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Selbstmord

von Stefan Rackow

Kapitel 1

>Schein und Sein<



David wusste noch nie genau, wo er eigentlich hingehörte. In der Schule wurde er gehänselt und zu Hause als Taugenichts beschimpft; Dies ausgerechnet von seinem eigenen Vater, den er dafür abgrundtief hasste. Seine einzigen „richtigen“ Freunde waren daher nur der Wind, die Sonne und der Mond.

Bei ihnen fand der Schüler Zuflucht, war in der Lage, über Gott und die Welt zu reden und wusste, dass er keine Widerworte zu erwarten hatte.

Oft sprach er zu ihnen, sehr oft. Sie faszinierten ihn schon als kleines Kind, spiegelten sie doch Größe, Kraft und Geheimnisvolles wider – genau die Eigenschaften, die seinem Ego fehlten. Vielleicht war es eine Art stummer Schrei des Jungen, ein Zeichen seiner negativen Meinung zu den Menschen, die ihn tagtäglich umgaben. Vielleicht versuchte er, durch das Reden mit den Planeten, den Pflanzen an Charakterstärke zu gewinnen. Oder machte er sich gar keine Gedanken darüber?



David war 17 Jahre und für sein Alter nicht besonders groß, was ihm das Eingliedern in die Klassengemeinschaft unnötig schwer, gewissermaßen unmöglich machte. Besonders im Sportunterricht wurde er wieder und wieder von seinen Mitschülern aufgezogen und aufs Übelste beschimpft. Und selbst auf dem Pausenhof - natürlich immer dann, wenn gerade kein Lehrer in der Nähe war – ließen sie nicht von ihm ab.

Wie gerne würde er mit seinen Klassenkameraden spielen, z.B. in der Football– oder Baseball-Mannschaft der Schule, aber keiner der Trainer wollte ihn in der Mannschaft haben. Auch sie hielten ihn für zu klein und schmächtig für diese Art von Sport. Wie gerne würde er nach einem erfolgreichen Spiel mit ihnen allen lachen und feiern. Wie gerne...



Doch David war ein Außenseiter.



******



Es war spät am Abend des 13.9.2000, als David sich wieder einmal alleine auf einen Nachtspaziergang durch die Wälder New Jerseys begab.

Am Himmel leuchteten Unmengen von Sternen, und der Mond hing dick und rund am Firmament.



Ist schon lange her, dass es mal Vollmond gab, dachte der Junge und erinnerte sich an die Zeit, als er zusammen mit seinem Großvater des Nachts aus Spaß den Mond angeheult hatte. Was vermisste er seinen Großvater! Wie vermisste er sein altes Zuhause! Der durch die Arbeit seines Vaters unvermeidbare Umzug erwies sich für David als Schicksalsschlag, sollte er doch das zurücklassen müssen, was er in seiner alten Heimat so geliebt hatte: seinen Großvater, die allgemeine Umgebung, in der ihr so schönes Haus stand – alles lag nun in weiter Ferne, unerreichbar für ihn.

So lebte er nun mit seiner Familie - diese Bezeichnung existierte für David schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr! - in einem kleinen Haus am Rande von New Jersey in einer neu angelegten Siedlung, welche auf dem Skizzenblock seines Vaters, dem Bauunternehmer Nigel Holmes, entstanden war.

Ein jeder Junge wäre stolz auf seinen Vater gewesen. Doch David hielt sich nicht an diese Tatsache, was auch kein Wunder war, da sein Vater ihm ebenso wenig Respekt und Anerkennung entgegen gebracht hatte.



Er blickte zum Himmel.



Vollmond, war wiederum der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam, und er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. David genoss den Abend. Genoss die Tatsache, dass er für einen kurzen Moment den festen, starken Händen des Vaters, welche Pranken glichen, fern war. Ob dieser wohl gemerkt hatte, dass er ...?



Ein gleichbleibendes Summen ließ den Jungen zusammenfahren. David blickte erschrocken um sich, um sich zu vergewissern, dass sein Vater ihm nicht gefolgt war. Woher kam das Geräusch?

Anschließend wanderte sein Blick umher und endete an einem großen Hügel nahe einer Waldlichtung, von welcher er nur noch einige Meter entfernt war. Er wollte es eigentlich nicht, aber trotzdem setzten sich seine Füße langsam in Bewegung, um die Quelle des Summens zu ergründen. Neugier, kam es David in den Sinn.



Wen die Neugier plagt zum Abendrot, der ist am Morgen mausetot.



Wie oft hatte sein Opa ihm diesen Satz vorgesprochen! Aber war das nicht nur Panikmache? Ein radikaler Versuch, einem kleinen Kind von Dummheiten abzuraten?



Das Summen wurde mit jedem Schritt stärker, und David erkannte, dass die Geräusche menschlichen Ursprungs waren. Es sein mussten! Er ging in die Hocke und robbte langsam dem Hügel näher, welcher jetzt im Lichte des Mondes einen unheimlichen blauen Schimmer angenommen hatte. Wie eine Kristallkugel.



Der Junge erreichte nach einer kurzen Zeit die „Spitze“ der Erhebung und blinzelte, einem kleinem Kind gleich, welches vorsichtig an Weihnachten durchs Schlüsselloch guckt, um einen Blick vom Weihnachtsmann zu erhaschen, über den Rand.

Er sah sechs finstere Gestalten, allesamt in dunkle Kutten gehüllt. Ihre Gesichter waren vom Schatten der Kapuzen derart finster, dass David anzweifelte, ob sie „überhaupt“ ein Gesicht hatten. Sie schienen einen einstudierten Text zu summen, dessen Worte einem, obgleich Nichtverstehens, einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließen. Der Junge machte seine Augen weiter auf. Was war hier im Gange? Wer waren diese Leute? Warum waren sie hier? Das Summen wurde stärker.







Es blitzte kurz. Komischerweise folgte kein Donner. David rieb sich die brennenden Augen ...



... und fühlte plötzlich zwei kräftige Hände auf seinem Rücken. Instinktiv fuhr er herum und blickte, zu seiner Überraschung, in das kalte Gesicht seines Vaters.



„Hier bist du also, du Lausebengel!“

„Vater...?“, kam es mit zitternder Stimme von David.

„Was fällt dir eigentlich ein, des Nachts das Haus zu verlassen? Noch dazu ohne meine Erlaubnis?“ Der Vater sah ihn derart finster an, dass der Junge keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbekam.

„Ich ... ich...“, stotterte er daher.

„Dich werde ich lehren, was es heißt, den Regeln des Vaters nicht Folge zu leisten! Was hast du dir dabei gedacht...“

„Vater, da hinten sind...“, versuchte er seinen Vater auf das eben Gesehene hinzuweisen, doch er wurde barsch von ihm unterbrochen.

„Schnauze, du Trottel!“, schimpfte er. „Wage es ja nicht, mir zu widersprechen, sonst wirst du meine Fäuste...“



Weiter kam sein Vater nicht, denn ein unbekannter Angreifer, den David vorher nicht bemerkt hatte, ergriff den großen Mann urplötzlich von hinten am Hals und drückte diesen derart fest zu, dass der Vater eine bläuliche Färbung im Gesicht annahm.

Der kräftige Mann wehrte sich mit aller Macht, schlug um sich, trat mit den Füßen – jedoch jedes Mal ins Nichts. Mit jedem Verteidigungsversuch verschwand auch ein Stück Leben aus seinem Körper.



Röcheln.

Keuchen.

Dann war alles vorbei.



Der Junge starrte auf den Boden und konnte seinen Blick nicht von der Leiche des Vaters losreißen. Wie er so da lag; ruhig, die Augen geschlossen, der kräftige Körper gekrümmt - fast wie im Schlaf. David blickte auf.

Der Mörder war verschwunden, und auch das Summen war verstummt. Der Junge schielte zum Hügel und sah, dass die vermummten Gestalten ebenfalls nicht mehr da waren. Nur noch er und die Leiche befanden sich auf der Lichtung - um sie herum Bäume, und oben stand dick und rund der Mond am Himmel.



Wie Pranken, dachte der Junge, als er sich kurz an das Vorherige erinnerte. Er schluckte. Die Hände des Mörders waren wie Pranken! Wie die seines Vaters...



******


10 Stunden später, New Jersey, Tatort



John Doggett stieg mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck aus seinem Mietwagen und streckte zuerst beide Arme in die Höhe. Es knackte etwas. Er verzog das Gesicht und rieb sich die schmerzende Schulter.

„Ich werde alt“, sagte er, als seine Partnerin Dana Scully neben ihm auftauchte.

„Alles eine Frage der Gewöhnung“, lautete Scullys knapper Kommentar, den sie mit einer Prise Ironie anreicherte. John verzog sein Gesicht zu einem Lächeln. Wie sie es nur immer wieder schaffte, sich über ihn lustig zu machen!?

Er schloss die Wagentür und ging langsam hinter Scully her, welche forschen Schrittes in Richtung einer Absperrung ging, an der ein Dutzend Polizisten stand und sich angeregt unterhielten.



„Special Agents Dana Scully und John Doggett“, sagte Scully und hielt den Polizisten ihren Dienstausweis vor das Gesicht. Doggett tat dasselbe, wobei er seinen Blick kurz über das Gelände schweifen ließ.

„Was genau ist hier vorgefallen?“, erkundigte er sich und steckte den Ausweis wieder ein.

Ein Polizist unterbrach seine Unterhaltung mit einem Kollegen und ergriff das Wort.

„Mein Name ist Mitchum.“ Er reichte den beiden Agenten symbolisch seine rechte Hand.

„Wir wurden heute morgen von einem Jungen aus der Gegend angerufen, der meinte, sein Vater wäre von einem unbekannten Täter vor seinen eigenen Augen erwürgt worden. Die Leiche befindet sich im hiesigen Leichenschauhaus, falls Sie... “

„Ich vermute mal, dass von dem Täter jegliche Spur fehlt?“, fragte Doggett und blickte kurz seine Partnerin an, welche sein Unterbrechen Mitchums nicht sehr freudig entgegennahm. Dennoch beließ sie es nur bei einem kleinen schiefen Anblicken.

„Gibt es irgendwelche Fundstücke und Fußabdrücke? Und, ja, wäre nett, wenn ich mir die Leiche nachher mal ansehen könnte“, hängte sie an Doggetts Frage an.

„Nein, nur die Spuren des Opfers und ein paar, von denen wir vermuten, dass sie dem Jungen gehören“, antwortete der Polizist.

„Sonst gibt es nichts?“, bohrte Scully weiter. Sie war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass manchmal ein winziges vergessenes Detail die ganze Beweislage ändern konnte. Sie ließ kurz ihren Blick über die Landschaft wandern, bevor sie sich wieder ihrem Gesprächspartner zuwandte.

„Wir sind auch erst seit einigen Minuten hier, Agents. Wir sind gerade dabei, die nähere Umgebung zu durchforsten.“

„Hm“, murmelte Scully.



„Hey!“, kam plötzlich ein Ruf von ganz in der Nähe, „Mitchum! Wir haben hier etwas gefunden“.

Der Polizist nickte kurz den beiden Special Agents zu und verschwand in Richtung des Rufes. Doggett konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Er hatte früh aufstehen müssen, und die Fahrt war alles andere als angenehm gewesen.

„Was machen wir hier, Agent Scully?“, lautete seine Frage an die Agentin, welche einen knappen Meter vor ihm stand und starr in den Himmel blickte. „Das hier sieht für mich bisher nach einem, vorsichtig ausgedrückt, normalen Selbstmord seitens des Vaters aus. Der Junge hat dies miterlebt und ... ich meine ... wissen Sie, wie ein Kind fühlt, das einen Elternteil mit eigenen Augen sterben sieht? Ich glaube, dass der Junge einen Schock hat und daher von „einem Angreifer aus dem Nichts“ sprach. Schließlich wurden bisher keine anderen Abdrücke als die von dem Jungen und seinem Vater hier in der Nähe gefunden. Glauben Sie nicht, dass ...“

„Finden Sie es nicht ein bisschen vorschnell, über das Ausmaß des Falles zu urteilen, bevor alle Indizien für einen Selbstmord sprechen?“ Scully wandte sich Doggett zu. Dieser blickte sie verwundert an.

„Es tut mir leid, Agent Scully, falls das gerade so klang, als ob mich dieser Fall langweilt. Das tut er nicht, bei weitem nicht. Ich habe lediglich zum Ausdruck gebracht, dass wir bisher so gut wie nichts Stichhaltiges zu dem Fall haben.“

Scully blickte zu Boden, so als ob sie sich für das Vorangegangene schämte.

„Nein ... nein, Agent Doggett, so hat es nicht geklungen. Ich bin nur ... etwas durcheinander.“ Sie hob ihren Blick.

„Verstehen Sie, bei jedem Fall muss ich immer daran denken, wie Mulder das wohl gesehen hätte - als mein Partner. Vielleicht ... vielleicht erwarte ich momentan einfach zu viel von Ihnen. Ich akzeptiere Sie als Partner, Agent Doggett, und ich finde es mehr als hingebungsvoll von Ihnen, dass Sie mir bei der Suche nach Mulder helfen. Aber manchmal, besonders jetzt, gibt es einen Punkt, wo zwei Welten aufeinander prallen und ich nicht weiß, welcher Partei ich mich unterordnen soll. Ich hänge anscheinend noch zu sehr an ihm.“

„Ich verstehe, was Sie meinen.“ Doggett nickte verständnisvoll. Scully versuchte zu lächeln, doch ein aufkommendes Gefühl verriet ihr, dass dies nicht der passende Moment dazu sei. Sie nickte ebenfalls.

„Danke... Machen Sie einfach Ihre Arbeit, Agent Doggett. So, wie sie es bisher immer getan haben“, hauchte Scully, wandte ihrem Partner den Rücken zu und lief hinter dem Polizist Mitchum her.

John blieb sprachlos zurück und versuchte, das gerade Gehörte zu verarbeiten.

Sie vermisst ihn, das ist alles. Und sie kann mich als neuen Partner noch nicht richtig akzeptieren, da ich anders denke, der „anderen“ Partei angehöre, dachte er. Sie tut mir irgendwie leid.



„Agent Doggett?“, rief plötzlich eine Person und Doggett wusste, dass dies Scully war. „Das müssen Sie sich ansehen...“



Doggett machte sich auf den Weg Richtung eines kleinen Hügels, in dessen Nähe Scully und Mitchum hockten und mit intensiven Blicken den Boden begutachteten. John kniete sich neben sie. Scully deutete mit ihrem rechten Zeigefinger auf seltsame Unebenheiten im Boden.

„Sehen Sie das? Das Gras ist an dieser Stelle irgendwie ...“

„...erfroren?“, beendete Doggett Scullys Satz.

„Ja, erfroren.“ Scully drehte ihren Kopf zu allen Seiten, um die gesamte nähere Umgebung erfassen zu können.

„Und dieses Merkmal erstreckt sich in einem Umkreis von schätzungsweise ... vier Metern Durchmesser. Ein Kreis aus erfrorenen Grashalmen. Und das keine fünfzehn Meter vom Fundort der Leiche entfernt.“

„Na ja, die Nächte sind manchmal extrem kalt hier, und ...“, versuchte Doggett das Seltsame zu erklären, doch Scully schüttelte ihren Kopf. Innerlich schmunzelte sie, schließlich war sie genauso erpicht darauf, alles wissenschaftlich und logisch zu erklären, wenngleich dies nur selten tatsächlich möglich war. Dennoch begutachtete sie ihren Partner mit einem vorwurfsvollen Blick.

„Selbst wenn die Nächte des öfteren sehr kalt sind: Ist es nicht unwahrscheinlich, anzunehmen, dass nur, und nun folge ich Ihrer Theorie, eine einzige Stelle davon betroffen ist? Die zudem noch erschreckend gleichmäßig verläuft? Nein, Agent Doggett, ich glaube vielmehr, dass in der Mordnacht jemand oder etwas hier war und dass das Gras daher in diesem Zustand ist.“

„Äh, das vermuten Sie aufgrund gefrorenen Grases?“, fragte Mitchum, dessen Gesichtszüge den Ausdruck gänzlichen Nichtverstehens annahmen.

„Intuition“, murmelte Scully und gab ihrem Partner zu verstehen, dass sie ihn kurz ungestört sprechen wolle. Die beiden Agenten entfernten sich infolge dessen einige Meter von der Fundstelle.

„Doggett, ich habe eine Bitte an Sie. Statten Sie dem Jungen einen Besuch ab, und versuchen Sie herauszubekommen, ob er kurz vor dem Tod seines Vaters in der unmittelbaren Umgebung Bewegungen registriert hat. Ich werde mir inzwischen die Leiche genauer ansehen.“

„In Ordnung, Agent Scully. Gibt es denn schon irgendwas, was ich wissen müsste?“

Scully sagte darauf einen Moment nichts. Dann öffnete sie ihren Mund: „Das Opfer ist Nigel Holmes. Der Nigel Holmes. Sie werden sich bestimmt fragen, woher ich das weiß.“

Doggett neigte seinen Kopf. „Allerdings. Ich dachte, die Polizisten hier wüssten noch nichts über die Identität des Opfers.“

„Sie haben Recht, sie wissen auch noch nichts.“ Scully holte einen Plastikbeutel aus ihrer Tasche, dessen Inhalt ein quadratisches Stück hartes Papier war und hielt Doggett das „Fundstück“ vor die Nase. Dieser bekam große Augen und nickte verstehend.

„Eine blutbeschmierte Visitenkarte...“

„Ich habe sie ganz am Anfang in der Nähe des Fundortes im Gras gefunden. Mir scheint, die Jungs hier sind nicht sehr gründlich, was ihre Arbeit betrifft“, sagte Scully, während sie den Beutel wieder vorsichtig in ihrer Tasche verschwinden ließ.

Doggett wurde nachdenklich. „Nigel Holmes? Ist das nicht der berühmte Stararchitekt?“

„Genau. Verstehen Sie jetzt vielleicht, warum ich vorhin so forsch auf Ihre Selbstmordtheorie reagiert habe? Ein Niguel Holmes begeht nicht so einfach vor den Augen seines Kindes Selbstmord. Ein Selbstmord resultiert meistens aus einer Verkettung unglücklicher Umstände, sei es privat oder beruflich. Doch Nigel hatte, wie es aussah, keine Probleme. Alles lief bestens. Erst kürzlich hatte er sich zu einem Projekt in den Medien geäußert, welches ihm Millionen eingebracht hätte. Und ich glaube weniger, dass ihn Probleme mit der Familie zu einem Selbstmord getrieben hätten.“

Doggett zog die Stirn kraus. „Das wirkt mir zu sehr an den Haaren herbeigezogen, Agent Scully. Wir haben bisher noch keinen Beweis dafür, dass er nicht doch Selbstmord begangen hat. Sein Tod kann viele Gründe haben.“

„Daher denke ich, dass Sie sich dringend mit seinem Sohn unterhalten sollten, Agent Doggett“, erwiderte Scully. „Vielleicht können wir mit seiner Aussage auch klären, was das erfrorene Gras damit zu tun hat.“

„Gut, ich werde gleich zu ihm fahren“, ließ Doggett verlauten und ging langsam zum Auto. Noch beim Einsteigen rief er Scully hinterher: „Ich hoffe nur, dass wir es mit keinen Aliens zu tun haben – der Kreis im Gras könnte ja eine Art Kornkreis sein.“

Scully bemerkte die versteckte Ironie und rief im Gegenzug: „Agent Doggett, ich bewundere Ihre schnelle Auffassungsgabe. Das hatte ich noch gar nicht mit einkalkuliert. Könnte in der Tat sehr hilfreich sein...“

Doggett musste lächeln, während er den Motor startete. So kannte er sie: um keine Antwort verlegen.

******



New Jersey, ein Jahr zuvor, Arbeitszimmer von Nigel Holmes, spät am Abend



„Geschafft, Michael. Es ist vollbracht.“



Der hochgewachsene Mann ließ den Bleistift sinken und reichte seinem Freund und Kollegen Michael T. Morton einen Haufen Papier, welchen dieser mit großen Augen begutachtete.

„Alle Achtung, Nigel, das ging echt schnell. Du bist wirklich ein Meister deines Fachs. Hast du auch alles genauestens geplant? Jede Kleinigkeit bedacht? Immerhin willst du eine angesehene Wohnsiedlung am Rande von New Jersey bauen lassen – da kann man nicht halbherzig seine Arbeit tun.“

„Schau es dir doch an. Und sag selber: wird so nicht das bestmögliche Ergebnis erzielt? Ansprechende Lage, gute Anbindungsmöglichkeiten – was will der moderne Mensch von morgen mehr? Und bevor du was sagst: ich will es gar nicht hören! Weil es nämlich nichts zu bemängeln gibt. Es ist perfekt!“

Michael sah sich den Grundriss der Siedlung noch einmal genauer an. Plötzlich weiteten sich seine Augen.

„Kann es sein, dass du etwas nicht mit einkalkulierst hast?“

„Was meinst du?“

„Unser Bebauungsgebiet erstreckt sich laut Auftrag auf einem Gebiet von knapp 10.000 qm. Laut deiner Skizze sind es aber...“ Er vergewisserte sich. „... 11.000 qm. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?“

Nigel zündete sich eine Zigarette an. „Ich musste geringfügig umdisponieren. Außerdem ist dort sowieso nur Gras und ein oder zwei Bäume. Nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen müsste. Es wird alles einen geregelten Ablauf nehmen.“

„Aber... du kannst doch nicht einfach auf Gebiet bauen, das dir nicht zugeteilt worden ist. Das ist unrechtlich!“ Michael legte den Papierstapel auf dem Schreibtisch ab. „Wenn die Behörden davon erfahren! Du kannst dir keinen Skandal leisten, Nigel!“ Seine Stimme wurde zunehmend lauter.



Der Stararchitekt saß immer noch seelenruhig auf seinem Schreibtischstuhl und machte den Eindruck, als ob ihn das gerade Gesagte keinen Deut interessieren würde. Erst nach einer knappen Minute, in der er ein paar Mal genüsslich an seiner Zigarette zog, erhob er seine Stimme: „Merkst du nicht, dass du die ganze Zeit nur Hypothesen aufstellst? Wenn du ruhig bleibst, wird kein anderer diesen, ehrlich gesagt, ziemlich geringen Unterschied bemerken, mein Freund. Womit ich eine Hypothese gegen die deinige gestellt hätte...“

Michael verzog das Gesicht, als der Zigarettenqualm seine Augen reizte.

„Und du wirst doch schweigen, oder?“, fragte Nigel mit Nachdruck, der keine andere Antwort als ein „ja“ von seinem Kollegen zu hören wünschte.

„Das ... ist nicht ... rechtens ...“, lautete die knappe Antwort seines Kollegen, dem langsam der Angstschweiß auf die Stirn stieg. „Du wirst dir damit nur Probleme einhandeln! Das prophezeie ich dir! Du wirst ...“

„Ich werde gar nichts. Schluss. Fertig. Herrgott, du redest ja fast schon wie mein verdammter Sohn zu Hause. Bist du wirklich bereit, dich auf die Stufe eines Kindes zu begeben?? Diese Siedlung wird gebaut werden, und ich werde jeden, der sich gegen mich auflehnen will, derart tief in den Boden stampfen, dass er es sich in Zukunft zweimal überlegt, ob sein Handeln richtig war, kapiert?! Das, was du auf den Skizzen siehst, ist die Verwirklichung eines Traums von mir. Daher will ich diese Siedlung so schnell wie möglich fertig sehen, und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben tue!“

Nigel verschwand aus dem kleinem Arbeitszimmer und ließ Michael alleine zurück. Dieser sackte auf den beistehenden Sessel und fuhr sich langsam mit der Hand durch die nahezu grauen Haare.

Wenn er nur nicht Recht behält, war der einzige Gedanke, den er in diesem Moment hegen konnte. Wenn er mit diesem letzten Satz nur nicht Recht behält ...



******





Gegenwart - New Jersey, Wohnung der Holmes, 10:14 Uhr



„Ich bin John Doggett vom Federal Bureau of Investigation. Ma’am, darf ich kurz reinkommen?“



Der FBI-Agent bedankte sich bei der noch jungen Frau und wartete, bis diese die Tür wieder geschlossen hatte. Anschließend sprach er sie noch einmal kurz an.

„Das mit Ihrem Mann tut mir leid. Wir ...“

„Schon gut, Mr. Doggett. Ich weiß aber ehrlich gesagt nicht, was Sie hier noch zu finden erhoffen. Die Polizei hat schon jede Art von Fragen gestellt – der Junge ist geschockt! Streuen Sie nicht noch Salz in offene Wunden, indem Sie zum wiederholten Male auf das gestern Geschehene eingehen. Das verkraftet er nicht! Er ...“

„Ich möchte nur noch eine Frage stellen, Mrs. Holmes. Nur eine Frage“, sagte Doggett und hoffte, dabei beruhigend zu wirken. Die junge Frau entgegnete nichts, sondern geleitete den Agenten in das Wohnzimmer, wo auf einer großen, für Doggetts Eindruck viel zu pompösen Couch ein mittelgroßer Junge saß. Selbiger war vertieft in ein Videospiel in seiner Hand, aus welchem ein piepsender Rhythmus zu vernehmen war. Doggett musste unweigerlich an einen anderen Jungen denken. Einen, den er kannte. Einen, den er geliebt hatte. Einen, den er verloren hatte ...



„Was wollen Sie von mir?!“



John wurde aus seinen Gedanken gerissen. Der Junge saß erwartungsvoll auf der Couch, hatte das Spiel beiseite gelegt und blickte den Bundesagenten mit seinen großen braunen Augen an.

„Du bist David, richtig? Ich bin John Doggett, vom FBI“, war das erste, was Doggett sagen konnte.

„Was wollen Sie? Ich habe der Polizei schon alles gesagt, was ich weiß.“

„Wirklich alles?“ Doggett setzte sich neben den Jungen. „Oder gab es vielleicht etwas, was du ihr verschwiegen hast, weil du Angst hast? Gibt es ein solches Ereignis?“

„Was - ... meinen Sie?“, stotterte David.

„Du musst keine Angst haben. Wir haben etwas am Tatort gefunden. Sag mir einfach nur, ob in der gestrigen Nacht außer dir und deinem Vater noch andere Personen in der Nähe waren. Landstreicher vielleicht oder - ... sonst wer. Du würdest uns damit einen großen Dienst erweisen...“ John machte eine kurze Pause und blickte auf ein Familienfoto, das auf dem Kaminsims stand, bevor er seinen Satz beendete. „...und für dich die quälende Unkenntnis beseitigen, was nun mit deinem Vater passiert ist.“



„Hören Sie mal zu, Mr.! Ich weiß ja nicht, was Sie sich unter einer glücklichen Familie vorstellen“, sagte der Junge, der sehr wohl Doggetts Blick auf das Foto registriert hatte. „Für Sie mag der Eindruck entstehen, dass unsere Familie ein besinnliches Leben führt. Sie haben das Bild gesehen, nicht?“ David zeigte auf das Familienfoto, und John nickte bejahend.

„Der Schein trügt, diese glückliche Familie hat es nie gegeben“, fuhr der Junge fort. „Die Zeit vor diesem Ereignis war ein Höllentrip! Denken Sie echt, dass mein Vater - ... ein fürsorglicher Vater war, dem es um das Wohl seiner Familie ging? Der alles für sie getan hätte?“

„David, ich bin nicht hergekommen, um mit dir über den Sinn einer glücklichen Familie zu diskutieren. Dein Vater ist tot, und ich möchte herausfinden, wie das ...“

„Das ist es doch gerade!“, brüllte David und blickte Doggett wütend an. „Sie wissen gar nicht, wie erleichtert ich bin, dass er endlich weg ist! Vorbei, die Zeit der Tyrannei! Ich kann wieder frei leben, frei denken... Das ist eine glückliche Familie.“

Doggett versuchte die ganze Zeit gelassen zu bleiben. „Egal, was du denkst. Wenn dir dein Vater so egal ist, dann kannst du mir ja auch ohne Vorbehalt erzählen, ob du noch jemanden kurz vor oder während der Tat registriert hast. Für mich.“ Er blickte kurz in den angrenzenden Flur, wo ein Schatten verriet, dass Mrs. Holmes in der unmittelbaren Umgebung stand. „Für deine Mutter, David. Also...?“

John beugte sich etwas vor und durchbohrte den Jungen mit einem durchdringenden Blick.

„Ich ...“, begann der Junge zögerlich.

„Sag es mir, David.“

„Sie werden mich für verrückt erklären, wenn ich Ihnen das Folgende erzähle!“, stammelte der Junge und fummelte unruhig an seinen Fingern herum.

Doggetts Augen weiteten sich. „Da war also was, ja?“, fragte er und bemerkte, wie David zunehmend nervöser wurde.

Es dauerte einige Zeit, bis der Junge den Mund öffnete. „Da ...“, begann David von Neuem, doch er schaffte es nicht, den Satz fortzuführen.

„Ja?“

„Ich kann das nicht! Ich habe Angst vor ihnen! Wenn sie nun das Gleiche mit mir machen!?“

„Wer, David? Wer will dir was tun?“

Der Junge blickte den hochgewachsenen Agenten eine ganze Weile mit einem angsterfüllten Gesicht an, bis schließlich sein Sprechen das Schweigen brach. Er schluckte, und es schien Doggett so, als ob in dem Moment die ganze Umgebung eine Veränderung durchmachte.



„Die Männer in den schwarzen Kutten ...“



******





Pathologisches Institut New Jersey, 10:20 Uhr



„…möchte ich im Folgenden die näheren Zusammenhänge prüfen, welche den Tod herbeiführten.“

Das Aufnahmegerät, welches Scully zur Verfügung gestellt worden war, wurde von dieser mit einem beherzten Druck auf den Pauseknopf in einen Ruhezustand versetzt.



Scully beugte sich über die Leiche und beäugte sie mit einem Blick, der für Ärzte ihrer Gattung üblich ist. In ihrem Unterbewusstsein dachte sie an Doggett. Dachte an seine Ungläubigkeit dem Paranormalen gegenüber. Er ist noch nicht flexibel genug, dachte Scully, nur ein wenig offener, und nahm, in der einen Hand das Skalpell, in der anderen das Aufnahmegerät den ersten Schnitt vor.

„Es sind keine inneren Verletzungen zu verzeichnen, soweit ich das dem ersten Eindruck nach beurteilen kann.“ Sie blickte kurz zum Hals des Opfers. Moment, hatte Mitchum nicht gesagt, dass der Junge von einem Mann berichtet hat, der den Vater erwürgt haben soll? Sie blickte auf den Hals. Wenn dem so wäre ...



„Nachtrag: Aus der Aussage einer der befragten Personen war zu entnehmen, dass das Opfer sehr wahrscheinlich erwürgt wurde. Ich werde mich daher im Folgenden vorerst nur auf die Körperregionen oberhalb der Schulterblätter beschränken.“ Die Ärztin ermahnte sich innerlich, beim nächsten Mal nicht die Aussagen der Zeugen zu vergessen und begutachtete mit geschultem Blick den Hals des Architekten.

„Das ist seltsam – es sind keine Eindrücke, die auf einen Würgegriff schließen lassen würden, zu verzeichnen. Nicht einmal irgendwelche Färbungen der Haut.“

Leicht verwirrt überlegte Scully, ob sie trotzdem einen Schnitt am Hals durchführen sollte. Alle Skrupel beiseite schiebend, nahm sie das Skalpell zur Hand und führte einen sauberen Schnitt durch, welcher den Blick freigab auf ...

„...die Luftröhre!“, hauchte Scully und konnte ihre Verwunderung nicht unterdrücken. „Die Luftröhre des Opfers ist, obwohl keine Anzeichen für einen gewaltsamen Zugriff sprechen, komplett zerdrückt worden. Dies dürfte innerhalb kürzester Zeit den Tod herbeigeführt haben.“ Scully atmete kurz ein, bevor sie ihren Bericht beendete: „Das Opfer starb durch Ersticken.“



Ein Angreifer, der seinem Opfer die Luftröhre komplett zerdrückt ?



Ähnliches hatte Scully bisher nur einmal gesehen. Damals, in ihrer Anfangszeit beim FBI, hatte sie mit Mulder zusammen einen ähnlichen Fall untersucht. Mulder war der festen Überzeugung gewesen, dass ein Geist für diese Tat verantwortlich war. Irgendwie schien er damit im Nachhinein auch Recht behalten zu haben – wie so häufig. Scully schüttelte kurz ihren Kopf, um wieder bei klarem Verstand zu sein und die aufkommende Erinnerung zu unterdrücken. Dieser Fall wirkte nun auf eine gewisse Art und Weise ähnlich, erweckte zuerst den Anschein eines normalen Selbstmordes. Und in Wirklichkeit lag hier ein gemeiner Mord vor, dessen Tat für einen einzelnen Menschen fast schon zu brutal erscheint. Gewissermaßen unmöglich, da vom äußeren Erscheinungsbild der Leiche her nichts, aber auch rein gar nichts für Erwürgen sprach.



Wer hatte diesen Mann umgebracht? Geister? Hatten sie das Gras zum Erfrieren gebracht? Hatte Nigels Sohn etwa einen Geist gesehen? Oder hatten sie es hier mit etwas anderem, viel Geheimnisvollerem zu tun?



Sie ermahnte sich selbst, nicht voreilige Schlüsse zu ziehen, sondern vielmehr auf Doggetts Ergebnisse von der Befragung zu warten. Schein und Sein, dachte Scully. Wie nahe die Grenzen doch manchmal beieinander lagen, wenngleich sie Welten trennten ...



*****



Währenddessen erwachte einige Kilometer entfernt eine Person schweißgebadet aus ihrem vormals tiefen Schlaf.
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