World of X

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Déjà Vu

von Stefan Rackow

Kapitel 2

20 Kilometer entfernt in einer kleinen schäbigen Wohnung



Es war warm, daran gab es nichts zu rütteln. Und es würde noch wärmer werden, soviel stand fest.

Albert Tremor saß in seinem Bett und blickte durch die verstaubten Fenster nach draußen, wo das Leben pulsierte. Er hätte schon vor Wochen die Vorhänge waschen lassen sollen, auch die Teppiche wirkten klamm und dreckig. Aber das störte den 30-jährigen nicht.

Mit einem leichten Aufkommen von Wut blickte er auf ein Foto, welches in einem Bilderrahmen nicht unweit von Bett auf einer alten Kommode stand. Die Frau darauf lächelte. Ja, lächeln, das konnte sie schon immer gut! – Albert stand auf und griff nach dem Bild.

„Du kleine Schlampe, selbst jetzt, wo du nicht mehr da bist, mich sang- und klanglos verlassen hast, lachst du noch über mich!!“

Der Bilderrahmen zerbarst darauf aufgrund des harten Wurfes in viele kleine Bruchstücke, welche sich ungleichmäßig auf dem braunen Teppich verteilten. „Das hast du jetzt davon, Miststück!“ , presste er zwischen den vergilbten Zähnen hervor und musste sich kurz darauf notwendigerweise in den nahestehenden wackeligen Stuhl fallen lassen. Ein Schwindelgefühl kam auf, gefolgt von einem leichten Anfall von Übelkeit. Albert blickte auf den Nachtschrank, auf dem eine nunmehr leere Whiskey-Flasche stand.

„Ich habe ein Scheiß-Leben!“ , bemitleidete er sich selbst und fegte mit einem Schlag die leere Flasche auf den Fußboden, deren Scherben sich zu denen des Bilderrahmens gesellten.

Er hatte alles verloren! Seine Freundin hatte ihn feige verlassen, wegen irgendeinem Schnösel sitzen lassen, der ihr mehr als er bieten konnte. Was hatte er denn schon, was eine Frau faszinieren könnte? Einen schicken Wagen? Nein, sein alter Chevrolet fiel eher in eine andere Kategorie. Und Geld? Ohne Job? Nein, er hatte nichts. Nicht einmal eine richtige Wohnung. Stattdessen musste er hier in dieser Bruchbude versauern und mit Bangen auf den Tag warten, an dem wieder die nächste Miete fällig sein würde. Alles hatte sich gegen ihn verschworen. Alles!

Albert stand vorsichtig auf und ging zum Kleiderschrank. Die Tür öffnete sich mit einem Knarren und gab den Blick frei auf ...



... nichts.



Kein Kleidungsstück hing mehr im Schrank, keine Hose, kein Hemd. Nichts. Doch das störte Albert schon längst nicht mehr. Sein Blick wanderte auf den Boden des alten Schrankes. In der hintersten Ecke ruhte eine mittelgroße Plastiktüte, deren Form und Ausbeulung auf einen schweren, metallenen Gegenstand schließen ließ. Albert verzog keine Miene. Er war in Gedanken. Irgendwann würde er sie noch gebrauchen. Irgendwann.



Ein Klopfen an der Wohnungstür ließ ihn aus seinen Gedanken aufwachen. Entnervt lief Albert zur Tür und öffnete sie.

„Mr. Hutch, was verschafft mir die zweifelhafte Ehre...!?“

„Sparen Sie sich ihre Floskeln, Albert!“, konterte der Vermieter und blickte kurz in die Wohnung. „Sie hatten also recht...“

„Wer Sie ?“, fragte Albert mit leicht grimmigem Unterton in seiner Stimme.

„Ihre Nachbarn, Albert, ihre Nachbarn. Zu viel Mief, zu viel Lärm – die haben schlicht und ergreifend die Nase voll!“

„Das habe ich schon lange“, murmelte der 30-jährige fast unhörbar und fügte etwas lauter hintendran: „Und? Was wollen Sie mir damit sagen?“

Der Vermieter verschränkte die Arme und schien in diesem Moment geradewegs durch Albert hindurchzusehen. Mr. Hutch verzog das Gesicht. „Sie haben getrunken, oder?“

„Was geht Sie das an?!“, erwiderte Albert und lehnte sich an den Türrahmen.

„Sehr viel, um genau zu sein. Sie sind draußen. Das wollte ich Ihnen sagen.“ – Der Vermieter reichte dem hochgewachsenen Mann einen Zettel. „Der Räumungsbefehl...“, sagte er.

„Sie wollen mich rausschmeißen? Und ... warum? WARUM kündigen Sie mir?“ – Albert verlor beinahe die Beherrschung, fasste sich aber wieder.

„Ich muss das ganze geschäftlich betrachten, das steckt dahinter“, begann der Vermieter und holte einmal tief Luft. „Sie sind mit Ihrer Miete drei Monate im Rückstand, und wie es aussieht, werde ich auch in Zukunft so schnell kein Geld von Ihnen zu sehen bekommen. Hinzu kommt, dass sich Ihre Nachbarn durch Ihre bloße Anwesenheit in ihrer Ruhe und Privatsphäre gestört sehen und...“

„Privatsphäre?! Das glaub ich doch einfach nicht!!“ – Albert trat einmal fest gegen den Türrahmen, welcher infolge dessen einen Knacks bekam.

„Sie müssen verstehen, dass ich in einem solchen Fall lieber den Störfaktor selbst entferne, als dass mich mehrere Leute verlassen, wenn ich ihn hier behalte. Das ist rein ökonomisch...“

„Störfaktor...“, murmelte Albert und schüttelte den Kopf. „Diese ganze Scheiße kann doch gar nicht wahr sein!!“

Der Vermieter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Egal, was Sie denken: Ich sitze am längeren Hebel! Also quengeln Sie nicht rum wie ein schlecht erzogenes Kind und räumen Sie fürs Erste das Nötigste ein. Vorübergehend können Sie im Hotel um die Ecke wohnen. Der Inhaber ist ein guter Freund von mir.“

„Vorübergehend...“ – In Alberts Augen blitzte tiefster Hass auf. „Das wird noch Folgen für Sie haben, Sie egoistischer Mistkerl!“

„Darauf bin ich gespannt“, erwiderte der Vermieter kühl und schaute auf die Uhr. „In 10 Minuten sind Sie draußen, mit den zum Leben notwendigsten Dingen. Ansonsten -“



In diesem Moment machte es innerlich „Kling“ bei Albert. Die Zeit war reif. Wenn nicht jetzt, dann nimmermehr! Es gab keinen Ausweg. Es musste sein.

„Sekunde, Sie können, wenn Sie wollen, die Wohnung schon gleich haben. Das, was ich zum Leben brauche, ist nicht derart viel“ ,sagte er. Der Vermieter war etwas irritiert.

„Oh ... äh, gut. Dass das so schnell gehen würde -“ – Er sah Albert nach, wie er wieder in seine Wohnung trat – „- das hätte ich nicht erwartet.“

„Man kann sich eben doch in einem Menschen täuschen“, murmelte der 30-jährige Mann und öffnete, während ihn sein Vermieter weiterhin beobachtete („ Es tut mir ja auch leid, Albert!“) , vorsichtig die Schranktür.

Das, was er brauchte, befand sich in einer mittelgroßen Plastiktüte am Boden des Schrankes. Der Inhalt blitzte auf, als ein Sonnenstrahl den metallenen Gegenstand traf.



„Sie hätten mich nicht rauswerfen dürfen, Mr. Hutch“, presste er zwischen den Zähnen hervor und blickte zu dem Angesprochenen. „Das war der Stein des Anstoßes! Jetzt sind Sie selber schuld – Sie, alle!“

„Aber...!“



Die zweite abgefeuerte Salve traf den Vermieter tödlich.





******



8:00 Uhr

Krankenzimmer des FBI - Gebäudes



„Wie geht es dir?“



Doggett betrat vorsichtig das kleine dunkle Zimmer und blickte zu der Liege. Reyes hatte die Augen geschlossen, nickte dem Eintretenden aber zu.

„Es geht wieder“, sagte sie leise. „Was haben Kersh und du denn noch zu bereden gehabt?“

„Nichts.“

„Soll das heißen, er wollte gar nichts mehr von dir?“ – Reyes öffnete die Augen und starrte Doggett fassungslos an.

„Nein, er wollte nichts mehr, er hat sich nur nach deinem Zustand erkundigt und- “

„Er hat Angst um uns, nicht?“, fragte die Agentin und richtete sich auf. „Er hat Angst, seine besten Pferde im Stall zu verlieren. Und das macht ihn fertig, John.“

Doggett setzte sich auf einen kleinen Hocker in der Nähe und beugte sich etwas vor. Er schien nachdenklich.

„Du glaubst also auch, dass wir mit diesem Zettel, den Kersh erhalten hat, gemeint waren?“

„Ja“, erwiderte Reyes zögerlich, „aber frag mich nicht, warum. Ist nur ein Gefühl. Und wir sollten uns in diesem Fall von unseren Gefühlen leiten lassen.“

„Ein Gefühl“, murmelte Doggett und biss sich auf die Unterlippe. „Vielleicht sollte ich wirklich auf meine Gefühle hören, wenn ich es recht bedenke.“

Reyes bemerkte, dass Doggett etwas Kopfzerbrechen bereitete. Sie blickte ihn fragend an und Doggett verstand, dass sie genauere Informationen haben wollte. Er nickte.

„Es geht mir heute schon den ganzen Tag so, Monica. Alles erscheint mir wie eine Wiederholung. Jede Sekunde, jede Minute – alles scheint mit Ausnahme von einigen Ereignissen schon mal da gewesen zu sein!“

„Daher bist du heute schon den ganzen Tag so bedrückt...“ – Reyes blickte kurz nach oben. „Deine Déjà – vu – Erlebnisse kannst du dir auch einbilden, John. Es gibt viele Menschen, die sich über dieses Phänomenen wundern. Viele vermuten gar eine Botschaft dahinter, denken, dass dieses Gefühl ihnen irgendetwas sagen möchte. Aber - “ Die Agentin blickte in Doggetts Gesicht. Es sah alt aus, sehr alt! Tiefe Sorgenfalten zeichneten sich ab und ließen den Agenten älter erscheinen, als er eigentlich war.

„ Ich denke, dass diese Erlebnisse Einbildung sind. Wir denken, dass wir dies alles schon einmal erlebt haben. In Wirklichkeit aber ähnelt diese Situation nur einer, die wir vor nicht allzu langer Zeit in leicht abgewandelter Form erlebt haben. Folglich suggeriert uns unser Unterbewusstsein, dass das alles schon mal da gewesen ist – was in gewisser Hinsicht ja auch stimmt. Nichts passiert zweimal hintereinander absolut identisch, das schaffen nicht einmal Theater – Schauspieler.“

„Wenn du mich aufmuntern wolltest, dann hast du das zu einem gewissen Grad hin geschafft, Monica“, gab Doggett lächelnd von sich und fügte noch hinzu: „Vielleicht hast du Recht.“

Reyes lächelte ebenfalls und war ein wenig stolz auf ihre Überredenskunst. Doch schon kurz darauf setzte sie wieder eine ernstere Miene auf.

„Ist dir schon mal was aufgefallen, John?“, fragte sie. Selbiger blickte sie fragend an.

„Was denn?“

„Dieser Traum, deine Déjà – vu – Erlebnisse: alles passierte erst, nachdem wir heute morgen die Zeitungen mit den Nachrichten in unsere Wohnungen geholt haben. Vielleicht nehmen wir uns diese ganze Sache doch etwas zu sehr zu Herzen und unser mentaler Zustand ist auf ein übermäßiges Vorhandensein von Sorge und Unsicherheit zurückzuführen.“

„Du meinst, wir bilden uns was ein?!“ – Doggett verschränkte die Arme. „Gut, das ist möglich, da gebe ich dir recht. Aber du erschienst mir heute im Büro nicht derart unsicher, dass du jeden Moment zusammenklappen würdest. Das passt nicht zu deiner Persönlichkeit, Monica!“

„Kannst du es denn anders erklären?“



Schweigen.



„Nein, das ist es ja gerade!“, erwiderte Doggett und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Ich kann es eben nicht!“ - Er stellte den Hocker wieder in die Ecke und ging langsam zur Tür. Dieser Tag machte ihn einfach fertig!



*



8:15 Uhr

In der Nähe der Wohnung von Albert Tremor



Er brauchte Luft!

Das egoistische Denken der Menschen, ihre ach so rachsüchtige Art, ihr Streben nach Vervollkommnung – nein, damit musste Schluss sein! Ihnen musste endlich jemand vorhalten, dass diese Einstellung anderen schadete. Andere Menschen litten darunter. Besonders er!



Albert blickte auf die Uhr. Viertel nach Acht. Da schlief sie bestimmt noch – zusammen mit diesem Schnösel von Liebhaber! Eng umschlungen, sich leise Liebesfloskeln ins Ohr flüsternd...

Sie hätte ihn nicht verlassen dürfen. Nein, niemand hätte ihm jemals das Leben schwer machen dürfen!

Albert entsicherte das Maschinengewehr und lief Richtung Hauptstraße. Oh ja, bald würde sein Leben besser sein. Ein gänzlicher Neuanfang. Aber zuerst musste noch einiges erledigt werden!





Reyes lag noch immer im Krankenzimmer. Sie brauchte Ruhe – Ruhe, um Nachdenken zu können über alles. Über Träume, über Einbildung, über alles und jeden; einfach, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Das Licht in dem kleinen Zimmer war schummrig und die kleine von der Decke hängende Lampe erhellte im Grunde nur den Bereich, den der Lichtkegel traf. Da die Leuchtkraft der Glühbirne schon stark abgeschwächt hatte, war dieser Bereich dementsprechend klein.

Die Agentin blickte für einen kurzen Augenblick nach links zur gegenüberliegenden Wand. Plötzlich sprang sie auf und richtete ihren Zeigefinger auf einen Punkt, der in der hintersten dunklen Ecke verborgen lag. Sie schluckte.

„Wer ... wer ist da?!“, fragte sie und versuchte, dabei so sicher wie möglich zu klingen. „Ich weiß, dass jemand hier drin ist! Geben Sie sich zu erkennen!“

Sie hätte doch bemerken müssen, wenn jemand den Raum betreten hatte. Oder hatte sie geschlafen?

Das, worauf der Zeigefinger gerichtet war, nahm allmählich Gestalt an. Es war ein Mann, groß, hochgewachsen, Anfang Vierzig, adrett gekleidet. Sein Blick traf Reyes und die Agentin fuhr erschrocken zurück. Sie kannte diese Augen!

„Du?!“

Der Mann näherte sich Reyes vorsichtig und legte die Hand auf ihre Schulter.

„John, ich habe nicht gemerkt, dass du noch einmal hereingekommen bist!“, gab Reyes leicht unsicher von sich und blickte in ihr bekannte Augen. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt...“

„Ich bin nicht der, für den du mich hältst, Monica.“, erwiderte der Mann und setzte sich auf den Hocker.

„John, jetzt hör auf kindisch zu sein. Natürlich bist du es!“ – Die Agentin schüttelte lächelnd den Kopf. „Hör auf, mit mir Späße zu treiben. Aus dem Alter sind wir beide raus.“

„Monica?“

„Ja?“

„Du musst mir eines versprechen, hörst du?“

„Was denn?“ – Reyes` anfängliche Überraschung wich einem Aufkommen von Unsicherheit. „John, du redest ja mit mir, als ob du ...“

„... jemand anderes bist?“ – Der Mann beugte sich sachte vorwärts und flüsterte: „Ich existiere im Grunde nicht, Monica. Ich habe kein Gesicht.“

„John...!“

„Ich erscheine in der Gestalt einer Person, der du vertraust. Ich existiere nicht in dieser Welt.“

„JOHN!“

Der Mann hielt einen Finger vor seine Lippen und gebot Reyes, ruhig zu sein.

„Du hörst mir jetzt zu, Monica! Denn ich habe keine Lust, noch einmal „Schicksal“ zu spielen!“ – Er holte tief Luft. Reyes war sprachlos. Der Mann, der aussah und sprach wie Doggett, richtete seinen Blick auf die Agentin und bedachte sie mit einem durchdringenden Blick, der ihr , ohne dass sie es wollte, einen kalten Schauer über den Rücken liefen ließ.

Das war nicht Doggett!

Der Unbekannte sprach: „Das Schicksal will es manchmal so, dass Menschen kommen und gehen. Man muss sich dem fügen, dem wirst du mir sicherlich zustimmen. Das Schicksal steht festgeschrieben in dem Uhrwerk der Zeit. Zeit ist es auch, was auf der Welt so kostbar ist. Jeder Mensch besitzt nur einen gewissen Anteil davon, der eine mehr, der andere weniger.“

Reyes nickte. Sie musste träumen, jawohl, sie träumte...

„Wenn aber nun durch eine unglückliche Fügung jemand vorzeitig aus unserer Mitte gerissen wird, dann hinterlässt dieser einen Restbestand an Zeit. Zeit, die er noch auf dieser Erde verbracht hätte.“

„Doggett“ machte eine kurze Pause.

„Du fragst dich jetzt sicher, was das alles mit dir zu tun hat und warum ich dir das erzähle, oder?“

Reyes sagte nichts, sondern starrte nur ungläubig den Mann vor ihr an.

„Monica, ich weiß von deinem Tagtraum von vor einer Stunde. Der Traum von deinem Begräbnis, das so real erschien – ebenso weiß ich, dass dein Partner schon den ganzen Tag das Gefühl hat, diesen Tag in irgendeiner Weise schon einmal erlebt zu haben.“ – Der Mann erhob sich von dem Hocker und setzte sich neben die völlig entgeistert blickende Reyes.



„Es gibt eine Erklärung für das alles!“ , hauchte der Mann und berührte Reyes` Stirn. „Und du wirst sie erfahren. Jedoch musst du sie auch begreifen! Wir werden eine Reise machen...“

„Eine – Reise...? Aber wohin denn?“

„Zur Erkenntnis dessen, was dich dies alles hier erleben lässt.“

„Aber...“



Und da verkam der Raum um sie herum schon zu einer nebligen Masse, welche sich letztlich im Schwarz absoluter Dunkelheit verlor.



******



Die schwarze Unendlichkeit öffnete sich etwas an einer Stelle und gab einen Schatten frei. Selbiger hob sich kaum vom Schwarz des Nichts ab, bildete im Grunde eine geschlossene Einheit mit dem Dunkel.

Es war kalt.



„Wo sind wir?“, fragte Reyes völlig entgeistert und blickte erschrocken um sich. Ihre Stimme hallte gespenstisch durch die Tiefe des ewigen Nichts und klang dumpf und fremd.

„Was haben Sie mit mir gemacht?! Wo haben Sie mich hingebracht? Verdammt noch mal, so reden Sie doch mit mir!!“ – Panik machte sich in ihr breit und ließ ihren Puls schlagartig ansteigen.

Sie war alleine!

Sie stand hilflos und verlassen inmitten vom Schwarz und konnte beim besten Willen, so sehr sie sich auch anstrengte, kein Licht am Ende des ewig lang erscheinenden Nichts erkennen.



„Das, Monica, ist die eigentliche Gegenwart. Das ist der Ort, der für dein Zeitgefühl das „Jetzt“ ist!“



Die Stimme ließ sie zusammenzucken. Ein Angstgefühl stieg in ihr auf.

„Was reden Sie da und wer sind Sie überhaupt?!“

Der Sprecher blieb unsichtbar und doch schien er allgegenwärtig zu sein. Er erhob seine Stimme.

„Der Mensch kommt aus dem Nichts und wird, nach seinem Tod, wieder ins Nichts zurückkehren. Das ist die einzige Wahrheit.“

Reyes glaubte, einen bösen Traum zu träumen und blickte fassungslos um sich.

„Bitte, ich halte nichts von solchen Scherzen, wer auch immer Sie sein mögen! Lassen Sie mich gehen! Ich, ich bin Bundesagentin. Man wird nach mir suchen!“

„Für die bist du gar nicht weg, Monica. Im Nichts herrschen nicht die Gesetze der Zeit. Hier läuft alles bis in alle Ewigkeit! Und wenn du meinst, ich hätte dich entführt, um mit deiner Hilfe Geld zu erpressen, dann denkst du falsch. Ich habe durchweg gute Absichten.“ – Die Stimme wirkte auf eine gewisse Art und Weise beruhigend, empfand Reyes.

„Dann zeigen Sie sich doch!“, flehte die Agentin und blickte nach oben. „Zeigen Sie sich mir und legen Sie mir endlich dar, was sie mir sagen wollen!“

„Hier kann ich es nicht“, hallte die Stimme.

„Was soll das heißen?“

„Hier hat mein Körper keine Substanz. Die Substanz ist das Schwarz, das Dunkel. Ich bin mit ihm verwoben. Nur, wenn ich die Weiten des Nichts verlasse, habe ich die Möglichkeit, mich in die Form eines Menschen zu projizieren, um so mit ihm in Kontakt zu treten.“

„In Kontakt...?! Ich, ich glaube, ich bin im falschen Film...“, stammelte die Agentin und setze sich nieder, den Kopf auf die Hände gestützt. Sie schüttelte den Kopf. „Ich träume, ich muss träumen, ich muss träumen, ich muss ...“

„Du hast Recht, Monica, du träumst!“, hallte die Stimme und fügte an: „Nur in deinen Träumen bist du in der Lage, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu durchschreiten. Nur so war es mir möglich, mit dir in Kontakt zu treten. Nur so...“

„Das hier ist also nur ein Traum? Und – Sie wollten mit mir in Kontakt treten? Aber warum?!“

„Warum, willst du wissen?“, fragte die Stimme und machte eine kurze Pause. „Nun, um dir endlich etwas klarzumachen. Das war der Grund. Ich habe schon die ganze Zeit über versucht, dich mit Nachrichten auf den rechten Weg zu führen, ebenso deinen Partner...“

„SIE waren das?“ – Reyes verstand gar nichts mehr. „SIE haben uns diese Nachrichten geschickt?“

„Ja“, antwortete die Stimme, „ich wollte, dass ihr alleine darauf kommt. Dass ihr selber euer Schicksal erkennt. Und dein Partner scheint bezüglich des Geschehenen schon Zweifel zu hegen.“

„Worauf sollten wir von selbst kommen?!“

Pause.

„Darauf, dass die Zukunft, wenn alles so wie geschrieben passiert, letztlich so aussehen wird.“

„Schwarz? Das soll die Zukunft sein?“

„Nein, Monica. Das Nichts wird von jetzt aus gesehen deine Zukunft sein, wenn du es diesmal nicht anders machst!“

„ES?“

Reyes fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Das konnte alles nicht wahr sein. Sie wollte aufwachen! Sofort!

„So versteh doch, mein Kind! Im Grunde bist du tot! Daher erschien der Traum so real. Weil er die wirkliche Gegenwart gezeigt hat. Das „Jetzt“, das du an diesem heutigen Tag glaubst zu leben, ist nicht die Gegenwart!“

„Und was dann?! Etwa die Vergangenheit?!“ Verrückt, absolut verrückt!

Schweigen.

„Ja“, lautete die erschreckende Antwort. „Du hast diesen Tag schon einmal erlebt, kurz vor deinem Tod! Das ist die einzige Wahrheit...“

„Das...“

„Ich kann verstehen, dass dir dies alles unbegreiflich erscheint, Monica“, sagte die Stimme und fuhr gedämpft fort. „Die wenigsten erkennen die Zeichen der Zeit und nutzen die Chance, die ihnen ihr Schicksal bereitgestellt hat. Die wenigsten nehmen die Chance wahr, es anders zu machen.“

Beiderseitiges Schweigen.

„Dann sind Sie ... bist du ...“

„Ja.“

„Aber, das glaube ich einfach nicht!“, schrie Reyes und sprang auf. „Das ist ein Traum, ein böser Traum und ich möchte SOFORT aufwachen!“



„Das wird sich gleich von selbst erledigen“, erwiderte des Schicksals Stimme und ließ die Worte weit in die Tiefen des Dunkels hineinhallen. „Du hast eine zweite Chance, Monica. Weiß sie zu nutzen!“



******



9:00 Uhr



Reyes wurde unsanft aus ihren Träumen geweckt. Ein Mann stand vorgebeugt über ihr und blickte besorgt in das Gesicht der Agentin. Es war Doggett.

„Alles in Ordnung, Monica?“, fragte er. „Du hast wie wild gebrüllt, als ich hereinkam, um nach deinem Wohlbefinden zu fragen. Ich habe es als das beste erachtet, dich von diesem Albtraum zu erlösen, indem ich...“

„Wo bin ich...?“, wollte Reyes leicht benommen wissen und fasste sich mit der Hand auf die schweißnasse Stirn. „Ich ... ich habe einen derartigen Mist geträumt...“

„Das habe ich mitbekommen. Gott sei Dank war ich gerade auf dem Weg zu dir und habe die Schreie gehört. Dachte schon, dir wollte jemand etwas antun.“ Er lachte. „Aber es war ja nur ein Traum.“

„Ja“, antwortete Reyes nachdenklich, „ja, nur ein Traum. Ich habe nur geträumt.“



Sie stand vorsichtig auf und ging zur Tür. Ihre Haltung spiegelte Unsicherheit wider. Doggett blickte ihr verwundert nach.

„Wohin willst du?“, fragte er. „Bleibe lieber noch etwas liegen. Wir - “

„Aber ich dachte, Kersh wollte uns beide sehen?“ – Sie schien etwas verwirrt. Doggett nickte. „Ja, schon, aber...“

Etwas ließ ihn plötzlich verstummen, und erstaunt blickte er seine Partnerin an. Der Agent sagte nichts, sondern stand nur einfach da, die Augen weit geöffnet, den Mund fast geschlossen.

„Also, gehen wir!“, sagte Reyes forsch und fügte hinten dran : „Mir geht es übrigens wieder gut, deshalb bist du doch eigentlich hergekommen vorhin.“

Doggett sagte nichts, sondern nickte nur.

Langsam wurde es ihm unheimlich.

Reyes wurde ihm fremd.

Sie wusste, dass Kersh sie sehen wollte.

Sie wusste es, bevor er ihr überhaupt davon erzählt hatte!









Zeitgleich irgendwo in der Stadtmitte



Albert beobachtete die junge Frau, wie sie ihren Wagen abschloss und im WALL MART verschwand.

Ihr Wagen stand in der ersten Parklücke, direkt vor dem Fahrzeug seiner Begierde. Der rote Ferrari lachte den Mann förmlich an, lockte ihn mit seinen breiten Reifen und den vor Kraft zu strotzen scheinenden Felgen. Oh ja, das war „sein“ Wagen. Das war der Wagen, den er brauchte. Langsam näherte er sich dem Fahrzeug, in der einen Hand eine Plastiktüte mit schwerem Inhalt, in der anderen einen kleinen Schraubenzieher.

Es knackte, als das Schloss an der Fahrertür dem Druck des Werkzeugs etwas nachgab.



******



Büro von Alvin Kersh

9:05 Uhr



„Agent Reyes. Haben Sie sich wieder erholt?“

„Anscheinend ja“, antwortete die Agentin dem Deputy Director ungewohnt kühl und herabwürdigend und setzte sich neben ihren Partner auf einen der zwei reichlich unbequemen Sessel. „Danke für Ihre Besorgnis, Sir.“

Kersh murmelte nur etwas vor sich hin und legte eine Akte beiseite. Er schien böse Gedanken gegen Reyes zu hegen, jedenfalls meinte die Agentin, in diesem Moment eine durch und durch negative Aura wahrzunehmen. Sie strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und verharrte still.

„Agents, ich habe soeben einen Anruf erhalten“, begann der Vorgesetzte der beiden Agenten und faltete die Hände. „Ganz in der Nähe ist ein Mann ermordet worden. Anwohner meinten, Maschinengewehrsalven gehört zu haben.“

„Maschinengewehrsalven? Hört sich für mich sehr nach einem Auftragsmord an, wenn Sie mich fragen, Sir. Der Täter schien sichergehen zu wollen, dass sein Opfer wirklich nicht mehr den folgenden Tag erleben wird.“ – Doggett knetete an seiner Unterlippe. „Gibt es schon genauere Infos?“

„Ja“, antwortete Reyes und blickte einen kurzen Moment lang an die Decke. „Es war kein Auftragsmord.“

„Ach ja...? Und woher wollen Sie das wissen, Agent Reyes? Soweit ich weiß, waren Sie nicht dabei, als der Mord geschah!“ – Kersh presste diese Worte langsam zwischen seinen Zähnen hervor.

„Es ist ... ein Gefühl, Sir“, sagte Reyes und hielt es für das Beste, von nun an zu schweigen.



Ihre spontanen Ideen, Intuitionen – alles stimmte sie missmutig. Nicht genug, dass sie selbst nicht wusste, was genau in ihr vorging; nein, das Schlimmste war, dass ihre Mitmenschen mehr und mehr Abstand von ihren Meinungen zu nehmen schienen. Dabei war sie doch noch ein und dieselbe Person.

Eine Person.

Eine Person, die im Moment eine schwere Zeit durchmachte.

Eine Person, die auf Unterstützung hoffte, so dass sie endlich Klarheit über ihren Zustand erhalten konnte.



Doch bisher waren all ihre Fragen noch unbeantwortet und türmten sich zu einem wahren Berg auf. Fragen über Fragen und an der Spitze die Frage, die nach dem Sinn hinter all den Geschehnissen suchte.

Es war ein langer Weg bis nach oben...



„Gefühl. Sie vertrauen also nicht auf Tatsachen, sondern lassen sich lieber von ihren Gefühlen leiten? So ist es doch, nicht?!“ – Kersh verzog keine Mine. „Schön, dann wissen wir jetzt ja, wie die Aufklärungsrate unserer Fälle um ein Vielfaches erhöht werden kann! Wir MÜSSEN uns nur von unseren GEFÜHLEN leiten lassen!!“ Die Stimme schlug um in pure Wut.

„Sir, ich denke es wäre angebracht, Agent Reyes` derzeitigen Zustand zu berücksichtigen. Sie hat zur Zeit einige...“ - Doggett blickte ihr ins Gesicht - „ ... Probleme, welche ihr zu schaffen machen!“

„Ach.“ – Kersh beugte sich weiter vor. „Wir sind hier aber keine Institution, deren Hauptziel es ist, die Probleme etwaiger Personen zu lösen, Agent Doggett! Wenn Agent Reyes Ihrer Meinung nach unzurechnungsfähig ist in allem, was sie sagt, dann soll sie zu Hause bleiben und die Probleme mit ihrer Hauskatze ausdiskutieren!“

„Sir, ich denke...“

„Jetzt rede ich, Agent Doggett!“, fuhr Kersh dazwischen. „Solange sie hier im Gebäude herumläuft, hat sie den Ordern ihres Vorgesetzten Folge zu leisten! Und diese besagen, dass Sie beide sich unverzüglich zum Tatort begeben!“

„Sir...“

„Ich glaube, ich habe mich klar ausgedrückt, Agent Doggett. Hier in der Akte sind die nötigen Informationen, die Sie brauchen. Es sei denn, Sie wollen sich ausschließlich auf die Gefühle einer bestimmten Person verlassen!“



Doggett nahm die Akte in Empfang und deutete Reyes mit einem leichten Kopfnicken an, dass sie lieber den Raum verlassen sollten. Ohne ein Wort zu sagen, verließen die Agenten das Büro ihres Vorgesetzten und schlossen sie Tür hinter sich. Keiner der beiden wollte über das, was gerade vorgefallen war, auch nur noch ein einziges Wort verlieren. Am allerwenigsten Reyes.



*



9:35 Uhr

Tatort



Das Haus sah schäbig von außen aus. Der Putz bröckelte von der Fassade und in beinahe jedem der nahezu zwanzig Fenster an der Vorderseite hingen vergilbte Gardinen, die den Anschein erweckten, schon lange keine Waschmaschine mehr von innen gesehen zu haben. Reyes blickte nach oben, als sie aus dem Wagen stieg.

„Mir scheint, hier wohnen alle Junggesellen von Washington und Umgebung“, sagte sie.

„Was bringt dich zu dieser Mutmaßung, Monica?“, wollte Doggett wissen, der mit einem beherzten Klaps die Fahrertür des Autos ins Schloss fallen ließ.

„Wann hast du zum letzten Mal deine Gardinen gewaschen, John?“

„Was weiß ich? Ich bin alleinlebend und habe viel zu tun. Wie soll ich da wissen, wann ich das letzte Mal meine ...“

Erst jetzt merkte er, dass er direkt ins Fettnäpfchen getreten war. Er ging ohne ein weiteres Wort zu sagen an Reyes vorbei zur Eingangstür. Die Agentin grinste. Jedoch wich dieser Zustand einem plötzlichen Aufkommen von seltsamen Gedanken. War sie schon mal hier gewesen?

Die Fassade.

Die vergilbten Gardinen.

Der Geruch.

All das suggerierte ihr etwas. Etwas Bekanntes, etwas, das sie schon mit eigenen Augen gesehen hatte. War es Einbildung?

In Gedanken versunken trat sie in den dunklen Hausflur und folgte Doggett auf der Treppe nach oben.



Oben wurden sie schon vor der Tür zum Tatort von Derik Walters begrüßt. Der hochgewachsene Mann, Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen, hatte zuvor schon Bekanntschaft mit den beiden Agenten gemacht. Zusammen hatten sie versucht, die seltsamen Todesfälle im Pathologischen Institut der Stadt aufzuklären. Doch bisher war auch dieser Fall noch einer, der eher in die Abteilung „fast gelöst“ passte. Vieles blieb noch unklar ... wie so häufig. Zu gerne hätte Doggett gefragt, in wieweit die Ermittlungen in diesem Fall Erfolge verzeichnen ließen, ermahnte sich aber, jetzt nicht die Gedanken an einen anderen Fall zu verschwenden.

„Agent Doggett, Agent Reyes, einen guten Morgen wünsche ich Ihnen.“

Doggett schüttelte Walters die Hand. „Den wünsche ich Ihnen auch, Derik. Nur leider ist im Moment kein Anlass zur Freude, nehme ich an...?“

Reyes, die es sich ebenfalls nicht nehmen ließ, den Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen per Handschlag zu begrüßen, blickte in die angrenzende offen stehende Tür. Genau in diesem Moment traten zwei Männer aus der Tür, eine Trage schleppend. Auf selbiger ruhte ein schwarzer Leichensack, der bei jedem Schritt, den die beiden Männer machten, hin- und herwackelte.

Reyes blickte den beiden Männern verwundert nach. Ein seltsames Gefühl kam in ihr auf, so dass sie kurz die Augen schließen musste, um wieder bei klarem Verstand zu sein. Sie atmete einmal tief aus und ging dann leicht unsicher, den Blick immer noch auf die beiden Leichenträger gerichtet, hinter Walters und Doggett in die kleine miefige Wohnung mit der Nummer 13.



*



Der Wagen schoss mit gewaltiger Geschwindigkeit über die Straßen der Innenstadt. Albert gab immer wieder etwas mehr Gas, so dass der Motor energisch aufheulte. Der Mann warf einen kurzen Blick auf das Straßenschild, als er eine weitere Kreuzung überquerte und erkannte, dass er in selbige hätte einbiegen müssen.

Er bremste scharf, zog die Handbremse und ließ den Wagen eine 180° - Drehung vollführen, welche den Wagen auf die Gegenfahrbahn katapultierte. Der entgegenkommende Aston Martin reagierte zu spät und streifte die linke Seite des Ferrari mit einer derartigen Geschwindigkeit, dass er für einen kurzen Moment abhob, dann Schlagseite bekam und mit voller Geschwindigkeit in eine nahegelegene Telefonzelle krachte.

Passanten eilten dem Verletzen sofort zu Hilfe und bemerkten gar nicht, dass der eigentliche Unfallverursacher in jüngst diesem Moment mit quietschenden Reifen und einem an der linken Seite demolierten Wagen an der Kreuzung links in eine Seitenstraße einbog.

Wenige Minuten später waren in der Ferne schon die ersten Polizeisirenen zu hören.



*



„Genau hier wurde er gefunden“, sagte Derik und deutete mit seinem rechten Zeigefinger auf einen Punkt am Boden, der eine dunklere Färbung als der des restlichen Belages angenommen hatte. Getrocknetes Blut umrahmte ihn. „War kein schöner Anblick, das kann ich Ihnen sagen, und ich habe schon so machen Toten gesehen!“

„Wer ist das Opfer?“, fragte Reyes, die einen Blick auf das Namensschild an der Tür geworfen hatte und in genau diesem Moment innehielt. Sie überkam eine Eingebung, ein Gefühl. Leicht unsicher fragte sie: „Das Opfer war nicht der Wohnungsmieter, richtig?“

„Das haben Sie gut geraten, Agent Reyes“, antwortete Walters und zog eine Plastiktüte aus seiner Manteltasche. Erstgenannte beherbergte ein Portemonnaie mit darin befindlichem Personalausweis. „Herbert Hutch ist sein Name, der , wie die Nachbarin gesagt hat, die ihn gefunden hat, der ehemalige Vermieter dieser Wohnungen gewesen ist. Nun ja, jetzt hat er andere Sorgen als Mieter, die mit ihrer Miete im Rückstand sind...“

Reyes sagte nichts, sondern überlegte vielmehr, ob sie das gerade eben wirklich nur geraten hatte. Eine innere Eingebung bläute ihr nämlich ein, dass sie es genauer genommen gewusst hatte!

„Bundesbeamten - Humor“, murmelte Doggett und kniete sich nieder. „Haben Ihre Kollegen schon die Einschüsse an der Wand hier“ – Er deutete auf Einschusslöcher in der brüchigen, maroden Wand – „und hier untersucht, Derik? Uns wurde gesagt, es sollen Machinengewehrsalven gefallen sein.“

„Dem ist auch so, Agent Doggett.“ Walters kniete sich neben den Agenten. „Mehr als zwanzig Kugeln müssen den armen Teufel getroffen haben! Jedenfalls war von seinem Oberkörper nicht mehr viel übrig, als wir ihn untersucht haben.“

„Ich verstehe“, sagte Doggett und blickte angewidert auf die Wand, die neben Einschusslöchern auch noch getrocknetes Blut darbot, welches in langen Bahnen herunter gelaufen war.

„Was denken Sie, wer das getan hat, Derik?“

„Tja, es fehlen die Waffe und brauchbare Fingerabdrücke. Natürlich deutet im ersten Moment alles auf den Mieter als Täter hin, denn er soll, nachdem die Schüsse gefallen sind, fluchtartig das Haus verlassen haben. Die Bewohnerin von Nummer 12 hat ihn sogar noch auf dem Flur getroffen, da sie von den Salven aufgeschreckt worden war und draußen nach dem rechten sehen wollte. Sie war es auch, die uns hergerufen hat.“

„Können wir mit ihr sprechen?“, fragte der Agent und erhob sich aus der Hocke. Ihm war es unbegreiflich, wie jemand derartig Brutales durchführen konnte und dabei noch das Leben anderer mutwillig gefährdete. Die Mieterin in Nummer 12 konnte von Glück sagen, dass die Wand um einiges stabiler war, als sie von außen den Eindruck erweckte.

„Davon würde ich Ihnen abraten, John“, antwortete Walters, der sich nun ebenfalls erhob. „Die Frau hat einen schweren Schock erlitten und ihr Zustand gilt noch nicht als psychisch stabil. Aber ich denke, wir werden vorerst auch so weiterkommen.“

„In Ordnung“, sagte Doggett und verwarf in diesem Moment ein Gefühl ,welches über ihn kam. Das heißt, so ganz verwarf er es nicht. Vielmehr blieb ein Wort zurück, welches mit beständiger Regelmäßigkeit versuchte, in sein Gehirn zu gelangen. Es war ein Wort, das ein Möbelstück beschrieb. Ein Möbelstück, das in erreichbarer Nähe stand. So sehr der Agent auch versuchte, es zu ignorieren, das Wort hämmerte immer und immer wieder auf sein Unterbewusstsein.

Ohne zu wissen, warum er es tat, näherte sich Doggett dem großen Wandschrank und öffnete die rechte Tür.



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