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Chinese Butterfly

von Leyla Harrison

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Aus einigen unerklärlichen Gründen besuchte ich nach meiner Diagnose die Beraterin des Bureaus.
Sie leitete mich an eine Krebs – Selbsthilfegruppe weiter. Ich nahm die Karte, die sie mir aushändigte und ließ sie in meine Tasche gleiten, ohne sie anzusehen.
Der Tag verging und die Karte war vergessen. Ich habe sie nicht gefunden, bis später in dieser Nacht, als ich mich auszog und meine Tasche ausleerte. Ich starrte auf die Karte, bis die Buchstaben verschwammen.
Würde ich das tun? Würde ich diesen Telefonanruf machen? Am ersten Treffen auftauchen? Zugeben, dass ich schwach war?
Gott. Ich will nicht schwach sein. Ich wollte *niemals* schwach sein.
Obwohl es da eine Sache gab, die ich nicht verleugnen konnte. Ich hatte Angst.
Ein ziemliches Zugeständnis für eine Frau, die noch niemals zuvor solche Wörter laut ausgesprochen hat.
Beim ersten Treffen habe ich kaum gesprochen, von meinem Namen abgesehen. Danach habe ich nur zugehört. Die Leute in der Gruppe waren alles Frauen, alle in meinem Alter, alle Expertinnen.
Jede von ihnen hatte Krebs.
Ich hörte ihnen sorgfältig zu. Jedes Wort war bestückt mit Bedeutungen und ich beobachtete jedes der Frauengesichter. Ich habe dort keine Schwäche gefunden. Was ich gesehen habe, war Stärke.
Und es bewegte mich.
Ich war unleugbar neidisch auf etwas, von dem ich fühlte, dass ich es nicht hatte.
Das zweite Treffen kam und ich tauchte auf. Ich saß wieder in derselben Gruppe der neun Frauen und dieses Mal sprach ich, als das Gespräch sich der Angst zuwandte.
Mein Atem machte Schwierigkeiten als ich die Worte aussprach: „Ich habe Angst, dass ich sterben werde.“
„Du kannst das nicht auf diese Art sehen“, sagte eine Frau links von mir, „Du musst jedem Tag mit Hoffnung begegnen. Ich weiß, das hört sich abgedroschen an – aber es ist wahr. Jeden Morgen, wenn ich aufwache und realisiere, dass ich immer noch am Leben bin – dass ich immer noch meine Familie habe; die Menschen, die ich liebe, haben einen weiteren Tag mit mir. Was du brauchst, ist Stärke.“
Aber wo bekomme ich die her?, fragte ich mich im Stillen.
Es gab keine Antwort - nicht diese Nacht immerhin. Das Treffen war zu Ende.
Ich holte mir einen Kaffee, während die Frauen Gebäck auf einem Tisch verteilten. Ich konnte sie nicht ansehen – sie waren alle so stark und ich fühlte mich immer noch so schwach.
Eine sanfte Hand berührte meine Schulter: „Dana?“
„Ja?“
„Weshalb nimmst du nicht das. Es hat mir Stärke gegeben, als ich sie brauchte.“
Die Frau, die mit mir während des Treffens gesprochen hat, händigte mir etwas aus. Es glitzerte im Halbdunklen. Ich nahm es in meine Handfläche und sah es an. Es war eine kleine, goldene Münze mit einem geprägten Schmetterling auf einer Seite und als ich sie umdrehte, sah ich einen chinesischen Buchstaben auf der Rückseite.
„Es ist das Symbol der Stärke.“
„Ich kann... ich kann das nicht annehmen“, ich versuchte es ihr zurück zu geben, aber sie schloss meine Finger darum.
„Du kannst, du musst.“
Es war ein seltsames Geschenk von einer Person, die ich noch nie zuvor getroffen habe und die ich niemals wieder sehen werde. Ich wusste ihren Namen nicht und ich würde sie nicht an einem der nachfolgenden Treffen sehen.

 

****

 

„Agent am Boden!“
Die Wörter barsten in mein Ohr.
Jesus, Mulder. Mulder. Nein.
Ich erinnerte mich nicht daran, zu rennen. Ich erinnerte mich nicht daran, mich nach unten zu bücken und den Mann umzudrehen, der einen dunklen Mantel mit den großen, weißen FBI Buchstaben, die seinen Rücken schmücken, trug.Blut sickert aus einer Wunde eines Projektils zwischen dem F und dem B.
Ich erinnere mich daran, wie ich ihn umdrehe.
Agent Drew.
Es war nicht Mulder.
Ich wollte weinen.
Ich zog mein Walkie-Talkie aus meiner Tasche und begann zu schreien: „Wir brauchen hier drüben Rettungssanitäter. Jetzt! Agent Drew wurde angeschossen. Wiederhole, Agent Drew wurde angeschossen. Wir brauchen hier auf der Stelle Rettungssanitäter.“
Tränen belegten meine Stimme als ich versuchte, die Wörter auszusprechen.
Andere Agenten stiegen zu meinem Einsatzort herunter und ich konnte die Sirenen aus der Ferne hören, ihr Heulen wurde lauter als sie näher kamen.
Ich zog meine eigene Jacke aus und bedeckte Drew. Er war nicht bei Bewusstsein.
Es war nicht Mulder.
Danke dir, Gott.
Eine Hand auf meiner Schulter. Ich sah auf und in Mulders Gesicht.
Er war atemlos. „Scully, sind Sie okay?“
„Mir geht es gut, Mulder”, versicherte ich ihm, die Tränen aus Verlegenheit von meiner Wange wischend.
„Ich hörte Agent angeschossen und ich dachte...“, er verlor sich, mir helfend aufzustehen.
Er dachte, es war ich.
Christus.
Was wir für ein Paar ergeben.
Die Rettungssanitäter zogen ihn auf die Seite. Ich drehte mich zu ihnen und erzählte ihnen schnell, was ich wusste: „Projektil in den Rücken, durch und durch, Puls schwach, Atmung um die 44.“
„Scully“, Mulder nahm meinen Arm und zog mich davon weg.
Ich hielt ihn nicht auf.

 

****

 

Die Aussicht auf den Verlust meines Partners ist etwas, dem ich nicht begegnen kann. Ich sitze heute hier in diesem Büro und beobachte ihn heimlich von der anderen Seite des Raumes aus, wie er die Papiere der letzten Fälle bearbeitet. Mulder ist ein Stift und Papier Mensch, während ich es vorziehe, hinter dem Monitor meines Computers zu sitzen.
Ich kann ihn nicht verlieren. Nicht jetzt, niemals. Nach allem, was ich verloren habe. Dieses Büro würde ohne ihn hier drinnen nicht existieren. Ich blicke über seine Schulter an die Wand. Zeitungsausschnitte, festgehalten von kleinen silbernen Reißnägeln, sind überall verstreut. Eine Fotografie von Duane Barry. Sein „I want to believe“ – Poster.
Ich tue es, Mulder. Das sage ich ihm im Stillen hundert Mal am Tag. Ich will glauben.
Ich weiß nur gerade nicht, ob ich es weiterhin kann.
Ich kann ihn nicht verlieren. Ich kann nicht ohne ihn sein. Ich kann nicht, ich kann nicht. Mein Mantra. Trotz der offensichtlich überwältigenden Erleichterung, welche mir die „Heilung“ brachte, mein Leben wurde, außer auf das Verlangen, auf ein Nichts reduziert und ich hasse es. Ich bin nicht länger die Person, die ich vor meiner Diagnose war. Sogar obwohl der Krebs sich zurückbildet, bin ich immer noch nicht dieselbe. Den Abschluss, den ich zu brauchen scheine, ist unerreichbar für mich. 
Der Abschluss wird nur von dem kommen, was auch immer es ist und von dem ich fühle, dass es meine innere Stärke sein sollte. Und aus einem bestimmten Grund habe ich die nicht.
Weshalb nicht?
Ich greife instinktiv nach der kleinen, goldenen Münze in meiner Tasche.
Sie ist nicht da.
„Mist!“, murmele ich laut.
„Was hast du gesagt, Scully“, fragt Mulder, von seinem Schreibtisch aufsehend.
„Nichts.“
Ich stehe auf und kontrolliere die Taschen meines Mantels. Da ist in keiner davon etwas. Keine kleine, goldene Münze. Keine Stärke.
Tränen schießen in meine Augen. Ich schiebe sie beiseite und schreite zur Tür.
„Wo gehen Sie hin, Scully?“„Ich... ich brauch ein bisschen Luft, Mulder. Ich werde zurückkommen.“
Die Wahrheit ist, ich will nicht, dass er mich weinen sieht.

 

****

 

Es ist nicht die Münze, die mir Stärke verleiht und ich weiß das. Es ist nicht die Tatsache, dass ich sie in der Hand halten kann, dass ich mit meinen Fingerspitzen über die Flügel des Schmetterlings streichen kann und dann die Münze umdrehen kann, um den chinesischen Buchstaben auf der anderen Seite lesen kann. Es hat nichts damit zu tun.
Es hat etwas zu tun mit der Stärke, die ich über die letzten paar Monate angesammelt habe. Stärke, die ich so verzweifelt gebraucht habe, um nach dem Krebs wieder zu kommen, nach der Zurückbildung. Stärke, die mich jedes Mal verfehlte, wenn ich mich danach ausstreckte.
Irgendwie habe ich wegen diesem kleinen Symbol gelernt, wie ich etwas von meiner Stärke zurückbekomme. Auch obwohl es nichts mit der kleinen Münze an sich zu tun hat. Ich fühle mich, als hätte ich alles verloren, für das ich so hart gekämpft habe, um es wieder zu erlangen.
Es fühlt sich so an, als wäre alles zu Asche geworden.
„Scully?“
Mulders Stimme erschreckt mich. Ich sehe auf, als eine leichte Brise sein Haar fängt und zerzaust. „Was machen Sie hier?“
Hier ist der Ort, an dem ich mich reflektiere. Hier ist der Ort, an dem ich die Einsamkeit finde.
Hier ist einer der Innenhöfe des Bürogebäudes, welcher für gewöhnlich menschenleer ist. Wenn Agenten Luft schnappen wollen, dann steuern sie eine Kaffeestube an oder einen Spaziergang um den Block. Ich wähle stattdessen die Ruhe des Innenhofes, wo ich auf einer der leeren Bänke unter den Bäumen sitzen kann und sich das massige Bürogebäude überall um mich herum abzeichnet und die Mauern mich umschließen.
Die Mauern beschützen mich vor dem Draußen und halten mich auch im Gefängnis.
„Sie sind schon eine Weile weg. Ich fragte mich, ob Sie zurückkommen.“
Nein, Mulder, ich will nicht zurückkommen. Ich will nicht weiterhin Serienmördern oder Mutanten begegnen. Ich will nicht der Dunkelheit des Untergrundes begegnen. Ich will dort nicht mit dieser stinkenden Luft eingeschlossen sein.
Ich sage nichts davon.
„Eigentlich“, bekennt er kleinlaut, „fragte ich mich, was nicht in Ordnung war. Sie schienen ein bisschen... bestürzt da unten.“
Großartig. Die letzte Sache, die ich für Mulder will, ist sich Sorgen über mich zu machen.
Wir beide verbrachten zu viel Zeit damit, uns Sorgen über einander zu machen.
Heute machten wir uns Sorgen darüber, ob der andere angeschossen wurde. Wir beide waren besorgt – nein, in Panik – dass der eine ohne den anderen zusammenbrechen würde.
Meine Traurigkeit über den Verlust dieser schmalen Münze schien gegenüber diesem banal.
Meine Seele fühlt sich leer an. Wegen dieser Leere entschloss ich mich, nach draußen zu gehen, um mich zu sammeln.
„Ich habe etwas verloren, Mulder.“
Mulder antwortet nicht sofort darauf. Ich denke, er versteht, dass das Verlieren eines Handschuhs oder einer Sonnenbrille mein Benehmen nicht auf diese Art beeinflussen würde.
„Was war es?“, fragt er schließlich.
„Eine Münze. Jemand... jemand aus der Krebsselbsthilfegruppe, in die ich ging, gab sie mir.”
Mulders Brauen wölben sich mir entgegen. Ich weiß, was er denkt.
Eine Münze?
Mit leiser Stimme erzähle ich ihm die Geschichte von der Münze. Wie ich sie mit mir herum getragen habe. Wie ich erfahren habe, dass die Stärke nicht von der Münze, sondern von meinem Herzen kommt. Aber auch, dass ich mich so fühle, als würde mein Herz nicht wissen, wie es sie findet, ohne diese Münze in meiner Tasche.
Erledigt sehe ich ihn kleinlaut an.
„Ich habe keine Ahnung, wo ich sie verloren haben könnte“, sage ich als Antwort auf seine ungestellt Frage. „Es gibt keine Möglichkeit, wie ich zurückgehen und meine Schritte seit gestern Morgen zurückverfolgen kann. Sie könnte überall sein.“
„Ich habe eine Frage“, sagt Mulder vorsichtig. Er hält inne und sagt dann: „Sie sind in eine Krebsselbsthilfegruppe gegangen?“
Oops.
Da gibt es eine weitere Sache, die ich vergessen habe ihm zu erzählen. Dass ich schwach war. Dass ich Angst hatte. Dass ich keine Ahnung hatte, wo ich mich hinwenden sollte. Deshalb nahm ich Hilfe an.
Unfähig diese Dinge zu sagen, nickte ich einfach.
Stille fällt zwischen uns. Da gibt es wirklich nichts mehr zu sagen.
Nach einigen Minuten seufze ich schwer. „Ich werde mit nach Innen kommen, Mulder“, sage ich ihm und stehe auf. „Kommen Sie?“
„Ich bin in einer Minute da.“
Ich verlasse ihn da in der Einsamkeit des Innenhofes, innerhalb der Mauern, von denen ich weiß, dass sie abgrenzen und gleichzeitig beschützen, genauso wie sie es bei mir machen.

 

****

 

Ich bin leer.
Ich bin nichts.
Ich starre deprimiert auf mein Spiegelbild. Was ist los mit mir? Weshalb bekomme ich es nicht zusammen?
Der Krebs bildet sich zurück. Ich sterbe jetzt nicht mehr. Also weshalb gibt es da keinen Abschluss?
Wann wird er kommen?
Die Selbsthilfegruppe erzielt keinen Erfolg. Ich will nicht in einem Büro eines Psychiaters sitzen. Diese Dinge sind nicht das, was mich zu den Antworten führt, nach denen ich suche. Ich suche in mir nach diesen Antworten und ich tauche jedes Mal mit leeren Händen wieder auf, wenn ich tief in mir drinnen danach grabe.
Seit ich die Münze verloren habe, habe ich festgestellt, dass ich tief deprimiert war. Melissa hätte es den dunklen Ort genannt.
Die Arbeit wurde langsam und bedeutungslos. Mit keinen neuen Fällen, ich endete damit, dass ich spät komme und früh gehe. Ich habe eine Fülle an ungenutzten Urlaubstagen und Mulder stritt sich nicht mit mir oder fragte mich, als ich ihm erzählte, dass ich nur noch halbtags arbeite.
Mulder.
Ich habe ihn in den letzten Tagen kaum gesehen.
Das ist nicht vollkommen richtig. Ich habe ihn gesehen – nur nicht bemerkt.
Ich habe nicht sehr viel von Allem bemerkt.
Mir ist übel Angesichts dieser Sache in mir selbst. Es ist eine schlechte Art mit einem scheinbar kleinen Problem so umzugehen. Das ist eine Hürde, der ich ohne größere Schwierigkeit begegnen sollte. Die Dana Scully der Vergangenheit würde wahrscheinlich dieses Hindernis überspringen, ohne es sich zweimal zu überlegen.Was mich zu der Frage führt, was mit der Dana Scully der Gegenwart falsch ist?

 

****

 

Ein weiterer halber Tag. Papierkram – die Spesenrechnung vermute ich. Mein Gedankenzug geht schneller, als ich ihn mitbekomme.
Ich sehe am Mittag auf und erkenne, dass Mulder gegangen ist.
Ich hatte ihn nicht einmal das Büro verlassen hören.
Ich stehe auf, durchquere den Raum zu seinem Schreibtisch und sehe nach, was er macht. Verschiedene Hinweise, denen er nachgeht, sind auf der Oberfläche verteilt. Nichts sieht so genau oder wichtig genug aus, um sich über die Verfolgung danach Sorgen zu machen.
Auf all den Sachen liegt ein rechteckiges, weißes Papier. Die Handschrift ist von Mulder – man kann seine ungleichmäßigen Schriftzüge nicht missverstehen.
„Ich bin dort, wo du hingehst, um von all dem weg zu kommen“, steht auf dem Zettel.

 

****

 

Ich sehe ihn sobald ich den Innenhof betrete. Er sitzt auf der Bank, auf der ich immer sitze.
Er sieht nicht auf, bis ich ungefähr fünf Fuß von ihm entfernt bin.
„Was ist los, Mulder?“
„Setzen Sie sich, Scully. Sie sollten sich entspannen, genießen Sie die Kulisse.“
Ich sitze. Da ist nichts zu genießen. Das braune Gebäude mit einem identischen Fenster nach dem anderen ist nicht wirklich das, was ich Kulisse nennen würde.”
„Ich habe nachgedacht, Scully“, sagt Mulder, „über das, was wir haben, unsere Partnerschaft, wird durch Vertrauen gehalten. Würden Sie dem nicht zustimmen?“Er ist zu gut drauf. Ich kann etwas kommen sehen, aber ich weiß nicht, was es ist.
„Ich denke schon“, antworte ich ihm.
Er schaut das Gebäude an, schwenkt seine Arme gegen die Fenster. „Da ist nichts, Scully. Hier ist nichts für Sie. Weil ich Ihnen vertraue – “, und er schaut mich an, während er das sagt, “Ich werde ehrlich zu Ihnen sein und ich hoffe, dass Sie nicht denken, ich sei ein kompletter Idiot.“
„Okay“, meine ich, immer noch unsicher, auf was er hinaus will. Für gewöhnlich bin ich besser darin seine Gedanken zu lesen als jetzt.
„Sie sind die beste Partnerin, die ich jemals hatte, Scully. Ich habe mir selbst erlaubt, Ihnen mehr zu vertrauen als irgendjemandem sonst in meinem Leben.“
Dies sind große Zugeständnisse für Mulder und ich nehme sie ernst. Ich nicke ihm zu.
„Ich weiß, wie sehr Sie Ihre Stärke benötigen, Scully. Ich weiß, wie wichtig das für Sie ist. Es ist etwas, von dem ich weiß, dass Sie nicht wollen, dass ich es weiß – wie sehr Sie daran arbeiten, um stark zu sein.“
Sie haben ja keine Ahnung, Mulder, denke ich mir.
„Etwas, von dem ich denke, an dem Sie zu hart arbeiten, Scully. Sie sind die stärkste Person, die ich kenne. Ich sehe diese Stärke jeden Tag in Ihnen.“
Ich schließe meine Augen. Seine Worte haben keine Bedeutung für mich. Ich fühle mich nicht stark. Ich fühle mich überhaupt nicht stark.
„Geben Sie mir Ihre Hand, Scully.“
Ich öffne meine Augen.
„Nein, lassen Sie Ihre Augen zu.“
„Mulder...“
„Bitte, Scully. Vertrauen Sie mir.“
Und ich tue es. Ich schließe meine Augen und reiche ihm meine Hand.
Er streicht mit seinen Fingern behutsam über meine Handfläche. Dann fühle ich, wie ein kühles Gewicht direkt in die Mitte meiner Hand platziert wird.
„Mulder?“, frage ich.
„Öffnen Sie nicht Ihre Augen. Benutzen Sie einen anderen Sinn.“
Ich schließe meine Finger um irgendetwas. Ich nehme auch meine zweite Hand und mit einem Finger fühle ich die erhöhte Schrift, von der ich weiß, dass es ein chinesisches Schriftzeichen ist.
Mein Atem bleibt in meinem Hals stecken und ich öffne meine Augen.
Die Münze ist in meiner Hand. Ich drehe sie um. Der Schmetterling ist auf der einen Seite, der Buchstabe auf der anderen.
„Wo... Wie haben Sie die gefunden?“ Ich bin vollkommen geschockt. Mulder strahlt förmlich vor Glück.
„Ich habe sie für Sie gefunden. Ich habe ihre Schritte zurückverfolgt und fand sie.“
„Das wäre nicht nötig gewesen. Das wäre nicht nötig gewesen...“, wiederhole ich immer und immer wieder, die Münze fest in meiner Handfläche haltend.
Er zuckt mit den Schultern: „Das war keine große Sache.“
Keine große Sache, Mulder?
Ich strecke mich aus und ziehe ihn in einer Umarmung zu mir. Ich kann ihn nicht fest genug halten. Meine Augen sind mit Tränen gefüllt. Ich frage mich, ob er weiß, wie viel mir das bedeutet. Ich habe keine Ahnung, wie er das gemacht hat und eigentlich macht es mir auch jetzt nichts mehr aus.
„Danke Ihnen“, murmele ich in sein Ohr, „Vielen Dank, Mulder.“

 

****

 

Heimat.
Wärme.
Mein Haus sieht für mich am nächsten Morgen anders aus, als ich aufwache und mich fertig für die Arbeit mache. Sie Sonne strömt durch die Vorhänge herein und füllt das Wohnzimmer in ein gelbes Glühen, an das ich mich entsinnen kann, es zuvor gesehen zu haben. Ich strecke mich und lächle, bevor ich ins Badezimmer gehe, um zu duschen.
Ich weiß, dass es nicht von der Münze kommt.
Aber dennoch auf eine merkwürdige Art.
Angezogen und fertig zu gehen, lange ich nach der Münze, welche auf der glatten Oberfläche meines Küchentisches liegt. Ich lasse sie in die Tasche gleiten und halte dann inne.
„Sie sind die stärkste Person, die ich kenne. Ich sehe diese Stärke jeden Tag in Ihnen.“
Mulders Worte an mich.Ich weiß, er meinte es auch so. Und ich weiß, er meinte, dass er diese Stärke nicht erst gesehen hatte, als ich die Münze bekam, sondern schon vor der Diagnose.
Ich halte die Münze in meiner Tasche, drehe sie immer wieder herum.
Ich nehme sie aus meiner Tasche und lege sie sorgfältig zurück auf den Tisch, mit dem Schmetterling auf der Oberseite.
Als ich sie verloren hatte, dachte ich, ich hätte meine Stärke verloren. Als ich sie zurückbekam, stellte ich fest, dass ich im Grunde überhaupt nichts verloren hatte.
Mulder, und meine Partnerschaft mit ihm, helfen mir von Tag zu Tag mich aufrecht zu erhalten. Ich bin alleine stark, aber stärker, wenn er und ich als ein Team zusammen sind.
Ich habe viele Gründe, um dankbar zu sein.
Ich verlasse meine Wohnung, um zur Arbeit zu gehen. Schließe die Tür hinter mir ab, mit dem Wissen, dass das Sonnenlicht auf die Münze auf dem Tisch scheint.
Ich halte vor der Tür inne. Ich stelle fest, dass Stärke nicht immer etwas Fühlbares ist, das man mit sich herum trägt. Es ist etwas, das ich körperlich nicht bestimmen kann und etwas, das mich zur Stärksten macht.

 

Ende

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