieder zu.

Vorsichtig zupfte er zwei Blütenblätter von der Rose, bevor er sie ins Wasser stellte, ließ dann Wasser in eine flache Schale laufen, stellte sie auf den Schreibtisch und sah zu, wie die Blütenblätter aus seiner Hand hineinglitten. „Eine Blüten-Prophezeiung“, murmelte er kopfschüttelnd. Und so etwas schlug seine rational veranlagte Partnerin ihm vor!

Er löschte das Licht, öffnete die Tür, warf noch einen letzten Blick zurück auf die Schale mit den Blüten und trat dann entschlossen hinaus. Die Tür fiel ins Schloß. Im Inneren des Büros fingen die beiden Rosenblätter an, fast unmerklich aufeinander zuzutreiben.



ENDE
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