World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Closer

von Lila

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„Loslassen zu dürfen in dem Vertrauen, dass man aufgefangen wird“, hieß es in einer Zeitungskolumne, die Scully beiläufig in ihrer Küche mit einem Kaffee in der rechten und dem Magazin in der linken Hand las. Sie war kurz davor, sich auf den Weg zur Arbeit zu machen und konnte sich gerade noch genug Zeit nehmen, ihren Bagel im Stehen zu essen.



Missbilligend warf sie die Zeitschrift bei Seite.



„So ein Unsinn“, murmelte sie bitter, griff sich ihre lederne Aktentasche und verschwand aus der Wohnung.





Die Straßen von Washington D. C. waren an diesem Morgen wie eigentlich jeden Morgen unzumutbar, doch beinahe wohlwollend drehte Scully das Radio lauter und fügte sich in den Stau ein. Auf diese Weise würde ihr mehr Zeit bleiben, darüber nachzudenken, wie wenig Lust sie hatte, an diesem Tag ins Büro zu fahren.



Jemand, von dem sie dachte, dass sie ihn über alle Maßen gut kannte, benahm sich immer befremdlicher. Die abweisenden, reservierten Züge seines Charakters war sie ja durchaus gewohnt, aber zumindest hatte sie früher immer gewusst, woher diese Launen rührten. Mulders Benehmen in den letzten paar Tagen barg jedoch Rätsel.



Nervös klopfte sie aufs Lenkrad. Sie machte das Radio noch ein wenig lauter. Es hieß: „Everywhere you go, you always take the weather with you.” Und dann begann es zu regnen.





Sie konnte ja nicht ahnen, dass sie ein leeres Büro vorfinden würde, sie konnte ja nicht ahnen, dass Mulder auf seinem Mobiltelefon unerreichbar bleiben würde und sie Stunden später gezwungen war, Skinner, vorbei an seiner Sekretärin, in seinem Büro aufzusuchen, um zu erfahren, was überhaupt los wäre.



„Sir, wissen Sie, wo Mulder ist?“, fragte sie also ihren Vorgesetzten, der ein so guter Freund geworden war.



Und A. D. Skinner stand umgehend von seinem Schreibtisch auf und ging zu ihr. Er wusste nicht genau, warum er dies in letzter Zeit pflegte zu tun, wann immer sie den Raum betrat und dabei so ratlos aussah. Es musste das Bedürfnis sein, sie beschützen zu wollen, sobald sie zu scheitern drohte.



„Mulder hat sich ein paar Tage Urlaub genommen“, gab er dann zur Erklärung.



Und Scully schaute ihn fragend an.



„Warum das?“



„Ich kann Ihnen darüber nichts sagen, Dana“, beharrte er mit ruhiger Stimme, doch Scully ließ sich nicht einfach abfertigen, und das wusste er.



„Ich bin seine Partnerin! Wieso darf ich darüber nichts wissen?“



„Weil es Sie persönlich betrifft!"



Betreten blickte Skinner zur Seite. Wie er es immer tat, wenn er mehr Preis gegeben hatte als er wollte.



„Was soll das heißen, es betrifft mich persönlich?“, verlangte sie vehement zu wissen.



Doch Skinner gewann seine Forschheit zurück.



„Das fragen Sie am besten Agent Mulder!“, sagte er und schaute seiner Agentin fest in die Augen. Verdammt, sie konnten nicht alles mit ihm machen!



„Und wo befindet sich Agent Mulder?“, fühlte sie sich daraufhin veranlasst zu fragen, und die Antwort war: New York.





Stunden um Stunden ging Scully im Büro auf und ab. Es war der dritte Tag in Mulders Abwesenheit und es eröffnete sich ihr rein gar nichts, dass sie weiterbringen würde. Stattdessen schossen Wortfetzen um Wortfetzen der letzten Tage durch ihren Kopf.



„Dana“, so hatte es noch zuvor geheißen, als er überarbeitet auf ihrer Couch lag und über das Leben lamentierte.



„Ich frage mich manchmal, ob wir nicht einfach alles über Bord werfen sollten. Nichts habe ich mir aufbauen können. Ich werde älter, Dana. Wenigstens die Chance etwas Privates aufzubauen sollte ich nutzen.“



„Basketball! Wir sollten zu mehr Basketballspielen gehen! Ja, das sollten wir definitiv“, murmelte er schlaftrunken weiter, während er die Augen schloss und einen tiefen Atemzug nahm.





Versonnen blickte sie zur Tür hinaus. Sie saß auf dem Schreibtisch, eine Akte leblos in ihrer Hand. Sie würde lügen, wenn sie nicht heimlich erwartet hätte, wie er bald zu ihr kommen würde und sich für sie entscheiden würde. Sie würde lügen, wenn sie behaupten würde, dass die Kleidung, die sie am Körper trug, nicht mit der Absicht – wenn auch unbewusst – gekauft wurde, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie war naiv gewesen zu hoffen. Sie war ein Narr, sich in seiner Nähe weiblich zu fühlen. Es schien, als müsste sie nur funktionieren, das war alles.





Mit einem roten Regenschirm in ihrem festen Griff kämpfte sie auf der Hauptstraße ganz in der Nähe des J. Edgar Hoover Gebäudes gegen den Sturm an. Verdammt, sie fühlte sich wie in einem Song von Van Morrison!



Nur mit Mühe erreichte sie den kleinen Zigarrenladen an der Ecke, indem sich nur der hemdsärmelige Verkäufer in Unterhemd befand sowie ein Russe, der sie stark an einen Zigeuner erinnerte – ebenfalls in Unterhemd.



Scully schüttelte den Regen von ihrem geschlossenen Schirm zur Tür hinaus und lächelte sie verlegen an. Dann ging sie zum Ladentisch, um ein Päckchen Zigaretten zu verlangen, wobei sie nicht umhin kam, den stetigen Blick des Zigeuners zu bemerken. Sie spürte ihn geradezu im Nacken sitzen!



„Sie schöne Frau“, sagte er dann, als sie gerade auf dem Weg nach draußen war, und lachte sie mit seinen schrecklich gelben Tabakzähnen an. Scully bedankte sich und verließ noch viel dankbarer das Geschäft.



In der Tür des Kiosks, den Regenschirmgriff um ihren Arm gehängt, blieb sie stehen, steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch hinaus in den Regen. Was sollte das heißen, Mulder war in New York?



Nervös nahm sie den nächsten Zug, dann noch einen und schließlich schaute sie ihre Zigarette nur noch fragend an, ehe sie sie hinaus in den Regen warf. Was sollte das heißen, New York würde sie persönlich betreffen?



Gegenüber, auf der anderen Seite der Straße blieb ihr Blick an einer Gestalt hängen, die durchnässt und mit einer Tageszeitung, die sie sich in einem verzweifelten Versuch über den Kopf hielt, hektisch geradeaus rannte. Diese Gestalt trug dieselben Jeans und dasselbe graue T-Shirt wie jemand, der noch vor kurzem auf ihrer Couch gelegen hatte. Es war Mulder.



Den roten Schirm nicht einmal geöffnet und ungeachtet der Hupen, die da erklangen, rannte sie umgehend direkt über die Straße. Ihr nunmehr durchnässter Bleistiftrock machte es ihr schwer vorwärts zukommen, kaum sah sie etwas gegen den prasselnden Regen und nachdem sie kläglich in ihren High-Heels umgeknickt war, konnte sie nur noch feststellen, dass sie ihn aus den Augen verloren hatte.



„So ein Mist“, fluchte sie. Und blieb ratlos im Regen stehen.





Alles, was ihr übrig blieb, war zum FBI zurückzukehren, wo sie ihn im Übrigen vermutete. Und so betrat sie das noch leere Büro, zog ihren durchnässten Mantel aus und beschloss zu warten.



„Warst du erfolgreich?“, fragte sie ihn schließlich bitter, als er reuevoll den Raum betrat.



„Dana“, sagte er jedoch nur.



„Ich fürchte, das wird nicht reichen“, sprach sie gefasst. „Ich will wissen, was los ist.“



Es fiel ihr schwer, ihm in die Augen schauen.



„Ich wünschte, du würdest es nicht wollen“, erwiderte Mulder schließlich erschöpft und legte die Akte ab, die er in den Händen gehalten hatte.



“Ich war in New York, an der Columbia”, begann er schwerfällig zu erklären.



„Dort kenne ich einen Arzt, den ich gebeten hatte, sich etwas anzuschauen.“



„Sich was anzuschauen?“, unterbrach sie ihn ungeduldig.



„Damals als du wegen des Krebses in Behandlung warst, habe ich während meiner Untersuchungen Ovarien gefunden, die dir während deiner Entführung entnommen wurden.“



Scully konnte nichts mehr sagen. Sie blickte ihn fassungslos an.



„Dana, ich war an der Columbia, um diese Ovarien untersuchen zu lassen.“



„Und was ist dabei ’rausgekommen?“, fragte sie vorsichtig.



Mulder senkte seinen Blick.



„Das Ergebnis war negativ“, flüsterte er.



Stille Tränen schossen ihr in die Augen. So viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, dass sie keinen davon fassen konnte. Geduldig wartete Mulder, dass sie nur irgendetwas sagen würde.



„Und warum durfte ich von alle dem nichts wissen? Warum musstest du mir all das vorenthalten?“



„Ich wollte dich nur vor einer weiteren Enttäuschung bewahren“, sagte er betreten und sie nickte. Nicht weil sie verstand, sondern weil sie es nicht begreifen konnte.



„Das zu entscheiden liegt aber nun einmal bei mir“, sagte sie dann trocken und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen.



„Ich wünschte, du hättest Vertrauen genug zu mir gehabt, mich daran Teil lassen zu haben, und meines nicht auf die Probe gestellt! Ich hätte nicht gedacht, dass noch mal irgendetwas zwischen uns kommen könnte. Ausgerechnet jetzt!“, sagte sie und ließ ihn stehen.





Und so waren sie wieder allein

Sie wünschte, es wäre vorbei

Aber das mit ihnen beiden schien nicht dazu bestimmt, ein Ende zu nehmen

Er sollte ihr näher kommen

Nur bis zu dem Punkt, an dem sie es nicht mehr ertragen konnte



Die Regenwolken in ihren Augen

Brachen über ihr Gesicht



Dass sie weinte, war alles, was es brauchte





Eines Abends ging er ganz in der Nähe des Ortes, an dem sie wohnte, die Straßen entlang. Es hatte noch immer nicht aufgehört zu regnen.



Er kam an einem thailändischen Schnellrestaurant vorbei, aus dem es warm in die Dunkelheit schien. Die Kellnerin sah beschäftigt aus, aber zufrieden. Sie bediente ein Pärchen, das an einem Tisch in der Mitte des Raumes saß, und das neben den wenigen anderen Gästen am hellsten strahlte. Sie lächelte ihn, der mit dem Rücken zu Mulder saß, an und er nahm ihre Hand. Heute Abend gaben sie sich mit wenig zufrieden, hatten jedoch alles.



Mulder griff in die Tasche seiner Lederjacke und holte zwei Karten für ein Basketballspiel heraus. Was machte er hier eigentlich für eine Scheiße?, fragte er sich und blickte zu Scullys Fenster hinauf, vor dem er nunmehr stand.





In ihrem Wohnzimmer war Scully vertieft in die Zeitschrift vom Vormittag. Sie hörte nicht einmal mehr den Regen gegen die Fensterscheiben klopfen.



„Darauf vertrauen, dass dein Partner dich auffängt“, murmelte sie aus der Kolumne heraus.



Nebenher ließ sie CNN stumm geschaltet im Fernsehen laufen, die Newsbalken zogen unbeachtet an ihr vorbei. Aber was sollte sie auch mit den verdammten Basketballergebnissen anfangen?



Genervt ließ Scully das Magazin vor sich auf den Tisch fallen. Was machte sie hier eigentlich für einen Mist?, fragte sie sich, als es plötzlich an der Tür klopfte.



Erschrocken blickte sie Mulder in die Augen. Beim Öffnen der Tür hatte sie gehofft, dass er nicht davor stünde, sich gleichzeitig aber nichts anderes vorstellen können.



Sie sah etwas Anderes in seinen Augen. Etwas Entschlossenes. Etwas, das ihr Halt geben konnte – obwohl er sehr verzweifelt wirkte, wie er da so durchnässt herumstand. Nichts konnte er ihr mehr bieten, aber dennoch stand er da. Und er war noch immer so unglaublich gut anzuschauen!



„Dana“, flüsterte er entkräftet. Jetzt war kein Augenblick für Worte. Er hatte sein Herz vor ihr hingelegt und wenn sie wollte, konnte sie es nun in den Boden stampfen. Aber sie tat es nicht. Stattdessen sah er etwas Warmes in ihren Augen. Etwas, das ihn veranlasste auf sie zuzugehen und sie einfach zu küssen.



Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie nach diesem Kuss verlangt hatte und um so sehnsuchtsvoller erwiderte sie ihn nun – so sehr, dass sie darin zu ertrinken drohte.





Zufrieden lag er neben ihr und streichelte ihre Hand.



Scully erinnerte sich, wie sie einmal jemandem, den sie für Mulder gehalten hatte, nebenan auf der Couch bei einem Glas Rotwein von jemandem erzählt hatte, den sie einmal für die Liebe ihres Lebens gehalten hatte. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt!



Aber trotz allem war dies ein Abend gewesen, an dem sich in ihr etwas öffnete. Es offenbarte sich ihr die Möglichkeit, etwas für Agent Mulder empfinden zu können – jemandem, der Abend für Abend allein auf seiner Couch einschlief, der mit den Jahren immer zynischer wurde und der jederzeit für sie zu sterben bereit war.



„Es ist schon komisch“, sagte er. „Anscheinend ist es uns bestimmt, dass wir hier zusammen liegen.“ Er dachte kurz nach. „Jedenfalls fühlt es sich so an.“



„Vielleicht waren wir auch einfach nur einsam“, gab Scully zu Bedenken und flüsterte ehrfürchtig: „Und der andere so nahe.“



Er lächelte erstaunt, glaubte nicht wirklich, dass etwas so Großes etwas so Einfachem zugrunde liegen konnte. Doch tatsächlich war es gar nicht so wichtig. Wichtig war, dass, wo sie doch schon so lange miteinander verbunden gewesen waren, sie sich näher gekommen waren – und es hatte sich auf eine Art zugespitzt, dass einem letztlich nur übrig blieb mit einer Inbrunst, dass man es kaum glauben konnte, zu sagen: Endlich!





Im Morgengrau stand Scully auf und zog die beigefarbene Decke mit sich, um ihren Körper zu bedecken. Sie ging zum Fenster und zog die Gardinen bei Seite.



„Es hat aufgehört zu regnen“, erwähnte sie mit schläfriger Stimme und schaute gedankenverloren auf die nasse Strasse.



Sie lächelte Mulder an, der nun neben ihr stand, und ließ sich küssen. Endlich durfte sie schwach sein und sich gehen lassen. Sie tat es ja in seinen Armen!



Und so ließ sie die Decke zu Boden gleiten und sich aufs Bett sinken. Sie war bereit loszulassen.





Die darauf folgenden Tage waren wie Scullys Schlafzimmer, ein Traum in Beige. Hin und wieder fuhren sie gemeinsam zur Arbeit und im Parkhaus ergriff er dann verstohlen ihre Hand, die er für einen kurzen Augenblick hielt, ehe sie das Gebäude betraten.



Arbeitsstunden vergingen. Am Abend hatten sie wieder zueinander gefunden. Abend für Abend begehrten sie einander. Sie mussten tun, was sie sich Jahre nicht erlaubt hatten.



Kaum in ihrer Wohnung, stemmte er sie gegen die Wand, ihre Beine um ihn geschlungen, die Bluse geöffnet, ihre Finger unter seinem aufgefetzten Hemd fest in seinen Rücken gekrallt. Das war alles, was sie in diesem Augenblick wollte. Das war alles, was sie in diesem Augenblick brauchte. Abend für Abend.





Und es war eines versonnenen Tages, da verließ sie seine Wohnung und hielt vor seiner Haustür inne. Dort steckte sie sich eine Zigarette an und stöckelte in einen Singsang-Schritt der Leichtigkeit über die Straße zum Bagelshop. Die Sonnenstrahlen glitzerten ihr aus vereinzelten Pfützen entgegen. Und es waren Tage wie dieser, da fühlte sie sich wie in einem Song von Van Morrison.





Epilog



Agent Doggett barg ein Geheimnis in sich. Nur wer genau hinschaute, konnte erkennen, dass er etwas in ihrer Nähe empfand, das zur Hoffnungslosigkeit verdammt war. Er war da, um sie zu beschützen, während Mulder verschwunden blieb. Und dankbar ließ sie ihn in den Kreis ihrer engsten Vertrauten, der Menschen, die ihr wichtig waren, und konnte ihm nichts bieten als eine einzige Umarmung. Doch er gab sich mit wenig zufrieden, bekam er doch gleichzeitig alles von ihr, das er bekommen konnte.



„Er ist die Liebe meines Lebens“, hatte sie ihm einmal in einem verzweifelten Moment gesagt. Doggett hätte nie gedacht, dass er sie einmal etwas derartig Banales sagen hören würde. Für ihn war sie diese unnahbare, großartige Frau, die immer mit soviel wissenschaftlicher Stärke präsent war, dass es schwer war zu glauben, dass sie tief in sich drin etwas Zerbrechliches tragen könnte. Erst war es allein ihr Herz gewesen. Und schließlich war es Mulders Baby.



Er musste sie gehen lassen, er musste sie zu ihm gehen lassen, der alles hatte, was er nie haben konnte.





Ende
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