World of X

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New Year's Eve

von Lhutien

Kapitel 2

*


Omni Shoreham, 22.30 Uhr



Gesättigt lehnte Scully sich zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

Das Essen war wirklich vorzüglich gewesen, und obwohl alle Teller leer waren hing noch immer der Duft von Gebratenem in der Luft und vermischte sich mit dem Aroma der frischen Tannenzweige, die alles dekorierten. Beinahe hätte Scully sich gefühlt wie als Kind an Weihnachten, wären da nicht die vielen lachenden und schwatzenden Stimmen gewesen, die den Raum erfüllten. Allen voran hörte sie Mulder, der neben ihr den Tischnachbarn zu seiner linken Seite in eine Diskussion über außerirdisches Leben verwickelt hatte – worüber eben jener Tischnachbar alles andere als glücklich zu sein schien. Skinner auf der anderen Seite fachsimpelte gerade mit einer jungen Dame zu seiner Rechten darüber, dass für diese Nacht ein Schneesturm angekündigt war, von dem man glücklicherweise bisher noch nichts merkte.

Scully lehnte ihren Kopf in den Nacken und beobachtete einen Moment lang die hellen Lichtreflexe des Kerzenscheins über die hohe Decke huschen.

Bis jetzt war es wirklich ein sehr schöner Abend gewesen, von der langen und eher langweiligen Rede des Direktors einmal abgesehen. Dennoch waren die letzten Stunden schnell umgegangen, sie hatte sich mit dem einen oder anderen Kollegen unterhalten – allem voran Mulder und Skinner -, und Scully war überrascht, wie spät es schon war als sie auf die Uhr blickte.

Sie fühlte sich rundum wohl, doch das gute Essen und das Glas Rotwein taten das ihre, und so unterdrückte sie ein verhaltenes Gähnen. Sie musste noch mindestens zwei Stunden durchhalten, wahrscheinlich aber länger. Sicher hatten manche ein Zimmer im Hotel gemietet, um nachts nicht mehr nach Hause fahren zu müssen – sicher keine schlechte Idee. Aber die beste Idee nutzte einem gar nichts, wenn man sie erst zu spät hatte, dachte Scully seufzend.

Ihr Blick fiel durch eines der hohen Fenster nach draußen, wo der Schnee sich hell in der Dunkelheit abzeichnete und die Schneeflocken ausgelassen durch die Nacht tanzten. In der Ferne leuchtete majestätisch das Washington Monument, von gigantischen Scheinwerfern angestrahlt.

Scully versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was in der nächsten halben Stunde für Programm geplant war. Das vom FBI gesponserte Neujahrskonzert sollte ihnen vorgestellt werden mit anschließender Möglichkeit, Karten zu kaufen. Also nichts, was sie nicht verantworten könnte zu verpassen.

Langsam formte sich ein Gedanke in ihrem Kopf – sie könnte sich vor dem Hotel doch ein wenig die Beine vertreten, denn in der kalten Winterluft würde sie sicher wieder munter werden. Warum eigentlich nicht?

Als Mulder bemerkte, dass sie Anstalten machte aufzustehen, wandte er sich abrupt mitten im Satz von seinem Gesprächspartner ab, der darüber äußerst erleichtert schien.

„Wollen Sie gehen, oder müssen Sie nur mal für kleine Königstiger?“

Scully konnte sich nicht helfen und rollte mit den Augen. Königstiger! Hatte er schon wieder Sekt getrunken?

„So etwas fragt man nicht, das sollten Sie eigentlich wissen, Mulder.“, entgegnete Scully beim Aufstehen. „Aber: Nein, ich muss nicht für kleine Königstiger. Ich wollte mir ein wenig an der frischen Luft die Beine vertreten. Wenigstens für ein paar Minuten.“

„Soll ich Sie begleiten?", fragte Mulder erhob sich bereits.

Dankbar nickte Scully. „Gerne, warum nicht! Dann können wir ja ein wenig im Park spazieren gehen – alleine würde ich das im Dunkeln nicht tun.“

Mulder grinste. „Angst vor wilden Männern?“

„Wilden Tieren...“, korrigierte Scully und lachte.



*



Rock Creek Park/Omni Shoreham, 22.45 Uhr



Als sie in die schneidend kalte Winterluft hinaus traten, bereute Scully ihren Entschluss bereits wieder. Ihre Zehen waren nach zwei Sekunden zu Eis erstarrt und die eisige Luft brannte sich tief in ihre Lungen.

Vor dem Haus herrschte nahezu Totenstille und sie beiden waren die einzigen Seelen, die sich zu dieser Stunde noch hinaus wagten. Langsam folgten Sie in stillschweigendem Einverständnis einem Kiesweg, der zu ihrer linken Seite vom Hotel weg in Richtung des winterlich verschneiten Nadelwalds führte. Knackend brach der gefrorene Schnee unter ihren Füßen und hallte leise in der Dunkelheit wider.

Als die Stille begann drückend zu werden, brach Mulder sie.

„Wie gefällt Ihnen denn die Feier? Ist doch nett, oder?“

Scully legte abwägend den Kopf schief. „Im Prinzip schon. Da hat sich jemand viel Mühe gegeben. Aber es ist doch immer das gleiche bei solchen Feiern, finden Sie nicht?“

„Was meinen Sie?“, fragte Mulder.

Scully lachte trocken. „Na das Gerede. Und jetzt fragen Sie mich bitte nicht, worüber... Sie. Mich. Uns beide...“

Mulder schwieg einen Moment. „Meinen Sie wirklich?“

Scully schüttelte resigniert den Kopf – manche Menschen schienen mit Blindheit geschlagen zu sein. Wobei diese Blindheit manchmal auch ein Segen sein konnte, das musste sie zugeben...

„Bemerken Sie nicht, wie die sich hinter unserem Rücken den Mund über uns zerreißen? Ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, dass die meisten überzeugt sind, dass wir nur zusammen rausgegangen sind, um ungestört rumzuknutschen.“

Wieder war es einen Moment still, bevor Mulder antwortete:

„Und wäre das so schlimm für Sie?“

Scully blieb stehen und blickte ihn sprachlos an. „Was?“

Das Licht der spärlichen Leuchten kam nicht gegen die Dunkelheit an, und so konnte sie seinen Gesichtsausdruck weder erkennen, noch deuten. Irritiert wartete sie auf eine Antwort.

Mulder räusperte sich. „Na ja... also... wenn die anderen das – öhm – wirklich denken würden, meine ich. ... Was dachten Sie?“ Er schien sich unwohl zu fühlen und trat unruhig auf der Stelle.

Scully blieb ihm die Antwort schuldig, sondern sah ihn kritisch und alles andere als überzeugt an. Dennoch entgegnete sie: „Ach so.“

Dann setzte sie sich wieder in Bewegung.

Beide schwiegen.

Wind kam auf und zerzauste ihre Haare, doch Scully bemerkte es nicht einmal. Gedankenversunken stapfte sie neben Mulder durch den Wald, wo nur hie und da eine vereinzelte Laterne den Weg wies. Hatte Mulder wirklich nur das gemeint? Es hatte sich ganz anders angehört...

Stirnrunzelnd blickte sie auf den Weg vor ihr, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Konnte es sein, dass Mulder etwas für sie empfand?

Im nächsten Moment schalt sie sich selbst eine Närrin. Mulder? Niemals. Und trotzdem...

Sie versuchte, ihn in der Dunkelheit zu mustern. Doch eigentlich war er wenig mehr als ein schwarzer Schemen. Auf seinen Haaren und Schultern hatte sich eine immer dicker werdende Schneedecke gebildet, doch er machte sich nicht die Mühe, sie abzuschütteln. Scully versuchte sein Schweigen zu deuten. War er verlegen? Hatte sie ihn irgendwie gekränkt?

Der Gedanke an seine Bemerkung ließ sie nicht mehr los. Sie hatte sich immer gefragt, warum alle dachten, sie und Mulder seien ein Paar. Vielleicht lag es auf der Hand, war es für andere offensichtlich durch der Art wie sie mit einander umgingen, redeten und lachten, und sie hatte es nur nie gesehen, weil es für sie selbstverständlich war?

Sie versuchte sich vorzustellen, was wäre, wenn sie versetzt würde, vielleicht weil ihre Vorgesetzten es nicht länger für notwendig hielten, sie den X-Akten zuzuteilen. Sie könnte aus Washington weg versetzt werden und wieder als Medizinerin tätig sein.

Es misslang ihr. Sie konnte es sich nicht vorstellen. In den letzten Jahren waren die X-Akten, so sehr sie sie am Anfang gehasst hatte, doch irgendwie ihre Heimat geworden. Doch wenn sie ehrlich war - wenigstens zu sich selbst, wenn schon zu niemand anderem - so wären die X-Akten nicht das eigentliche, was sie vermissen würde.

Es wäre Fox Mulder. Niemand anders.

Seine braun-grünen Augen würden ihr fehlen, die sie so gerne spöttisch anblitzten. Die Art wie er lächelte und sie immer wieder zum Lachen bringen konnte, auch wenn sie eigentlich nichts zu lachen hatte. Er hatte ihr immer wieder die Kraft gegeben, durchzuhalten. Mehr noch als ihre Mutter oder ihr Glaube. Wenn sie zurückblickte auf ihre Entführung, auf ihre Krebserkrankung – immer war er es gewesen, der ihr den Mut gegeben hatte, sich nicht vor dem nächsten Tag zu fürchten, sondern einfach weiterzumachen und zu kämpfen. Er war immer für sie da gewesen, und er war es immer noch. Ohne dass er es ihr hätte sagen müssen wusste sie, dass sie ihn jederzeit anrufen konnte, wenn sie ihn brauchte oder einfach nur das Bedürfnis hatte, zu reden. Und nicht zuletzt hatte er ihr mehr als einmal das Leben gerettet.

Hatte sie sich jemals dafür bedankt, also richtig bedankt?

Sie biss sich auf die Unterlippe und ließ ihre Gedanken einfach laufen. Es war erstaunlich, was er mit einer einfachen Frage in ihr in Bewegung gesetzt hatte...



So liefen sie schweigend, beide in Gedanken versunken, eine ganze Weile einfach weiter, ohne darauf zu achten, wohin. Immer nur dem Weg nach, der sich in Biegungen zwischen den großen, dichten Tannen entlang wand und immer wieder gabelte. Der Wind war stärker geworden und trieb den Schnee in Böen über den Boden, so dass sie mittlerweile bei jedem Schritt mit den Füßen in den Schneewehen versanken.

Es war eiskalt, doch das war Scully egal.

Ihre Gedanken kreisten wieder und wieder immer weiter um die eine Frage: Hatte sie sich jemals für all das bedankt, was er für sie getan hatte?

Seufzend schüttelte sie ungesehen den Kopf. Eigentlich nicht. Warum, war ihr nicht klar. Sie konnte es nicht für selbstverständlich gehalten haben, und dennoch hatte sie geschwiegen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, es nachzuholen bevor es zu spät sein konnte. Dies war vielleicht nicht der richtige Moment, und bestimmt nicht der richtige Ort, aber was war der richtige Moment?

„Mulder, ich...“ Sie brach ab. Warum war es so schwer?

„Ja, Scully?“ Seine Stimme übertönte den Wind und allein ihr Klang hätte Scully wieder verstummen lassen. Sie fühlte sich schwach und hilflos, nicht weil er anders als sonst geklungen hätte, sondern einfach deshalb, weil er er war.

Wieder öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss ihn wieder, ohne einen Laut über die Lippen gebracht zu haben.

Sie holte tief Luft.

„Ich möchte mich...“ Sie kam nicht dazu, den Satz zu ende zu führen.

Gerade, als sie einen Anfang gefunden hatte, wurde es plötzlich stockfinster. Alle Lampen waren mit einem Schlag ausgefallen.

Ängstlich sah sie mit blinden, weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit.

„Mulder? Mulder, wo sind Sie?“

Tastend streckte sie die Arme aus. Noch nie hatte sie sich so alleine gefühlt. Was, wenn er weg war? Und sie ganz alleine? Und was, wenn...

Sie fühlte, wie jemand nach ihrem Arm griff und ihre Hand drückte.

„Ich bin hier, keine Sorge.“

Erleichtert atmete Scully auf und war gleichzeitig froh, dass er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie verängstigt sie war. Seine Hand hielt sie umklammert, wie ein Ertrinkender den Rettungsring.

„Was – was ist passiert?“, stammelte sie und ärgerte sich darüber, wie dünn ihre Stimme klang. Eine toughe Frau wie sie!

Mulder klang fast ein wenig schuldbewusst, als er ihr antwortete.

„Ich habe da so eine Ahnung, Scully. Ich meine mich ganz dunkel zu erinnern, einen Aushang in der Halle gesehen zu haben, auf dem stand, dass um 23.00 Uhr die Beleuchtungsanlagen in der Umgebung ausgeschaltet werden, damit das Feuerwerk besser wirken kann... Verdammt, ich hätte mich daran erinnern müssen!“

Scully hörte am Tonfall seiner Stimme, dass er mit sich haderte und drückte seine Hand.

„Seien Sie nicht so streng mit sich, ich hätte den Aushang ja auch sehen können.“

Die Hauptsache ist, dass Sie bei mir sind und ich nicht alleine bin, fügte Scully in Gedanken hinzu.



Der Wind schien seit der plötzlichen Finsternis noch an Stärke zugenommen zu haben. Ihre Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, doch gleichsam war das Schneetreiben dichter geworden.

Scully konnte Mulders Gestalt nun direkt vor ihr ausmachen. Der Versuch, ihre Umgebung auszumachen scheiterte jedoch, denn ihre Sicht reichte kaum einen Meter weit.

Der Sturm heulte mittlerweile um ihre Köpfe und allmählich wurde Scully der Ernst ihrer Lage bewusst. In welcher Richtung lag das Hotel? Wie lange und wie weit waren sie überhaupt gelaufen?

Umso dankbarer war sie, dass Mulder die Dinge in die Hand nahm.

„Ich fürchte, das ist der angekündigte Schneesturm, Scully!“, schrie er und dennoch konnte sie ihn im Toben um sie herum kaum verstehen. Er lehnte sich zu ihr und rief ihr ins Ohr:

„Wir müssen versuchen, den Weg zurück zum Hotel zu finden!“

„Wissen Sie denn, in welche Richtung? Ich kann nicht einmal mehr den Weg sehen!“, schrie Scully zurück.

Ratloses Schweigen machte sich breit.

„Ich glaube...“, rief Mulder und deutete in die Dunkelheit, „...wir müssen in diese Richtung!“

„Sind Sie sich sicher?“

Trotz der schlechten Sicht konnte sie sehen, wie er den Kopf schüttelte.

„Nein, aber haben Sie eine andere Idee?“

Scully wünschte, dem wäre so gewesen, aber sie hatte die Orientierung völlig verloren und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als Mulders Vorschlag zumindest auszuprobieren. Es konnte immerhin sein, dass er Recht hatte...

Tatsächlich stießen sie auf die Wegrandmarkierung und konnten ihr mit viel Mühe folgen. Doch an jeder Weggabelung, die sie erreichten, standen sie vor einem neuen Problem...

„Ich glaube, wir sind daher gekommen!“, rief Mulder zwischen zwei Böen und deutete nach rechts. Scully hingegen schüttelte den Kopf.

„Niemals! Ich bin mir ganz sicher, dass wir nirgendwo links abgebogen sind!“

Am Ende losten sie aus, welchen Weg sie einschlagen sollten, und folgten ihm dann.



Nach einer langen Zeit – es mochte eine Viertelstunde gewesen sein, vielleicht aber auch eine ganze Stunde, Scully hatte jedes Zeitgefühl in dieser Welt aus Schnee und Dunkelheit verloren – blieb Mulder stehen. Dankbar tat Scully es ihm nach.

„Ich kann keinen Schritt mehr gehen, ich fühle meine Füße nicht mehr...“, jammerte sie gegen den Sturm an. Überhaupt war ihr, als wäre ihr ganzer Körper zu Eis erstarrt. Jede einzelne Zelle schrie nach Wärme, so dass ihr in den letzten Minuten oft die Gedanken daran gekommen waren, ob sie erfrieren konnten. Es war mindestens 10 Grad minus, wenn nicht kälter. Sie trugen zwar Mäntel, doch ihre Beine und ihr Kopf waren nahezu ungeschützt der Kälte ausgesetzt. Nur gut, dass sie zumindest vor kurzem noch etwas gegessen hatten, aus dem der Körper Energie und damit Wärme gewinnen konnte, dachte die Medizinerin in ihr.

Sie hielt noch immer Mulders Hand umklammert, doch das Gefühl war vor langer Zeit aus ihren Fingern verschwunden. Dennoch versuchte sie, seine Hand zu drücken.

„Was sollen wir jetzt tun? Wir schaffen es nie mehr, das Hotel zu finden!“, rief sie verzweifelt. Sie wussten ja nicht einmal, ob sie überhaupt in die richtige Richtung gelaufen waren – vielleicht befanden sie sich nun noch tiefer im Wald als zuvor!

Sie trat dichter an Mulder heran, um dem tobenden Schneesturm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, und nahm dankbar an, dass Mulder einen Arm um sie legte.

„Wir hätten schon längst zurück sein müssen.“, bemerkte er, „Aber selbst wenn uns jemand vermisst – Skinner vielleicht -, so glaube ich trotzdem nicht, dass sie gleich einen Suchtrupp losschicken. Ich fürchte, wir müssen uns einen sturmgeschützten Unterschlupf suchen, zumindest bis das Schlimmste überstanden ist!“

Scully musste ihm Recht geben. Doch woher nehmen und nicht stehlen?

Vor Kälte zitternd drückte sie sich an ihn und betete, dass alles irgendwie noch gut ausgehen möge, und dass man nicht ihre erstarrten Körper nach ein paar Wochen unter einem Berg Schnee finden würde...

Sie hatte noch viel zu viel vor in ihrem Leben, sie war nicht vorbereitet darauf, zu sterben!

Mulder neben ihr bewegte sich und sprach in ihr Ohr

„Ich glaube, ich habe da vorhin vielleicht etwas gesehen, was uns als Unterschlupf dienen könnte. Warten Sie hier, bewegen Sie sich nicht von der Stelle – ich bin gleich wieder da!“

Und schon war er verschwunden.

Lähmende Angst durchflutete Scully. Ein kleiner, hartnäckiger Teil ihres Unterbewusstseins schrie unaufhörlich Du bist allein! Er kommt nicht wieder! Er wird dich nie wieder finden! Du bist ganz alleine!

Und so sehr sie sich bemühte, nicht darauf zu hören – es war kaum möglich.

Am Rande ihres Bewusstseins nahm sie wahr, wie ihre rechte Hand nach ihrem Hals griff und die Kette mit dem kleinen goldenen Kreuz ergriff und sie ein stummes Gebet sprach. Mit jeder Faser ihres Körpers betete sie dafür, dass Mulder wiederkam und dass sie diese Nacht irgendwie überleben würden.

„Bitte!“, murmelte sie, „Bitte!“



Mit jeder Sekunde, die verstrich, schwand ihre Hoffnung mehr. Er würde nicht wiederkommen. Vielleicht war ihm etwas zugestoßen, oder aber er hatte sich im Schneesturm verlaufen, und Scully wurde klar, was schlimmer war, als sich in einem Schneesturm zu verirren: Sich alleine in einem Schneesturm zu verirren.

Die Minuten verstrichen. Was sollte sie tun? Sie konnte unmöglich weggehen (nicht dass sie gewusst hätte wohin), er hatte sie schließlich angewiesen, hier zu warten – und er konnte immer noch kommen!

Als sie sich umsah bemerkte sie, dass ein Schatten links von ihr in der weiß-schwarzen Nacht auftauchte, der immer mehr an Kontur annahm.

Mit angehaltenem Atem starrte Scully in die Richtung – und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus als sie sah, dass es sich um niemand anderen als Mulder handelte. Für einen Moment hatte sie sich an die Geschichten über Ungeheuer aus ihrer Kindheit erinnert gefühlt – doch sie war schon zu alt, um noch an Monster zu glauben.

Mulder kam schnellen Schrittes auf sie zu und brachte seinen Mund neben ihr Ohr, um sich im Heulen des Windes besser verständlich machen zu können.

„Ich habe etwas gefunden, Scully! Es ist nicht sehr warm, aber dort sind wir wenigstens vor dem Sturm geschützt!“

Mit diesen Worten ergriff er ihre Hand und bevor sie etwas entgegnen konnte, zog er sie bereits durch das Unwetter hinter sich her.

Unsicher folgte sie ihm auf wackeligen Beinen, denn die Kälte hatte sich mittlerweile bis über beide Knie ausgebreitet. Wenn wenigstens der Sturm nicht die Eiskristalle in ihr Gesicht geschleudert hätte, wo sie wie tausend kleine Messerstiche auf ihre ungeschützte Haut trafen, schmolzen und sofort wieder zu Eis erstarrten...



Nach vielleicht 20 oder 30 Schritten konnte sie erkennen, dass sie auf den Wegrand und damit auf die Bäume zusteuerten, und von einem Moment auf den anderen fand sie sich vor einer mächtigen Tanne wieder, auf deren Ästen der Schnee schwer lastete.

„Und jetzt?“, schrie sie ohne zu wissen, ob Mulder sie hören konnte. Befand sich hinter der Tanne vielleicht ein Haus? Sofort malte sich Scully aus, wie schön es sein müsste, sich in einer kleinen Holzhütte an der Feuerstelle aufwärmen zu können...

Mulder gestikulierte wild und deutete immer wieder auf den Baum, doch Scully konnte kein Wort verstehen und zuckte nur hilflos mit den Schultern. Als Mulder sah, dass sie nicht verstand, was er ihr sagen wollte, stellte er sich hinter sie und schob sie kurzer Hand vorwärts. Direkt auf den Baum zu.

„Nein, nicht, halt, was machen Sie denn!“, rief sie und hob abwährend die Arme. „Sie schieben mich ja mitten in die Tanne!“

- Genau das tat er auch.

Im allerletzten Augenblick, bevor sie mit den schneebedeckten Ästen kollidierte, bremste er ab und zog einen breiten Zweig zur Seite, so dass ein Durchgang entstand. Geduckt taumelte Scully durch die Öffnung und wäre um ein Haar über eine dicke Wurzel gestolpert, weil sie überrascht nach oben blickte.

Sie befand sich nun direkt unter dem Astwerk der Tanne, und Mulder folgte ihr soeben. Als sie sich nach ihm umsah, schloss er die Öffnung gerade wieder.

Im nächsten Augenblick herrschte absolute Dunkelheit um sie herum. Mit dem Schließen des Durchgangs war auch das letzte Bisschen Helligkeit draußen geblieben, doch damit konnte Scully gut leben solange es auch bedeutete, dass auch der Schneesturm draußen bleiben musste.

Tatsächlich war die Dunkelheit hier drinnen für sie keine bedrohliche, im Gegenteil. Sie fühlte sich fast ein wenig geborgen. Die Luft roch nach Tannennadeln und erinnerte sie an weihnachtliche Tischgestecke.

„Scully?“, hörte sie Mulders Stimme irgendwo neben ihr, „Sind Sie noch da?“

Er musste sich nicht einmal anstrengen, laut zu sprechen – die dichten, schneebedeckten Äste dämpften das Heulen und Toben des Sturmes auf ein dumpfes Brummen.

„Ich bin hier!“, rief Scully und streckte ihre Arme in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Einen Moment später fanden sich ihre Hände und Mulder drückte sie.

„Ich weiß, es ist vielleicht nicht gerade komfortabel, aber immerhin schneit es nicht rein...“, scherzte er.

Scully lächelte. Sie hatte es selten erlebt, dass Mulder seinen Humor verlor – und sei es Galgenhumor. Dann widersprach sie ihm heftig:

„Nein, es ist wunderbar! Wirklich! Sie haben uns damit wahrscheinlich das Leben gerettet!“

„Ach was, es war reiner Zufall, dass ich die Tanne bemerkt habe...“

Scully konnte förmlich sehen, wie er sich unter dem Lob wand. Sie sah genau seinen verlegenen Gesichtsausdruck vor ihrem inneren Auge, dieses leicht schiefe Lächeln, die Augen zu Boden gesenkt.

Ich kenne ihn einfach zu gut, dachte sie sich und lächelte.

„Sie lächeln ja!“, bemerkte Mulder, und Scully hob verwundert den Kopf. Es war stockfinster, er konnte es einfach nicht sehen!

„Sie kennen mich einfach zu gut...“, murmelte sie leise.

Langsam begann sie, sich etwas besser zu fühlen. Was zum Teil daran lag, dass sie nun quasi ein Dach über dem Kopf hatten - vor allem aber daran, dass der Schneesturm sie nicht mehr beuteln konnte. Es war eine Wohltat, dem schneidenden Wind und denn messerspitzen Eiskristallen entkommen zu sein, das stand fest. Doch ihr Körper war immer noch weitgehend taub vor Kälte...

„Langsam wird es kritisch – wir können hier immer noch erfrieren!“, meinte sie, „Wir müssen uns irgendwie wärmen.“

Sie hörte Mulder glucksen und verdrehte die Augen.

„Woran Sie wohl wieder denken! Ich will es gar nicht wissen...“

Mulder kicherte immer noch und brachte entschuldigend hervor:

„Tut mir leid, aber die Situation erinnert mich an einen Film, den ich mal gesehen habe...“

Scully seufzte. Manchmal konnte er wirklich kindisch sein, und das, obwohl der Ernst der Lage so offensichtlich war. Selbst wenn sie diese Nacht überlebte, konnten sie schwerwiegende Erfrierungen davon tragen, und sie war nicht scharf darauf, ein paar Zehen zu verlieren. Nie wieder Sandalen?, dachte Scully erschreckt - nein danke!



Nach langem Überlegen und einigem Hin und Her konnten sie sich schließlich einigen und saßen wenig später auf Scullys doppelt genommenen Mantel gekauert auf dem moosbewachsenen Boden. Mit angezogenen Knien kauerten sie nebeneinander, Mulders Mantel um sich geschlungen. Jetzt erwies es sich als Vorteil, dass er ihn damals aus Versehen zwei Nummern zu groß gekauft hatte. Es war zwar eng, aber es passte einigermaßen.

Dankbar ließ Scully es geschehen, dass Mulder nach einer Weile einen Arm um ihre Schultern legte. In ihrer derzeitigen Verfassung hätte sie es auch geduldet, wenn sich ein Stinktier auf ihrem Schoß eingerollt hätte, so lange es ihr nur etwas Wärme spendete. Wobei sie sich in Gedanken dafür schalt, Mulder mit einem Stinktier gleichzusetzen, denn das war beileibe nicht der Fall. Im Gegenteil. So nahe, wie sie ihm jetzt war, konnte sie sein Aftershave riechen und schloss genießerisch die Augen. Diesen Duft hätte sie unter tausend anderen herausriechen können, ohne nur einen einzigen Moment zu zögern.

Seine Hand ruhte auf ihrer rechten Schulter, und obwohl sie kalt war verbreitete die Berührung Wärme.



Lange schwiegen sie und neben dem Wind war Scullys gelegentliches Zähneklappern das einzige, was die Stille um sie herum hin und wieder störte.

Gedanken reihten sich in Scullys Kopf aneinander, verschmolzen miteinander zu abstrakten Erinnerungen und führten sie zu immer neuen Themen. Einen Augenblick lang erinnerte sie sich an ihren letzten Urlaub, den sie auf Hawaii verbracht hatte. Alleine. Und sie hatte, von verliebten Paaren umgeben, schmerzlich erkennen müssen, dass auch das schönste tropische Paradies das meiste seines Glanzes einbüßte, wenn man es alleine betrachtete.

Alleine.

Wie lange hatte sie keine feste Beziehung mehr geführt? Wenn sie ehrlich war, seit Beginn ihrer Arbeit bei den X-Akten. War das Zufall? Sie hatte zwar ein paar Männer kennen gelernt, doch über ein paar Treffen war sie nie hinausgekommen. – Warum eigentlich nicht?, grübelte sie. Es waren anständige Kerle gewesen, nett, charmant... Aber da war etwas gewesen, was Scully immer wieder in innere Zerrissenheit gestürzt hatte. Dieser todtraurige Blick, mit dem Mulder sie unter seinen dichten Wimpern her anklagend angesehen hatte, als hätte sie ihm hinterrücks ein Messer ins Herz gerammt wenn sie ihm bloß von ihrer neuen Flamme berichtete.

Sie war glücklich, mit ihm befreundet zu sein. Ein paar Mal, wenn die Situation es ergeben hatte, war es vorgekommen, dass sie ihn bei der Arbeit betrachtet hatte und dann versuchte sich vorzustellen, ob sie es als Paar miteinander aufnehmen könnten. Jedes Mal war sie sich kindisch vorgekommen und hatte sich selbst belächelt. Beziehungen zwischen Agents wurden zwar mittlerweile vom FBI geduldet, ein Erfolg, der auf das Wirken der Gleichstellungsbeauftragten zurückzuführen war. Dennoch erschien es Scully absurd. Sie und Mulder? Das war lächerlich. Sie waren im Beruf Partner und privat Freunde, was wollte sie mehr?

Sie wusste es selber nicht.

Sie mochte ihn von Herzen gern, aber sie war doch nicht in ihn verliebt! Sie genoss seine Anwesenheit und Nähe, aber hieß das zwangsläufig, dass sie mehr wollen musste?

Ärgerlich versuchte sie, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bekommen, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen. Verdammt, sie war doch kein Schulmädchen mehr!

Mulder neben ihr bewegte sich leicht. Dann hörte sie seine Stimme.

„Ihr Herz rast ja, Scully. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Ja, alles bestens. Die Situation macht mir nur ein wenig zu schaffen.“, entgegnete Scully möglichst ruhig. Sie machte sich nichts vor - wenn er eins und eins zusammenzählen konnte, würde er erkennen, dass ihre Antwort nicht ganz ehrlich war.

Sie war sich beinahe sicher, dass er sie durchschaut hatte, dennoch entgegnete er lediglich:

„Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Wenn der Schneesturm morgen früh vorüber ist, finden wir bestimmt den Weg zurück. Wir erfrieren schon nicht.“

Scully schwieg.

Plötzlich hörten sie dumpfes Knallen durch den Sturm. Es wurde lauter, dann wieder leise und erneut lauter. Mal knallte es heller, mal dunkler.

Sie konnten beide nicht auf ihre Armbanduhren schauen, doch beide sagten sie wie aus einem Mund:

„Silvester.“



„Frohes neues Jahr!“, wünschte Scully Mulder und drückte seine Hand. Wenn sie diese Nacht überstanden, konnte es ja nur noch ein gutes Jahr werden!

„Frohes neues Jahr, Scully.“, flüsterte Mulder. Seine Stimme klang unsicher, als er hinzufügte:

„Alles Liebe!“

Seine Hand strich sanft über ihren Rücken und Scully durchfuhr ein wohliger Schauer. Der Moment war perfekt... aber würde Mulder ihn auch nutzen?

Einen Augenblick später fühlte sie seinen warmen Atem auf ihren Wangen. Er schien zu zögern. Jetzt tu’s einfach!, schrie Scully innerlich. Wenn es jetzt nicht geschehen würde, würde es nie geschehen, das fühlte sie. Wenn er sie jetzt nicht küsste, war es für immer zu spät. Dann würden sie den Rest ihres Lebens nur Freunde bleiben und Gefühle für den anderen im Keim ersticken.



Die Sekunden verstrichen unendlich langsam, und obgleich sich jede Faser ihres Körpers nach dem Kuss sehnte, wagte Scully nicht, den ersten Schritt zu machen. Sie konnte selber nicht sagen, warum. Vielleicht war sie einfach altmodisch in dieser Hinsicht.

Sie drückte aufmunternd seine Hand, doch er zögerte noch immer. Er hatte sicher mit den gleichen Bedenken zu kämpfen wie sie, aber der Gedanke, dass ihre Ängste ihnen die Zukunft verstellen könnten, machte Scully schier wahnsinnig. Am liebsten hätte sie geschrieen. Dass er ein Feigling war; dass es überhaupt nichts über ihn aussagte, wenn er Psychopathen jagte, wenn er es nicht einmal fertig brachte, die Frau, für die sein Herz schlug, zu küssen! Dass-

Plötzlich spürte sie beinahe überrascht seine Lippen auf ihren. Sie waren kühl, aber weich, unendlich weich. Zärtlich küsste er sie und Scully ließ sich in dem Kuss fallen. Alles, was noch zählte, waren sie und er. Hier. Alleine. Zusammen.

Ihre verkrampfte Haltung löste sich und sie schmiegte sich an ihn. Er war so warm. So wunderbar warm.

Seine Hand fuhr durch ihr Haar und wieder ihren Rücken hinab während seine Zunge ihre Lippen liebkosten. Scully schob ihre Arme unter sein Jackett und schlang sie um seinen Oberkörper.

In jeder Bewegung lag die angestaute Zärtlichkeit und Zuneigung, die nun endlich einen Weg an die Oberfläche fand. Wie hatte ihr das alles falsch erscheinen können? Sie fühlte es, dass sie zusammengehörten. Nicht nur als Freunde oder Kollegen, sondern als Liebende, als Paar. Alle hatten es kommen sehen, all die Jahre. Welch eine Ironie des Schicksals, dass sie beide die Augen vor der Wahrheit verschlossen hatten, während sie die ganze Zeit verbissen auf der Suche nach der Wahrheit gewesen waren.



Schließlich lösten sich ihre Lippen wieder von einander und Scullys Kopf sank an seine Schulter. Klopfenden Herzens schwieg sie – jedes Wort hätte den Augenblick zerstört. Mulder schwieg ebenfalls, doch sie hörte das Schlagen seines Herzens, das mindestens ebenso sehr raste wie ihres. Auf ihr Gesicht hatte sich ein Lächeln geschlichen, das von Glück und Erfüllung sprach.

Jede Frau hätte es sich gewünscht, einmal so geküsst zu werden, dessen war sie sich sicher. Voller Hingabe und Zärtlichkeit; ein Kuss, der von jahrelanger Freundschaft und großer Nähe zeugte - kein Ausdruck eines kurzweiligen Gefühlsausbruchs, sondern tiefer und langgehegter Zuneigung.

Sie atmete seinen Duft ein, der sie umhüllte, und fühlte sich so geborgen wie nie zuvor in ihrem Leben. So geborgen, wie man sich nur an der Seite des Mannes fühlen konnte, von dem man wusste, dass er alles für einen tun würde.

Seine Nähe hatte die Kälte für einen langen Moment verdrängt, zumindest aus ihrem Bewusstsein, doch langsam, zunächst fast unmerklich, bekam Scully sie wieder zu spüren. Ihr wurde bewusst, dass ihre Füße taub waren, doch sie konnte nicht mehr dagegen aufbegehren.

Doch was viel schlimmer war: Mit der Kälte kam die Müdigkeit. Schleichend breitete sie sich in ihrem Körper aus und drang bis in die kleinste Faser vor.

Scully gähnte verhalten. Sie wusste, dass es falsch war, einzuschlafen. Wenn sie einschlief war sie wehrlos gegenüber der Kälte, die sich unerbittlich über ihren Körper ausbreitete. Wenn sie schlief, hatte der Tod leichtes Spiel mit ihr.

Aber es war alles falsch, es war falsch, ihren Kollegen zu lieben, und sie tat es trotzdem - ohne sich Gedanken über ein Morgen zu machen.

Und selbst wenn sie es gewollt hätte, sich gegen den Schlaf zu wehren, der sie zu übermannen drohte – sie hätte es nicht gekonnt, weil sie am Ende ihrer Kräfte war.

So hielt sie sich einfach an Mulder fest und ließ es geschehen.

Und während ihr langsam, ganz langsam die Augen zufielen und sie in den tiefen, traumlosen Schlaf der Erschöpfung sank, war ihr letzter Gedanke Wenn ich diese Nacht sterben würde, würde ich glücklich sterben...



*



Gleißendes Licht schien auf ihr Gesicht und drang durch die geschlossenen Lider ihrer Augen. Aber es war warm und sie fühlte sich entspannt.

Einen Moment lang war sie sich sicher, dass sie im Himmel war. Vorsichtig blinzelnd öffnete sie die Augen und erwartete, im hellen Schein des göttlichen Lichts einen Engel zu sehen.

Sie sah in Mulders Gesicht und war beruhigt, dass er bei ihr im Himmel war. Wenn so das Leben nach dem Tod aussah, fragte sie sich, warum alle den Tod fürchteten.

Selig lächelnd ließ sie es zu, dass ihre Augen wieder zufielen und sie in einen leichten Schlaf sank.



*



Als sie langsam wieder erwachte, glaubte sie noch immer, sich im Himmel zu befinden. Doch mit jeder Sekunde, mit der ihr Bewusstsein wiederkehrte, nahm sie mehr von ihrer Umgebung wahr. Leise richtete sie sich auf und sah sich um.

Mulder stand ein Stück von ihr entfernt und hatte zwischen den Ästen einen breiten Durchgang geschaffen. Das Licht, das auf ihr Gesicht schien, war der Schein der hellen Morgensonne, die den Blick auf eine glitzernde Schneelandschaft enthüllte, die in nahezu vollkommender Stille vor ihnen ausgebreitet lag.

Von der Schönheit des Morgens geblendet wandte Scully den Blick ab. Sie war nicht im Himmel, sie war am leben. Und Mulder war es auch.

Er hatte noch nicht bemerkt, dass sie aufgewacht war, da er ihr den Rücken zuwandte und in die Winterlandschaft hinaus blickte. Ihr fiel auf, dass er nur seinen schwarzen Anzug trug, so dass sie sich suchend nach seinem Mantel umsah.

Es war nicht schwer ihn zu finden, und Scully wurde klar, warum ihr so wunderbar warm war... Mulder hatte sie, nachdem sie eingeschlafen war, in beide Mäntel gewickelt - ihren und seinen.

Gerührt schloss Scully die Augen und eine kleine Träne kullerte ihr über die Wange. Wieder einmal hatte er sein Leben riskiert, um ihres zu retten. Er musste furchtbar gefroren haben, und das nur, damit es ihr gut ging. Und sie hatte ihm immer noch nicht gedankt.

Klopfenden Herzens stand sie auf und trat an seine Seite, unschlüssig, was sie sagen sollte. Was in der letzten Nacht passiert war, hatte alles auf den Kopf gestellt. Wie würde er reagieren?

„So etwas schönes habe ich noch nie zuvor gesehen, Scully.“, sinnierte Mulder ohne sie anzublicken. „Es ist, als wäre die Welt um uns herum zu Eis erstarrt und wir wären die einzigen Lebewesen, die es noch auf der Erde gibt...“

Scully folgte seinem Blick und nickte still. Sie atmete tief ein und sagte dann leise:

„Mulder, ich möchte dir danken.“ Das vertraute Du ging ihr leicht über die Lippen, es wäre unsinnig gewesen, ihn zu siezen. Nach dem, was passiert war. Das verstohlene Lächeln, das beim „du“ seine Mundwinkel umspielte, bedeutete ihr, dass er es ebenso sah.

Dann wandte er ihr den Kopf zu und fragte:

„Wofür?“

Scully blickte in seine Augen, die im Sonnenlicht grün glänzten. Die Augen, in die sie schon so oft geblickt hatte, aber nie so wie in diesem Augenblick.

Sie gab ihrem Herzen einen Ruck.

„Für... alles. Dafür, dass du mich mit deinem Mantel zugedeckt hast, obwohl es so kalt war-“

„Das war doch selbstverständlich.“, unterbrach er sie, doch sie sprach unbeirrt weiter.

„Dafür, dass ich mich immer auf dich verlassen kann. Dafür, dass du in jeder Lebenslage für mich da bist. Du hast mir die Kraft gegeben, jeden neuen Tag zu meistern, wenn es mir schlecht ging. Du hast mich jedes Mal aufgemuntert und mir gezeigt, dass ich stark genug bin, meinen Weg zu gehen.“

Zaghaft, fast schüchtern nahm sie seine Hand.

„Du hast schon so oft dein Leben für mich riskiert.“

Er sah sie mit undeutbarem Gesichtsausdruck an, doch seine Augen strahlten. Dann seufzte er.

„Es hat sich jedes Mal ausgezahlt, nicht wahr? Ich weiß, dass du das selbe auch für mich tun würdest.“

Scully brauchte nicht zu überlegen, um ihm zuzustimmen. Er hatte Recht.

Sie schwiegen eine Weile und blickten in den verschneiten Wald.

Dann räusperte Mulder sich und deutete nach vorne.

„Schau mal... Siehst du die kleinen, verschneiten Erhebungen da vorn? Ich glaube...“

Er ließ ihre Hand los und stapfte eilig durch den fast knietiefen Schnee.

„Tatsächlich... Scully, das sind die Leuchten!“

Er schaufelte den Schnee beiseite und lachte.

„Und stell dir vor – auf den Lampen sind Aufkleber! In diese Richtung 500m zum Omni Shoreham. Wir wünschen einen guten Aufenthalt. Das kann nicht wahr sein!“

Er drehte sich zu Scully um, die ihn lächelnd beobachtet hatte. Er konnte sich freuen wie ein kleiner Schneekönig... Ihr selber jedoch fiel auch ein Stein vom Herzen. Sie waren gerettet. Und viel näher am Hotel, als sie es je zu hoffen gewagt hätte!

Mulder kam wieder auf sie zu und nahm sie in den Arm.

„Ich habe dir ja gesagt, dass alles gut wird.“

Dann deutete er über ihre Schulter hinweg unter die Tanne.

„Ich weiß ja nicht wie es dir geht, aber ich könnte eine heiße Tasse Kaffee jetzt gut vertragen... Wie wär’s wenn wir unsere Mäntel nehmen und ich ein warmes Frühstück spendiere? Zur Feier des Tages sozusagen?“

Scully bemerkte erst jetzt wie hungrig sie war und lachte.

„Da sage ich nicht nein...“



Wenig später kämpften sie sich Hand in Hand ihren Weg durch die Schneemassen. Ihre Beine waren wieder nass und schrecklich kalt, aber der Gedanke an die nahende Rettung trieb sie voran. Mulder orientierte sich immer wieder an den kleinen Laternchen, die zwar ausgeschaltet waren, ihnen aber dennoch stumm den Weg wiesen.

Ungläubig ließ Scully die Ereignisse des letzten Abends und der Nacht vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Es war alles ganz anders gekommen, als sie es sich ausgemalt hatte. Besser. Viel besser. Wenn es einen Schneesturm gebraucht hatte um ihnen zu zeigen, dass sie zusammen gehörten, dann nahm sie dies gerne in Kauf.



Als sich schließlich die Bäume lichteten und den Blick auf den Hotelkomplex freigaben, wurde Scully etwas mulmig zu mute. Was würden die anderen sagen? Die meisten waren sicher schon lange wieder zu Hause, doch einige hatten die Möglichkeit genutzt, im Hotel zu übernachten. Wie sollten sie auf Fragen reagieren? Wie würde es weitergehen?

Mulder schien ihre Zweifel zu spüren. Er blieb stehen und wandte sich zu ihr um.

„Scully...“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Das, was letzte Nacht zwischen uns passiert ist... War das nur etwas, was automatisch in solch einer Situation zwischen zwei Menschen passiert?“

Er sah sie unsicher an und Scully schüttelte den Kopf.

„Nein, Mulder. Für mich nicht. Ich kann und will nicht vergessen, was passiert ist. Es war... als hätte ich unendlich lange auf den Moment gewartet, ohne noch zu glauben, dass es ihn geben würde. Es hat alles geändert, und doch nichts. Ich habe diese Gefühle immer gehabt, mich aber nie getraut, sie zu zeigen.“

Sie verstummte und sie sahen sich tief in die Augen.

Beinahe ängstlich wartete Scully auf Mulders Reaktion. Sah er es genauso wie sie? Hatten Sie beide eine Zukunft? Oder würde er sie bitten, zu vergessen, was war – um so weiter zu machen wie zuvor?

Er blieb ihr eine Antwort schuldig, stattdessen breitete sich ein liebevolles Lächeln auf seinem Gesicht aus und beugte sich zu ihr vor.

Sanft verschloss er ihren Mund mit einem langen Kuss in dem so viel mehr lag, als er hätte jemals sagen können. Ein Kuss, der Scully mit unbeschreiblicher Freude und Glück erfüllte, so dass sie es kaum mehr aushalten konnte und es am liebsten in alle Welt hinaus geschrieen hätte: Seht her, Fox Mulder und ich sind ein Paar!



*


Vor dem Omni Shoreham, 1.Januar, 9.22 Uhr



Nun standen sie endlich wieder auf dem Platz vor dem großen Portal des Hotels und sahen sich erleichtert an.

„Ich glaube ich habe mich noch nie so gefreut, ein Hotel zu sehen.“, meinte Mulder lächelnd und drückte Scullys Hand.

„Und ich habe mich noch nie so sehr auf ein Frühstück gefreut!“, entgegnete Scully.

Dann setzten sie sich wieder in Bewegung, ein Page öffnete ihnen die Tür und sie traten ein.



Beim Concierge erkundigten sie sich, wo sie ein Frühstück nehmen konnten und erhielten die Empfehlung, sich in das Französische Café zu setzten.

„Gleich den Gang runter und dann links.“, schloss der Concierge mit einem wohlwollenden Lächeln. Scully war ihm dankbar, dass er keine Fragen zu ihrer Erscheinung stellte – zerknitterte, nasse Kleidung, zerzauste Haare, wahrscheinlich verwischtes Make-up... Sie war selber froh, dass sie keinen Spiegel zur Hand hatte, sonst wäre sie vermutlich in Ohnmacht gefallen.

Sie bedankten sich für den Rat und machten sich gemeinsam auf die Suche nach dem Französischen Café. Tatsächlich fanden sie es auch auf Anhieb und traten ein.

Der große Raum war hell gestrichen und durch mannshohe Fenster fiel das Sonnenlicht hinein. Kleine, runde Bistrotische aus weiß lackiertem Metall waren rechts und links vom Eingang verteilt und geschmackvoll gedeckt.

Die Anwesenden, die in Gespräche und ihr Frühstück vertieft gewesen waren, hoben die Köpfe und sahen sie irritiert an. Zwei so zerrissene Gestalten im Hotel?

Mulder und Scully jedoch bemerkten es nicht einmal. Sie hatten beide die Augen geschlossen und genossen den Duft von frischen Croissants, Gebäck und Kaffee.

Bis plötzlich eine bekannte Stimme rief:

„Mulder? --- Scully? --- Wo um alles in der Welt kommen Sie denn her?“

„Skinner?“, stießen beide fragend hervor und öffneten die Augen.

Tatsächlich, da saß er. Die hellblaue Serviette in seinen Kragen gesteckt thronte er vor seinem Frühstück und blickte sie verwirrt an.

Mulder und Scully tauschten einen Blick aus und lachten. Dass gerade ihr Boss hier saß...

Sie taten ihm den Gefallen und kamen zu seinem Tisch herüber. Es war ihnen egal, ob die Leute tuschelten, die meisten von ihnen waren Fremde.

„Guten Morgen, Skinner.“, rief Mulder fröhlich.

Skinner schien die Welt nicht mehr zu verstehen.

„Wie sehen Sie aus? Und wo zum Teufel haben Sie beide denn bloß gesteckt?“

Er bemerkte, dass sie sich an der Hand hielten und legte fragend die Stirn in Falten.

„Das, mein lieber Skinner,“, entgegnete Mulder grinsend, „ist eine lange Geschichte. Aber zuerst hätten wir gerne das größte Frühstück, das dieses Haus zu bieten hat!“

Er zog Scully übermütig an sich und küsste sie.



Scully konnte ihr Glück immer noch nicht fassen. Er stand zu ihr, er küsste sie, egal ob ihr Boss vor ihnen stand oder nicht. Nun, er hätte es sowieso früher oder später erfahren. Und geahnt hatte er es sicher schon lange...

Als sie sich zum AD an den Tisch setzten, und dieser immer noch verwundert den Kopf schüttelte, lächelte sie breit über das ganze Gesicht. Sie konnte nicht anders, so glücklich war sie. Alles würde gut werden, dessen war sie sich sicher. Weil sie einfach zusammen gehörten.

Weil sie sich liebten.



~Happy End~
Für diese Story musste ich etwas recherchieren. Ich habe einmal (nicht bei einer FanFic) den unverzeihlichen Fehler gemacht, es nicht zu tun und bin damit furchtbar auf die Nase geflogen. Also: Das Omni Shoreham gibt es wirklich in Washington, im besagten Rock Creek Park.

Ich habe über Google rumgesucht und mir sogar Rezensionen von Urlaubern durchgelesen, die dort mal abgestiegen sind. Auch bei den Beschreibungen habe ich versucht, mich – so gut es ging – an die Fotos zu halten, die ich im Netz gefunden habe.

Davon ab: Diese FF war eigentlich schon für Silvester letzten Jahres gedacht, aber damals bin ich über die ersten 10 Zeilen nicht hinaus gekommen. Schicksal. Deshalb habe ich jetzt richtig reingehauen, um noch fertig zu werden.



Mir ging das „du“ übrigens nicht halb so leicht über die Lippen wie Scully. *g* Ständig habe ich aus Versehen „Sie“ geschrieben und musste es immer wieder korrigieren... :)

Ich habe genau einen Monat an der Fanfiction geschrieben – für mich ist das schnell... *lol*
Ich schreibe schon seit 2 Jahren an einer, die genauso lang und immer noch nicht fertig ist........

Wie ihr wisst, freut sich jeder Autor über Feedback, also keine falsche Scheu!

Ansonsten bleibt mir nur noch, euch allen ein
Frohes neues Jahr 2005

zu wünschen!



Susanne aka Lhutien
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