Ein großer Vogel flog lautlos über die kleine Stadt in Kansas hinweg und verlor sich in den unendlichen Weiten des pechschwarzen mondlosen Himmels. Scheinwerfer durchschnitten die nächtliche Schwärze, die Räder des Wagens rollten knirschend über die Schotterstraße und kamen auf einem schlecht ausgeleuchteten Parkplatz zum Stehen. Mulder stellte den Motor ab und stieg aus. Scully starrte ungläubig auf die heruntergekommene Baracke, die sich ein Motel nannte und konnte es nicht fassen, daß dies wirklich ihre Unterkunft für die nächsten Tage sein sollte.
Schließlich verliess auch sie den Wagen und folgte ihrem Partner, der sich schon mit weit ausladenden Schritten auf den Weg zum Eingang gemacht hatte. Als sie ihn eingeholt hatte, hielt er bereits zwei Zimmerschlüssel in den Händen und überreichte ihr einen der beiden. Noch bevor sie irgendetwas sagen konnte, war er bereits mit einem fröhlichen "Dann bis morgen um acht" in seinem Zimmer verschwunden und so stand sie alleine auf dem Parkplatz. Leicht entnervt suchte auch sie sodann ihr Zimmer auf und ließ sich wenig später erschöpft auf das harte Bett fallen; es war kurz nach Mitternacht. Sie begann damit, die Unterlagen zu ihrem neusten Fall zu untersuchen.
In den letzten zwei Wochen waren in Cawker City und Umgebung drei Leichen gefunden worden. Alle waren in der nachfolgenden Untersuchung als eindeutige Selbstmorde identifiziert worden. Dies war an sich nichts Besonderes und erforderte im Grunde keine weitere Untersuchung seitens des FBIs. Trotz alledem hatte Mulder darauf bestanden, daß sie sich die Sache aus der Nähe ansahen. Seine Begründung, die er ihr mit einer Ernsthaftigkeit, die sie immer noch beeindruckte, vorgetragen hatte, war, daß einige Augenzeugen des Geschehens gesehen zu haben glauben, daß die Leichen aus dem Nichts erschienen seien. Scully überflog die Polizeiberichte und fand diese Aussagen tatsächlich wieder. Sie wurden vernünftigerweise nur am Rande erwähnt und auf den "verwirrten Zustand der Zeugen, der durch den Schock des unerwarteten Entdeckens der Leichen hervorgerufen wurde" zurückgeführt. "Ich werde morgen die Leichen etwas genauer begutachten, sofern sie noch nicht beerdigt wurden" dachte sie sich im Stillen.
Der nächste Morgen war wolkenverhangen und spiegelte erstaunlich gut Scullys Stimmung wider. Als Mulder sich um kurz nach acht in den Wagen setzte, hatte sie schon anderthalb Stunden dort gesessen. Fröhlich wie immer grinste er ihr zu. "Hatten Sie eine gute Nacht?" Sie konnte es nicht fassen, daß er solch eine Frage stellen konnte. "Wenn Sie ein steinhartes Bett und eine surrende Leuchtreklame vor dem Fenster als Voraussetzungen einer guten Nacht ansehen, dann hatte ich wohl eine!" Scully seufzte. "Mulder", fügte sie dann in ruhigerem Tonfall hinzu, " das nächste Mal überlassen Sie bitte mir die Wahl eines Motels."
"Tim Jones, ich bin der Sheriff dieses 600-Seelen-Dorfes" stellte sich der Mann vor. Er war Mitte 50 und aus seinem Erscheinungsbild ließ sich schließen, daß dieser Mann seine Zeit eher in seinem Büro oder der gegenüberliegenden Bar verbrachte als Verbrecher zu jagen. Als Antwort präsentierte Scully routiniert ihren Ausweis. "Ich bin Special Agent Dana Scully. Das ist mein Partner Fox Mulder. Wir ermitteln im Fall der drei Selbstmorde, die sich hier in den letzten Wochen ereignet haben". Jones ließ sich in seinen Sessel fallen. "Wahre Tragödien ... ich kannte die Opfer alle persönlich. Fröhliche Menschen in der Blüte ihres Daseins..."
Mulder durchbrach die darauffolgende Stille: "Können Sie mir vielleicht sagen, warum alle Opfer einige Tage vorher verschwunden sind, bevor sie 'sich die Kugel gaben' ". Scully warf ihm einen finsteren Blick zu. Sheriff Jones schien nichts zu bemerken und meinte nur: "Nun, ich denke, sie wollten vorher mit der Welt abschließen." "Was bei Selbstmördern eher selten vorkommt", warf Scully ein. Jones setzte sich in seinem Stuhl auf. "Sie sind doch die Experten. Finden Sie doch heraus, was diese armen Menschen dazu bewegt hat, tagelang durch die Gegend zu irren und weder zu trinken noch zu essen." "Wir tun unser Bestes" konterte Scully. Dann wandte sie sich zum Gehen. "Kommen sie, Mulder. Vielen Dank, Sheriff, daß Sie mit uns gesprochen haben. Wir werden uns nun mit dem zuständigen Gerichtsmediziner unterhalten." "Auf Wiedersehen."
Mulder parkte den Wagen vor einem großen weissen einstöckigen Gebäude, das durch ein Schild als "Gerichtsmedizin" ausgewiesen wurde. Am Empfangstresen gaben sich Scully und Mulder als FBI-Agenten zu erkennen und wurden sodann von einer kleinen untersetzten Schwester mittleren Alters in den hinteren Teil des Gebäudes weitergeleitet. "Dr. Baxter erwartet Sie bereits", sagte sie. "Sheriff Jones rief vor wenigen Minuten an und kündete Ihr Kommen an." Sie öffnete eine doppelflüglige Tür und bedeutete den beiden Agenten einzutreten. "Vielen Dank", sagte Mulder und warf ihr ein Lächeln zu.
Dann betraten die beiden eine kleine sterile Halle, welche vom kalten Licht der Neonröhren erfüllt wurde. Am hinteren Ende stand ein Mann in weissem Kittel, der sich über einen Berg von Akten beugte und darin wühlte. Er blickte kurz auf und bedeutete Scully und Mulder mit einem hastigen Winken näherzutreten. "Kommen Sie, kommen Sie!" Scully und Mulder warfen sich einen flüchtigen Blick zu und kamen dann der Aufforderung nach.
Nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten, fragte Scully: "Dr. Baxter, aus unseren Unterlagen geht hervor, daß Sie am letzten Selbstmordopfer eine Autopsie vorgenommen haben; was können Sie uns über die Todesursache sagen?" "Nun", er räusperte sich, rückte seine Brille auf seiner langen Nase zurecht und fuhr sich kurz durch sein wirres Haar, "zunächst schien es, als wäre es ein simpler Selbstmordfall, doch nachdem dies der dritte innerhalb so kurzer Zeit war, habe ich die Angehörigen überzeugen können, daß eine Autopsie ratsam wäre. Daraufhin konnte ich extremen Wassermangel des Körpers sowie völlige Leere des Magens und des Verdauungstraktes feststellen. Hätte sich dieses bedauernswerte Opfer nicht selber das Lebenslicht ausgelöscht, so wäre es wenig später an Wassermangel gestorben, was zweifellos die weitaus schmerzhaftere Todesart gewesen wäre." "Ist denn eindeutig erwiesen, daß es sich um Selbstmord handelt? Könnte nicht auch etwas...nun, sagen wir...etwas 'anderes' für den Tod des Opfers verantwortlich gewesen sein?" "Mulder", zischte Scully, "nun fangen Sie nicht wieder damit an...!"
Doktor Baxter blickte sichtlich verwirrt über eine solche Fragestellung, doch dann erwiderte er mit bestimmtem Tonfall: "Es gibt keinerlei Zweifel daran, daß dies ein Selbstmordakt war. Zunächst gibt es keine Anzeichen von Fremdeinwirken. Auf dem Taschenmesser, mit welchem sich das Opfer die Pulsadern aufschnitt, wurden keine Fingerabdrücke außer denen des Opfers gefunden. Zudem gibt es keinerlei Quetschungen oder Spuren des gewaltsamen Festhaltens. Und noch etwas", hier sah er kurz auf und ein triumphierender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, "wäre es Mord, würden dann nicht beide Adern zerschnitten sein?" Er ließ Scully und Mulder keine Zeit zu antworten, sondern fuhr fort in seinen Ausführungen. "Nun, in diesem Fall war nur eine Ader vollständig durchtrennt, die andere jedoch nur angeritzt, da das Opfer mit dem schon verletzten Arm nicht mehr den erforderlichen Druck auf das Messer ausüben konnte um die zweite Ader auch noch zu durchtrennen."
Erschlagen von diesen wirren Ausführungen des Arztes hatte Mulder dem nicht mehr das Geringste entgegenzusetzen und war sichtlich erleichtert, als die untersetzte Schwester plötzlich zur Tür hereingestürzt kam, und sie vor weiteren Ausführungen bewahrte, denn es schien, als hätte der Arzt seinen Vortrag noch längst nicht beendet. "Agent Scully, Agent Mulder, es wurde eine weitere Leiche gefunden. Sheriff Jones erwartet Sie am Fundort."
Etwa eine halbe Stunde später waren die beiden wieder zurück in Cawker City und standen mit einigen Leuten des hiesigen Sheriffdepartments und der Gerichtsmedizin vor der kleinen Kirche des Ortes.
Ein Mann hatte sich vom meterhohen Kirchturm gestürzt und lag nun mit verrenkten Gliedmaßen vor dem Eingangstor des Gotteshauses. Während sich Scully über den toten Körper beugte um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, waren die Deputies damit beschäftigt die Gegend abzusperren und den Turm nach Spuren zu untersuchen.
"War dieser Mann ebenfalls als vermisst gemeldet?", fragte Mulder an Jones gewandt. "Nein, doch als Vertreter einer in der Gegend ansässigen Firma war der Mann ständig unterwegs. Wäre er ebenfalls vor seinem Tod verschwunden, wie Sie es offenbar vermuten, so wäre es niemandem aufgefallen. Er war unverheiratet und schien auch sonst niemanden zu haben, dem sein Fehlen aufgefallen wäre. Wie die anderen hatte auch er kein offensichtliches Selbstmordmotiv."
"Mulder, schauen Sie". Mulder kniete neben Scully nieder, die ihm einen Brief entgegenhielt. "Den habe ich in seiner Brusttasche gefunden. Der Mann weist übrigens wie das letzte Opfer extreme Wassermangelerscheinungen auf ." Mulder nahm den Brief an sich und begann damit, ihn rasch zu überfliegen. Dann wandte er sich mit dem Brief an den Sheriff. " Diese Nachricht haben wir beim Opfer gefunden. Er scheint sie kurz vor seinem Tod geschrieben zu haben und beschreibt darin einen plötzlichen Zeitstillstand, durch welchen ihm jeglicher Kontakt zu seiner Umwelt verwährt wurde. Alles sei in der Bewegung erstarrt und er selbst war nicht fähig etwas von dessen Standort zu verrücken, Türen zu öffnen noch sich den Menschen auf irgendeine Weise verständlich zu machen. Selbst Wasser sei fest und völlig unbewegt gewesen. Er hatte keine Möglichkeit etwas zu trinken noch zu essen. Als ihm bewusst wurde, daß er würde verdursten müssen, entschied er sich für den Selbstmord, um seinem Leben wenigstens ein schnelles Ende zu setzen.
Daher also die Wassermangelerscheinungen und die völlige Leere des Verdauungstraktes des letzten Opfers.", schloss Mulder. "Sie glauben also, die anderen Todesfälle stehen mit diesem in Verbindung?", fragte der Sheriff. Mulder nickte. Scully hatte den Brief inzwischen noch einmal überflogen und meinte : "Mulder, Sie glauben das doch nicht wirklich, was dieser offensichtlich völlig verwirrte Mann kurz vor seinem Selbstmord noch rasch auf den Zettel kritzelte?" Er überging ihren Einwand und fragte nach eventuellen Zeugen.
"Nun", meinte der Sheriff, "es gibt wirklich eine Zeugin, aber sie ist schon an die 80 und behauptet steif und fest, das Opfer wäre vor ihr einfach auf dem Boden erschienen. Wahrscheinlich hat sie etwas über die anderen Fälle in der Zeitung gelesen und will sich so etwas interessanter machen." "Ich möchte dennoch mit ihr reden" erwiderte Scully. "Nun gut", der Sheriff gab einem jungen Deputy einen Wink, worauf dieser die sichtlich verwirrte Zeugin des Geschehens zu den dreien führte. "Ein Wunder!", murmelte sie. "Es ist genauso geschehen, wie es Abraham schon seit Jahren behauptet! Ein Wunder, ein Wunder!" Sheriff Jones schüttelte den Kopf. "Mehr werden Sie nicht von ihr erfahren. Seitdem wir sie hier bei der Leiche angetroffen haben, spricht sie von nichts anderem."
Scully und Mulder versuchten dennoch, der Zeugin weitere Details zu entlocken, aber als sie keinerlei Erfolg hatten, wandte sich Mulder an den Sheriff : "Wer ist dieser Abraham, von dem sie die ganze Zeit spricht?" "Ach, hören Sie nicht auf sie. Abraham ist ein Verrückter, der bereits seit Jahren als Einsiedler in einer Hütte in den Wäldern lebt. Er kommt nur selten in die Stadt und verbreitet dann Märchen von seltsamen Zeitstillständen und geheimnisvollen Mächten, die angeblich Tod und Verderben über die bringen, die sich nicht wehren können. Meiner Ansicht nach wäre es Zeitverschwendung mit ihm zu reden."
"Wir sind dazu verpflichtet, JEDER Spur nachzugehen.", antwortete Scully. "Könnten Sie uns bitte den Weg beschreiben, der zu Abrahams Hütte führt?" Jones seufzte auf : "Wenn Sie es unbedingt wissen wollen."
"Mr. Abraham?", Mulder klopfte erneut an die kleine hölzerne Tür einer stabilen Blockhütte. Gerade wollte er sich abwenden, als die Tür geöffnet wurde. Vor ihnen stand ein großer hagerer Mann, dessen langes Haar wirr seine Schultern umspielte. Die großen blauen Augen strahlten Weisheit und Ruhe aus und passten so gar nicht zu dessen übrigem Erscheinungsbild. "Mr. Abraham?", fragte Mulder erneut. "Der bin ich.", entgegnete der Mann mit fester Stimme und reichte den beiden Agenten seine Hand. "Wir sind vom FBI und untersuchen die Selbstmordfälle der letzten Wochen", schaltete sich Scully ein. Abraham musterte die beiden kurz und trat dann an ihnen vorbei und nahm an einem kleinen Tisch Platz, den er offensichtlich selbst gefertigt hatte. Mulder und Scully folgten seinem Beispiel.
"Was können Sie uns über die Vorfälle sagen?", fragte Mulder mit sanfter Stimme. Abraham sah ihm in die Augen. "Es waren keine freiwilligen Selbstmorde. Die Menschen hatte keine Wahl. Es waren Unwissende. Sie wurden von einer kosmischen Anomalie dazu getrieben, die sie in ihren Bann gerissen hatte." Scully seufzte. "Mr. Abraham...", doch er ließ sich nicht unterbrechen und fuhr fort. "Die Anomalie ist alt, doch nur alle hundert Jahr erreicht sie das Stadium, daß sie Menschen beeinflussen kann." " Was wissen Sie noch über diese Anomalie?", hakte Mulder nach. Er hatte die Fährte aufgenommen und Scully wusste, er würde sich nun schwer davon überzeugen lassen, daß dies nur das Geschwafel eines alten Mannes war. Sie schüttelte den Kopf, während Mulder gebannt den Worten des Alten lauschte. "Es ist eine Phase." "Phase?", Mulders Stirn zog sich in Falten. "Sie meinen, es handelt sich um eine parallele Existenzebene?" Abraham nickte stumm. "Wieso können die Menschen sie nicht wieder verlassen?" Hier setzte sich der Alte auf. "Oh doch, das könnten sie, wenn sie wüssten, wie!" Mulder sah ihm gespannt in die Augen "Wissen Sie es?" "Es gibt einen Weg, ein Tor, doch es ist schwer zu finden." Nach kurzer Pause fuhr er fort. "Es gibt zwei Möglichkeiten die Phase wieder zu verlassen. Die Menschen müssen entweder das Tor finden, oder aber..." "...sie müssen sterben.", beendete Mulder den Gedankengang und fragte dann weiter: "Was genau geschieht, wenn jemand in die Phase gelangt?" "Für den Betreffenden scheint um ihn herum die Zeit stillzustehen. Alle anderen jedoch werden von diesem Phänomen nicht betroffen und existieren im Zeitstrom fort, allerdings gewinnen sie den Eindruck, der Betroffene würde beim Eintritt in die Phase plötzlich verschwinden. Beim Verlassen der Phase tritt dann der Betroffene wieder in die fortgeschrittene Zeitebene ein. Für gerade Anwesende scheint er förmlich aus dem Nichts aufzutauchen..." "Daher rühren also Ihrer Meinung nach diese Zeugenaussagen, die Leichname wären plötzlich erschienen?", fragte Scully skeptisch. Abraham nickte zustimmend.
Scully erhob sich abrupt "Mulder, würden Sie kurz...", sie bedeutete ihm ihr zu folgen. Mulder entschuldigte sich beim Alten und folgte seiner Partnerin. "Mulder", sagte sie leise aber eindringlich "das führt doch zu nichts. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß..." "Scully, es ist immerhin eine Spur. Wenn ich mich richtig entsinne, sogar die einzige, die wir haben." Scully ersparte sich weitere Diskussionen mit ihrem Partner, da es in ihren Augen hoffnungslos mit ihm war und vereinbarte mit Mulder statt dessen, daß sie schon zurück in die Stadt fuhr und weitere Nachforschungen anstellte. Sie war sich sicher, etwas übersehen zu haben, daß sie auf die, wie sie betonte, RICHTIGE Spur führen werde.
"Waren Sie jemals in der Phase?", fragte Mulder den Alten, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. Nach kurzem Zögern erwiderte Abraham: "Nun, ich habe schon öfter versucht in die Phase zu gelangen, doch bisher ohne Erfolg. Obgleich ich wusste, wann und wo sich die Phase das nächste Mal öffnen würde..." Auf dem Fußmarsch zurück in die Stadt benutzte Mulder eine Route, die der Alte ihm beschrieben hatte. Sie führte Querfeldein, doch Abraham hatte gesagt, es sei "der einzige Weg". Plötzlich wurde alles still um ihn herum. Er sah auf die Uhr: 17:23. "Genau wie Abraham es gesagt hatte.", dachte er und setzte seinen Weg fort. In der Stadt angekommen bot sich ihm ein atemberaubender Anblick: Menschen, in ihren Bewegungen erstarrt, Vögel, die in der Luft hingen und sogar das spritzende Wasser eines nahen Flusslaufs stand still. Mulder riss sich nur schwer von diesem Anblick los, doch er mußte weiter; er hatte nur wenig Zeit.
"Mulder, sind Sie da?" Nachdem Scully der Autopsie des letzten Opfers beigewohnt hatte, befragte sie danach erneut die Einwohner von Cawker City zu den Vorfällen des Nachmittags. Leider waren auch diesmal ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Niemand hatte den Mann in den letzten Tagen gesehen oder beobachtet, wie er vom Turm gesprungen war. Die einzige Zeugin blieb also die noch immer stark verwirrte Frau, die aber noch immer keinerlei brauchbare Hinweise liefern konnte.
Es war nun schon recht spät geworden und Scully hoffte nun, Mulder davon überzeugen zu können, am nächsten Morgen wieder nach Washington aufzubrechen, nachdem sich in diesem Fall nichts ergeben hatte. Sie klopfte erneut an die Tür Mulders Motelzimmers, ohne jedoch darauf eine Antwort zu erhalten. Schnell wählte Scully Mulders Handy an. "Der Teilnehmer hat den Sendebereich verlassen.", teilte ihr eine freundliche Computerstimme mit. Entgeistert starrte sie auf das Telefon in ihrer Hand." "Was zum Teufel..." Da traf sie die Erkenntnis, daß Mulder wahrscheinlich immer noch bei Abraham saß und der Alte ihm inzwischen garantiert ein halbes Dutzend mystischer Amulette und Talismane aufgeschwatzt hatte. Mit einem Stöhnen dachte sie an die Rückfahrt.
Als sie die Hütte von Abraham erreichte, saß dieser schon draußen und schien bereits auf sie zu warten. "Kommen Sie, die Zeit wird knapp." "Wo ist Mulder?", fragte Scully. "Auf dem See.", war die einzige Antwort, die sie von dem Alten erhielt. "Was macht er denn dort?" "Kommen Sie, ich werde es Ihnen sagen, sobald wir dort sind." Scully verdrehte entnervt die Augen, als sich Abraham scheinbar in plötzlicher Hast auf den Beifahrersitz ihres Wagens setzte und sie dazu anhielt, so schnell wie möglich zum Waconda Lake zu fahren.
Der See lag eine gute halbe Stunde von Abrahams Hütte entfernt und als sie ihn erreichten, begann es bereits zu dämmern. Scully parkte in der Nähe eines kleinen Bootsverleihs. Dann blickte sie Abraham fordernd an : "Nun, da wären wir. Also, wo ist Mulder und was will er hier?" Langsam hob Abraham seine Hand und wies in Richtung Seemitte : "Der Kreis schließt sich." Er verließ den Wagen und lief rasch auf eines der kleinen Boote zu, die am Steg angelegt hatten. "Halt, wohin wollen Sie?" rief Scully ihm hinterher. Abraham aber zeigte nur wieder hinaus auf den See und sagte : "Er ist dort draußen."
Nachdem er mehrere Stunden über den See geirrt war, setzte sich Mulder auf die harte Fläche, zu der der See erstarrt war und trank einen Schluck aus der Wasserflasche, die der Alte ihm mitgegeben hatte. Sein Blick schweifte über die Landschaft und auf einmal entdeckte er in der Ferne etwas: Bewegung! Rasch sprang er auf die Füße und lief über die erstarrten Wellen auf einen kleinen Strudel zu, der sich im Wasser gebildet hatte. Mulder hatte gefunden, wonach er seit Stunden gesucht hatte. Seinen ganzen Mut zusammennehmend, schloß er die Augen und tat den entscheidenden Schritt.
"Mr. Abraham, wir paddeln jetzt schon seit einer halben Stunde auf diesem See herum. Wo ist er denn nun?" In dem Augenblick geriet das Boot ins Wanken. Völlig entgeistert wandte sich Scully nach rechts um und blickte in das Gesicht ihres völlig durchnässten Partners, der sich am Boot hochzog. "Scully", ächzte er. "Sie hätte ich hier aber nicht erwartet." "Abraham ...", Scully drehte sich in Richtung des alten Mannes, doch er war verschwunden. Ratlos schaute sie Mulder in die Augen. Er entgegnete nur : "Es ist vorbei".
ENDE
Copyright © 1997 Frédèric Weymann und Stephanie Tallen