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Sein Engel

von Foxy

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Es war eine kalte, stürmische Nacht. Der Wind trieb den Regen fast parallel zur Erde über die Landschaft, die vor dem Fenster vorbeisauste.

Regentropfen peitschten gegen die Fensterscheiben des Zugabteils, in dem er saß aber er bewegte sich nicht. Auch dann nicht, als ein Donnergrollen die Nacht zerriß und ein Blitz in den Horizont einzuschlagen schien.



Mit leerem Blick starrte er auf die vorbei fliegenden Bäume, die nicht mehr als Schatten in der Dunkelheit waren. Sie hatten ihn etwa eine Meile von dem kleinen Bahnhof entfernt aus dem Auto gestoßen. Mit nichts weiter am Leib als einer zerrissenen Jeans und einem fleckigen Hemd, daß kalt und klamm an seinem Oberkörper klebte.

Irgendwie hatte er es geschafft sich auf den eisigen Bahnsteig zu schleppen. Der Zug war keine fünf Minuten später gekommen und obwohl sein Körper sich nach nichts mehr sehnte, als nach Wärme und Schlaf, konnte er keine Ruhe finden. Die Gedanken und Erinnerungen an die letzten Wochen - oder waren es Monate gewesen ? - ließen ihm keine Entspannung. Sie jagten einander in sinnlosen Fetzen. Ohne Ursprung und ohne Ziel. Bilder aus Zeiten, die längst vergangen schienen tauchten vor seinen Augen auf und verschwammen Sekunden später wieder. Sie waren nicht real. Nur der Schmerz war real. Er stach in seiner Brust, an der Stelle, an der früher einmal sein Herz geschlagen hatte. Heute war dort nichts mehr, als ein mechanisches Gebilde aus Drähten und Kabeln, in Funktion gehalten durch ein schwarzes Öl, das anstelle des roten Blutes durch seine Adern floß. Er hatte es nie gesehen und doch wußte er, daß es da war. Das sie ihm das angetan hatten.



Nicht die Wunden auf seiner Brust waren es, die schmerzten, es waren die Narben auf seiner Seele. Auf seinen Gedanken und Erinnerungen, die sie ihm zu nehmen versucht hatten. Dutzende von Malen hatten sie ihn dieser Prozedur unterzogen, hatten versucht, ihm das Letzte zu nehmen, was ihn am Leben erhalten hatte. Er hatte die anderen schreien hören. Noch jetzt hallten ihre jämmerlichen Klagelaute durch seinen Kopf und ein Schatten von Panik huschte über seine Augen. Augen, die vormals von einem fast betörenden gold-grün gewesen waren, waren jetzt grau und matt. Verschwunden waren die Neugierde und der Wissensdurst, der ihn all die Jahre über auf dem rechten Weg gehalten hatten. Zuviel hatte er gesehen, was er nicht sehen wollte. Zuviel Wissen hatte sich in seinem Kopf angesammelt, das er nicht haben wollte.

Sie hatten nicht die Bilder seiner Erinnerungen gelöscht, sondern die Informationen, die dahinter standen. So waren die Strukturen, die in seinem Kopf flackerten nichts weiter, als sinnlose Gebilde aus Farben und Formen. Nur ein Bild war klar geblieben und obwohl ihm seine Bedeutung nicht bewußt war, beruhigte es ihn auf eine Art, die er nicht zu greifen wußte.

Es war das Bild einer Frau. Sie war rothaarig und nicht sehr groß. Ihre Züge waren meist verschlossen und hart doch es gab einige wenige Momente in denen sie in seinen Erinnerungen lachte und dann strahlten ihre Augen in einem blendenden Blau, daß etwas in seinem Innersten berührt wurde. Etwas, das er nicht begriff und das ebenso zusammenhangslos war, wie der Rest seiner Gedanken.

Und gerade weil er nicht wußte, weshalb sie ihm diese Kraft gab, klammerte er sich mit einer Verzweiflung an ihr Gesicht, mit der sich ein Ertrinkender an ein Floß klammert.



Manchmal, Nachts, wenn die anderen in seinem Trakt schliefen und die Wachen vergessen hatten, ihn an seine Pritsche zu fesseln war er aufgestanden und zu einem der kleinen vergitterten Fenster geschlichen. Er hatte nur dagestanden und in den Nachthimmel hinauf gestarrt, um die Sterne zu sehen und vielleicht einen Blick auf eine Sternschnuppe zu erhaschen. In diesen Momenten hatte er ihre Stimme hören können. Wütend, überrascht, skeptisch, zärtlich, und sie hatte ihm die Kraft gegen, nicht aufzugeben. Hatte ihm das Gefühl vermittelt, gebraucht zu werden, auch wenn er nicht mehr wußte, weshalb er gebraucht wurde. Es gab etwas in seinem früheren Leben, daß ihn dazu zwang weiter zu machen und sich nicht einfach mit einem Messer die Pulsadern aufzuschlitzen. Es hatte mit der Frau zu tun, die er "seinen Engel" nannte. Sie kam immer dann zu ihm, wenn es ganz besonders schlimm war. In der ersten Nacht, die er in Einzelhaft verbracht hatte und in den Tagen danach, in denen sie ihn fast verhungern hatten lassen. Als sie ihm das künstliche Herz gaben und ihm die Menschlichkeit nahmen. Er hatte geschrien, hatte sich gegen die Prozedur gewehrt, als sie ihm endgültig sein Gedächtnis löschten und immer war sie bei ihm gewesen. Auch wenn er nicht wußte, wer sie war, hatte sie ihm in den schwersten Stunden geholfen.

Und auch jetzt, in dem einsamen Abteil eines Zuges der in eine unbestimmte Richtung fuhr, war sie bei ihm. Der Himmel war wolkenverhangen , so daß er die Sterne nicht sehen konnte und so blieb auch ihre Stimme fern. Aber ihr Gesicht war bei ihm und als sich ihre Lippen stumm bewegten konnte er fühlen, daß er auf dem richtigen Weg war.



Der Schaffner kam einige Mal vorbei und fragte ihn nach seiner Fahrkarte, die er nicht hatte, doch er bewegte sich nicht und so ging der Mann, der für ihn aussah, wie alle anderen auch, wieder und ließ ihn mit den Gedanken allein, die nicht mehr seine waren, sondern die eines Fremden.



Mit dem Verlust der Erinnerungen war auch die Gleichgültigkeit gekommen. Er konnte sich an Tage erinnern, an denen er bis auf's Blut gekämpft hatte, aus dem sterilen Krankenhaus, in dem man sie eingesperrt hatte zu entkommen, doch jetzt wußte er nicht mehr, weshalb. Es konnten nicht alleine die Qualen gewesen sein. Da gab es noch etwas anderes und es mußte mit dem Engel zu tun haben, der ihn besuchte. Gab es sie wirklich? Hatte sie einmal irgendwo in seiner Vergangenheit existiert oder war sie das Produkt seiner geschundenen Psyche, die einen Weg suchte, seinen Geist vor dem Wahnsinn zu bewahren?

Es spielte keine Rolle, solange sie nur bei ihm war.



Seine Augen fokusierten sich auf einen der unzähligen Wassertropfen, die wie flüssiges Blei zäh an der Scheibe entlang liefen. Die feuchte Spur, die er hinterließ glitzerte silbrig im schwachen Licht der Beleuchtung, die im Zug herrschte und allmählich vermischte sich das Rauschen des Regens mit dem gleichmäßigen Rattern der stählernen Räder auf den Schienen. Seine Lider wurden schwerer und schwerer, bis er sie schließlich schloß und die ungastliche Welt vor seinen Augen ausschloß. Er hatte keine Träume mehr, nicht seid der Prozedur. Irgendwo in seinem Unterbewußtsein erinnerte er sich daran, daß er früher oft Alpträume gehabt hatte. Er träumt von einem gleißenden Licht, mittlerweile waren seine Träume so dunkel, wie die Welt vor dem Fenster.



Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, denn er hatte das Gefühl für Zeit und Raum schon vor langer Zeit verloren. Der Regen hatte nachgelassen und am Horizont schimmerte ein leichter Graustreifen, der die frühen Morgenstunden ankündigte. Wie lange hatte er keinen Sonnenaufgang mehr gesehen.



Plötzlich tauchten einige winzige Häuser in der Ferne auf und wurden mit jeder Meile die der Zug zurücklegte rasch größer. Wenige Minuten später fuhr der Zug in einen kleinen Bahnhof ein und ohne zu wissen warum, erhob er sich und verließ den Wagon. Auf dem Bahnsteig blieb er stehen. Hinter ihm zischte die Eisenbahn, als sie ausfuhr. Dann senkte sich Stille auf die Szenerie. Bewegungslos blieb er stehen. Das Licht war grau. Die Sonne konnte sich nur langsam einen Weg durch die Dämmerung bahnen und ließ den Nebel seidig schimmern.

Mit einem Mal öffneten sich die rostigen Flügeltüren des Bahnhofsgebäudes und eine zierliche Gestalt lief auf den Bahnsteig. Sie hielt einen Moment inne und starrte ihn sekundenlang an, bevor sie einen weiteren Schritt auf ihn zu machte. Als sie sprach, wußte er, wer sie war:

"Bist Du es wirklich?" flüsterte sie so leise, daß er sie kaum hören konnte.

Es war der Engel, der über ihn wachte und sie war real. Sie kam noch näher und als sie direkt vor ihm stand, konnte er in ihre blauen Augen sehen und die Liebe darin förmlich spüren.

"Oh mein Gott, sie hatten recht!" stammelte sie schließlich und schlang ihre Arme um seinen Hals. In dem Moment, als sich ihre Körper berührten und er die Rundung ihres Bauches an seinem spürte, wußte er, weshalb er hier war.



Ende
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