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Silent Death

von Stefan Rackow

Kapitel 2

In der Nähe des Pathologischen Institutes

9:45 Uhr





Agent Reyes saß in ihrem Wagen, gegenüber von einem kleinen Café, in das Doggett gegangen war, um für beide zwei große Becher Kaffee zu holen. Sie blickte zeitweise aus dem Fenster und beobachtete die Menschen, wie sie durch die Fußgängerzone liefen, sich unterhielten oder einfach nur in der Gegend herumstanden. Es war ein schöner Tag, sehr warm für diese Jahreszeit und die Sonne stand hoch am Himmel. Reyes setzte ihre Sonnenbrille auf und blickte auf die Armbanduhr. Das Ergebnis der Obduktion müsste bald fertig sein, kam es ihr in den Sinn. Also noch etwas Zeit, um einen Kaffee zu trinken...



Da fuhr plötzlich mit hoher Geschwindigkeit ein Krankenwagen in die Straße ein. Sein Blaulicht war aktiviert und leuchtete zur ohrenbetäubenden Sirene, welche angeschaltet wurde, nachdem der Wagen Reyes’ parkendes Auto passiert hatte. Zur Überraschung der Agentin folgten dem Krankenwagen noch 2 Polizeiwagen, welche ebenfalls ein sehr hohes Tempo an den Tag legten.

Der Konvoi bog kurz darauf mit quietschenden Reifen in die Auffahrt zum Pathologischen Institut ein. Reyes sah verwundert nach hinten um nachzusehen, ob noch weitere Wagen folgten, aber es geschah nichts. Was war bloß geschehen? – Sie zuckte zusammen, als ihr jemand seine Hand auf ihre Schulter legte.

„Monica? Alles in Ordnung? Du wirkst so abwesend“, gab die zur Hand gehörende Person von sich.

„Keine Zeit zum Reden, John. Steig ein. Wir müssen schleunigst zur Pathologie!“

„Ist Michael schon fertig? Das ging ja schnell“ , erwiderte Doggett und reichte seiner Partnerin einen Becher Kaffee. „Hier, extra viel Koffein – für deine Nerven.“ – Doch Reyes schüttelte den Kopf: „Wir haben keine Zeit dafür! Los, beeil’ dich!“ – Wie ihm befohlen und leicht verwirrt setzte sich der Agent daraufhin auf den Beifahrersitz, in beiden Händen je ein heißer Becher Kaffee. „Aber fahr vorsichtig. Nicht dass nachher noch Kaffee auf mein - “ , begann er, doch da fuhr der Wagen schon mit quietschenden Reifen in die Auffahrt des Institutes.



„Verdammt!“



******



Pathologisches Institut , Obduktionsraum 3

9:47 Uhr





„Wir sind Bundesagenten“, gab Doggett den Polizisten vor Ort zu verstehen und zeigte ihm seinen Dienstausweis. Reyes folgte seinem Beispiel. „Was ist hier vorgefallen?“, fragte sie, nachdem sie ihren Ausweis wieder weggesteckt hatte. Der Polizist deutete mit dem Zeigefinger auf einen jungen Mann mit weißem Kittel, der auf dem Gang stand, vor ihm zwei weitere Polizisten, die sich hin und wieder Notizen auf einem Block machten. „Dieser junge Mann hat uns vor knapp 30 Minuten angerufen, dass ein Mensch hier drin ums Leben gekommen sein soll.“

„Hier drin ist also jemand zu Schaden gekommen?“, fragte Doggett und fügte beinahe lautlos hinten dran: „Ziemlich passend dafür, der Ort.“

„Ich jedenfalls kann Ihnen sonst leider keine Informationen mehr geben. Bin nur zum Abwimmeln unliebsamer Personen hier. Aber warten Sie doch, bis meine Kollegen fertig sind mit Befragen. Sie werden Ihnen bestimmt weiterhelfen können“ , sagte der Polizist überaus freundlich und schenkte Reyes ein Lächeln. Diese erwiderte selbiges. „Haben Sie vielen Dank.“

„Keine Ursache, ich tue nur meine Pflicht.“



Reyes wandte sich an Doggett, welcher neben ihr stand und beide Arme vor seinem Körper verschränkt hielt. Sein Blick war starr auf die Tür zum Obduktionsraum 3 gerichtet. Er schien, ebenso wie Reyes, eine Vermutung zu haben.

„John, ich hoffe, dass meine Vermutung nicht zutrifft, aber es sieht so aus, als ob hier - “

„Es sieht vielleicht nur so aus“, sagte Doggett leise und bemerkte erst anschließend, dass diese Antwort etwas zu vertuschen versuchte, was im Grunde so offensichtlich wie klar war. Er seufzte und seine Partnerin erkannte, dass er das gerade Gesagte auch nicht mehr glaubte. - „Das hier war immer sein Raum, John.“ – Reyes wirkte leicht bestürzt. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Obduktionsraumes. Heraus traten zwei Männer, welche eine Trage trugen, auf der eine weiße Decke irgendetwas Unförmiges bedeckt hielt. Das Tuch war an manchen Stellen rot.

„Warten Sie!“, rief Reyes den beiden Männern hinterher und rannte in ihre Richtung. „Ich bin Bundesagentin. Ist das das Opfer?“

Einer der beiden Männer drehte seinen Kopf nach hinten und erwiderte: „Vielmehr das, was von ihm übrig ist, Ma’ am. Der arme Kerl wirkte ziemlich angefressen. Als ob er mit Säure in Kontakt gekommen ist. Eklig. Wir bringen ihn jetzt in die Leichenkammer, nachdem die bisherigen Untersuchungen ergeben haben, dass keinerlei Säurerückstände oder ähnliches mehr an der Leiche haften, so dass von weiterer Gefahr nicht ausgegangen werden muss.“

„Darf ... darf ich einen Blick auf ihn werfen?“, fragte Reyes und schluckte. Im Inneren wünschte sie sich, dies nicht gesagt zu haben. Der eine Träger nickte und hob das Tuch ein Stück. Sein Partner stellte währenddessen die Trage ab. Die Agentin nickte ebenfalls und warf einen Blick auf das, was unter dem Tuch verborgen lag. Geschockt fuhr sie zurück. Es war Michael. Doch sein Gesicht war im Grunde nur noch bestehend aus Knochen, jegliche Haut war fast vollständig entfernt worden. Das rechte Auge blickte glasig ins Leere, das linke war nur noch bruchstückhaft in der Augenhöhle verankert. Ein Bild des Grauens.





******





Eingangshalle des Institutes

10:00 Uhr





Reyes sah fertig aus. Ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren und ihre Augen blickten ausdruckslos nach draußen. Doggett trat langsam hinzu und setzte sich zu seiner Partnerin auf die Bank.

„Es war Michael, nicht?“, fragte er vorsichtig.

„Ja“, sagte Reyes gefasst, aber merklich berührt, „er hat nur seinen Job getan, John. Nur seinen Job! Und nun ist er tot.“

„Kanntest du ihn gut?“

„Kann man so nicht direkt sagen. Ich habe ihn das erste Mal vor knapp zwei Jahren getroffen - auf einer Betriebsfeier.“ - Sie lachte etwas. „Wir ... wir hatten etwas zu viel getrunken und haben rumgealbert. Damals hat er mir geschworen, dass er mir nie Hilfe verweigern würde. Er hatte mir zu jeder Zeit Hilfe zugesagt. Ein Treueschwur. Ein symbolischer Akt. Ein -“ – Sie hielt inne. „Ach, genau genommen war es nur ein Spiel. Das Spiel zweier Betrunkener auf einer Feier, die jede x-beliebige hätte sein können. Wir hatten einfach unseren Spaß, John. Er, er war ein guter Mensch.“

„Mach dir keine Vorwürfe.“ – John griff nach ihrer Hand. „Es hätte jeder Agent des FBI bei ihm anrufen können. Jeder, der mit dem Fall zu tun hat. Du bist doch nur eine von vielen, Monica.“

„Das ist es nicht“, erwiderte sie, „ich meine: wir waren gut aufeinander zu sprechen. Aber dass gerade dieses Telefonat, dieses Telefonat nach langer, langer Zeit, gewissermaßen für seinen Tod verantwortlich zeichnet, das macht mich schon nervös.“ – Sie senkte ihren Blick. Doggett zog seine Hand wieder zurück und blickte sie an. „Du glaubst, dass etwas, das von der zu obduzierenden Leiche ausging, Michael getötet hat?“

„Ich weiß es nicht, John. Ich weiß nur, dass es das zu klären gilt.“ – Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Es gibt nur ein kleines Problem bei der Sache.“

„Das da wäre?“

„Der Bereich wird mit großer Wahrscheinlichkeit erst einmal unter Quarantäne gestellt, das heißt hermetisch abgeriegelt werden, da davon ausgegangen werden muss, dass giftige Gase oder ähnliches darin vorhanden sind. Erst wenn ein Expertenteam mit besonderer Sicherheitsausrüstung antrifft, können die Leichen weiter untersucht werden.“

„Das ist unsinnig, Monica. Dann hätte ja gar keine Person den Obduktionsraum 3 betreten dürfen!“, warf Doggett ein. „Jeder, der in Kontakt mit den Leichen war, wäre dadurch ja ein potentielles Opfer – die beiden Träger eingeschlossen!“

„Du hast natürlich Recht. Es sollen aber mit der Leiche, die fortgeschafft wurde, oberflächliche Untersuchungen durchgeführt worden sein“, sagte Reyes und massierte sachte ihre Stirn mit Daumen und Zeigefinger, „da man aber noch nicht mit Sicherheit weiß, worum es sich handelt, muss man eben jetzt jedwede Vorsichtsmaßnahmen treffen. Damit man anschließend weiß, wie man denen helfen kann, die vorher in Kontakt mit den beiden waren.“ – Sie machte eine Pause.

„Damit man weiß, wer überhaupt ein potentielles Opfer darstellt.“

„Verrückte Welt“, murmelte Doggett, was Reyes unweigerlich grinsen ließ. Sie fasste sich jedoch wieder.



„Ich denke, die glauben, dass George Hannings Leiche für den qualvollen Tod Michaels verantwortlich zeichnete. Irgendwie. Nichtsdestotrotz wird die Lösung des Falls dadurch, dass erst Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen, noch weiter andauern“, sagte sie.

„Das denke ich auch“, erwiderte Doggett und blickte nach draußen, wo der erste Wagen der Seuchenschutzbehörde in diesem Moment mit quietschenden Reifen vorfuhr.





******



Obduktionsraum 3

16:33 Uhr





Der Mann im Schutzanzug dichtete vorsichtig die letzte Ritze des Raumes ab. „Fertig“ , ließ er durch sein Walkie – Talkie verlauten und begab sich langsam zur Tür. „Hier kommt nichts mehr rein, beziehungsweise raus, und sei es noch so klein!“



Die Tür öffnete sich langsam und gab den Blick frei auf eine Art Röhrengang, welcher sich nun über den ganzen Flur erstreckte. Alle paar Meter war eine Desinfektionsanlage am äußeren Röhrenrand befestigt, welche den Mann, Carl Nut, der die Tür zum Obduktionsraum hinter sich schloss, von Fremdkörpern befreien sollten. Vorsichtsmaßnahmen en masse, dachte der Mann und machte sich auf den Weg Richtung Röhrenausgang. Während er sich der ersten Desinfektionsanlage näherte, verspürte er plötzlich einen leichten Stich auf seiner rechten Hand. Er setzte jedoch unbekümmert seinen Weg fort.

Er bemerkte nicht, dass unter dem Handschuh eine winzig kleine Wunde blutete. Er sah auch nicht, dass bis vor kurzem ein kleines drei Zentimeter großes Etwas auf seinem Handrücken saß, das durch den ersten Desinfektionsapparat auf den Boden gespült wurde und dort tot liegen blieb.



Er ahnte nichts.







16:55 Uhr



„Sie scheinen die ganze Etage hermetisch abgeriegelt zu haben, John. Damit ja nichts ausbrechen kann“, sagte Reyes und blickte zu ihrem Partner, der neben ihr im Auto saß.

„Erinnert mich an OUTBREAK“, erwiderte Doggett zynisch, „Röhrengänge, Desinfektionsanlagen – ich kann zwar verstehen, dass man vorsichtig vorgehen will, aber so vorsichtig doch nun auch nicht!“

„Na ja, wenn man nicht weiß, womit man es zu tun hat?“ –

Reyes ließ diese Frage im Raum stehen und blickte weiter auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf der das Pathologische Institut stand. Das Expertenteam war nunmehr eingetroffen, dicht gefolgt von drei weiteren Wagen der Seuchenschutzbehörde. Allesamt waren nun schon seit knapp zwei Stunden im Institut. Doggett verschränkte seine Arme vor der Brust.

„Warum wurden wir rausgeschickt?“, fragte er leicht mürrisch.

„Weil wir hier erst mal nichts ausrichten können. Sobald irgendetwas feststeht, werden wir per Handy informiert“, antwortete die Agentin und blickte weiter aus dem Fenster. Das Sonnenlicht traf das ganz in Weiß gehaltene Institut und ließ es leuchten. Wie Eis, kam es Reyes in den Sinn. Eine Festung aus Eis, aus der es kein Entkommen mehr gibt...

„Per Handy? Wie unpersönlich“, murmelte Doggett und rieb sich die Augen, „und wann wäre das?“

„John, du bist kindisch“, sagte Reyes und schmunzelte.



******



Isolierter Obduktionsraum 3,

17:55 Uhr





Das Expertenteam, welches ebenfalls Schutzanzüge trug, beugte sich über George Hannings Leiche und begutachtete den Toten ausgiebig.

„Sieht ziemlich tot aus“, sagte der eine.

„Für mich sieht er zudem auch nicht sonderlich gefährlich aus“, antwortete der andere und schaltete sein Walkie – Talkie in Bereitschaft.

„Hier Special Team 313. Erbitten weitere Anweisungen!“ – Am anderen Ende knackte es.

„Hier Walters. Hören Sie mir ganz genau zu“, war die Stimme des Einsatzleiters zu hören, „achten Sie auf mögliche Symptome wie Überkeit oder Hautreizungen. Der junge Peter P. King hat Michael Langer nur für kurze Zeit verlassen – genug Zeit, um fast das ganze Gesicht des Mannes zu verätzen, einschließlich weiterer Teile seines Körpers. Wir müssen davon ausgeben, dass diese Verätzung (wobei nicht einmal sicher ist, dass es eine solche ist) durch die Leiche geschah, welche von dem Opfer untersucht werden sollte.“

„Verstanden“, antwortete der Mann am Funkgerät, „sonst noch was?“

„Nein, tun Sie Ihr Bestes und hören Sie auf, sobald sich die oben genannten Symptome einstellen sollten!“ – Walters machte eine Pause. „Passen Sie auf sich auf.“

„In Ordnung, over.“



Der Mann legte das Gerät beiseite und blickte seinen Kollegen an. „Dann wollen wir mal das Beste hoffen“, sagte er leicht besorgt und griff zum Skalpell. Bevor der erste Schnitt vorgenommen wurde, begutachtete der Arzt die Leiche noch einmal intensiv. Welches Geheimnis verstecktst du bloß, mein Lieber?, dachte er und führte langsam das Skalpell dort in die Brust des Toten, wo schon ein relativ großes Loch klaffte. Vermutlich hatte Michael seine Arbeit unmittelbar vor seinem Tod schon begonnen, dachte sich der Mann und machte einen sauberen senkrechten Schnitt. Vorsichtig öffnete er daraufhin den Brustkorb und konnte nun schon ein wenig auf die Innereien blicken. Entsetzt fuhr der Mann zurück.

„Das musst du dir ansehen, David!“, rief er seinem Kollegen zu, welcher daraufhin ebenfalls einen Blick riskierte. „Oh mein Gott!“, war das einzige, was er hervorbringen konnte.

Alle einsehbaren Innereien schienen durch was auch immer zersetzt worden zu sein. Die meisten Organe bestanden nur noch aus Bruchstücken, was zu starken inneren Blutungen geführt haben muss – die Organe schwammen regelrecht im Blut.

„Kein Wunder, dass der Mann nicht mehr lebt“, sagte David leicht schockiert, „er scheint sich innerlich zersetzt zu haben!“

„Und wodurch?“ – Sein Kollege schluckte die aufkommende Übelkeit hinunter und machte sich daran, den ganzen Oberkörper freizulegen. Auch dort bot sich das gleiche erschreckende Bild: Herz, Leber, Niere: alle Organe waren unvollständig, stellenweise klafften große Löcher in ihnen. Und überall war Blut.

„Was zum Teufel -“ – David stand mit weit aufgerissenen Augen da und konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. „Das kann doch nicht wirklich – ich meine: was ist Schuld an diesem, diesem - “ – Er suchte nach dem richtigen Wort – „... Bild des Grauens?“

„Ich weiß es nicht“, lautete der knappe Kommentar seines Freundes und Kollegen, der ebenso ratlos wie geschockt schien. In ihrer Berufslaufbahn hatten die beiden zwar schon viele Tote obduzieren müssen, aber das war an Absurdität und Ekel fast schon nicht mehr zu überbieten.

David blickte noch einmal auf den nun geöffneten Oberkörper George Hannings. Vielleicht war es Zufall; vielleicht war es Zufall, dass er gerade zur Leber blickte. Vielleicht war es auch einfach nur Glück. Jedenfalls beugte sich David weiter vor und rief plötzlich: „Eine Pinzette, schnell, gib mir eine Pinzette!“

„Eine Pinzette? Wofür?“

„Frag nicht. Mach schon!“

Verwundert tat der Mann, wie ihm befohlen wurde und reichte David eine kleine Silberpinzette, welche dieser daraufhin in den geöffneten Oberkörper steckte und etwas rauszuziehen versuchte. Das dabei entstehende Geräusch ließ beide eine Gänsehaut bekommen.

„Ich hab’s!“, rief David und drehte sich mit der Pinzette vorsichtig zu seinem Freund. Dieser begutachtete angewidert das Etwas, das zwischen den Greifern der Pinzette hing.

„Grundgütiger. Was ist das?!“

„Scheint eine Art Insekt zu sein“, erwiderte David und wies seinen Freund an, ein Reagenzglas zur Aufbewahrung zu beschaffen. Während dieser nach einem suchte, besah sich der junge Mann das Insekt von allen Seiten.

„Es sieht aus wie eine Ameise, ist aber für hiesige Exemplare deutlich zu groß – es hat die üblichen Greifzähne, aber, und das ist verwunderlich – es hat einen Stachel! Aber nicht, wie bei herkömmlichen Ameisen. Er gleicht eher dem einer – ja, er sieht aus wie der Stachel einer Biene!“

„Ein Bienenstachel?“, fragte sein Kollege, „was hat das für eine Bedeutung? Und vor allem: wie kommt das Vieh in – wo hast du es noch genau gefunden?“

„In der Leber. Das Vieh steckte mit seinem Kopf in der Leber des Toten“, antwortete David, zum einen schockiert, zum anderen fasziniert von der Artenvielfalt der Natur. „Es sah so aus, als ob es davon - “ – Schweigen – „–als ob es davon gegessen hat!“

„Gegessen?!“

„Ja.“

„Eklig.“

„Und mir scheint, dass die Leber nicht die einzige Nahrungsquelle geblieben ist!“





******



18:10



Agent Reyes schreckte hoch, als urplötzlich das Handy neben ihr klingelte. Doggett schreckte auch hoch, jedoch nur aus einem mehr oder weniger tiefen Minutenschlaf. Er rieb sich die Augen. „Gibt’s was Neues?“, fragte er leicht schläfrig. Doch Reyes gebot ihm, einen kurzen Moment lang zu schweigen.

„Ja?“

„Agent Reyes, Derik Walters hier. Sie baten doch um Auskunft bezüglich der Untersuchung an der Leiche.“

„Ganz richtig, Sir.“, erwiderte Reyes und hielt kurz die Hand auf die Sprechmuschel. „W-A-L-T-E-R-S“, flüsterte sie Doggett zu, welcher verstehend nickte.

„Agent Reyes, sind Sie noch da?“, fragte der Einsatzleiter.

„Ja – ja, ich bin da. Was haben Sie also herausgefunden?“

„Unser Expertenteam hat in der Leiche einen Fremdkörper gefunden“, begann Derik.

„Einen Fremdkörper?“, fragte Reyes, „welcher Art denn?“ – Sie war merklich neugierig und knetete nervös an ihrer Unterlippe. Doggett betrachtete das Schauspiel recht interessiert.

„Eine Art Ameise – eine große Ameise! Über 3 Zentimeter Länge“, erklärte der Einsatzleiter. „Sie steckte in der halb zerfetzten Leber des Opfers.“

„Zerfetzt?!“, fragte die Agentin, „wie meinen Sie das?“

„Wie ich es eben gesagt habe: alle Organe, einschließlich der Leber sind nur noch bruchstückhaft vorhanden, überall leckt Blut aus den Wunden.“ – Derik Walters holte einmal tief Luft. „Es hat den Anschein, als ob irgendwer oder –etwas daran genagt hat.“ Reyes war schockiert.

„Genagt?!“ – Sie überlegte kurz - „Etwa die Ameise?“

„Wir wollen uns lieber noch nicht in Spekulationen verlieren, Agent Reyes. Fest steht vorerst nur, dass wir es hier mit einer bisher unbekannten Insektenart zu tun haben. Wie sie in den Körper gelangen konnte, wozu der Stachel an ihrem Hinterleib gut ist – all das kann erst in den folgenden Tagen geklärt werden“, sagte Walters und fügte noch hinzu: „Wir werden das Exemplar, das wir gefunden haben, so schnell wie irgend möglich von Spezialisten untersuchen lassen. Bis dahin bleibt die ganze Etage weiterhin unter Quarantäne, denn es kann immer noch nicht mit Sicherheit gesagt werden, was zum grausamen Tod des Pathologen geführt hat. Daher ist Vorsicht geboten.“

„Ich verstehe“, erwiderte Reyes, „haben Sie erst mal vielen Dank für die Information.“

„Gerne“, lautete der knappe Kommentar des Einsatzleiters, „ich halte Sie auf dem Laufenden.“

Reyes legte das Handy beiseite und blickte Doggett an. „Eine Ameise“, sagte sie leise und sank in ihren Fahrersitz. „Was zum Teufel macht eine Ameise in George Hannings Leiche?“ – Doggett blickte sie ebenso ratlos an. „Keine Ahnung“, antwortete er, „vielleicht ist sie in den Körper gelangt, während Michael dabei war, ihn zu obduzieren.“

„Das glaube ich nicht, John. Keine der hier beheimateten Ameisen klettert mit Vorliebe in tote Körper und knabbert an menschlichen Organen herum!“

„Organe anknabbern?!“

„Ja, alle Organe sind angefressen vorgefunden worden“, gab Reyes Doggett zu verstehen. Dieser wirkte nun noch verwunderter als vorher. „Daraus werde ich nicht schlau!“, versuchte Doggett seiner Unwissenheit Luft zu machen, „wie sollte ein solches Monster überhaupt zu uns in die Vereinigten Staaten kommen?“

„Gute Frage“, sagte Reyes leicht nachdenklich. „Vielleicht hatte es ja so was wie eine Mitfahrgelegenheit?!“



Erst einige Zeit später bemerkte die Agentin, was sie da gerade gesagt hatte. „John, wir müssen schleunigst etwas nachprüfen!“, sagte sie hastig und startete den Motor.





******



FBI-Bibliothek, 18:40 Uhr





„Monica, was genau suchen wir hier?“ – Doggett stand ziemlich unschlüssig neben seiner Partnerin, welche in diesem Moment einen weiteren Stapel Bücher herbeischaffte. „Anhaltspunkte. Wir können doch nicht einfach nur dasitzen und Däumchen drehen!“, erwiderte sie und reichte Doggett ein Buch mit dem Namen „ANIMALS FROM A-Z“. „Such nach großen Ameisen, sehr großen Ameisen! Sehr großen angriffslustigen Ameisen!“

„Ich soll was?!“

„Suchen. Blättern. Stöbern. Nenn es wie du willst, aber fang an!“ , sagte Reyes leicht mürrisch, „wenn du zuhause schon keine Bücher liest, kannst du wenigstens hier mal für eine Stunde ein Buch in die Hand nehmen.“

Doggett bekam große Augen. „Woher weißt du...?“

„Weibliche Intuition. Nur weibliche Intuition. Sonst nichts“, antwortete die Agentin und reicherte ihre Aussagen mit einer Prise Ironie an. „Los jetzt.“



******



19:00 Uhr



„Hast du gewusst, Monica, dass es einen Fisch mit Namen „Aufbläser“ gibt?“

„Sei still und such weiter!“



******



19:30 Uhr



„Ich hab’s“, rief Doggett und reichte Reyes das Buch, „hier: „Australische Bulldogameise“ und die „Südamerikanische Riesenameise“ , beides sind die jeweils größten Arten. Um die drei Zentimeter groß.“ – Die Agentin besah sich die Bilder.

„Hm, groß sind sie, aber sie haben keine bienenartigen Stachel“, sagte sie und blickte Doggett an, welcher ihr gegenüber saß, „gibt es denn keine besonderen Stachelameisen?“

„Doch, die gibt es. Eben jene gehören zur Gattung der angriffslustigen Stachelameisen, Monica“, erklärte der Agent, „Exemplare mit einem längeren Stachel als die, die hier aufgeführt sind, sind der Wissenschaft bisher nicht bekannt.“

„Hm“, war das einzige, was Reyes in diesem Moment sagen konnte. Sie war ganz in Gedanken.

„Vielleicht sollten wir doch abwarten, was die Untersuchung der Ameise, wenn es denn eine ist, ergibt , anstatt nach einem Phantom zu suchen “, probierte John die Agentin von weiterer Recherche abzuhalten.

„Vielleicht“, entgegnete Reyes, „vielleicht aber auch nicht!“ – Sie stand auf. „Spekulationen sind auch Anhaltspunkte. So mancher FBI-Agent hat den einen oder anderen Fall erfolgreich abgeschlossen, weil er spekulierte.“

„Du meinst da keinen bestimmten männlichen Agent, den wir kennen, oder?“, fragte Doggett.

„Nein“, antwortete Reyes, „nein, keinen bestimmten.“ – Sie wirkte leicht unruhig. Ihr Partner stand nun ebenfalls auf.



„Gut, ich kann Agent Hiller nämlich einfach nicht ausstehen!“



******



19:40 Uhr



„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte Doggett. Er hatte das Lenkrad fest mit beiden Händen umschlossen, um den Wagen ruhig zu halten. Es hatte nämlich angefangen, wolkenbruchartig zu regnen. Reyes betrachtete die Scheibenwischer, wie sie wieder und wieder das Wasser von der Scheibe wuschen. „Zu den Hannings“, antwortete sie. „Du hättest übrigens gerade anhalten müssen. Die Ampel war rot.“

„Zu den Hannings? Aber wir haben seine Frau doch schon alles gefragt. Was erhoffst du bei ihr noch zu finden? Wir sollten sie in Ruhe lassen, Monica.“

„Tun wir ja auch. Ich werde nur nach einem Ticket fragen.“

„Nach einem Ticket?“, fragte Doggett leicht verwundert, „was für ein Ticket?“

„Fahr du nur, ich habe vorhin in der Bibliothek in Gedanken eine Theorie aufgestellt, welche es zu festigen gilt.“



Der hochgewachsene Agent wollte etwas erwidern, zog es aber vor, dies insgeheim in seinen Gedanken auszutragen. Dort schrieb ihm keiner etwas vor. Dort war er der liebe FBI-Agent von nebenan, der sachlich an seine Fälle heranging, den Fakten folgte und gegen Ende einen sauber gelösten Fall vorlegen konnte. Hach ja...





******



Haus der Hannings

19:58 Uhr



Die junge Sarah Hanning öffnete den beiden Agenten die Tür. Die Augen der Frau waren blutunterlaufen, man konnte sehen, dass sie den ganzen Tag geweint haben muss. Sie schluchzte.

„Ja?“

„Miss Hanning, tut uns leid, dass wir Sie in dieser schweren Stunde noch einmal belästigen müssen, aber wir brauchen noch eine Auskunft“, erklärte Reyes und ging, nachdem sie junge Frau zur Seite getreten war, vor Doggett ins Haus. „Haben Sie vielen Dank, es geht auch ganz schnell“, sagte Doggett. Wenigstens hoffte er, dass es so sein würde.

„Haben Sie eventuell noch das Flugticket parat, welches Ihr Mann bei seiner letzten Reise-“ – Die Agentin erkannte zu spät, dass es im Grunde die vorletzte Reise war, führte aber dennoch ihren satz zuende. „- ... benutzt hat? Wenn ja, könnten wir es mal sehen?“

Sarah Hanning wirkte abwesend, nickte aber und geleitete die Agenten ins Wohnzimmer. „Warten Sie hier“, murmelte sie, „ich hole es.“

„Danke“, erwiderte Reyes, „das wäre uns wirklich eine große Hilfe.“



Sarah verschwand und ließ die beiden Agenten alleine zurück. Doggett nutzte die Gelegenheit, um Reyes eine Frage zu stellen.

„Monica?“

„Ja?“

„Was soll das? Haben wir die arme Frau nicht schon genug belästigt?“, flüsterte er mit leicht grimmigem Unterton.

„John, du verstehst nicht“, konterte die Agentin, „wenn wir wissen, wo George hingeflogen ist, können wir präziser ermitteln!“

„In Bezug worauf?“, fragte Doggett, der einen flüchtigen Blick auf den Flur warf, um sich zu vergewissern, dass Sarah noch am Suchen war.

„In Bezug auf die Ameisen.“, antwortete Reyes und wies ihren Partner an, nun zu schweigen, denn Schritte ließen verlauten, dass Sarah auf dem Weg zu ihnen war.

„Jetzt bist du aber kindisch“, schaffte Doggett gerade noch zu sagen und sank in den Sessel. In diesem Moment betrat George Hannings Witwe das Zimmer, in der rechten Hand ein dünnes Stück Papier.

„Das hier muss es sein“, sagte sie und reichte es Reyes, welche es genau studierte. „Das hatte ich nicht anders erwartet“, murmelte die Agentin während der Untersuchung und gab nach einer knappen Minute das Ticket an Sarah zurück , „tja, das war’s auch schon, Miss Hanning. Bitte entschuldigen Sie vielmal, dass wir Sie -“

„Schon in Ordnung, wenn Sie nur den Schweinehund finden, der meinem Liebling das angetan hat!“

„Das werden wir“, versicherte Reyes und trat in den Hausflur. Ihr Partner folgte ihr, bedachte Miss Hanning noch mit einem „Mein herzliches Beileid“ und ging anschließend mit Reyes Richtung geparktem Wagen.

„Was hattest du nicht anders erwartet, Monica?“, fragte er leicht misstrauisch.

„Dass er von Canberra aus nach Hause geflogen ist. – Doggett zog die Stirn kraus.

„Und? Was ist daran so auffällig?“

„Erinnerst du dich an die Ameisen in dem Buch?“, fragte Reyes und öffnete die Fahrertür.

„Ja, das tu’ ich, aber was hat das mit dem Flugticket zu tun?“, entgegnete der Agent, der immer noch nicht verstand, wie alles zusammen passen sollte. Er öffnete die Beifahrertür und gurtete sich an.

„Das kann zum Beispiel heißen, dass George Hanning aus Australien einen blinden Passagier mit gebracht hat – was ich für sehr wahrscheinlich halte. Eine Weiterentwicklung der Bulldogameise, deren Stamm im Zuge des Bauauftrags, den George irgendwo in Australien zu verwirklichen hatte, in Kontakt kam mit Feinden, die er bisher noch nicht kannte – da das Gebiet nie zuvor von Menschen betreten worden war.“

„Ähm...“

„Willst du was sagen, John?“, fragte Reyes leicht ironisch.

„Das hört sich irgendwie zwar ganz logisch an, aber auf der anderen Seite - “ –Er machte eine Pause –„- nehmen wir mal an, diese Ameise, die gefunden wurde, ist wirklich, wie auch immer, in Georges Körper gelangt: wenn sie bei Öffnung der Leiche entkommen sein sollte, dann kann sie allein nicht für Michaels Tod verantwortlich zeichnen, denn sie schien ja schon tot gewesen zu sein, als Michael mit der Obduktion begann!“ – Reyes holte einmal tief Luft: „Darüber zerbreche ich mir schon andauernd den Kopf, John!“ – Sie gurtete sich ebenfalls an. „Der grausige Zustand Michaels ist nur darauf zurückzuführen, dass mehrere Ameisen an ihm genagt haben.“

„Und wie sollen diese vielen Ameisen in Georges Körper gekommen sein? Sie werden sich ja wohl nicht einzeln reingebissen haben. Das wäre sehr schmerzhaft gewesen!“, sagte Doggett leicht genervt. Reyes dachte einen kurzen Moment lang nach. Dann sprach sie: „Vielleicht kamen sie gar nicht als Ameisen in den Körper, sondern als Eier.“

„Eier? Und wie, bitteschön, soll das vonstatten gegangen sein?“ – Doggett rollte mit den Augen.

„Vielleicht kommt da jetzt der Stachel ins Spiel“, erwiderte die Agentin. Sie dachte nach, „vielleicht wurden sie durch ihn injiziert!“

„Du meinst, ein Weibchen wartet darauf, bis ein passender Wirt in der Nähe ist und sticht dann zu? Wozu? Ameisen machen das sonst nicht!“, entgegnete Doggett leicht entrüstet.

„Keine uns bekannte Ameisen, John“, sagte Reyes, „ich denke, das hat irgendetwas mit Arterhaltung zu tun.“

„So?“

„Ja“, antwortete sie, „stellen wir doch mal eine Theorie auf: George hat mit seinem Bautrupp von Menschen bisher unbetretenes Terrain erreicht. Die Ameisenart sieht sich in ihrer Existenz bedroht und versucht zu retten, was zu retten ist. Folglich wird nach einem passenden Wirt gesucht, dem die Eier unbemerkt injiziert werden, um den Fortbestand der Art zu sichern.“

„Und?“

„Warte doch ab, John“, sagte Reyes leicht energisch und redete weiter: „Die Ameisen entwickeln sich im menschlichen Körper rasend schnell und ernähren sich von den Organen, bis sie stark genug sind, um zu „schlüpfen“. Zu diesem Zeitpunkt ist die betroffene Person schon längst an Organversagen gestorben. Ein leiser Tod-“

„- wie George Hanning!“, beendete Doggett Reyes’ Ausführungen, „meine Güte, so weit hergeholt scheint das gar nicht.“ – Er überlegte kurz. Etwas mussten sie übersehen haben! Dann fiel es ihm ein: „Die Frage ist nur, wo die geschlüpften Ameisen abgeblieben sind, Monica. Soweit ich weiß, erfreute sich das Expertenteam nach Georges Untersuchung noch bester Gesundheit, da es Walters anschließend Bericht erstattete. Und bei der hermetischen Abriegelung des kompletten Raumes sind auch keine Ameisen gefunden worden, sonst hätte man uns informiert. Also: wo sind sie?“

Reyes bekam große Augen und wandte sich Doggett zu.

„Du hast recht, irgendwo müssen sie ja abgeblieben sein... – hm, angenommen, die Tiere wären intelligent und hätten versucht, aus dem Raum zu entkommen, bevor er abgeriegelt wurde - “

Beide schauten sich eine ganze Weile in die Augen und wagten nicht, das auszusprechen, was ihnen gerade in den Sinn kam. Reyes startete schnell den Motor und wendete den Wagen, während Doggett versuchte, per Handy Kontakt mit Derik Walters aufzunehmen. Endlich, nach einer quälend langen Minute Tutens, meldete sich der Einsatzleiter. „Ja?“

„Mr. Walters? Hören Sie mir jetzt genau zu. Doggett hier. Wir haben Grund zu der Annahme, dass etwas aus dem Raum entwischen konnte.“ – Der Einsatzleiter wirkte geschockt, als er dies vernahm und war nicht im Stande etwas zu sagen. Doggett fuhr fort.



„ ... und zwar mit Michael Langers Leiche!“
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