World of X

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November Rain

von Cat

Kapitel 2

Das Geräusch von berstendem Metal und schrillem Reifenquietschen riss Carol aus ihrer Apathie. Panische Schreie drangen an ihr Ohr, die ersten Gäste stürzten bereits ins Freie. Durch das regennasse Glas konnte sie nur eine Menschentraube und zwei Autos erkennen, keinerlei Einzelheiten. Schnell trat sie ebenfalls nach Draußen, von Neugierde und Sorge angetrieben. Der dichte Regen machte es beinahe unmöglich, einige Meter weit zu blicken. In Sekunden waren alle Umstehenden bis auf die Haut durchnässt. Ihre Hilfe anbieten wollend, drängte sich Carol durch die ersten gaffenden Menschen. Doch noch ehe sie das Zentrum des Geschehens erreicht hatte, wurde sie energisch beiseite geschoben.

„Lassen Sie mich durch, ich bin Ärztin.“ Carol brauchte sich nicht umzudrehen, um zu erkennen, wer sich gerade einen Weg durch die Menschen bahnte. Es war Dana Scully. Sie schien jegliche Gedanken an das vorangegangene Gespräch abgelegt zu haben und in einen Mantel der Professionalität geschlüpft zu sein. Beherzt folgte Carol ihr zum Kern der Traube. Hilflose Menschen machten der Ärztin dankbar Platz. Ein dunkelhäutiger, bärtiger Mann kniete auf dem Asphalt, über einer gekrümmt liegenden Person kauernd. Noch bevor die alte Frau erkennen konnte, was genau geschehen war und wer die verletzte Gestalt auf der Erde war, sank Dana zu Boden und beugte sich über den Verletzten. Der Entsetzenslaut, der Scully entfuhr, schoss Carol durch Mark und Bein, ließ sie erschrocken zusammenzucken.
„MULDER! Oh mein Gott, nein!“

Mit leicht zitternden Fingern tastete sie nach dem Puls ihres Partners. Sein Anblick schockierte die abgehärtete alte Frau neben der Ärztin mehr, als sie es sich eingestehen wollte. Mulders Kopf schien hart auf dem nassen Asphalt aufgeschlagen zu sein, denn eine wässrige Blutlache war bereits deutlich auf dem Boden zu erkennen. Doch sein Schädel schien nicht die einzige Verletzung davongetragen zu haben. Das linke Bein des Mannes war auf eine dermaßen unnatürliche Weise platziert, dass selbst Carol als Laie einen Bruch diagnostizieren konnte. Tief durchatmend, schob Scully eine nasse Strähne ihres Haares hinter ihr Ohr, während sie gewissenhaft die Vitalfunktionen des Unfallopfers kontrollierte. Auch wenn die Ärztin äußerlich gefasst und ruhig wirkte, so spürte Carol die Angst und Sorge in ihr nur zu deutlich. Doch nicht die Hilflosigkeit der Agentin schockierte sie, vielmehr die Feststellung, dass die Verbindung zerstört war, die ihr Geist zuvor mit Mulder eingegangen war. Auch wenn sein Verlassen des Cafes die Welle an Emotionen, die sie überrollt hatte, unterbrochen hatte, so konnte sie da noch die Präsenz seines Geistes klar und deutlich spüren. Doch nun empfing sie nichts mehr von dem Mann, kein Zeichen des Schmerzes, gar nichts.

Ängstlich senkte sie abermals ihren Blick, suchte nach einem Lebenszeichen, einem Anhaltspunkt dafür, dass den Agenten die Lebensgeister nicht verlassen hatten. Kurz drängte sich der Gedanke, sie könne ihre Gabe aufgrund des Vorfalles im Cafe eingebüßt haben, an die Oberfläche. Eine derart intensive Verbindung mit einem ihr fremden Geist hatte sie noch nie erlebt. Dann aber konzentrierte sie sich und spürte die Wolke emotionaler Aufregung um sich herum. Mit festem Blick fixierte sie die Gestalt auf der Erde, rechnete beinahe mit dem Schlimmsten. Doch das verlangsamte, jedoch stetige Heben und Senken des Brustkorbes des Verletzten beruhigte sie nicht im Mindesten, denn wenn Fox Mulder lebte, warum spürte sie seine Präsenz nicht mehr?

Dann jedoch riss Doktor Scully sie ins Hier und Jetzt zurück, indem sie ihr den vom Fahrer des Unfallwagens gereichten Verbandskasten in die Hand drückte. Mit harter, tonloser Stimme forderte sie eine umherstehende Frau auf, den Regenschirm über ihren Partner zu halten, dann wandte sie sich an Carol selbst.
„Die Kopfwunde blutet zu stark, ich muss eine Kompresse anlegen, reichen Sie mir bitte Verbandszeug!“ Sie schien es gewöhnt zu sein, Befehle zu erteilen. Schnell und effizient entfernte Carol die sterile Verpackung und reichte Dana das Verbandsmaterial. Routiniert versorgte die rothaarige Frau ihren Partner, dem nicht aufhören wollenden Regen, den Menschen um sie herum und ihrer durchtränkten Kleidung keinerlei Beachtung schenkend. Ununterbrochen überprüfte sie Puls und Atmung des Verletzten, tastete seinen Leib und besonders die Wirbelsäule nach weiteren Verletzungen ab, das gebrochene Bein dabei nicht berührend, und brachte ihn letztendlich in die stabile Seitenlage.

Dann endlich vernahmen die Umstehenden das lauter werdende Signal des Krankenwagens. Bereitwillig teilten sich die Menschen, gaben den herbeieilenden Sanitätern den Weg frei. In kurzen, knappen und fachlichen Worten informierte die resolute Ärztin die Helfer über den Zustand des Patienten. Diese nickten kurz. Eine junge Frau, kaum älter als 25, kontrollierte den Puls und den Blutdruck Mulders, während ihr älterer Kollege bereits unter den fachkundigen Augen Doktor Scullys eine Infusion legte.
„Sein Kreislauf wird immer instabiler, holen Sie das EKG-Gerät“, befahl Dana alarmiert. Ihre ärztliche Kompetenz nicht in Frage stellend, kam die kurzhaarige Frau dieser Anweisung nach, legte das Gerät sorgfältig an und überprüfte kurz darauf die Pupillen des bewusstlosen Unfallopfers. Dann befestigte sie vorsichtig eine Halskrause um sein Genick.

„Wir müssen intubieren“, brachte der Mann neben ihr zum Ausdruck. Scully jedoch schüttelte verneinend ihren Kopf, nicht gewillt, den Beatmungsschlauch auf offener Straße in Mulders Lunge einzuführen und deutete auf den Krankenwagen. Auf drei hoben sie den Verletzten auf die Trage und brachten diese sicher und schnell in den Wagen. Wie selbstverständlich stieg die Agentin ins Innere, machte sich mit den Sanitätern an, ihren Partner zu intubieren. Der Fahrer schloss die Türe hinter ihnen, sperrte somit die neugierigen Blicke der Menschen um das Auto aus, ging um das Gefährt herum und wenige Sekunden später rauschte der Krankenwagen davon, hinterließ bloß wilde Mutmaßungen und Fassungslosigkeit.

Carol erhob sich langsam. Auch wenn sie wusste, dass ihr größtes Problem die unbezahlten Rechnungen der Gäste sein musste, so konnte sie die Gedanken und Sorgen, die sie beunruhigten, nicht abschütteln. Sie betete, dass einzig die Bewusstlosigkeit Mulders sie daran hinderte, Kontakt mit seinem Geist aufzunehmen, sich sein Zustand bald wieder verbessern würde. Diese beiden Menschen waren zu besonders, zu einzigartig, um nun grausam vom eiskalten Tod entzwei gerissen zu werden.

Erst die eintreffende Polizei löste den Menschenauflauf vor dem kleinen Cafe wieder auf. Die herbeigerufenen Beamten befragten gewissenhaft den Fahrer des Unfallwagens, die Zeugen und Passanten, nahmen ihre Aussagen zu Protokoll. Carol Scott hatte bereits ihre Angaben gemacht, wandte sich wieder ab, um ihrer Arbeit nachzukommen. Der ältere der Polizisten, der gerade im trockenen Wagen ein Telefonat geführt hatte, trat an seinen Kollegen heran.
„Das Opfer ist nicht bei Bewusstsein, die Ärztin, die ihn erstversorgt hat, ist noch bei ihm. Wir sollten, wenn wir hier fertig sind, ins Memorial fahren, um ihre Aussage aufzunehmen“, sprach er den dunkelhaarigen Gesetzeshüter an.

Carol betrat schnell das Cafe, ihre durchweichte Kleidung hinterließ eine großflächige Lache hinter ihr. Beruhigt stellte sie fest, dass Mandy, das Mädchen, welches die letzte Schicht hatte, die Bedienung der Gäste übernommen hatte. Rasch eilte die alte Frau ins hintere Zimmer, das eine Art Umkleide für die Angestellten darstellte, und schlüpfte aus ihrer durchnässten Kleidung. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet, dass ihre Schicht bereits seit zwanzig Minuten beendet war, sie jetzt eigentlich schon Feierabend hatte. Und obwohl ihr fröstelnder Leib nicht warm werden wollte, das nasse Haar unangenehm an ihrem Nacken klebte und das dünne Handtuch all die Feuchtigkeit ihrer Haut nicht aufnehmen konnte, so kamen ihre Gedanken nicht zur Ruhe, kreisten unweigerlich um die Agenten Mulder und Scully. Und ihre bittersüße Liebesgeschichte, die durch einen unaufmerksamen Fahrer scheinbar zunichte gemacht wurde. Sie konnte, wollte sich die Ausmaße dieses Verkehrsunfalls nicht ausmalen. Zu sehr war sie von diesen beiden Menschen berührt, nahezu gefangen. Seufzend ergriff sie ihre Handtasche und den kleinen, heruntergekommenen Schirm. Als sie durch das Cafe lief, blieb ihr Blick unweigerlich auf jenem kleinen Ecktisch hängen, der vor einer halben Ewigkeit, so schien es ihr, noch das Zentrum ihres Denkens gewesen war. Die noch nicht abgeräumten Tassen und Teller jagten ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Dann entdeckte sie etwas. Eine Reisetasche, die die zierliche Frau angesichts der Aufregung wohl vergessen hatte. Carol blickte sich um. Es war voll, voller als sonst um diese Uhrzeit, was wohl an jenem verhängnisvollen Unfall lag, der die Leute zu sehr aufgerüttelt hatte, um jetzt nach Hause zu gehen. Die hörbaren, gedämpften Unterhaltungen hatten allesamt nur ein Thema. Bestand denn diese Welt nur aus sensationsgeilen Gaffern?

Beherzt ergriff Carol die schwarze Tasche mit dem Entschluss, diese den Beamten vor der Türe auszuhändigen. Sie verabschiedete sich wortkarg von Mandy und trat abermals hinaus. Selbst der Schirm konnte den strömenden Regen nicht daran hindern, die frische Kleidung zu durchnässen, der Wind peitschte ihn kalt gegen ihren Leib. Gerade, als sie auf den Streifenwagen zutrat, fuhr dieser los. Der dichte Regen ließ die Beamten die alte Frau nicht bemerken. Seufzend hielt Carol inne, betrachtete abwägend die Tasche in ihrer Hand.
„Ach, was soll’s, Fox Mulders Schicksal lässt mich sowieso nicht los, dann kann ich auch gleich morgen früh im Krankenhaus vorbeischauen und nach ihm sehen“, murmelte sie gegen den Wind an, der ihre Worte in die menschenleeren Straßen trug, während sie sich auf den Weg zur Busstation machte.

~*~

Die Sorge um jenen Fremden, der ihr doch so seltsam vertraut vorkam, hatte Carol Scott eine kurze Nacht beschert. Stundenlang hatte sie sich ruhelos in ihrem Bett herumgewälzt, und obwohl ihr Körper schrecklich müde gewesen war, sie ihre Augen kaum noch offen halten konnte, so war ihr Geist nicht fähig gewesen, sich abschalten zu lassen, in einen erholsamen Schlaf zu driften. Verbissen hatte sie versucht, all die Schreckensszenarien, die von ihr Besitz nahmen, abzuschmettern, diesen Gedanken und Befürchtungen keinerlei Beachtung zu schenken, vielmehr auf einen guten Ausgang zu hoffen. Doch gegen die Kraft ihres Geistes war sie machtlos gewesen. Um fünf Uhr am Morgen hatten sie den Versuch, etwas Schlaf zu finden, aufgegeben, hatte stattdessen ihre Wohnung auf Vordermann gebracht, nahezu besessen jeden winzigen Staubkrümel vernichtet, um die Stunden, die sie noch von der Besuchszeit im Krankenhaus trennten, zu überbrücken.

Nun stand sie, pünktlich auf die Minute, vor den Pforten des Memorial, trat sich umsehend ein und erkundigte sich bei der Dame am Empfang nach der Zimmernummer von Fox Mulder. Für einige Sekunden, die sich zu einer ganzen Stunde auszudehnen schienen, hämmerte die Möglichkeit seines Todes in ihrem Kopf umher. Ein Toter brauchte kein Zimmer in einem Krankenhaus. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, versuchte abermals, ein Lebenszeichen von Mulder aufzufangen. Vorsichtig öffnete sie sich, weitete ihren Geist, machte sich für die vielen Emotionen, die an diesem Ort von Ängsten, Sorgen und Schmerzen beherrscht wurden, empfänglich. Sorgfältig filterte sie die für sie bekannten Sender heraus. Doch abermals konnte sie Fox nicht ausmachen, dafür jedoch Dana Scullys Verzweiflung. Bevor sich ihre Gedanken vor Mutmaßungen überschlagen konnten, richtete sich die kräftige Brünette hinter dem Tresen an Carol.
„Mr. Mulder liegt auf der Intensivstation. Sind Sie Verwandtschaft?“, murmelte sie, hob dabei nicht einmal den Kopf, um ihr Gegenüber anzusehen.
„Ich bin seine Tante“, log Carol augenblicklich, ohne auch nur zu zögern oder Reue zu empfinden. Es war nur eine Art Notlüge, schließlich musste sie Dana Scully ihre Tasche zurück bringen, die sie fest in ihrer linken Hand umklammert hielt.
Diese Information schien der anderen Frau zu genügen, denn sie gab ihr bereitwillig eine Wegbeschreibung, wie die Besucherin zur Intensivstation gelangte. Kurz bedankte sich die Grauhaarige, bevor sie in den Aufzug trat.

Mulder lebte also, aber warum konnte sie ihn nicht orten, keinerlei Lebenszeichen von dem Agenten empfangen? Was bedeutete dies? Ein kurzer Warnton des Fahrstuhles riss sie aus ihren Gedanken, kündigte ihre Ankunft im dritten Stock an. Carol trat in den Gang hinaus, hielt suchend Ausschau nach einem Anhaltspunkt. Schon wollte sie ein Schwesternzimmer aufsuchen, da öffnete sich die Tür der Damentoilette vor ihr und Dana Scully rannte gedankenverloren in Carol hinein. Die junge Frau wirkte ausgezehrt, hatte dunkle Ringe unter den roten und verweinten Augen und machte den Eindruck, als würde sie kurz vor dem Zerbrechen stehen. Carol nicht wirklich wahrnehmend, murmelte Dana eine halbherzige Entschuldigung, ehe sie sich umdrehen und davoneilen wollte.
„Miss Scully?“, fragte Carol zögerlich. Was sollte sie der Agentin sagen, wie sollte sie der von Sorge um ihren Freund und Partner zerfressenen Frau entgegentreten? Würde Scully sie überhaupt wiedererkennen? Plötzlich schien ihr dieser Besuch nahezu vermessen.

Die direkte Ansprache drang zu Dana durch, zwang sie, ihr Gegenüber anzusehen. Verwirrt versuchte sie, die Gestalt vor ihr richtig einzuordnen. Die alte Dame kam ihr bekannt vor. Dann flackerte Erkennen in den blauen Augen auf. Schüchtern hob Carol die schwarze Tasche, hielt sie Scully entgegen. Überrascht nahm die rothaarige Frau diese an sich.
„Vielen Dank, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll?!“ Ihre Stimme klang heiser und brüchig. Verlegen strich sich Dana eine Strähne hinter ihr Ohr, lächelte Carol freundlich an. Ein Lächeln, das gezwungen und nur halbherzig wirkte.
„Ist schon in Ordnung. Dachte mir, dass Ihnen das Fehlen der Tasche wohl noch nicht aufgefallen ist.“ Einen kurzen Moment hielt Carol inne, suchte nach den richtigen Worten, dann jedoch stellte sie die Frage, die sie seit Stunden beschäftigte, ihr eine schlaflose Nacht beschert hatte.

„Wie geht es ihrem Freund?“
Diese zaghaften Worte lösten eine wahre Tränenflut bei der jüngeren Frau aus. Hilflos schluchzte Dana auf, brachte ihre Verzweiflung zum Vorschein und riss die dünnen Fassaden, die sie schutzsuchend um sich gebaut hatte, ein, legte all ihre Emotionen frei. Ohne zu zögern öffnete Carol ihre Arme, zog die weinende Frau an sich und spendete ihr Trost, versuchte sie aufzubauen, ohne überhaupt zu wissen, wie es Mulder ging. Doch bei jeder neu vergossenen Träne schwanden ihre Hoffnungen, dass der dunkelhaarige Mann wieder in Ordnung kommen würde. Wie die Mutter ein ängstliches Kind, versuchte die alte Frau, Miss Scully zu beruhigen, fuhr ihr mit federleichten, kreisenden Bewegungen über den Rücken. Vorsichtig weitete sie abermals ihren Geist, sonderte einzig die Ärztin heraus und behutsam versuchte sie, ihr emotionale Stärke zu geben, den inneren Aufruhr zu besänftigen. Nur langsam ebbte das hilflose Schluchzen ab. Irgendwann merkte Carol, wie sich Dana in ihrer Umarmung anspannte, wieder die Kontrolle über sich zurückgewann. Verlegen schob sie sich zurück, senkte kurz ihren Blick, hob ihn dann jedoch wieder, um die Fremde, in deren Armen sie eben noch Trost gefunden hatte, das erste Mal richtig anzublicken.

„Ich… ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen und…“, kurz zögerte Dana. „Das ist mir entsetzlich peinlich, wissen Sie. Was müssen Sie von mir denken. Mrs…?“, fragend trafen jene blauen Augen Carols.
„Scott, mein Name ist Carol Scott. Doch bitte, nennen Sie mich Carol“, erklärte sie mit ruhiger und sanfter Stimme. „Und das muss Ihnen nicht peinlich sein, ich verstehe Sie vollkommen. Wie geht es ihm also?“, versuchte sie ein zweites Mal nähere Informationen über Fox Mulder zu erhalten.

Sie merkte, wie mühsam Dana abermals Tränen, die in ihr aufzusteigen versuchten, wegblinzelte, wie sie sich zwang, ruhig zu bleiben.
„Carol, er… beim Aufprall auf den Asphalt hat er sich ein schweres Schädelhirntrauma zugezogen. Die Ärzte untersuchen noch die Wahrscheinlichkeit einer Hirnverletzung.“ Die Ärztin hielt inne, brachte es nicht über sich, sich die Möglichkeiten einer derartigen Verletzung auszumalen. Carol nickte und schluckte hart.
Vor zwei Jahren hatte eine Bekannte von ihr einen ähnlich schlimmen Autounfall erlitten.
„Er liegt im Koma?“, tonlos, nahezu fremd erschienen ihr die eigenen Worte.
Scully antwortete nicht, hob und senkte ihren Kopf nur in einer knappen, zustimmenden Geste. Carol sah, wie sich die Finger der jüngeren Frau zusammenkrallten.
Damals hatte sie viel über Komapatienten erfahren, wusste, dass dies ein Schutzmechanismus des Körpers war und wie unvorhersagbar die Chancen darauf waren, dass der Patient wieder aufwachte.
„Darf ich ihn sehen?“, erkundigte sie sich, gab einem unterbewussten Drang nach, dem sie nicht mehr standhalten konnte.

Die zierliche Rothaarige brachte abermals ein schwaches Nicken zustande. Einer Schlafwandlerin gleich ging sie vor Carol her, auf die Türen der Intensivstation zu. Der weiße Gang mit seinen grellgelben Lichtern strahlte eine klinische und sterile Atmosphäre aus, die sich belastend über die alte Frau legte. Sie mochte keine Krankenhäuser, mied sie aufgrund all der ungezügelten und verstärkten Emotionen, die an einem Ort wie diesem vorherrschten. Und dennoch war sie im Begriff, den komatösen Fox Mulder zu treffen, hatte all die Unannehmlichkeiten, die ihr dieser Besuch einbrachte, einfach beiseite geschoben. Gemeinsam betraten die Frauen die Intensivstation. Zielsicher brachte Dana sie in einen kleinen Raum, in dem sich für Angehörige bereitgestellte Kittel befanden und wie selbstverständlich reichte sie einen an Carol weiter. Irgendwie machte es die grauhaarige Frau traurig, wie routiniert Dana mit dieser Situation und den Beschaffenheiten dieser speziellen Station umging. Sie konnte all die vorangegangenen Umstände, die die Agentin bereits hierher geführt haben mochten, nur erahnen. Eine abermalige Verbindung mir ihr einzugehen, vermied sie. Eine tiefverankerte, innere Vorahnung hielt sie davon ab. Sie hatte das Gefühl, ihre Kräfte schonen zu müssen, sie ahnte, dass sie diese später noch brauchen würde. Für wen, das stand für Carol zweifellos fest.
Schweigend schlüpften die Beiden in die unförmigen, nach Krankenhaus riechenden Kleidungsstücke, bevor sie sich dem Zimmer des Agenten näherten. Eine blonde Krankenschwester eilte an ihnen vorbei, nickt Dr. Scully dabei kurz zum Gruße zu.

Ein stetiges Piepsen füllte den Raum aus, in dem Fox Mulder bleich und bewegungslos lag. Das weiße Bettzeug hob sich nur unmerklich vom blassen Gesicht des jungen Mannes ab. Sein Kopf war dick einbandagiert, das linke, bis zum Knie eingegipste Bein ließ ihn noch hilfloser wirken. Unzählige Schläuche liefen direkt in den Körper des reglosen Mannes, einer in die Nase, ein weiterer in den Mund. Ein Venenkatheter verschwand unter der Decke, trat aber, so erklärte es ihr die jüngere Frau, unterhalb des Schlüsselbeines in den Körper ein. Der Schlauch in der Nase war eine Magensonde, der im Mund befindliche gewährleistete eine ausreichende Sauerstoffzufuhr. Der beständige und nervenaufreibende Piepston stammte von einem EKG-Gerät, welches den Herzschlag Mulders überwachte. Zusätzlich lieferte ein EEG-Gerät Informationen über seine Hirnströme. Doch waren die Monitore mit ihren Kurven und Einzeichnungen viel zu nichtssagend für Carol, gaben ihr keinerlei Aufschluss über den tatsächlichen Zustand von Fox Mulder.

Das beängstigende Bild vor sich verdauend, ließ sich Carol auf dem unbequemen Plastikstuhl, der direkt neben dem Bett stand, nieder, musterte den Kranken eingehend. Leise seufzend trat Scully ans Kopfende, strich eine nach vorne gefallene Strähne dunkelbraunen Haares zurück. Zärtlich fuhren ihre Finger über die Wange ihres Freundes, als könne sie ihn mit dieser einfachen Geste zum Aufwachen bewegen.
„Ich fühle mich so hilflos, regelrecht nutzlos. Jahrelang habe ich Medizin studiert, und doch kann ich nur tatenlos abwarten und hoffen. Hoffen, dass...“, mit brüchiger Stimme brach sie ab. Ihre unausgesprochene Befürchtung aber hing einer gewaltigen Gewitterwolke gleich über ihren Häuptern, zog sich bei jedem pessimistischen Gedanken immer unheilverkündender und dunkler zusammen.
„Wie stehen seine Chancen?“, wagte Carol die Frage, vor deren Beantwortung sie unweigerlich die Luft anhielt.

„Aufgrund des harten Aufpralles ist es zu einer Schwellung des Gehirns gekommen. Man kann nicht konkret sagen, welche Folgen daraus entstehen können, jeder Komafall an sich ist verschieden, jedoch besteht immer die Gefahr der Kompression des Hirnstammes, also aller lebenswichtigen Funktionen, was in jedem Fall tödlich wäre. Oder es kann zu erhöhtem Druck auf einzelne Gehirnteile und Gefäße führen. Diese Gefahr wird momentan durch abschwellend wirkende Medikamente eingedämmt, die Schwellung ist bereits zurückgegangen. Und obwohl Mulders Hirnströme vielversprechend sind, kann man eine dauerhafte Schädigung in diesem Stadium noch nicht ausschließen. Ebenso gibt es keine Allgemeindiagnose über die Chancen der Zurückerlangung des Bewusstseins eines Komapatienten. Die Therapien und Vorgehensweisen sind vielseitig und von Patient zu Patient verschieden.“

All diese Fakten prasselten auf Carol nieder. Sie bewunderte die Professionalität der Agentin. Schließlich sprach sie hier nicht von einem namenlosen Patienten, vielmehr von ihrem ehemaligen Partner, dem Mann, den sie liebte.

Kurz wechselte ihr Blick zwischen dem Paar hin und her, bis sich ihr Augenmerk auf das eingefallene und blasse Gesicht des kranken Mannes heftete. Selbst in seinem derzeitigen Zustand war eine gewisse Attraktivität nicht zu verleugnen. Und obwohl Fox Mulder sichtlich zu jung für Carol war, so keimte doch ein winziges Gefühl von Neid in ihr auf. Neid auf Dana Scully. Sie beneidete sie nicht um Mulders Willen, vielmehr vermisste sie es, mit einer geliebten Person ihr Leben zu teilen, noch einmal das Gefühl der Liebe durch ihren Körper strömen zu spüren. Wie töricht diese beiden Narren doch waren. Sie hoffte nur, dass sie sich zusammenraufen würden, wenn Fox erst einmal auf dem Wege der Besserung war. Denn die Vorstellung seines Todes wollte die resolute alte Frau gar nicht erst zulassen. Dieser Unfall war ein Zeichen, eine Warnung, die diese Menschen zusammenführen, nicht abermals entzwei reißen sollte. Zumindest redete Carol sich dies ein.

Schweigend strich sie über die Wange des Patienten, beobachtete aus dem Augenwinkel, dass Dana Scully daraufhin kurz mit ihrer Liebkosung innehielt, dann aber das beständige Streicheln fortsetzte. Einzig die Überwachungsgeräte füllten den Raum mit ihren nervtötenden Piepstönen aus, die beiden Frauen jedoch sprachen kein Wort. Und obwohl es kein unangenehmes Schweigen war, so merkte Carol, dass Dana sich aufgrund ihrer Anwesenheit zurückhielt. Sie mutmaßte, dass es der jüngeren Frau unangenehm oder vielleicht sogar peinlich war, ihre Gedanken bei ihrer Gegenwart zu verbalisieren. Doch war es für Fox von Bedeutung, die Stimme Scullys zu hören. Carol wusste, dass es für die Genesung von Komapatienten ungemein wichtig war, dass ihre Angehörigen mit ihnen sprachen, stets in der Bemühung, den Nebel der Bewusstlosigkeit zu durchbrechen. Um das Eis zu brechen, beschloss Carol, selbst den ersten Schritt zu tun.

„Himmel, Junge, was machen Sie denn für Sachen? Sie haben uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wissen Sie, dass ich in einigen Monaten schon 70 Jahre alt werde? Nun, jeder Arzt kann Ihnen sagen, dass soviel Aufregung in diesem Alter nicht gut ist. Also wachen Sie auf und machen nicht nur mir, sondern auch dieser jungen Dame hier das Leben leichter, hören Sie?“, scherzte Carol halbherzig. Sie bemerkte, wie sich Danas Mundwinkel kurz nach oben zogen, sie dann aber wieder gedankenverloren Mulders Wange streichelte.

Carol, die, ohne sich ganz zu öffnen, Scullys Verzweiflung und Angst wahrnahm, wappnete sich innerlich, um einen erneuten Versuch zu unternehmen, mit ihrem Geist den Verletzten zu erreichen. Sie hoffte, dass die Vielfalt all dieser Gefühle am Unfallort und im Krankenhaus, Mulders Koma und ihre eigene Erschöpfung, ein zu großer Störfaktor gewesen waren, sie ihn jetzt aber vielleicht erreichen konnte. Also schottete sie sich von allen anderen Emotionen ab, konzentrierte sich einzig auf den vor ihr liegenden Mann und senkte dann ihre schützenden Blockaden. Auch wenn sie noch immer nicht wusste, was den Vorfall im Cafe, der sie so sehr erschüttert hatte, ausgelöst hatte, so betete sie nun, dass die vorangegangene Verschmelzung ihrer Geister es ihr erleichtern würde, seinen fragilen Kern zu orten. Kaum wahrnehmbare Wellen drangen zu ihr vor, fast zu schwach, um sie überhaupt zu erkennen. Doch sie waren da, eindeutig. Carol schloss ihre Augen, steckte all ihre Energie in den Versuch, Mulders Geist zu finden, ihn ins Leben zurück zu geleiten.

Nur gedämpft drang ein Gefühl der Orientierungslosigkeit zu ihr vor. Es schien, als würde sie hinter einer massiven Mauer stehen und versuchen, den dahinter befindlichen Fox Mulder dazu zu überreden, zu ihr zu kommen. Er jedoch war in keinster Weise für ihre Kontaktsuche empfänglich. Wie ein geängstigtes Kind hielt er in der Dunkelheit, die ihn umgab und zu verschlingen versuchte, inne, unfähig, sich selbst zu befreien.
*SCULLY*, schlug es ihr panisch und mit einer Klarheit und Gewalt entgegen, dass die alte Frau benommen in ihrem Sessel zu schwanken begann.
*SCULLY, wo bist du, ich brauche dich!*
Abrupt riss der Kontakt ab. Der verzweifelte Versuch, die Verbindung aufrechtzuerhalten, misslang der alten Frau. Nur mühsam brachte Carol ihre Atmung wieder unter Kontrolle, bemüht, die Ärztin auf der anderen Seite des Krankenbettes nicht auf ihre momentane Lage aufmerksam zu machen.

Nur langsam normalisierte sich ihr erhöhter Puls, und auch das Rauschen in ihren Ohren klang endlich ab. Egal, wie sehr sie sich auch gewappnet und innerlich darauf vorbereitet hatte, so hatte sie nichts auf die Gewalt dieser Konfrontation vorbereiten können. Keiner ihrer Versuche war zu Mulder vorgedrungen, doch die Kraft seiner Gefühle für Dana hatte sie erreicht, auch wenn sie nicht glaubte, dass Fox diese wissentlich gesteuert hatte. Fraglich war jetzt nur, ob sie zu dem Mann durchdringen konnte, um ihm zu sagen, dass Dana Scully hier war, auf ihn wartete und er nur noch aufzuwachen brauchte. Ihm zu erzählen, dass Dana ihn liebte und zurückhaben wollte, würde sie der jüngeren Frau selbst überlassen.
Nur wie konnte sie zu ihm durchkommen? Für Dana wäre es sicherlich kein Problem, doch war es ihr selbst unmöglich, tiefer in Mulders Psyche einzudringen.

Scully, die von diesem strapaziösen Gedankenaustausch nichts mitbekommen hatte, hob kurz ihren Kopf, blickte abwägend in Carols Richtung. Die alte Frau spürte, wie Dana mit sich rang. Die Geschehnisse der letzten Stunden lagen belastend auf ihrem Herzen, drohten, die Agentin daran zerbrechen zu lassen. Nicht nur Patienten mussten versorgt werden, auch ihre Angehörigen benötigten in so schlimmen Fällen, wie Fox Mulder einer war, ausreichende Betreuung. Und doch hinderte ihr Stolz die jüngere Frau daran, ihre emotionalen Nöte zu verbalisieren. Vielleicht redete sie sich auch ein, sie könne diese Hürde alleine bewältigen. Zweifelsohne war Dana Scully eine starke und unabhängige Frau. Sie arbeitete in einem harten Beruf, der noch wenige Jahre zuvor eine reine Männerdomäne gewesen war. Unsicherheit und ganz besonders Verletzlichkeit konnten eine Agentin zu Fall bringen. Das zerstören, was sie sich härter als ihre männlichen Kollegen erkämpfen musste. Noch immer glaubten viele Männer, dass weibliche Regierungsbeamte ganz besonders im Staats- oder Polizeidienst nichts zu suchen hatten, und damit überflüssig waren. Es musste schwer für die Agentin sein, ihre Schutzschilde, die sie einer Mauer gleich um ihre Seele gebaut hatte, zu senken, ihre Angst und auch Tränen zuzulassen. Doch kein Mensch bestand aus Stein. Auch nicht die rothaarige, zierliche Frau vor ihr, die verzweifelt versuchte, ihre wahren Emotionen unter Kontrolle zu halten.

Carol schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, versuchte so, Dana wissen zu lassen, dass sie frei sprechen konnte, wenn sie es nur zulassen würde. Denn wenn es eines gab, was sie gut konnte, dann war es zuhören. Sie schaffte es immer, die passenden Worte zu finden, hatte für jeden sorgenzerfressenen Gast des Cafes eine Aufmunterung, einen Funken Zuversicht parat. Behutsam tastete Carol sich vor, versuchte, das Eis zwischen ihnen zu brechen.
„Wie lange kennen Sie sich schon? Sie wirkten sehr vertraut miteinander“, fragte sie in einem ruhigen Tonfall, darauf bedacht, möglichst beiläufig zu klingen.
„Seit über 8 Jahren. Wir haben früher zusammen gearbeitet“, kurz stockte Dana, bevor sie weitersprach. „Obwohl wir nicht im Guten auseinander gegangen sind, gibt es niemanden, der mir näher steht als Mulder. Nicht einmal meine Mutter.“ Lächelnd nickte Carol. Sie merkte, dass die jüngere Frau kurz davor war, sich zu öffnen.
„Wissen Sie, manchmal tut es gut, mit jemandem zu reden, der nicht unbedingt betroffen ist. Ein unbeteiligter Dritter, wenn Sie es so wollen“, baute sie Dana eine Brücke, von der sie hoffte, dass die andere Frau sie betreten würde.
„Vielleicht haben Sie Recht. Es fällt mir nur ungemein schwer, über solche Dinge zu sprechen. Gefühle, wissen Sie, Carol?! Ich habe geglaubt, Fox niemals wiedersehen zu wollen. Ich denke, wir beide sind gleichermaßen verletzt. Und doch weiß ich, dass nur er diese Leere, die in mir herrscht, ausfüllen kann. Es ist beinahe so, als wäre er ein Teil von mir. Ziemlich melodramatisch.“ Unsicher spielten ihre Finger mit einer dunklen Haarsträhne Mulders. Ihr Blick war starr auf das Krankenbett gerichtet. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Verwunderung darüber wider, sich einer völlig Fremden anzuvertrauen. Ihr Dinge einzugestehen, die sie sich selbst erst kürzlich eingestanden hatte.

„Sie müssen sich nicht für Ihre Gefühle schämen. Wir alle haben sie, und eben jene Emotionen machen das aus, was wir nun einmal sind. Menschen. Mit all ihren Stärken und Schwächen. Gott hat uns eine wundervolle Eigenschaft geschenkt. Wir können lieben. Wir lieben viele Dinge – unsere Familie, Kinder, Freunde, einige lieben ihre Autos, es gibt keinerlei Grenzen. Doch wahrlich glücklich können sich die nennen, die einen Partner lieben und auch zurückgeliebt werden. Wahre, vorbehaltlose Liebe ist etwas Kostbares, Dana. Niemand hat behauptet, dass es einfach ist. Aber dass Sie hier sind, vor Sorge um Fox beinahe krank, was sagt Ihnen das? Ich hatte auch das Privileg, diese Art der Liebe zu empfinden. Ich dachte damals, wir wären unbesiegbar zusammen. Aber leider wurde Josef, mein Mann, mir viel zu früh genommen. Doch eines bleibt mir immer, das Gefühl dieser Liebe. Ihr Fox braucht Sie jetzt, er fühlt sich einsam, verlassen und hilflos. Helfen Sie ihm, den Weg zurück zu finden, zurück zu Ihnen. Werfen Sie das, was Sie haben, nicht aus falschen Beweggründen weg.“ Carol sah, wie Danas Kiefern aufeinander rieben, sie das soeben Gesagte zu verarbeiten versuchte.

„Das klingt so furchtbar einfach. Das ist es aber nicht“, gab sie leise zu bedenken. Sie litt, das war unschwer zu erkennen. Die beeindruckenden, azurblauen Augen füllten sich mit Tränen, die jedoch von der Ärztin verlegen weggeblinzelt wurden.
„Es ist bestimmt nicht einfach. Sie sagten selbst, wie leer Sie sich ohne Fox fühlen. Wenn Sie ihn verlassen, wird diese Leere bestehen bleiben, vielleicht noch wachsen, bis Sie irgendwann einmal ganz von ihr verschlungen werden. Das Verletztsein und die Probleme aber werden mit der Zeit vergehen, Ihre Wunden werden heilen, Ihre, sowohl als seine. Was Sie sich fragen müssen, ist, ob Sie sich ein Leben ohne oder mit Fox Mulder vorstellen können. Sie lieben ihn sehr, so dass er Sie verletzen konnte. Aber lieben Sie ihn auch so sehr, dass Sie ihm und auch sich selbst verzeihen können?“, sprach Carol die alles entscheidende Frage aus.

Dana focht einen inneren Kampf aus. Alles in ihr drängte sie, sofort zu fliehen, ihre Wunden zu lecken und sich zum Sterben zusammenzurollen. Es ängstigte sie, wie sehr die alte Frau sie scheinbar durchschaut hatte und mit welcher Präzision sie zu ihr durchgedrungen war. Diese Worte schmerzten, wusste sie doch um ihre Wahrheit. Doch dann veränderte sich ihre Miene, wurde nachdenklich.
„Ohne ihn zu leben ist hart. Härter, als ich es jemals erwartet habe. Ich habe einen ausfüllenden, neuen Job, wohne nahe bei meinem Bruder und habe großartige und liebenswerte Menschen kennen und schätzen gelernt, doch...“, Scully stockte.
„Doch?“, bohrte Mrs. Scott sanft, jedoch unnachgiebig weiter.
„Und doch kann ich das alles nicht wirklich genießen. Ich bin einsam, Carol. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Mulder denken muss. Und ihn gar nicht mehr zu sehen, ihn verloren zu haben, schmerzt mehr, als das, was zwischen uns vorgefallen ist.“ Ohne es zu wissen, hatte Dana selbst die Frage beantwortet. Carol musste lächeln. Sie beugte sich nach vorne, über Mulders liegende Gestalt hinweg und ergriff die feingliedrige Hand der anderen Frau.

„Dann lassen Sie uns zusehen, dass wir Ihren Mulder wissen lassen, dass er hier gebraucht wird. Reden Sie mit ihm, sagen Sie ihm, wie sehr Sie ihn lieben.“

Zaghaft umschlossen Scullys Finger ihre Hand, übten einen leichten Druck aus. Sie schöpfte Kraft, saugte Carols Zuversicht in sich auf. Sanft dirigierte die ältere Frau ihre verbundenen Hände auf das Krankenbett und verflocht Danas Finger mit denen des Patienten, schaffte somit die physische Verbindung, die beide zu brauchen schienen. Mulders stetiges Heben und Senken seiner Brust wirkte beruhigend auf die angespannte und ausgezehrte Agentin, übte eine beinahe hypnotische Wirkung auf sie aus. Mulder lebte, und mit ihrer Hilfe würde er wieder aufwachen, das hoffte die rothaarige Frau zumindest innigst.

„Es gibt so vieles, was ich dir sagen muss. Ich weiß gar nicht, wo genau ich beginnen soll“, setzte sie an. Einen kurzen Moment hielt sie unsicher inne, fuhr dann aber mit leiser Stimme fort. „Vielleicht sollte ich damit anfangen, dir zu sagen, wie dumm es war, einfach auf die Straße zu laufen. Genauso dumm, wie mich einfach versetzen zu lassen. Aber egal, wie unüberlegt du manchmal handelst, es ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Ich liebe dich, Fox Mulder, mit einer Intensität, die mir manchmal Angst macht. Ich brauche dich. Diese zwei Jahre, ganz ohne dich, waren so einsam, ich habe dich ungeheuer vermisst. Und egal, wie sehr ich die starke, unabhängige Frau gespielt habe, so habe ich alle anderen, und ganz besonders mich selbst, belogen.“ Die jüngere Frau musste schwer schlucken.

„Du hast mich damals vor den Kopf gestoßen. Ich habe mich degradiert gefühlt. Unzählige Male habe ich dir in der Vergangenheit bewiesen, dass ich eine fähige Agentin bin, durchaus in der Lage, dir den Rücken freizuhalten. Ich habe für dich gelogen, mich an nicht ganz legalen Aktionen beteiligt und doch hast du mich immer mehr ausgeschlossen. Aus Angst um mich, ich weiß. Ich habe vieles mittlerweile verstanden, auch wenn ich es nicht nachvollziehen kann. Deine Liebe für mich hat dich blind gemacht. Ich war plötzlich nicht nur deine berufliche Partnerin, sondern auch im privaten Leben. Ich weiß, dass du mich schützen, Unheil von mir fernhalten wolltest. Aber weißt du, wie ich mich gefühlt habe? Ich sah meine Integrität in Gefahr. Plötzlich war ich nur noch deine Freundin, nicht mehr die Agentin, der du beruflich blind vertraut hast. Und nur, weil ich dich liebe, bedeutet es nicht, dass ich meinen Job weniger gewissenhaft erledigen werde. Ich möchte nicht unfair sein, ich habe es dir nicht gerade leicht gemacht. Emotional gesehen bin ich nicht der offenste Mensch, das weiß ich. Und auch, wie wahnsinnig es dich gemacht haben muss, zu wissen, dass es mir schlecht ging, ich dich jedoch nur von mir weggestoßen habe. Das Problem ist, dass ich stark sein muss, gerade weil wir involviert sind. Das ist meine Schwachstelle. Damit unsere Beziehung funktioniert, müssen wir an uns arbeiten, Fox. Und je früher wir damit anfangen, desto besser. Und nur, weil du im Koma liegst, heißt das nicht, dass du weniger hart daran arbeiten wirst, Mulder. Das ist also keine Ausrede.“

Abermals schossen Tränen in Danas Augen und dieses Mal bahnten sie sich ungehindert den Weg ihre Wangen hinab. Es waren befreiende Tränen, die allen emotionalen Ballast davon schwemmten, und somit den Blick auf die Wirklichkeit preis gaben. Auch Carol war befangen. Endlich wurden Dinge ans Licht getragen, die vor zwei Jahren bereits gesagt werden mussten. Es war reichlich spät, jedoch nicht zu spät.

Abermals lauschte die alte Frau tief in sich hinein, suchte die Verbindung zu dem Mann, der so sehnsüchtig im Land der Wachen erwartet wurde. Die Emotionen, die sie jetzt empfand, waren weniger ängstlich, doch noch immer von einer tiefverwurzelten Orientierungslosigkeit geprägt. Die Hilflosigkeit, in dieser Dunkelheit gefangen zu sein, schwappte zu ihr über, umspielte ihren Geist eiskalt. Danas Worte hingen wie eine undurchdringliche Nebelschicht über ihnen, waren da, und doch so weit entfernt, dass sie nur eine Illusion sein konnten.

„Wach auf, schlag deine Augen auf“, drängte die Frau, die Carol gegenüber saß, jedoch meilenweit entfernt schien. Mulder nahm das Gesagte auf, das spürte sie, doch konnte er die Wirklichkeit nicht von einem Hirngespinst unterscheiden. Er sträubte sich gegen das Licht, das ihn mit sich zu reißen drohte, fürchtete, einer Illusion aufgesessen zu sein. Verzweiflung machte sich in Carol breit. Wie sollte sie seinen Geist lenken, wenn er sich so sehr wehrte? Vorsichtig öffnete sie sich weiter, gab eine weitere Bahn für Dana Scully frei, spürte augenblicklich die Gefühle der jüngeren Frau, die durch ihren Geist jagten, auf der Suche nach ihrem Mulder. Diese zweifache Verbindung strengte sie an, wie nichts zuvor in ihrem Leben. Es kostete sie alles, was sie an Kraft aufbringen konnte, diese beiden Ströme zu trennen und gleichzeitig auch aufrecht zu erhalten. Doch plötzlich wusste sie, was zu tun war, sie gab ihrem Instinkt nach, riss die Barriere ein, die zuvor mühsam geschaffen wurde.

Grell, laut und beängstigend schnell peitschten Gedanken und Gefühle durch ihr Innerstes, jagten durch Mark und Bein. Ihr Geist glich einem Schlachtfeld, der Sieger dieses undefinierbaren Kampfes war nicht auszumachen. Dann aber beruhigte sich der Tumult in ihr, ordnete sich scheinbar und Carol begriff, was gerade mit ihr geschah. Sie war eine Art Medium, das Dana und Fox miteinander verband, sie einander näher brachte. Laut und klar verstand sie Scully, die dank ihrer Hilfe jetzt endlich zu Mulder durchzudringen vermochte.

„Weißt du, wie sehr ich deinen Dackelblick, dem ich noch nie etwas abschlagen konnte, vermisse? Und deine Hände, die so bestimmt eine Waffe halten, aber anderseits so zärtlich und weich meine Haut liebkost haben. Am meisten fehlt mir deine Stimme, deine nächtlichen Anrufe. Keine halbe Stunde zuvor warst du bei mir gewesen, hast mich geliebt. Und obwohl wir uns auf Diskretion geeinigt hatten, drängte alles in mir, dir zu sagen, du sollst sofort zu mir zurückkommen. Du hast mich schwach gemacht, wie noch kein Mann zuvor. Und weißt du, es ist mir egal, was andere denken, die Konsequenzen sind mir einerlei. Ich möchte nie wieder alleine in meinem einsamen Bett aufwachen. Nie wieder, Fox. Komm zu mir zurück, ich liebe dich.“

Gefühle, Gedanken und Emotionen, in Worten nicht beschreibbar, schossen durch Carols Geist hindurch, wurden gierig von Fox Mulder absorbiert, spendeten eine lebensrettende Kraft. Diese Zuversicht strahlte in einem warmen und einladenden Flutlicht, welches den Komatösen beschützend durch die Dunkelheit führte. All die verzerrten Schatten, die drohend und furchteinflößend nach dem Mann greifen wollten, wurden vom Licht vertrieben, zurück in die alles umgebende Schwärze gedrängt. Vorerst zaghaft, dann bestimmter und schließlich immer schneller werdend, eilte sein Geist der Helligkeit entgegen, folgte der süßen Verlockung, der er blind Vertrauen schenkte. Bei jedem Millimeter, den er zurücklegte, wurde ihm leichter zumute, jeder Schritt wurde einfacher. Zunehmend blendete ihn das weiße Licht, wurde immer intensiver, während er sich darin verlor. Wusste er doch, dass Dana Scully dahinter auf ihn warten würde. Immer lauter und deutlicher hörte Carol den Verletzten in ihrem Innersten. Sie spürte, wie die Blockaden, die ihn von den Wachen getrennt hatten, eingerissen, dem Erdboden gleich gemacht wurden. Sein Geist war frei.

Die Wucht dieses Einsturzes, Danas Verzweiflung und die Anstrengung, die ihr zunehmend die Lebensgeister zu entziehen schien, pressten die zierliche alte Frau fest in den Sessel. Kalkweiße Hände krallten sich kraftsuchend in die Laken, konnten jedoch keinen Halt finden. Ihre angestrengt aufgerissenen Augen starrten ins Leere, nahmen nichts von ihrer Umgebung auf. Alles verschwamm vor ihren Augen, der Tumult tief in ihrem Innersten wurde überwältigend, füllte jede Faser ihres Daseins besitzergreifend aus. Mit der letzten Kraft, die sie mobilisieren konnte, kappte sie die geistige Verbindung zu dem Paar, ihre eigene Rettung vor Augen. Schlagartig starben die Emotionswellen ab, strömten aus ihr hinaus, hinterließen nur Chaos und eine nicht zu definierende Leere. Ihr Leib sank in sich zusammen, die Lider klappten erschöpft zu. Das Aufschlagen ihrer Augen schien unmöglich, jeder Muskel ihres Körpers schien bewegungsunfähig zu sein.

„So ein Schlag auf den Kopf kann deinem Dickschädel doch nicht ernsthaft schaden. Ich glaube... oh mein Gott!“, riss Scully die Erschöpfte aus ihrer Lethargie. Mühsam brachte sie ihre Sinne beisammen, konzentrierte sich auf die rothaarige Frau.
„Seine Lider flackern“, stellte Dana mit einem Enthusiasmus fest, der Carol ein leichtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Ja, es wurde aber auch Zeit. Mühsam blinzelte sie, zwang ihren Körper zur Kooperation. Sie beobachtete, wie Scully mit nicht ganz ruhigen Fingern über das Gesicht ihres Partners fuhr, als wolle sie ihn damit ermutigen, endlich seine Augen aufzuschlagen. Als Fox Mulders noch immer in Danas verflochtene Hand sich minimal bewegte, gab es keine Zweifel mehr. Er war aus seinem Koma erwacht.

Was nun geschah, nahm Carol nur noch schemenhaft wahr. Die von Scully herbeigerufenen Pfleger und der behandelnde Arzt eilten in den Raum, überprüften augenblicklich die Vitalfunktionen des Patienten. Sie selbst und die Agentin wurden gebeten, draußen zu warten, mit dem Versprechen, schnellstmöglich über Mulders Zustand informiert zu werden. Scully, die sofort Protest einlegte und auf ihre Anwesenheit als Mulders behandelnde Ärztin bestand, sträubte sich und zog letztendlich sogar ihre Dienstmarke. Carol, die wusste, dass ihre Arbeit hier getan war, und die sich nach ihrem Bett und Ruhe sehnte, erhob sich langsam und schwerfällig aus ihrem Stuhl. Auf wackligen Beinen versuchte sie, sich auszubalancieren, Kraft zu finden, um ein Bein vor das andere zu setzen. Schliere zogen vor ihre Augen, trübten ihre Wahrnehmung und ließen den Raum vor ihren Augen verschwimmen. Dann gaben ihre kraftlosen Beine nach, ließen die erschöpfte Frau in sich zusammensinken. Eine wohltuende Schwärze erfasste ihren Leib, umhüllte sie sanft mit der Versprechung, endlich Ruhe zu finden. Die kräftigen Arme eines der Pfleger, der ihren Fall bremste, und eine besorgt zu ihrer Seite eilende Dr. Scully bemerkte sie bereits nicht mehr.
„Carol!“
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