An diesem Abend wartete Monica lange auf ihre Freundin. Allmählich begann sie, sich Sorgen zu machen. Es war ganz und gar nicht Sarahs Art, nach der Arbeit nicht nach Hause zu kommen, ohne vorher anzurufen. Es hatte zwar eine Weile gedauert, aber irgendwann hatte sie verstanden, dass es Monica wahnsinnig machte nicht zu wissen, wo sie sich befand. Erst hatte Sarah es für übertriebene Eifersucht gehalten und war wütend geworden, doch als sie Monica einmal in Tränen aufgelöst vorgefunden hatte, nachdem sie einige Stunden länger in der Praxis hatte bleiben müssen, war ihr aufgegangen, dass ihr Kontrollzwang auf echter Besorgnis beruhte. Sie hatte ein paarmal versucht, den Grund dafür herauszubekommen, hatte aber aufgegeben, nachdem Monica es ihr partout nicht erzählen wollte. Was hätte sie auch sagen sollen? Ich habe jahrelang Angst um die Menschen gehabt, die ich liebe, sobald sie nicht in meiner Sichtweite waren, weil ich wusste, es gab eine reale Bedrohung, und es ist schwer, diese Gewohnheit abzulegen. Ich weiß nicht, wo die beste Freundin sich befindet, die ich in Jahren hatte, und ich fürchte, sie könnte tot sein oder schlimmeres; ich habe alle Menschen verloren, die mir etwas bedeutet haben, und möchte dich nicht auch verlieren. Sie schüttelte den Kopf. Es war unmöglich, Sarah das zu erklären. Genau wie ihre panische Angst vor unangemeldeten Besuchern, vor Menschen, die weder sie noch Sarah kannten, vor Anrufen mitten in der Nacht, konnte sie auch dieses Geheimnis nicht enthüllen. Aber ihre geduldige Sarah hatte nicht weiter nachgebohrt. Wie alles andere hatte sie auch dies akzeptiert und Monica nicht deswegen verurteilt. Deshalb war sie sicher, dass etwas nicht stimmen konnte, als Sarah zwei Stunden nach Ende der Sprechstunde noch immer nicht aufgetaucht war. Bevor sie jedoch beginnen konnte darüber nachzudenken, was sie unternehmen sollte, forderte Winnie ihre ganze Aufmerksamkeit. Er legte ihr seine Leine vor die Füße und sah mit tieftraurigen Augen zu ihr auf. Monica seufzte. „Na gut, ich weiß, du musst raus. Dann lass uns mal gehen.“ Sie schlüpfte in ihre Jacke und griff nach dem Schlüssel. Sobald sie die Wohnungstür öffnete, drückte sich der Hund durch den Spalt und rannte die Straße entlang. Sarah hatte ihm das abgewöhnt, aber das hieß nicht, dass er sich daran hielt, sobald er mit Monica allein war. Sie sah ihm kopfschüttelnd hinterher, bis sein schwarzes Fell mit der Dunkelheit verschmolz. Nur unter den vereinzelt stehenden Straßenlaternen war er noch zu erkennen. Ohne zu zögern begann Monica, dem Hund zu folgen, als plötzlich Sarah vor ihr stand. „Hi. Was machst du denn hier draußen?“, erkundigte sie sich. Monica brach beinahe in Tränen der Erleichterung aus, als sie ihre Freundin heil und gesund auf der Straße stehen sah. Sie konnte nicht anders, als ihr um den Hals zu fallen. „Ich hab mir Sorgen gemacht.“, murmelte sie in den Kragen von Sarahs Mantel. Sarah strich ihr behutsam übers Haar. „Ich weiß, und es tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe. Aber ich musste eine Weile allein sein, um über einiges nachzudenken.“ Ihr Blick fiel auf die Leine in Monicas Hand. „Du bist mit Winnie rausgegangen? Du bist ein Engel. Wo steckt er überhaupt?“ Sie sah sich suchend um.
„Er ist mir mal wieder abgehauen“, gestand Monica. Sarah musste trotz ihrer inneren Anspannung lächeln. „Typisch. Seid ihr gerade erst raus?“
„Ja. Und ich denke, es wird dauern, bis ich ihn wiederhabe.“
„Das glaube ich nicht. Ich weiß, wo er langgeht; wahrscheinlich wartet er schon sehnsüchtig darauf, dass wir ihm folgen. Hast du was dagegen, wenn wir einen längeren Spaziergang machen? Ich muss sowieso mit dir reden.“
Besorgt schaute Monica sie an, konnte jedoch ihre Züge in der Dunkelheit nicht erkennen. Der Ernst in Sarahs Stimme ließ sie schaudern. Konnte der gestrige Vorfall, über den ihre Freundin nicht sprechen wollte, der Grund für ihren Stimmungswechsel sein? Ihr blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn Sarah ergriff ihre Hand und zog sie mit sich in Richtung der kahlen Felder, zwischen denen Winnie sich herumtreiben musste. Ohne es zu merken, drückte Monica Sarahs Finger so fest, dass es schmerzte. In ihrer eigenen Anspannung realisierte Sarah den Schmerz jedoch selbst nicht. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Es schien fast, als sei dies nichts weiter als einer der vielen gemeinsamen Spaziergänge, die sie im Laufe ihres Zusammenseins gemacht hatten, wäre da nicht die unausgesprochene Spannung zwischen ihnen. Schließlich durchbrach Sarah die Stille: „Monica, ich hatte heute Besuch in der Praxis.“ Monica sagte nichts. Sie konnte mit jeder Faser ihrer emphatischen Gabe das Unglück spüren, das sich anbahnte; sie war sicher, dass sie Sarahs nächste Worte nicht hören wollte und fragte sich, ob sie ihre Freundin durch ihr Schweigen davon abhalten konnte, sie zu sagen. Doch Sarah fuhr fort: „Ein Mann kam zu mir, der mir gestern schon auf dem Campus begegnet war. Er sagte mir, er suche nach einer Freundin, die er seit Jahren nicht gesehen hätte.“ Unwillkürlich versteifte sich Monica. Sie hatte es gewusst: Irgendwann mussten sie ihr auf die Spur kommen; nun war es soweit. Sie fragte sich, was man Sarah über sie erzählt hatte und warum sie noch nicht hier waren, um sie zu holen, wenn sie schon wussten, wo sie wohnte. Es sei denn... Konnte es sein, dass Sarah es ihnen verschwiegen hatte? Nein, das war unmöglich. Sie kannte diese Leute. Die hatten Mittel und Wege, Informationen aus Menschen herauszuholen. Unwillkürlich schaudernd drückte sie Sarahs Hand noch fester. Wie war sie ihnen entkommen? Ein unglaublicher Gedanke drängte sich Monica auf: Was, wenn sie nur paranoid war? Vielleicht war der Mann, von dem Sarah sprach, gar nicht hinter ihr her gewesen? Wollte ihre Freundin möglicherweise einfach nur von einer Begegnung erzählen, die sie aufgewühlt hatte? Konnte es sein, dass sie sich in ihrem Verfolgungswahn nur einbildete, sie sei die Gesuchte gewesen, von der Sarah sprach? Agent Mulder wäre stolz auf mich, dachte sie spöttisch. Sie nahm sich vor, in aller Ruhe abzuwarten, was Sarah weiter erzählen würde. Wahrscheinlich machte sie sich ganz umsonst Sorgen.
Sarahs nächste Worte zerstörten ihr mühsam errichtetes Kartenhaus der Hoffnung mit einem Schlag.
„Er hat mich gefragt, ob ich seine Freundin kenne, und er zeigte mir ein Foto von dir.“
„Wer war der Mann? Hast du ihm gesagt, wo er mich findet?“ Selbst in ihren Ohren klang Monica nicht mehr wie eine Zivilistin. Ihr Ton war der geschäftsmäßig angespannte einer Agentin des FBI; sie war selbst überrascht, dass es ihr nach all den Jahren außerhalb ihres Berufs noch immer automatisch gelang, sich emotional zu distanzieren, auch wenn sie selbst die Betroffene war. Ihr scharfer Tonfall verfehlte seine Wirkung auf Sarah nicht. Sie hatte sich bis zu diesem Moment nicht wirklich vorstellen können, dass Monica einmal FBI-Agentin gewesen war, aber jetzt erlebte sie eine nie gekannte Stärke und Kälte in der sonst so freundlichen Frau. Sie zwang sich zur Ruhe, indem sie sich in Erinnerung rief, dass Monica ebenso überrascht und schockiert sein musste wie sie selbst, und erwiderte scheinbar unbewegt: „Natürlich habe ich ihm nicht gesagt, wo du wohnst. Ich habe geleugnet, dich zu kennen, aber er hat nicht lockergelassen und anscheinend dein Foto jemandem gezeigt, der wusste, dass es eine Verbindung zwischen uns gibt. Deshalb ist er heute in der Praxis aufgetaucht und hat mir quasi die Pistole auf die Brust gesetzt. Er erzählte mir, er habe mit dir zusammen beim FBI gearbeitet. Natürlich gehe ich nicht davon aus, dass er mir seinen echten Namen genannt hat; schließlich hast du das auch nicht getan.“ Es gelang ihr nicht, einen Hauch von Verletztheit aus ihrer Stimme zu verbannen; Sarah schalt sich für ihre Schwäche. Sie hatte lange nachgedacht und sich vorgenommen, die Sache so wenig wie möglich an sich heranzulassen. Wenn sie das hier überstehen wollte, durfte sie niemandem zeigen, was wirklich in ihr vorging, am wenigsten Monica. Was auch passierte, sie würde es überleben und irgendwie weitermachen.
Trotz ihrer Bemühungen hatte Monica ihren veränderten Tonfall bemerkt. Sie blieb stehen und zwang Sarah, sie anzusehen, auch wenn sie einander im fahlen Licht des Mondes kaum erkennen konnten. „Hör zu, ich weiß, dass ich dich nicht hätte anlügen sollen, aber ich hatte zu dem Zeitpunkt keine andere Wahl. Denkst du, mir ist es leichtgefallen, ausgerechnet dir meine Vergangenheit zu verschweigen? Aber das, was jetzt passiert ist, bestätigt nur, dass es besser für dich ist, so wenig wie möglich zu wissen. Sonst wärst du auch in Gefahr.“
Der dringliche Ton Monicas machte Sarah Angst. „Wovor fürchtest du dich eigentlich?“, wollte sie wissen. „Denkst du, dieser Doggett hat jahrelang nach dir gesucht, nur um dich jetzt umzubringen?“
„Doggett sagst du?“ In Monica keimte ein unerhörter Hoffnungsschimmer auf. Wenn der Mann auf ihrer Spur wirklich John Doggett war, konnte vielleicht doch noch alles gut werden. Sie musste ihn nur überzeugen, sie in Ruhe zu lassen. Aber wenn er es nicht war...
„Wie sah er aus?“
Verständnislos sah Sarah sie an. „Was spielt das für eine Rolle?“
„Bitte, ich muss es wissen. Das könnte alles ändern.“
„Okay. Also, er war ein Stück größer als du, muskulös, hatte dunkelblonde Haare mit grauen Stellen, blaue Augen, richtig durchdringend... Ich dachte fast, er könne durch mich hindurch sehen. Sein Gesicht... Nun ja, er war nicht besonders attraktiv, aber auch nicht hässlich; irgendwas hat er, was ihn vielleicht anziehend machen könnte. Und seine Ohren sind ziemlich groß.“
Monica unterdrückte ein erleichtertes Lachen, als sie Sarahs Worte hörte. Ja, das war eindeutig John. Um so überraschter war sie, dass er nicht längst hier war. Wie sie ihn kannte, folgte er jeder Spur sofort und ohne Umschweife. Er hätte Sarah unbemerkt verfolgen können. Warum hatte er es nicht getan? Es sei denn, Sarah hatte ihm nicht erzählt, dass sie... Sie verwarf diesen Gedanken und entschuldigte sich innerlich bei ihrer Freundin. Wie konnte sie so weit gehen zu glauben, Sarah könnte einem für sie Fremden solche Dinge verraten?
„Hast du ihm erzählt, dass du mich kennst?“, erkundigte sie sich statt dessen.
„Nun, da er es bereits wusste, erschien es mir sinnlos, zu lügen. Er hätte mir schließlich einfach folgen können, und dann hätte er dich sowieso gefunden. Ich dachte, es wäre klüger, mit ihm zu reden und zu erfahren, wer er ist und was er will. Er erzählte mir, ihr wäret früher Partner beim FBI gewesen und hättet einander durch einen unglücklichen Zwischenfall verloren. Ist das wahr?“
Monica nickte. Sie wusste, es hatte keinen Sinn mehr, Sarah zu belügen. Sie würde früher oder später alles erfahren, und es war ihr lieber, wenn sie diejenige war, von der sie es hörte.
„Ja, das stimmt. Lass uns nach Hause gehen, dann erzähle ich dir alles. Aber egal, was du heute Abend erfährst, vergiss bitte nicht, dass ich dich liebe.“ Sie merkte nicht, dass ihre zur Beruhigung gedachten Worte Sarah eine höllische Angst einjagten, als sie sich fragte, wie schrecklich die Wahrheit wohl sein mochte, wenn Monica glaubte, sie müsse ihr so nachdrücklich ihre Liebe versichern.
**********
Wenig später saßen die beiden Frauen auf der Wohnzimmercouch. Winnie hatte sich unter dem Tisch verkrochen, auf dem zwei unberührte Teetassen langsam abkühlten. Sarah saß sehr aufrecht und starrte angespannt die Wand an. Sie sehnte sich verzweifelt danach, Monica zu berühren, wagte es jedoch nicht, denn sie hatte das Gefühl, auf einmal nicht mehr das Recht dazu zu haben. Es war, als entferne sich Monica mit jeder verstreichenden Minute weiter von ihr. Sarah fragte sich, ob sie diese Entwicklung noch irgendwie stoppen könnte, sah aber keine Möglichkeit dazu. Monica konnte die Angst ihrer Freundin deutlich spüren – sie reflektierte ihre eigene. Zögernd rutschte sie dichter zu Sarah und legte einen Arm um sie, denn auch sie brauchte die Berührung, wusste aber ebenso, dass Sarah sie sich zwar wünschte, aber nicht ausführen würde. Irgend einen Vorteil muss diese verdammte Empathie doch haben, dachte sie wütend. Sie hatte gelernt, mit ihrer Gabe umzugehen, aber nie den Sinn dahinter gesehen. Jetzt fragte sie sich einen Moment lang, ob alles darauf hinauslief zu wissen, was Sarah dachte und fühlte, verwarf diesen Gedanken jedoch genauso schnell wieder. Für so etwas war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Sie würde sich später damit auseinandersetzen; zunächst galt es, eine Entscheidung herbeizuführen, ganz gleich, wie diese aussah. Sie lehnte sich an Sarah, zum einen, um in ihrer Nähe Trost zu finden, zum anderen, um ihr Gesicht nicht sehen zu müssen, und begann leise zu sprechen: „Es stimmt, ich habe eine Zeitlang fürs FBI gearbeitet. Der Mann, den du getroffen hast, war mein Partner. Aber das alles liegt noch viel weiter zurück. Ich wollte nie, dass du es erfährst, aber jetzt weiß ich, dass das ein Fehler war. Du verdienst die Wahrheit. Nein, bitte unterbrich mich nicht“, kam sie ihrer Freundin zuvor, die gerade zum Sprechen ansetzen wollte. „Das alles ist schon schwer genug für mich, also musst du mich bitte ausreden lassen. Danach werde ich dir zuhören. Okay?“ Sarah nickte bloß, und Monica fuhr fort: „John Doggett und ich haben uns vor vielen Jahren kennengelernt. Ich war damals schon beim FBI, er hat als Cop gearbeitet. Eines Tages bekam ich den Entführungsfall eines kleinen Jungen zugewiesen. Sein Name war Luke, Luke Doggett. Er war Johns Sohn. Wir konnten ihn nicht retten, aber der Mörder wurde nie gefasst. Während die Ermittlungen andauerten, kamen John und ich uns näher. Nein, wir hatten keine Affäre“, beantwortete sie die stumme Frage in Sarahs Augen. „Dazu war ich zu dieser Zeit nicht fähig. John brauchte jemanden, der für ihn da war, und ich war an seiner Seite. Wir wurden Freunde, und auch als ich nach New Orleans ging, riss der Kontakt nie ab. Weißt du, ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass ich anders bin als die anderen Mädchen, und während ich aufwuchs, verstärkte sich das noch. Ich spürte, dass ich nicht richtig dazugehörte, und vielleicht wäre ich auch schon damals darauf gekommen, dass ich nichts mit Jungs anfangen konnte, aber es kam etwas dazwischen. Ich entdeckte, dass ich die Fähigkeit habe, die Gefühle anderer Menschen zu fühlen und bestimmte Ereignisse vorauszuahnen. Mit dieser Erkenntnis war ich so beschäftigt, dass ich keine Zeit hatte, mir Gedanken darüber zu machen, ob ich Männer oder Frauen bevorzugte. Als ich endlich so weit war, meine Fähigkeit als eine Gabe anzusehen und nicht mehr als Fluch, war in mir schon der Wunsch entstanden, zum FBI zu gehen. Ich studierte Okkultes und beschäftigte mich mit Verbrechen, die durch Kulte und rituelle Vereinigungen begangen wurden, um einen Fuß bei der Polizei in die Tür zu bekommen. Nach einiger Zeit wurde ich rekrutiert und bekam meinen Traumjob. Ich war Expertin für Ritualverbrechen und wurde als solche geachtet, weil ich schon immer gut schauspielern konnte. Anders als Agent Mulder konnte ich meinen Enthusiasmus für bestimmte paranormal angehauchte Fälle verbergen, und so blieb mir die Verachtung erspart, mit der man ihn strafte. Ich glaubte einfach alles, was irgendwie den Hauch des Mysteriösen besaß, denn ich wusste aus eigener Erfahrung, dass es mehr Dinge auf dieser Welt gibt, als die Wissenschaft erklären kann. Anders als Mulder verstand ich es jedoch, mich zu verstellen, das zu sein, was alle von mir erwarteten: Die brave, angepasste Agentin mit einer hohen Erfolgsquote bei komplizierten Fällen. Im Nachhinein weiß ich, dass das feige war, aber zu der Zeit sah ich es als die einzige Chance, meinen Job zu behalten und mich langsam dem Ziel zu nähern, das ich insgeheim verfolgte: Die Arbeit an den sogenannten X-Akten, jeden Fällen, die mit Hilfe regulärer Wissenschaften nicht zu erklären oder auch nur zu erfassen waren. Ich wollte unbedingt in diese Abteilung nach Washington, habe aber mit niemandem darüber geredet, denn ich kannte keinen, der diesen Wunsch verstanden oder unterstützt hätte. Allmählich wurde mir auch immer deutlicher bewusst, dass ich mich mehr zu Frauen hingezogen fühlte als zu Männern. In meinem Eifer, meine beruflichen Ziele zu verfolgen, hatte ich zuvor immer den einfachsten Weg verfolgt und das getan, was alle Frauen taten: Ich war mit Männern ausgegangen, hatte auch Beziehungen, die allerdings nie lange andauerten. Ich ertrug die Nähe der Männer einfach nicht. Es erschien mir nur natürlich, mit ihnen zu schlafen, aber ich wollte sie nie in meiner Nähe haben, wollte nicht mehr Zeit mit ihnen verbringen als nötig, und am wenigsten wollte ich mit ihnen zusammen wohnen. Deshalb ließ ich mich wohl unbewusst auf unmögliche Affären ein; ich schlief eine Zeitlang mit einem Kollegen, denn da waren die Grenzen klar definiert: Wir arbeiteten zusammen, also konnten wir zwar Sex haben, aber keine feste Beziehung mit Zukunft. Sobald ich einmal begriffen hatte, dass ich lesbisch bin, wusste ich sofort, dass ich es verbergen musste. In einer Männerwelt wie dem FBI musst du als Frau vorsichtig sein. Du kannst dir jede Chance auf eine Karriere verbauen, wenn man dir nachsagt, du seist schwach und nicht belastbar genug für den Job, aber noch schlimmer ist es, wenn du alle Anforderungen erfüllst. Dann bekommen die Männer Angst vor dir und suchen nach einem Makel. Und glaub mir, bei der Polizei und beim FBI gibt es keinen schlimmeren Makel als den, nicht auf Männer zu stehen. Niemand wird es offen aussprechen, aber alle werden es denken: Sie will nicht mit Männern schlafen, also kann sie keine Männer ausstehen. Und das bedeutet, sie kämpft gegen uns, was unter allen Umständen verhindert werden muss. In der Geschichte des FBI haben Frauen erst seit Kurzem ihren Platz gefunden, und noch immer ist es für sie schwer, sich zu behaupten. Noch schwerer ist es für Frauen, die von Männern als Bedrohung ihrer Männlichkeit gesehen werden. Das wusste ich, also habe ich weiterhin die Rolle gespielt, an die ich mich seit Jahren gewöhnt hatte: Ich hatte die eine oder andere kurze Affäre, aber mehr nicht. Und innerlich wurde ich einsam, denn auch nachdem ich mir selbst meine Neigung eingestanden hatte, konnte ich nichts unternehmen. Es wäre viel zu riskant gewesen, mich auf eine Beziehung zu einer Frau einzulassen, denn irgendwann hätte es jemand herausgefunden. Flüchtige Affären wie mit den Männern in meinem Leben wollte ich mit einer Frau nicht, denn irgendwie habe ich schon immer gespürt, wenn ich mich auf eine Frau einlasse, werde ich es ganz und gar tun, mit allen Konsequenzen. Und so war es auch.“ Monica hielt inne und strich ihrer Freundin eine Weile schweigend durch die Haare, bevor sie weitersprach: „Wahrscheinlich wäre das alles noch jahrelang gutgegangen, denn ich schaffte es immer irgendwie, keiner Frau nahe genug zu kommen, dass ich Gefahr lief, mich ernsthaft zu verlieben und meine eigene Lüge nicht mehr leben zu können. Doch irgendwann kam ein Anruf von John. Er war nach dem Tod seines Sohnes zum FBI gewechselt und hatte den Auftrag erhalten, einen vermissten Agenten zu suchen. Dabei war er ausgerechnet bei den X-Akten gelandet, denn der Vermisste war kein anderer als der legendäre Agent Mulder, dessen Karriere in dieser Abteilung ich über Jahre hinweg neidisch verfolgt hatte. John spürte, dass er mit seiner Aufgabe überfordert war, und bat mich um Hilfe. Ich wurde nach Washington versetzt und kam endlich an den Job, den ich schon so lange gewollt hatte. Es schien mir, als hätten sich für diesen Moment die Selbstverleugnung und die Einsamkeit gelohnt, die mein ganzes bisheriges Leben geprägt hatten. Ich dachte, bei den X-Akten könnte ich meine Gabe einsetzen und vielleicht Menschen finden, mit denen ich offen darüber sprechen könnte, denn diese Agenten mussten doch wissen, dass ich nicht unter Einbildungen litt. Aber es kam ganz anders. Sobald ich in Washington arbeitete, vertieften John und ich unsere Freundschaft wieder, und ich merkte, dass er sich in mich zu verlieben begann. Möglicherweise hatte er das schon viel früher getan, aber damals war ich weder bereit noch in der Lage, das zu erkennen. Ich ignorierte seine Gefühle, was nicht weiter schwer war, denn er war noch nie sehr gut darin, anderen Menschen mitzuteilen, was in ihm vorging. Das hätte jahrelang so weitergehen können, wäre da nicht Dana gewesen.“ Monica gab sich alle Mühe, den mechanischen, unbeteiligten Tonfall beizubehalten, in dem sie bis jetzt gesprochen und den Sarah ihr nicht einen Moment lang abgenommen hatte, doch bei der Erwähnung des Namens Dana drängte sich ein trauriger Unterton in ihre Stimme. Sarah ahnte, warum sie sprach, als lese sie die Biografie eines Fremden von einem Blatt Papier ab. Es war deutlich zu spüren, wie schwer es ihr fiel, über diese Dinge zu sprechen, und sie hatte ja selbst gesagt, dass nichts davon jemals für Sarahs Ohren bestimmt gewesen war. Würde sie sich auch nur einen Hauch ihrer wahren Emotionen anmerken lassen, würde sie zusammenbrechen. Und ihrem schmerzlichen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es gerade soweit. Sarah wusste nicht, welche Rolle diese Dana in Monicas Leben gespielt hatte, vermutete aber, dass es eine gravierende gewesen sein musste. Monica setzte erneut zum Sprechen an, jedoch versagte ihre Stimme bereits beim ersten Wort. Sie atmete ein paarmal tief durch, wohl um sich wieder in die Gewalt zu bekommen, aber es half nicht. Die Luft entwich ihren Lungen in einem Schluchzer, der eine wahre Tränenflut mit sich brachte. Ohne nachzudenken zog Sarah die Weinende mit sich auf der Couch hinunter in eine liegende Position und umschlang sie mit beiden Armen. Monica schien es nicht einmal zu bemerken; sie krallte sich mit verzweifelter Kraft an ihrem Körper fest; ihr Griff raubte Sarah beinahe die Luft. Besorgt registrierte diese, dass der Ausbruch noch heftiger war als der gestrige. Die Erinnerungen, die ihre Freundin mit ihr zu teilen versuchte, mussten unglaublich schmerzhaft sein. Sie drückte Monica an ihre Brust, streichelte ihre Haare und murmelte beruhigende Worte in ihr Ohr, bis sich ihre Freundin schließlich nach einer kleinen Ewigkeit wieder gefangen hatte. Von einem Augenblick auf den nächsten verstummten die Schluchzer, und nach einem Moment des Schweigens räusperte sich Monica und setzte erneut zum Sprechen an, als sei nichts geschehen. Ihre Stimme klang so kontrolliert wie vorher, nur ein wenig rauer vom Weinen. Wäre nicht ihre Bluse von Monicas Tränen durchgeweicht gewesen und hätten sie nicht im Gegensatz zu vorher eng aneinander geklammert auf der Couch gelegen, hätte sich Sarah ernsthaft gefragt, ob sie Monicas Weinkrampf vielleicht nur geträumt hatte. So jedoch machte sie sich zunehmend Sorgen um ihre Lebensgefährtin, die sie immerhin schon seit drei Jahren kannte und noch nie so sehr außer Kontrolle erlebt hatte. Der abrupte Wechsel zwischen hysterischem Weinen und absoluter Selbstkontrolle musste einen tief sitzenden Grund haben, und sie war nicht ganz sicher, ob sie diesen Grund überhaupt hören wollte. Egal was es war, es würde letztendlich zum Ende ihrer Beziehung führen, dessen war sie sich jetzt sicher, denn wenn ihre Vergangenheit sie nach all den Jahren noch immer so sehr bewegte, würde Monica natürlich alles tun, um dorthin zurückzukehren. Und Sarah würde sie gehen lassen, auch das war ihr klar. Monica musste ihre Vergangenheit zurückbekommen, das war offensichtlich. Ihrerseits verzweifelt schob Sarah ihre eigenen trüben Gefühle beiseite und zwang sich, Monicas Erzählung zuzuhören, die allmählich wieder gleichmäßig zu fließen begann, nur noch vom einen oder anderen unwillkürlich schluchzenden Luftholen unterbrochen. Auch das legte sich jedoch nach ein paar Sätzen, und Monica klang mehr und mehr wie eine Nachrichtensprecherin. Obwohl sie sich sagte, es diene dem Selbstschutz ihrer Freundin, das Gesagte so wenig wie möglich an sich heranzulassen, musste sich Sarah sehr beherrschen, Monica nicht zu schütteln um irgendeine emotionale Reaktion aus ihr herauszubekommen. Sie tat es nicht, und Monica fuhr fort, ihre Lebensgeschichte wie die einer Fremden zu erzählen. Die Kraft, mit der sie sich noch immer an Sarah festhielt, verriet jedoch, was wirklich in ihr vor sich ging.
„Agent Dana Scully war Johns Kollegin bei den X-Akten, die ehemalige Partnerin des verschwundenen Agent Mulder. Niemand wusste jedoch, dass die beiden auch privat ein Paar gewesen waren.“ Bildete es sich Sarah nur ein, oder schwankte Monicas Stimme bei diesen Worten kaum merklich? Sie war nicht sicher, also ließ sie Monica weiterreden.
„Dana setzte alles daran, ihn zu finden, was ihr jedoch dadurch erschwert wurde, dass sie schwanger mit seinem Kind war. Als ich Dana zum ersten Mal sah, wusste ich, sie würde mich verändern. Während der Zeit, in der wir Mulder suchten, lernten Dana und ich uns besser kennen, und ich verliebte mich in sie.“ Dieses Mal war Sarah sicher, Monicas Stimme zittern zu hören. Sie konnte sich jetzt auch den Grund dafür denken, sagte jedoch nichts, sondern ließ ihre Finger leicht durch Monicas Haare gleiten, denn sie wusste, das würde sie so weit beruhigen, wie es in dieser Situation eben möglich war. Zu ihrer Überraschung hob Monica den Kopf von ihrer Brust und sah sie einen kurzen Moment lang dankbar an, bevor sie fortfuhr: „Zum ersten Mal konnte ich meinen Gefühlen nicht ausweichen; schließlich sah ich Dana jeden Tag im Büro. Irgendwann wurde Agent Mulder gefunden, musste jedoch gleich wieder untertauchen, denn er hatte eine Art Verschwörung innerhalb des FBI entdeckt, die auch hochrangige Regierungsmitglieder mit einschloss, und diese wollten ihn aus dem Weg schaffen. Man versuchte, ihn mit seinem inzwischen geborenen Sohn zu erpressen, doch Dana brachte das Kind in Sicherheit. Zu dieser Zeit hatte ich die Gelegenheit, ihr nah zu sein, denn sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte, da der Kontakt mit Mulder für ihn zu gefährlich wurde. Während unserer Zusammenarbeit spürte ich immer deutlicher, was mir Dana bedeutete, und dass ich alles für sie tun würde, wenn sie mich nur ließe. Dieser Gedanke machte mir Angst, denn es war das erste Mal, dass ich so fühlte. Da ich wusste, dass sie Mulder liebte, und auch die Konsequenzen zu fürchten hatte, war mir klar, dass es für Dana und mich keine Zukunft geben konnte. Trotzdem wollte ich ihre Freundin sein, denn auch wenn ich sie nicht haben konnte, wollte ich sie glücklich sehen. Ich versuchte alles, sie wieder mit Agent Mulder zu vereinen und ihnen beiden eine zweite Chance zu verschaffen, während ich gleichzeitig den Moment fürchtete, wenn es soweit war, denn das würde bedeuten, sie für immer zu verlieren. Weil ich keinen Ausweg wusste und allmählich an meinen verwirrenden Gefühlen zu ersticken fürchtete, tat ich das, was ich in ausweglosen Situationen immer zu tun pflege: Ich trat die Flucht nach vorn an. Wenn ich nicht bei Dana sein durfte, konnte ich genauso gut weiterhin so tun, als hätte ich mich nie in sie verliebt. Und genau das tat ich. Ich begann, Johns langsamen Annäherungen mehr Beachtung zu schenken. Weißt du, Sarah, ich habe John auf eine Art immer geliebt. Er war für mich wie ein Bruder, oder mein bester Freund. Also habe ich mir wohl vorgestellt, wenigstens er sollte glücklich sein. Außerdem war er der einzige Mann, mit dem ich mir ein Zusammenleben vorstellen konnte. Wir verstanden uns sehr gut, er war in mich verliebt; wir hätten eine wunderbare Wohngemeinschaft abgegeben. Ich bildete mir ein, mit ihm würde mir der Sex leichter fallen, denn ich wusste, er würde mit dem zufrieden sein, was ich ihm geben konnte, ohne mehr zu fordern oder zu merken, dass ich etwas zurückhielt. Ich weiß, das war ihm gegenüber nicht fair, aber in meiner Verzweiflung hätte ich es ohne zu zögern getan, denn ich hoffte, es würde mich von meiner Sehnsucht nach Dana befreien. Glücklicherweise kam es jedoch nie so weit; im Nachhinein hätte ich es mir nicht verzeihen können, mit Johns Gefühlen zu spielen und ihn so auszunutzen, denn er verdient mehr als das. Bevor eine Entscheidung fallen konnte, tauchte Agent Mulder wieder auf der Bildfläche auf. Ihm auf den Fersen waren die Männer, die ihn tot sehen wollten. In einer übereilten Nacht- und Nebelaktion befreiten wir ihn aus ihren Händen und verhalfen ihm und Dana zur Flucht, denn sie hatte sich entschieden, ihn nicht wieder allein gehen zu lassen. Leider ging etwas schrecklich schief, und die beiden wären beinahe umgekommen. Ich verbaute mir jegliche Chance auf eine weitere Karriere beim FBI, indem ich mich offen gegen meine Vorgesetzten auflehnte und Dana vertrauliche Informationen besorgte, die sie zur Rettung von Agent Mulder brauchte. Das hätte ich für niemand anderen gemacht, aber wie ich schon sagte, hätte ich für diese Frau alles getan, auch entgegen jeder Vernunft. Und genau das verlangte die Situation dann auch von mir: Damit die Beiden doch noch entkommen konnten, mussten John und ich ihre Verfolger ablenken. Wir dachten zuerst, wir würden es nicht schaffen, aber wie durch ein Wunder gelang uns die Flucht. Wir versuchten, unsere Spuren zu verwischen, denn wir fürchteten, nun auch als potentielle Mitwisser gejagt zu werden. So verbrachten wir einige Monate gemeinsam auf der Flucht, immer in der Gewissheit, dass wir nie mehr zurück konnten. Nach einiger Zeit kam mir jedoch der Gedanke, die alleinige Verantwortung für den Vorfall auf mich zu nehmen, damit John zurückkehren konnte. Im Gegensatz zu ihm hatte ich das Gefühl, nichts zu verlieren zu haben. John war schon immer mit Leib und Seele Cop gewesen, solange ich ihn kannte, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemals etwas anderes tun wollte. Das wollte ich ihm schenken, bevor ich ging, denn das andere, was er sich wünschte, konnte ich ihm nicht geben: Nachdem ich Dana und meinen Traumjob verloren hatte, hätte ich nicht mehr so tun können, als empfände ich mehr als eine sehr enge Freundschaft für ihn. Es gab keinen Grund mehr, mich zu verstellen, und so schrieb ich ihm einen langen Brief und verschwand eines Nachts heimlich. Allerdings brachte ich es nicht über mich, ihm die Wahrheit über meine Gefühle für ihn und für Dana zu sagen, also schrieb ich ihm nur, dass er mir sehr viel bedeutete und ich ihm nicht zumuten wolle, sein Leben lang mit mir auf der Flucht zu sein. Mir war klar, dass er mich nicht hätte gehen lassen, deshalb schlich ich mich ohne Abschied davon und zog einige Wochen ziellos herum, bis ich beschloss, ein neues Leben anzufangen. Ich besorgte mir von einem unserer früheren Vertrauten falsche Papiere und landete schließlich in dieser Stadt, wo ich als Dozentin an der Uni anfangen konnte. Den Rest der Geschichte kennst du. Ich dachte wirklich, ich sei hier sicher, auch wenn ich darunter litt, mit niemandem über das reden zu können, was mich beschäftigte. Ich musste ständig daran denken, wie es Dana und Agent Mulder und auch John ergangen war, ob sie noch lebten, ob sie glücklich waren. Ich glaube, Dana war meine erste richtige Liebe, und wahrscheinlich werde ich sie nie vergessen, aber glaub’ mir, ich habe es versucht. Ich konnte mir vorstellen, den Rest meines Lebens hier zu verbringen, und als wir uns kennen lernten, kam mir alles so richtig vor. Wie hätte ich denn wissen sollen, dass John nicht aufhören würde, nach mir zu suchen? Hätte ich ihm sagen sollen, dass ich seine Gefühle nicht teile? Glaubst du, das hätte etwas geändert?“
Sie sah erneut zaghaft auf und suchte Sarahs Augen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, doch sie weinte nicht mehr, während sie sich Hilfe suchend mit den Augen am Blick ihrer Freundin festzuklammern schien. Diese schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das etwas geändert hätte. Er liebt dich und wäre dir überallhin gefolgt, ganz gleich, was du ihm erzählt hättest.“ Auch wenn sie einen Moment zögerte, bevor sie fortfuhr, wusste sie doch, dass sie ihrer Freundin sagen musste, was Doggett ihr noch erzählt hatte. Kaum hörbar sprach sie weiter: „Monica, er ist nicht gekommen, um eine Erklärung von dir zu fordern, sondern, um dir die Chance anzubieten, mit ihm zurückzukommen. Angeblich hat er eine Möglichkeit gefunden, wie du rehabilitiert werden kannst. Ich denke, du solltest dich mit ihm treffen.“ Sie konnte nur hoffen, dass Monica nie auch nur ahnen würde, was es sie kostete, diesen Vorschlag zu äußern.
Monica schüttelte den Kopf. „Lass uns jetzt nicht darüber sprechen, ja? Ich muss das alles erstmal realisieren. John ist hier, und ich könnte vielleicht zurückkehren und meine Familie wiedersehen. Das ist alles zu viel für mich. Und ich wette, du hast auch einige Fragen nach dem, was du gehört hast, oder?“ Sie wischte die Tränen von ihren Wangen, setzte sich auf und griff nach einer der Tassen auf dem Tisch, die sie in einem Zug leerte, bevor sie sich erneut in Sarahs Arme zurücklehnte. Es fühlte sich an, als könnte dies der letzte intime Moment sein, den sie teilten. Sie fürchtete sich vor Sarahs Fragen, aber sie konnte nicht erwarten, dass sich ihre Freundin stillschweigend mit dem abfand, was sie soeben erfahren hatte.
Sarah schwieg eine lange Zeit. In der Tat gab es vieles, was sie Monica fragen wollte, angefangen damit, ob sie ihr jemals wirklich etwas bedeutet hatte oder nur ein billiger Abklatsch dessen gewesen war, was Monica wirklich wollte, und ob diese jetzt einfach stillschweigend aus ihrem Leben verschwinden würde, um wieder ohne Makel beim FBI anfangen zu können, doch sie zwang sich dazu, ihre eigenen Ängste zurückzuhalten. Es war deutlich zu sehen, wie sehr das Hervorholen ihrer Erinnerungen Monica mitnahm, und wie immer war es Sarahs erste Priorität, ihre Freundin zu beschützen. Egal wie stark sie sein mochte, Sarah wusste, Monica brauchte sie jetzt mehr denn je, also würde sie da sein. So schloss sie Monica fester in die Arme und stellte die erste einigermaßen harmlose Frage, die ihr in den Sinn kam: „Was ist Dana für ein Mensch?“
Monicas Kopf schoss von seinem Platz an Sarahs Brust hoch; sie starrte die Andere mit großen Augen an. Mit allem hatte sie gerechnet, besonders mit Vorwürfen oder Fragen nach der Zukunft, danach, wie sie sich entscheiden würde, sollte sie die Möglichkeit haben, ihr altes Leben erneut zu leben, und sie hatte besonders diese Frage gefürchtet, denn sie kannte die Antwort nicht einmal selbst. Monica verstand nicht, was Sarah mit dieser Frage bezwecken wollte, aber ein Blick in ihre Augen verriet, dass sie ehrlich gemeint war. Dennoch musste Monica sichergehen: „Wie meinst du das?“, fragte sie mit vom stummen Weinen zitternder Stimme. Sarah drückte ihren Kopf zurück gegen ihre Brust und fuhr ihr so lange durch die Haare, bis sie sich entspannte. „Entschuldige, ich wollte keine schmerzhaften Erinnerungen heraufbeschwören; mich interessiert nur, wer die erste Frau ist, in die du dich verliebt hast.“
„Das ist schon okay“, beruhigte Monica sie. „Ich war nur überrascht, das ist alles. Wie ist Dana...“ Für einen Moment schien sie sich in ihren Erinnerungen zu verlieren, während sie abwägte, was sie Sarah erzählen sollte. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme nicht so distanziert wie zuvor, sondern nahm einen leicht verträumten Ausdruck an, für den sie sich hätte ohrfeigen können. Es fehlte gerade noch, dass Sarah glaubte, sie hege noch immer Gefühle für Dana. Nach all dem, was sie heute über Monica erfahren hatte, war es ohnehin ein Wunder, wenn sie überhaupt noch etwas von ihr wissen wollte; da musste sie nicht zu allem Überfluss auch noch annehmen, Monica habe sie all die Jahre nur als Ersatz für eine andere Frau gesehen. Sie bemühte sich vergeblich um einen geschäftsmäßigen Ton. Die Erinnerungen an Dana riefen auch nach über drei Jahren noch dieselbe Wärme in ihr hervor wie zu der Zeit, als sie sich kennen gelernt hatten. Sie spürte, sie würde Sarah gegenüber ehrlich sein müssen, wenn sie Verständnis erwarten wollte.
„Dana ist... Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll. Sie ist wunderbar. Zumindest war sie das, als ich sie getroffen habe, und ich glaube nicht, dass sie sich geändert hat. Sie ist einer der warmherzigsten, großzügigsten Menschen, die ich jemals gekannt habe, auch wenn man das nicht auf Anhieb merkt.“ Schuldbewusst erkannte sie, dass dies auch eine der Eigenschaften war, die sie besonders an Sarah schätzte. Hastig sprach sie weiter: „Sie versteckt ihr wahres Wesen hinter einer professionellen Fassade, und ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz es mich gemacht hat, dass sie mich hineinließ. Zu Anfang misstraute sie mir, aber irgendwann erkannte sie, dass ich ihr nicht schaden wollte und begann aufzutauen, und von da ab verbrachten wir eine schöne Zeit miteinander. Ich glaube, ich war die erste wirkliche Freundin, die sie in vielen Jahren hatte.
Dana ist stark; was sie will, erreicht sie, und sie ist wunderschön, auch wenn sie das selbst nicht sehen will. Ich habe auf Anhieb verstanden, warum sich Agent Mulder in sie verliebt hat und warum John sie beschützen wollte. Mir ging es nicht anders. Es war, als könnte das Zusammensein mit Dana die Grausamkeiten vergessen lassen, mit denen ich tagtäglich im Job konfrontiert wurde. Sie machte alles leichter, auch wenn sie selten lachte. Ich war schon immer diejenige, die mit Humor auf Krisen reagierte, und oft versuchte ich vergeblich, sie zum Lachen zu bringen, einfach nur deshalb, weil ich ihr Lachen so gern hörte. Sie fiel selten darauf herein, denn sie hatte zu dieser Zeit nicht viel zu lachen, aber wenn sie lachte, konnte ihr niemand mehr widerstehen. Ich habe sie einmal unseren Boss auslachen sehen, aber er wurde nicht sauer, sondern lachte einfach mit...“ Sie brach ab und suchte vergeblich nach Worten, die noch treffender das Wesen der Dana Scully beschreiben konnten, in die sie sich vor vielen Jahren verliebt hatte. Sarah kam ihr zu Hilfe: „Ich weiß, was du meinst“, sagte sie leise. „Sie scheint einer von den Menschen zu sein, die das Beste in dir hervorbringen können, ganz egal, wie wenig du an dessen Existenz glaubst. Solche Menschen sind sehr selten, und es ist eine Ehre, einen von ihnen zu treffen. Ich glaube, ich verstehe, warum du dich in sie verliebt hast.“
„Wirklich?“, wollte Monica überrascht wissen. Es verwirrte sie, dass Sarah ihre eigenen Gefühle so leicht durchschauen und in Worte fassen konnte. Sie hätte mit allem gerechnet, nur nicht mit ihrem Verständnis.
„Ja“, bestätigte Sarah ruhig. „Ich verstehe es, weil ich dasselbe gefühlt habe, als ich zum ersten Mal mit dir gesprochen habe.“ Bevor Monica reagieren konnte, wechselte sie rasch das Thema: „Ist Dana rothaarig und zierlich?“
Erstaunt sah Monica sie an. „Das stimmt. Woher weißt du das?“
„Ich habe mal ein Foto in deinem Schreibtisch gesehen, als ich nach Büroklammern gesucht habe, erinnerst du dich? Darauf war sie zu sehen.“ Monica nickte. „Ja, das sind Dana und Mulder. Ich habe das Bild aus der Vermisstenakte von Agent Mulder; es muss eines der letzten Fotos gewesen sein, die von ihm gemacht wurden, bevor er verschwand. Als er gefunden wurde, habe ich es einfach mitgenommen, denn ich dachte, es würde niemandem auffallen. Ich wollte wenigstens eine Erinnerung an sie haben.“
„Ich weiß.“ Sarah schloss sie wieder in die Arme. „Wenn sie so stark ist wie du erzählt hast, bin ich mir sicher, dass es ihr gut geht.“
„Meinst du?“ In Monicas Augen stand so viel Hoffnung, dass Sarah sich fragte, ob sie mit ihrer Antwort nicht eine viel zu große Verantwortung auf sich lud. Trotzdem nickte sie nachdrücklich. „Bestimmt. Ich glaube, du und John, ihr habt den beiden das Leben gerettet. Und ich bin sicher, sie haben ihre zweite Chance gut genutzt.“
Monica sah aus, als zweifle sie an ihren Worten, aber nach einer Weile nickte sie. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Sie schmiegte sich wieder in die Umarmung; Sarah konnte sich des Gefühls nicht erwehren, es könnte ihre letzte Umarmung sein, aber sie sprach den Gedanken nicht laut aus, sondern fuhr fort, Monicas Haare und Gesicht zu streicheln. Monicas Hände fuhren über ihren Rücken, und eine Weile lagen sie einfach da und tauschten Zärtlichkeiten aus, während jede ihren eigenen Gedanken nachhing. Schließlich brach Monica das Schweigen: „Hat John wirklich zu dir gesagt, ich könnte zurückkehren?“, wollte sie wissen. Die Frage erschreckte Sarah, auch wenn sie gewusst hatte, dass sie kommen würde. Zögernd bestätigte sie: „Ja, das hat er. Er wollte mir keine Einzelheiten geben, und ich habe auch nicht danach gefragt, aber wie es aussieht glaubt jeder, du seist auf der Flucht als Geisel genommen worden. Unter diesen Umständen kann dir niemand Vorwürfe machen.“ Selbst ich nicht, dachte sie traurig. Das Schlimme ist, ich würde verstehen, wenn du dich entscheidest, dein Leben zurückzunehmen. Ich wäre am Boden zerstört, aber ich könnte dir nicht böse sein. Mit leichtem Erstaunen stellte Sarah fest, dass das die Wahrheit war. Sie würde Monica keinen Vorwurf machen. Monica hatte sich unter der Voraussetzung für sie entschieden, dass es kein Zurück mehr gab. Jetzt hatten sich die Bedingungen geändert, und niemand konnte es ihr verdenken, wenn sie unter diesem Gesichtspunkt ihre Entscheidung revidierte. Selbst diese absichtlich gewählte nüchterne Betrachtung der Situation ließ Sarahs Herz aussetzen. Die Chance, dass sich Monica für sie entschied, war minimal. Am liebsten hätte sie ihre Freundin (Exfreundin, schrie eine boshafte Stimme in ihr) geschüttelt und eine sofortige Entscheidung verlangt, um nach mehr als 24 Stunden der Ungewissheit endlich eine Vorstellung zu haben, woran sie war, doch wieder blieb sie stumm. Auch Monica schwieg; sie hatte ihr Gesicht an Sarahs Hals gekuschelt und schien in ihrer eigenen Welt versunken zu sein, bis sie plötzlich erneut die Stille im Raum unterbrach: „Was soll ich denn jetzt tun?“ Sie klang so verloren, dass Sarah sie am liebsten sofort in Watte gepackt und irgendwo eingeschlossen hätte, um sie von den schmerzhaften Einflüssen der Außenwelt fernzuhalten. Das konnte sie jedoch nicht. Deshalb zuckte sie nur die Achseln und schluckte die Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag: Dass Monica alles so lassen sollte, wie es war, dass sie John Doggett zum Teufel schicken und ihr Leben mit Sarah weiterführen sollte, als sei nichts geschehen. Aber sie wusste selbst, dass das unmöglich war. Sie hatten in einer Seifenblase gelebt, und Doggett war der Dorn, der diese zerstört hatte. Einmal durchbrochen, konnte die schillernde Umhüllung ihrer gemeinsamen Traumwelt nicht mehr bestehen. Es ging nicht mehr zurück, nur noch vorwärts, ob es ihnen nun behagte oder nicht. Sarah selbst war machtlos gegen das, was nun kommen würde; allein Monica hatte die Macht, ihrer beider Zukunft zu entscheiden, und es gab nichts, was Sarah tun konnte um ihr dabei zu helfen. Also sprach sie das aus, was sowohl vernünftig als auch wahr war: „Ich denke wirklich, du solltest mit Doggett reden. Er wird dir mehr sagen können als ich, denn ich vermute, dass er mir einiges verschwiegen hat. Vielleicht weiß er sogar, wie es Dana geht.“ Kaum waren die letzten Worte heraus, hätte sich Sarah auf die Zunge beißen können. Reichte nicht das, was bereits gesagt worden war? Musste sie die Frau, mit der sie ihr Leben verbringen wollte, mit Gewalt von sich wegtreiben? In die Nähe einer anderen? Zu dem Mann, der die Macht hatte, sie ihr für immer wegzunehmen? Ihr blieb keine Zeit, sich weiter zu verfluchen, denn Monica antwortete: „Bist du sicher? Ich weiß nicht so recht...“
„Natürlich bin ich sicher“, log Sarah. „Er hat all die Jahre nach dir gesucht, da kannst du ihn jetzt nicht einfach wegschicken. Außerdem musst du dir anhören, was er zu sagen hat, sonst fragst du dich womöglich für den Rest deines Lebens, ob du nicht einen Fehler gemacht hast.“ Ihr wurde klar, dass sie die Wahrheit sprach, mochte es ihr gefallen oder nicht. Sie konnte nicht wollen, dass Monica zweifelte. Selbst wenn es bedeutete sie zu verlieren wollte Sarah doch nicht mit dem Gedanken leben müssen, dass ihr Zusammensein auf Monicas Ignoranz der Alternativen beruhte.
Offenbar sah Monica das ähnlich, denn sie nickte schwach. „Du hast ja recht. Ich habe nur solche Angst, John gegenüberzutreten. Was soll ich ihm denn sagen?“ Dass sie überhaupt fragen musste, tat Sarah mehr weh, als sie gedacht hatte. Sie zwang sich, ruhig sprechen: „Sag ihm die Wahrheit. Du könntest ihm das erzählen, was du mir gesagt hast. Wenn er dich wirklich so gern hat wie du denkst, wird er dich nicht verurteilen; es wird ihn nicht davon abhalten, dich weiterhin zu mögen.“ Sie vermied absichtlich das Wort Liebe im Zusammenhang mit John Doggett. Es wäre ihr falsch vorgekommen.
Wieder nickte Monica. „Wahrscheinlich sollte ich das tun. Aber...“ Sie brach ab, dachte kurz nach und fing dann neu an: „Ich habe Angst, ihn nach all der Zeit wiederzusehen. Würdest du... Ich meine, könntest du dir vorstellen mitzukommen? Ich weiß, ich muss allein mit ihm sprechen, aber ich denke ich würde mich besser fühlen, wenn du in der Nähe wärst. Wir könnten uns irgendwo draußen treffen, in den Feldern. Ich glaube nicht, dass ich ihm gegenübersitzen und in die Augen sehen möchte.“
Sarah nickte. Wenn es Monica ein Gefühl der Sicherheit gab, würde sie sogar von Weitem zusehen, wie ihr Leben auseinanderbrach. Ihr kam in den Sinn, was Monica vorhin über ihre Gefühle zu Dana Scully gesagt hatte: Ich hätte für sie alles getan, auch entgegen jeder Vernunft. Das klang auf skurrile Weise vertraut. Sarah unterdrückte ein bitteres Auflachen und zwang sich, Monicas Frage zu beantworten: „Wenn du möchtest, komme ich natürlich mit. Soll ich Doggett anrufen oder willst du das selbst tun?“
Ein dankbarer Blick von Monica traf sie. „Würdest du?“
„Klar. Was hältst du davon, wenn ihr euch gleich morgen trefft? Dann musst du nicht so lange mit der Ungewissheit leben.“ Und ich auch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu. „Ich könnte die Praxis für den Nachmittag schließen; einer meiner Kollegen übernimmt sicher meine Notfälle. Du hast sowieso den Nachmittag frei. Was meinst du?“
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich wäre es das Beste“, stimmte Monica zu, bevor sie sich wieder an Sarahs Hals kuschelte. Wie auf ein unausgesprochenes Abkommen hin sprach keine von beiden mehr, und sie verbrachten den Rest der Nacht schweigend zwischen Schlafen und Kuscheln auf der Couch, die ihnen zur letzten Zuflucht vor der sie zu schnell einholenden Realität geworden war.