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November Rain

von Cat

Kapitel 3

Grelles Licht blendete die alte Frau, raubte ihr die Sicht. Zahlreiche Bilder und Fragmente ihrer Erinnerung rauschten an ihr vorüber. Diese abzuschütteln, erschien Carol nahezu unmöglich, zu gewaltig und schnell rasten sie durch ihren Geist hindurch. Und doch gelang ihr das vermeintlich Unmögliche. Langsam klärte sich das gleißende Licht vor ihr und mit ihm verloren jene Bilder immer mehr an Intensität. Eine Klarheit, wie Carol sie noch nie verspürt hatte, nahm plötzlich von ihr Besitz, strafte all die falschen Eindrücke Lügen, die sie zuvor in ihrem Leben gewonnen hatte. Es hatte den Anschein, als würde ein gewaltiger Schleier von ihren Augen fallen, der all die Geheimnisse des Daseins preisgab. Sie fühlte intensiver, die Farben um sie herum wurden immer kräftiger, zeigten ihr die Welt in einer zuvor nie gesehenen Sichtweise. Nur mühsam gelang es ihr, all dies zu kompensieren. Erst jetzt drangen die lauten Zurufe, die den Raum füllten, zu ihrem Bewusstsein durch.

„Atmung sehr schwach, Puls kaum tastbar. Blutdruck bei 90 zu 40 – sinkend.“
Carol erkannte, dass sie sich in einem Behandlungsraum befand. Ärzte und Schwestern waren konzentriert mit einer auf der Behandlungsliege ruhenden Gestalt beschäftigt.
„2 Milliliter Atropin“, herrschte ein breit gebauter, dunkelhäutiger Mann. Schnell kam eine junge Schwester seiner Forderung nach. Sie zog eine Spritze mit farbloser Flüssigkeit auf, reichte sie dem Arzt, der das Medikament in den von ihm verdeckten Oberkörper des Patienten spritzte.

Neugierig näherte sich Carol der Liege. Eine seltsame Schwerelosigkeit ließ ihre Glieder nahezu gewichtlos erscheinen. Wie das Licht eine Motte anzog, trieb es die alte Frau direkt zu den Geschehnissen, die sich vor ihr abspielten. Sie gewann immer mehr an Höhe, blickte von oben auf das geschäftige Krankenhauspersonal hinab. Eine kleine, unheimlich blasse Frau lag dort bewegungslos, sie hatte das Bewusstsein verloren. Der Pullover war aufgeschnitten, gab ihren Oberkörper frei, der mit 3 Elektroden in der Nähe des Herzens bedeckt war. Langsam wanderte ihr Blick zu dem aschfarbenen, eingefallenen Gesicht. Der Schock, der sie bei der Erkenntnis, WER dort lag, traf, wurde durch hektische Rufe im Raum gedämmt.
„Sie wird bradikard.“
„Herzstillstand!“

Was nun losbrach, konnte Carol nur fassungslos beobachten, schwerelos über den Häuptern der Ärzte und Schwestern treibend. Augenblicklich begann der dunkelhäutige Arzt mit einer Herzdruckmassage, versuchte das Leben in ihren sterbenden Körper zurückzutreiben. Doch schien weder die Sauerstoffzufuhr, noch die Massage ihr Herz anzutreiben.
„Defibrillator, sofort!“, donnerte seine tiefe Stimme durch den Raum.
Eine Schwester eilte mit dem lebensrettenden Gerät an seine Seite, bereitete die Paddles schnell vor, um sie dann dem wartenden Doktor zu reichen.
„260. Zurücktreten“, rief der Arzt, dann setzte er ihren Körper unter Strom, ließ ihn kurz aufzucken. Gefangen von den Geschehnissen, denen sie hilflos beiwohnen musste, stellte Carol fest, dass sie scheinbar immer mehr den Halt im Hier und Jetzt zu verlieren schien. In Worten kaum beschreibbar, und doch wusste sie, was gerade vor sich ging. Ihre Seele trennte sich von ihren sterblichen Überresten. Sie trat ihre letzte Reise in eine für sie unbekannte Ewigkeit an. Furchtbar alt und ausgemergelt kam ihr das eigene Gesicht vor, dessen Augen von nun an für immer verschlossen bleiben würden.
„300. Zurücktreten!“, focht der Arzt seinen aussichtslosen Kampf aus. Abermals erzitterte ihr Leib, um dann reglos wieder zum Ruhen zu kommen.

Unzählige Stimmen und Laute schwirrten um sie herum. Doch es waren keine Worte, vielmehr Gedanken, Emotionen. Dieses Mal fiel es ihr leicht, sie zu orten, einige einzeln herauszufiltern. Was kurz zuvor ein unzumutbarer Kraftaufwand für sie gewesen war, bedurfte nun keinerlei Anstrengung mehr.
„320. Zurücktreten!“, drang es abermals zu ihr durch. Doch nun wendete sie sich ab, wollte ihren toten Körper kein weiteres Mal unter den Paddles tanzen sehen.
„Es bringt nichts mehr.“ Resignierend trat der Arzt zurück. Schweigen breitete sich im Behandlungszimmer aus.
„Todeszeitpunkt: 04:13 AM.“
Carol Scott war tot. Einzige Hinterlassenschaft war ihre umherirrende Seele. Was sollte sie nun tun? Warum holte sie niemand ab? Tief lauschte sie in sich hinein, während eine Schwester ihren leblosen Körper mit einem Laken bedeckte. Doch nichts, was sie wahrnahm, konnte ihr sagen, was nun zu tun war. Doch dann erkannte sie eine allzu gut bekannte Frequenz, die beruhigend ein Gefühl der Vertrautheit vermittelte. Ohne zu wissen, wie sie es bewerkstelligte, folgte sie jener Spur, ließ sich von ihr davontragen. Sie passierte unzählige Krankenhausflure, einer wirkte wie jeder andere. Zielstrebig schwebte sie in den Raum hinein, ließ sich nicht von einer geschlossenen Türe aufhalten.

Was sie unter sich erblickte, löste ein Gefühl der Glückseligkeit in ihr aus. Und hätte sie noch einen Körper, ein Gesicht gehabt, so hätte sich nun vielleicht ein Lächeln über ihre Lippen gelegt. Die Ärzte und Schwestern hatten ihre Untersuchungen beendet, das Paar nun sich selbst überlassen. Die Emotionen, die die Gefühlswelt der Agenten beherrschten, hingen im Raum, einer dichten und zähen Nebeldecke gleich. Die Oberfläche darunter glich einem brodelnden Vulkan. Die Angst, den Partner verloren zu haben, hatte die noch nicht verheilten Wunden wieder aufgerissen, verletzte und einsame Seelen preisgegeben. Alle Vorwürfe und Streitgespräche hatten angesichts des drohenden Todes an Relevanz verloren, schienen nahezu lächerlich. Sowohl Dana und Fox, als auch Carol wussten, dass es für das Paar noch viel aufzuarbeiten gab, dies nur eine einzige Hürde war, die sie bereits genommen hatten. Doch erkannte Carol die Zuversicht in den Augen dieser beiden Menschen. Gemeinsam würden sie alle Prüfungen, die das Leben tagtäglich stellte, bestehen, aufgrund der Dinge, die sie schon gemeinsam erlebt und auch überlebt hatten. Sie würden stärker als je zuvor daraus hervorgehen.

Die jüngere Frau hatte den Stuhl neben Mulders Krankenbett aufgegeben und saß nun direkt auf der Kante des Bettes. Ihre Hände waren wieder ineinander verflochten, symbolisierten den Bund, den Carol mehr spüren als bewusst wahrnehmen konnte. Das Gesicht des Mannes hatte zwischenzeitlich eine gesundere Farbe angenommen. Seine ausdrucksstarken Augen leuchteten in einem Glanz, der nur auf die Liebe zu der Frau an seiner Seite zurückzuführen war. Deutlich nahm die stille Beobachterin ihre gestärkte mentale Verbindung wahr, die durch die vorangegangene Trennung an Intensität verloren hatte, jedoch niemals ganz unterbrochen gewesen war. Ein Gefühl der Zufriedenheit schwoll in ihrem auf Erden verbliebenen Geist an, ebenso ein winziger Funke an Stolz. Sie war stolz, diesen Beiden geholfen zu haben, wieder zueinander zu finden. Inständig hoffte sie, dass es dem Paar gelang, sich niemals mehr in einer derartigen Situation wiederzufinden. Was Gott vereinte, durfte nicht vom Mensch wieder getrennt werden. Denn ein derartiger Bund stellte ein Geschenk des Herrn da. Dies alles wusste Carol, nicht, weil sie die Welt nun mit anderen Augen sah, sondern weil sie das Privileg gehabt hatte, derart intensive Gefühle selbst spüren und erleben zu dürfen. Mit ihrem Josef. Ein dumpfer Schmerz erfüllte ihr Sein, hätte früher wohl Tränen in ihre Augen getrieben. Wie sehr sie ihren geliebten Josef doch vermisste.

Ein leichtes Rascheln des Bettzeugs brachte Carol ins Hier und Jetzt zurück. Die Melancholie und Trauer wich von ihr, als sie bemerkte, dass Dana dem schlafenden Mulder liebevoll über die Wange strich, während sie die Laken über seinem Körper richtete. Das zärtliche Lächeln, welches die Lippen der rothaarigen Frau umspielte, ließ sie wesentlich jünger wirken. Unweigerlich fragte sich Carol, ob sie jemals so attraktiv gewesen war, wie die Ärztin, die sie nun beobachtete. Das letzte Mal, dass sie ihr Gesicht faltenfrei und das Haar noch blond gesehen hatte, schien Ewigkeiten her zu sein, bloß noch ein Erinnerungsfetzen in einem langen und bewegten Leben. Doch es war nicht relevant. Die Menschen alterten jeden Tag, näherten sich mit jeder verstreichenden Sekunde unweigerlich dem Zeitpunkt ihres Todes. Dies war unausweichlich, endgültig und für jedes Lebewesen schicksalhaft. Es galt, dies wissend hinzunehmen, dem Schicksal trotzig entgegenzutreten und das Beste herauszunehmen, was das wunderbare, von Gott gegebene Leben zu bieten im Stande war. Sie hatte das getan, ihr Dasein und jeden Tag, der ihr geschenkt wurde, genossen. Instinktiv spürte sie, dass es im Schicksal dieser Beiden lag, genau dies zu tun. Miteinander, nicht alleine.

Die Pumps von den Füßen streifend, rutschte Dana Scully auf das Bett, glitt in die Arme ihres Partners, der diese selbst im Schlaf einladend für sie öffnete, sobald er ihre Anwesenheit in seinem Bett spürte. Einen Moment kämpfte Dana gegen die Müdigkeit an, schloss dann jedoch resignierend die Augen. Eng umschlungen, scheinbar untrennbar, lag das Paar sich in den Armen. Nichts deutete darauf hin, dass sie einander 2 Jahre vermisst, unendlich gelitten hatten. Ruhe kehrte ein mit der Erkenntnis, am Ende ihres Lebens etwas Sinnvolles vollbracht zu haben. Nein, sie konnte nicht sagen, worin genau der Sinn des Lebens lag, auch jetzt nicht, nachdem sie sich in einem Reich zwischen dem Tod und der Ewigkeit befand. Jedoch glaubte sie sagen zu können, ihr Leben voll ausgekostet und geliebt zu haben. Und dies reichte Carol Scott.

Langsam begann sie sich zu drehen, konnte nicht aufhalten, wie ihr Geist zum Ausgang driftete. Was geschah mit ihr? War es nun soweit, die letzte Reise anzutreten? Abermals schwebte sie durch das Krankenhaus, passierte die kahlen Gängen, durchbrach Sein und Zeit. Erst an ihrem Bestimmungsort kam sie zur Ruhe. Sie war wieder zurück an dem Ausgangspunkt, der über Leben und Tod entschieden hatte. Ein kalter Hauch umspülte den Behandlungsraum. Es herrschte Totenstille. Ihr Leichnam, mit einem weißen Laken abgedeckt, verschmolz mit dem gedämpften Licht. Doch vermochte Carol es nicht, sich ihrem Leib zu nähern. Bewegungslos hielt sie inne, harrte der Dinge, die nun kommen würden. Eine merkwürdige Aufgeregtheit machte sich in ihr breit. Kindliche Freude darüber, endlich zu erfahren, was mit den Seelen der Toten geschah. Gab es bunte Blumenwiesen, wie sie es sich als Kind immer gewünscht hatte? Würde sie all jene wieder treffen, deren Verlust sie in der Vergangenheit betrauert hatte? Wie sah der Himmel aus?

Urplötzlich füllte ein grelles, kegelförmiges Licht den Raum aus. Es war heller als alles, was sie jemals zuvor gesehen hatte. Wärmer als die Sommersonne und beruhigender als alles je Dagewesene. Es tastete nach ihr, spendete ihr Kraft und war einfach allgegenwärtig. War dies der Pfad zum Himmel? Dann verschwand das Leuchten genauso augenblicklich, wie es aufgetaucht war. Der Raum verblasste nahezu. Doch nun vernahm Carol eine ihr bekannte Struktur, eine weitere Präsenz. Konnte es wahr sein? Der innige Wunsch, Recht zu haben, wurde von der Angst getrübt, vielleicht doch nur einer Illusion aufzusitzen. Ihre Seele tastete danach, blies all die inneren Warnungen, vorsichtig zu sein, sich nicht von der trügerischen Euphorie ködern zu lassen, in den Wind. Zaghaft näherte Carol sich, griff nach dem Vertrauten und unterdrückte die Angst vor einer Enttäuschung.

Dieser erste Kontakt war ausschließlich mental, wirkte jedoch elektrisierend. Sie waren wieder eins, miteinander vereint. Endlich! Der Teil in ihr, den sie in den letzten Jahren so sehr ignoriert hatte, wurde wieder lebendig, griff mit aller Gewalt nach ihm, sorgte dafür, dass Carol das Gefühl der Vollständigkeit, das nur er auszulösen vermochte, erlebte. Ja, dies musste definitiv der Himmel sein! Keine Worte waren nötig, keine Gesten, keine physischen Berührungen. Sein Geist liebkoste den ihren, gab ihr all das, was sie sich sehnlichst gewünscht hatte.
*Josef*, rief ihr Geist, trunken vor Glück und Freude.
*Meine geliebte Carol! So lange musste ich warten, dich wieder sehen zu dürfen. Eine halbe Ewigkeit*, war die liebevolle Antwort. Ihr Geist verarbeitete diese Worte, klar und deutlich vernahm sie seine Stimme, die viel zu lange schon geschwiegen hatte. Einzig in ihren Träumen hatte Josef zu ihr gesprochen. Das Gefühl, welches sie durchflutete, nahezu verschlang, war überwältigend, in Worten nicht zu beschreiben. Doch das musste sie nicht, wusste sie doch, dass ihr Liebster es verstand.
*Es ist an der Zeit, dass du mich begleitest. Ihr Schicksal liegt nun in ihren Händen. Mögen sie die Kraft finden, ihren Weg gemeinsam zu gehen*, gab Josef sein Wissen über Mulder und Scully und Carols Involvierung in deren Leben preis.
Er griff nach ihr, zog sie in seinen Bann und löste somit den Wunsch in Carol aus, niemals wieder von Josef getrennt zu werden.

Das gleißende Licht kehrte zurück, griff dieses Mal nach ihr. Sanft hüllte es ihre Seelen ein, lotste sie durch seine Pforten und verblasste augenblicklich. Zurück blieb einzig Carols sterbliche Hülle.

Das Paar, welches einige Etagen entfernt schlief, ahnte nichts von den Geschehnissen. Zu tief waren beide in einen Traum versunken, der eine alte Dame, die sie beide gerettet hatte, mit ihrem Liebsten vereinte, und das Geheimnis preis gab, dass die Liebe bis über den Tod hinaus von Bestand war.


The End
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