World of X

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Der Seele beraubt

von Petra Weinberger

Kapitel 1

Mulders Apartment; 19:20 Uhr

Es war ein ganz normaler Donnerstag. Einer, wie so viele zuvor. Die Sonne verschwand gerade hinter dem Horizont und der Himmel hatte sich rot gefärbt. Aber für Fox Mulder und Dana Scully sollte es ein furchtbarer Tag werden.

Begonnen hatte er ganz normal. Sie hatten sich im Bureau getroffen, wie jeden Morgen.

Seit die X-Akten geschlossen waren, hatten sie sich um Inland-Terrorismus zu kümmern. Doch Mulder hatte an diesem Morgen eine weitere Aufgabe zugeteilt bekommen. Ein Kollege war an ihn heran getreten und hatte ihn um Hilfe gebeten. Es ging um einen Serienkiller der ausschließlich Homosexuelle tötete. Er hatte bereits in vier Staaten gemordet. Aus diesem Grund war der Fall dem FBI übertragen worden. In der Direktionsetage hatte es einige Verhandlungen gegeben und schließlich hatte man zugestimmt, daß Fox Mulder bis zum Abschluß dieses Falles unter der Leitung von Assistent Direktor Skinner arbeiten durfte. Normalerweise hatte Skinner nichts mit Gewaltverbrechen zu tun. Doch einer seiner Sektionsagenten hatte das Opfer gefunden und somit auch den Fall anvertraut bekommen. Mulder war glücklich, mal aus Kersh’s Dunstkreis und erst recht von den Misthaufen zu verschwinden, die er mit Dana Scully durchsuchen sollte. Noch vor dem Lunch hatte er sich von seiner Partnerin verabschiedet und war gegangen. Gefolgt von Scullys Blicken, die ihm sehnsüchtig nachsah. Er wollte sich an diesem Nachmittag etwas in der Szene umhören.

Und nun war sie auf dem Weg in sein Apartment, nachdem Direktor Skinner sie alarmiert hatte.

Keiner wußte, was eigentlich geschehen war.

Nachbarn hatten das FBI angerufen, nachdem unerklärlicher Lärm aus der Wohnung drang. Skinner war sofort mit einigen Agenten hierher gefahren. Dana Scully, die zu diesem Zeitpunkt noch in der Pathologie bei einer Autopsie war, hatte ihre Arbeit unterbrochen, sich ins Auto geschwungen und war hierher gefahren.

Ihr Herz klopfte heftig, als sie nun aus dem Aufzug stieg.

Die Tür zu Mulders Apartment stand offen und die Stimmen mehrerer Personen waren auf dem Gang zu hören.

Scully kannte Mulder nun seit 6 Jahren, sie waren mehr als Partner, sie waren Freunde. Und Scully fürchtete sich vor dem, was sie in diesem Apartment sehen würde. Sie hatte Angst, daß ihre schlimmsten Alpträume wahr sein könnten. Ihr Partner in einer Blutlache tot auf dem Fußboden. Erschossen, erschlagen oder sonst irgendwie ermordet.

Ehe sie durch die Tür trat, atmete sie noch einmal tief durch, um sich psychisch zu stärken und etwas Kraft zu tanken, für das, was sie zu sehen erwartete.

Sie schloß kurz die Augen und lauschte nur einen Augenblick.

Die Stimmen waren gedämpft, doch nicht so, als würde es um einen Toten gehen. Dazu fehlte die ganze Aufregung. Das Gewusel der Spurensicherung, des Pathologen. Scully hatte fast eine Stunde gebraucht, bis sie hier war. Wenn Mulder tatsächlich tot in seinem Apartment liegen würde, dann wäre hier im Haus längst die Hölle los. Cops und Agenten würden sich gegenseitig auf die Füße treten.

Doch nichts dergleichen gab es hier.

Er konnte nicht tot sein. Er lebte.

Mit dem festen Glauben daran trat Scully in den Flur und atmete erleichtert auf. Ihr Blick traf Mulder.

Er lag auf seinem Sofa, hatte die Augen geöffnet und bewegte sich schwach.

Er lebte. Das war vorerst das wichtigste.

Erst jetzt bemerkte sie die anderen Agenten. Sie standen im Flur und im Wohnzimmer und unterhielten sich leise, während sie immer wieder verstohlene Blicke auf Mulder warfen.

Skinner hatte sich neben dem Sofa plaziert und seine Miene war sorgenvoll.

Als er Scully bemerkte, wandte er sich um und trat auf sie zu.

Die Agentin sah in fragend an.

" Er steht zweifelsfrei unter Schock. Aber wir haben noch keine Ahnung, was geschehen ist. Er spricht nicht," erklärte Skinner auch schon mit gedämpfter Stimme.

Scully ließ ihren Blick kurz durch das Zimmer gleiten.

Nichts stand mehr dort, wo es ursprünglich gewesen war. Die Bildröhre des Fernseher war eingeschlagen und die Glaskrümel über den Fußboden verteilt. Schubladen aus dem Schreibtisch und den Schränken gerissen, der Inhalt leistete den Scherben auf dem Boden Gesellschaft, ebenso wie Bilder, Geschirr und anderes Inventar. Kurz, es herrschte das reinste Chaos.

Zwar war Mulder nicht gerade das ordentlichste Individuum auf diesem Planeten, aber dieses Durcheinander überstieg selbst sein normales Quantum.

Scully’s Blick war nur flüchtig und doch hatte sie alles wichtige sofort erfaßt. Das alles war ersetzbar. Jetzt mußte sie wissen, was mit ihrem Partner war.

Hastig stieg sie über Glasscherben, Papiere und Wäsche und ging neben Mulder in die Knie.

Er lag auf seinem Sofa, die Arme gegen den Unterleib gepreßt, die Knie angezogen. Wie ein Baby im Mutterleib. Tränen liefen ihm über das Gesicht und hatten bereits eine kleine Pfütze auf dem Sofa gebildet. Er schien es nicht mal zu bemerken.

Sein Blick war weit weg. Schmerz, Qual und Schock standen sehr deutlich darin zu lesen.

Scully legte ihre Finger auf seine Halsschlagader. Sein Puls war flach und schnell, seine Haut kühl und feucht. Eindeutige Zeichen eines Schocks.

Auf seiner Wange erblühte ein Bluterguß, eine Platzwunde zierte seine Stirn und seine Unterlippe war geschwollen.

Scully legte ihm eine Hand auf die Schulter. " Mulder," sagte sie leise und wartete auf eine Reaktion.

Es kam keine. Sie versuchte es wieder und wieder und endlich glitt sein Blick zu ihr.

Scully schluckte und schloß für einen winzigen Augenblick die Augen.

Sie hatte ihren Partner schon einmal so gesehen. Damals, als er versuchte gegen seine Dämonen anzukämpfen. Er hatte sich an einen Arzt gewandt, der sehr unorthodoxe Methoden anwandte, um Erinnerungen zurück zu bringen. Ihr Partner war damals kurz davor, den Verstand zu verlieren. Es hatte nicht viel gefehlt und er hätte sich erschossen.

Scully wußte nicht, was diesmal geschehen war, doch Mulder war ein gebrochener Mann. Sie sah es an seinem Blick, in seinen Augen.

Verletzt, gepeinigt und seiner Seele entblößt lag er hier, weinend auf seinem Sofa, vor den anderen Agenten. Schutz- und hilflos wie ein Baby.

" Mulder, was ist geschehen ?" fragte sie sanft und strich zärtlich eine Strähne seines dunklen Haares zurück.

Mulder schüttelte schwach den Kopf und schluchzte kurz auf.

" Wurdest du hier überfallen ?" forschte Scully weiter und ließ ihren Blick bezeichnend durch den Raum gleiten.

Mulder schloß die Augen und zog sich noch weiter zusammen. Schmerzhaft stöhnte er auf.

" Kannst du mir sagen, wo du Schmerzen hast ?" wollte Scully wissen. Doch ihr Partner antwortete wieder mit einem Kopfschütteln.

Scully warf einen kurzen Blick zu Skinner und nickte Richtung Tür.

Ihr Chef verstand und bat die anderen Agenten aus dem Raum. Sie verteilten sich auf dem Flur und Skinner zog respektvoll die Tür hinter ihnen zu.

" Mulder, du bist verletzt, du hast Schmerzen. Bitte, laß mich dich untersuchen," Scullys Stimme war sanft und eindringlich. 

Sie wußte nicht, ob Mulder sie gehört und verstanden hatte. Doch er ließ sich willig auf den Rücken rollen und seinen Leib abtasten.

Dana konnte jedoch nichts auffälliges feststellen. Abgesehen davon, daß sein Hemd aus der Hose hing und diese offen stand.

Sie öffnete nun das Hemd, schob sein Shirt nach oben und betrachtete sich seinen Leib genauer. Auch hier schwollen einige Blutergüsse an, doch auch das war es nicht, was ihm solche Schmerzen verursachte.

Vorsichtig streifte ihm Scully die Hose etwas nach unten und – schloß verstehend die Augen.

Einige Bluttropfen und weißliche Flecken befanden sich auf seinen Boxershorts.

So vorsichtig wie möglich zog sie ihn wieder an und deckte ihn zu.

Ihr Blick glitt über ihren Partner. Wieder sah sie ganz deutlich die Qual, die Angst, die Schmerzen in seinem Gesicht.

Sie haßte die Leute, die ihm das angetan hatten. Sie kannte sie nicht, hatte keine Ahnung, ob es einer oder mehrere gewesen waren, aber sie haßte sie. Haßte sie abgrundtief.

Sie war religiös erzogen, glaubte an Gott und niemals hatte sie einem Menschen etwas schlechtes oder böses gewünscht. Doch diesen Leuten wünschte sie das schlimmste Unglück oder die Pest an den Hals.

" Mulder, ich bringe dich ins Krankenhaus. Du mußt gründlich untersucht und behandelt werden," begann sie nun sanft.

Ihr Partner nickte schwach. Noch immer rannen ihm die Tränen über das Gesicht.

" Wie viele waren es ? Einer ? Zwei ?" fuhr sie leise fort.

Mulder schluckte.

" Wir werden sie finden und sie werden dafür bestraft werden. Aber, – du weißt wie das läuft. Du mußt uns helfen. Du mußt uns sagen, was genau geschehen ist, wie die Kerle aussahen. Glaubst du, daß du das kannst ?"

Mulder sah sie wieder an. Langsam schüttelte er den Kopf, " laß mir Zeit. Bitte," seine Stimme war so leise, daß Scully Mühe hatte, sie zu verstehen.

Sie nickte, erleichtert daß er überhaupt etwas gesagt hatte, und lächelte aufmunternd, " okay. Und jetzt laß uns erst mal ins Krankenhaus fahren. In Ordnung ?"

Mulder biß sich auf die Unterlippe, sein Nicken war nur schwach angedeutet.

" Glaubst du, daß du aufstehen kannst ?" forschte sie weiter und faßte unter seinen Arm, um ihm nach oben zu helfen.

Es dauerte einen Augenblick, bis er sein Gleichgewicht gefunden hatte, doch dann stand er. Zwar leicht schwankend, aber relativ sicher.

Scully sah an ihm hinunter und verzog das Gesicht, " es wäre vielleicht besser, wenn wir dich vorher richtig anziehen, oder was meinst du ?"

Mulders Blick hing an ihren Augen. Unfähig, etwas zu tun, stand er nur da und wartete.

Scully steckte ihm vorsichtig das Hemd in die Hose und zog den Reisverschluß nach oben. Fast so, als würde sie einen kleinen Jungen anziehen – und in der selben psychischen Verfassung fühlte sich auch Mulder in diesem Moment. Hilflos und verletzlich wie ein kleines Kind.

Dana fand seine Jacke unter einem Stapel Aktenhefter. Sie hob sie auf, schüttelte sie aus und half ihm hinein. Mulder ließ es wortlos geschehen.

Schließlich faßte sie ihn unter dem rechten Arm und brachte ihn nach draußen. Vorbei an den verwirrten Kollegen, die ihnen stumm hinterher sahen. Skinner half ihr, den Agenten nach unten zu bringen und in Scullys Wagen zu setzen.

Erst als die Tür hinter Mulder geschlossen war, wandte er sich an Dana.

Sie nickte kurz, " ich bringe ihn ins Krankenhaus und werde mich bei Ihnen melden, sobald ich näheres weiß."

" Das heißt: Sie können mir noch nicht sagen, was geschehen ist ?"

" Nein, Sir. Im Augenblick noch nicht. Ich melde mich bei Ihnen."

Damit ließ sie ihn stehen, schob sich hinter das Lenkrad und startete den Motor.

Skinner blieb zurück und sah ihnen nach.

***

Mount Hillary Hospital; 23:15 Uhr

Während Mulder auf dem Untersuchungstisch lag und von einem Arzt behandelt wurde, stand Scully neben ihm und hielt seine Hand. Mulder hatte sie nicht gehenlassen. Mit einer stummen Geste hatte er sie gebeten, bei ihm zu bleiben. So stand sie neben ihm, seine Hand, wie an einem Rettungsanker, um ihre verkrampft. Nur als er zum Röntgen und CT abgeholt wurde, war sie von seiner Seite gewichen. Mulder dankte es ihr mit einem lautlosen Blick.

Er hatte inzwischen etwas gegen die Schmerzen und zur Beruhigung bekommen. Sein Blick auf Scully gerichtet, schien er doch weit weg, so, als ob er durch sie hindurch sehen würde, ohne sie bewußt wahrzunehmen.

Vom Erlebten erschöpft und vom Weinen müde fielen ihm schließlich die Augen zu.

Irgendwann kam eine Schwester herein und brachte die vorläufigen Laborergebnisse. Der Arzt warf nur einen kurzen Blick darauf und reichte das Papier dann an Scully weiter.

Ihr Blick glitt über die Angaben und sie schloß entsetzt die Augen. Sie sah zu ihrem Partner und wußte, daß er nicht schlief. Seine Haltung war noch immer zu angespannt.

Sie seufzte und wandte sich an den Arzt, " was geschieht nun weiter ? Bleibt er zur Beobachtung hier?"

Der Arzt schüttelte den Kopf, " nein. Dazu besteht kein Grund. Doch er sollte vorerst nicht alleine bleiben. Gibt es Verwandte, die sich eine Weile um ihn kümmern können ?"

" Nein. Seine Mutter befindet sich in einem Pflegeheim und andere Angehörige hat er, meines Wissens, nicht. Es wird das beste sein, wenn er mit zu mir kommt. Ich bin seine Partnerin und ausgebildete Ärztin."

Der Arzt nickte und überlegte kurz, " es gibt unweit von hier eine Selbsthilfegruppe. Sie ist zwar nicht sehr groß, aber der Leiter ist ein hervorragender Psychologe, der in besonderen Fällen auch Einzeltherapie macht. Die Schwester wird Ihnen die Adresse und Rufnummer aufschreiben, damit sie sich mit ihm in Verbindung setzen können. Agent Mulder sollte sich auf jeden Fall mit einem Psychologen unterhalten. Je früher er damit beginnt, desto eher wird er wieder ein relativ ‚normales‘ Leben führen und über das Erlebte hinwegkommen können. Ich gebe Ihnen noch etwas zur Beruhigung für ihn mit, daß sie ihm dann, nach Ihrem Ermessen, verabreichen können."

Scully bedankte sich bei dem Arzt und wartete, bis sie alles bekommen hatte.

Erst dann weckte sie ihren Partner, um ihn zum Wagen zu bringen.

Mulder war sehr benommen. Er sank im Sitz sofort zurück und schloß abermals die Augen.

Die Fahrt verlief schweigend.

Scully lenkte den Wagen zu seiner Wohnung, stellte kurz den Motor ab und verschwand in Mulders Apartment, um für ihn eine Tasche zu packen.

Als sie zum Wagen zurückkam, hatte sich Mulder noch nicht gerührt. Er hatte nicht mal mitbekommen, daß sie einen Zwischenstopp eingelegt hatten.

Erst als Scully vor ihrem Apartment parkte und ihrem Partner hinaus half, sah er sich irritiert um. Ein fragender Blick traf Scully.

Sie lächelte aufmunternd, " ich denke, es ist besser, wenn du erst mal eine Weile bei mir bleibst. Okay?"

Mulder ließ seinen Blick zu der Tasche gleiten, die Scully in der Hand hielt, und dann die Fassade ihres Wohnhauses hinauf. Langsam nickte er und folgte ihr.

Im Apartment angekommen, stellte sie die Tasche aufs Sofa und half Mulder aus seiner Jacke.

" Ich habe dir etwas Wäsche eingepackt. Wenn du Duschen möchtest ... – im Bad sind Handtücher. Ich koche uns inzwischen Tee."

Stumm ließ Mulder seinen Blick von ihr, zur Tasche wandern, dann nickte er.

Da er sich nicht rührte, fischte ihm Scully frische Unterwäsche und einen Jogginganzug heraus und brachte ihn ins Badezimmer. Sie stellte ihm die Dusche an, legte ihm ein Handtuch, Seife und Shampoo zurecht und ließ ihn dann allein.

Durch die geschlossene Tür hörte sie das Wasser rauschen und die eindeutigen Geräusche, die entstehen, wenn sich jemand duscht.

Befriedigt machte sie sich das Sofa für die Nacht zurecht, überzog für Mulder ihr Bett im Schlafzimmer frisch und setzte schließlich den Kessel auf den Herd.

Mulders Tasche stellte sie im Schlafzimmer auf den Boden. Sie fand es besser, wenn Mulder hier schlief. Da hatte er eindeutig mehr Ruhe und das war es, was er jetzt am meisten brauchte.

Es dauerte noch eine Weile, ehe ihr Partner aus dem Badezimmer kam.

Seine Haut war gerötet und heiß, vom Wasser. Seine Haare tropften noch leicht und der fiebrige Glanz in seinen Augen war nicht mehr so stark.

Scully drückte ihn in einen Sessel und stellte ihm eine Tasse dampfenden Tee hin. Sie ließ sich ihm gegenüber nieder und musterte ihn.

Mulder schwieg. Nur hin und wieder nippte er an dem heißen Getränk.

" Kannst du mir sagen, was in deinem Apartment geschehen ist ?" fragte Scully nach einer Weile leise.

Mulder nickte schwach, " ich habe ... – die Nerven verloren." Seine Stimme war kaum hörbar. Scully verstand ihn trotzdem.

" Das heißt: du hast den Fernseher eingeschlagen und alles verwüstet ?" fragte sie nach.

Mulder seufzte und starrte auf den Fußboden vor sich.

" Warum hast du das getan ? Warum hast du mich nicht angerufen ? Du weißt doch, daß ich sofort gekommen wäre. Du weißt doch, daß du mit mir über alles reden kannst. Warum hast du mich nicht angerufen ?" es war kein Vorwurf oder Tadel und Mulder wußte es.

" Ich ... – ich konnte nicht. Ich ...," er hob hilflos die Schultern und schwieg wieder.

Scully nickte verstehend, " wo ist es geschehen ? Weißt du das noch ?"

Mit einer erschöpften Geste rieb sich Mulder über die Nasenwurzel, " ich bin müde. Ich bin so müde." Er stützte die Ellbogen auf die Knie und legte sein Gesicht in seine Hände.

Er würde an diesem Tag nicht mehr darüber reden. Es war einfach zu viel für ihn. Scully verstand. Sie erhob sich und brachte ihn zu ihrem Bett, " leg dich hin und versuche etwas zu schlafen. Ich bin im Wohnzimmer, falls irgend etwas sein sollte. Okay ?"

Mulder nickte nur und ließ sich auf dem Bett nieder. Er sank einfach zurück und schloß die Augen.

Scully deckte ihn zu und wieder glitt ihr Blick über ihren Partner. In ihrer Brust gab es einen Schmerz, den sie bisher nur einmal gefühlt hatte. Damals, als sie dachte, daß Mulder tot sei. Und als sie ihn jetzt so sah, hatte sie das Gefühl, ihn langsam sterben zu sehen.

An diesem Donnerstag hatte sich die Welt für sie verändert. Nichts war mehr so, wie es vorher war. Weder für sie, noch für Fox Mulder. Besonders für Mulder. Ein Stück seiner Kraft, seiner Stärke und seiner Seele war an diesem Donnerstag gestorben und Scully hoffte für ihn und für sich, daß er einen Teil davon wieder zurück gewann. Egal wie lange das dauerte, sie würde zu ihm halten und ihm helfen.

Und noch etwas wurde ihr schmerzlich bewußt. Sie war alles, was er noch hatte. Wenn sie ihn verließ – aus welchem Grund auch immer – hätte er niemanden mehr. Sie war seine Familie. Sie war der einzige Mensch, an den er sich wenden konnte. Sie war alles, was ihm geblieben war.

Sie wußte, sie mußte alles dafür tun, daß er sie nicht auch noch verlor.

Eine Träne rann ihr über die Wange. Mit einer knappen Handbewegung wischte sie sie fort. Sie beugte sich nach unten, küßte ihn sanft auf die Stirn, " keine Angst, ich laß dich nicht im Stich. Niemals."

Leise wandte sie sich ab und verließ das Zimmer. Die Tür ließ sie einen Spalt weit offen stehen.

***

Scullys Apartment; 1:40 Uhr

Scully wollte es sich gerade auf dem Sofa bequem machen und den versprochenen Anruf bei Skinner tätigen, als es an ihrer Tür klopfte.

Verwundert, wer sie um diese später Stunde noch besuchen kam, erhob sie sich und ging zur Tür.

Sie warf einen Blick durch den Spion. Skinner stand im Flur und wippte nervös auf seinen Füßen hin und her.

Schnell sperrte Scully auf und ließ ihren ehemaligen Vorgesetzten ein.

" Sie wollten mich anrufen," tadelte er auch sofort.

Die Agentin nickte und bat ihn mit einer Handbewegung ins Wohnzimmer, " ich wollte es gerade tun. Vorher kam ich leider nicht dazu. – Möchten Sie einen Tee ? Ich habe erst frischen gekocht."

Skinner schüttelte den Kopf und ließ sich, nach einer Handbewegung von Scully, in dem Sessel nieder, in dem vor kurzem noch Mulder gesessen hatte.

Scully setzte sich auf das Sofa und berichtete, was sie bisher wußte, " ... er wurde laut Laborbefunden, von drei Männern überfallen und sexuell mißbraucht. Sie müssen wie wilde Bestien über ihn hergefallen sein. Platzwunden und Prellungen in Gesicht und Körper, Quetschungen und Zerrungen an den Extremitäten, Verletzungen im Anal- und Genitalbereich. Aufgrund des noch im Enddarm vorhandenen Spermas konnten wir die Blutgruppen dreier verschiedener Personen identifizieren. Ich habe die Proben an unser Labor geschickt, um eine DNS Analyse zu bestimmen. In der Hoffnung, damit die Täter überführen zu können."

Skinner war sichtlich entsetzt. Einer seiner Agenten, 'vergewaltigt'. Das war einfach unfaßbar.

Es dauerte einen Augenblick, bis er diese Information verdaut hatte, " konnte Mulder Angaben über die Täter oder den Tathergang machen ?"

Scully schüttelte den Kopf, " nein, er hat noch gar nichts zur Sache ausgesagt. Bisher beruht alles auf den medizinischen Untersuchungen und Ergebnissen."

" Was war mit seinem Apartment ? Ist es dort geschehen ?" forschte Skinner weiter.

" Nein. Ich vermute, daß Mulder nach der Tat irgendwie nach Hause kam, dort brach er dann zusammen und verwüstete selbst seine Wohnung."

" Wie kommen Sie darauf ?"

" Er sagte mir, daß er die Nerven verloren, den Fernseher eingeschlagen und das Chaos verursacht hätte. – Ehrlich gesagt, kann ich diesen Ausbruch verstehen," fügte sie leise hinzu.

Skinner nickte nachdenklich, " und wie geht es nun weiter ?"

" Er wird vorerst bei mir bleiben. Ich werde mich um ihn kümmern, bis er sich psychisch wieder gefangen hat. Vielleicht gelingt es mir, ihn zu einer Therapie zu überreden. Die körperlichen Verletzungen werden schnell verheilt sein, aber die seelischen ... ."

Skinner überlegte einige Minuten, dann nickte er und drückte sich wieder in die Höhe, " ich habe bereits mit Direktor Kersh gesprochen und um ihre vorläufige Versetzung gebeten. Bis zur Klärung dieser Angelegenheit, sind Sie mir unterstellt. Melden Sie sich bitte bei mir zurück, wenn sich sein Zustand gebessert hat. So lange sind Sie vom Dienst freigestellt. Ich habe eine Akte angelegt und hoffe – in seinem Interesse -, daß wir es außergerichtlich regeln können. Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn Mulder eine Aussage zum Tathergang gemacht hat. Das würde uns die Sache erleichtern. Wir werden diese Bestien bekommen."

Scully lächelte schwach und erhob sich ebenfalls, " natürlich Sir. – Danke."

Sie brachte Skinner zur Tür und schloß hinter ihm wieder ab.

Nachdenklich kehrte sie zum Sofa zurück.

Sie konnte nur erahnen, was ihr Partner an diesem Tag durchgemacht hatte. Es mußte furchtbar für ihn gewesen sein.

Scully hoffte, daß er seine alte Stärke irgendwann zurückgewinnen würde.

Lange lag sie noch auf dem Sofa, wälzte sich von einer Seite auf die andere und konnte einfach nicht einschlafen. Sobald sie die Augen schloß, sah sie ihren Partner, wie er von drei kräftigen Kerlen zu Boden gedrückt wurde. Sie glaubte seine Hilferufe zu hören. In dem Augenblick, in dem er sie am meisten gebraucht hatte, war sie mit einer Gott verdammten Autopsie beschäftigt gewesen und hatte nicht mal eine Ahnung davon, wie sehr Mulder ihre Hilfe benötigte. Sie war einfach nicht bei ihm gewesen, um ihm zu helfen.

Entsetzt stöhnte sie auf, als ihr bewußt wurde, wie sich Mulder die letzten Jahre gefühlt haben mußte. Nun fühlte sie sich schuldig. Schuldig, daß sie in diesem Augenblick nicht bei ihm gewesen war, ihm nicht beigestanden oder es sogar verhindert hatte.

Sie wußte, daß Mulder schon seit Jahren mit solchen Schuldgefühlen lebte. Anfangs fühlte er sich schuldig am Verschwinden seiner Schwester, dann an Scullys Entführung, an ihrer Krankheit, an ihrer Unfruchtbarkeit, an dem, was sie inzwischen alles erlebt und gesehen hatten. Die Monster und Mutanten, Aliens, außerirdische Viren, afrikanische Honigbienen, Verschwörungen, menschenfressende Insekten, mythische Wesen, Geister, unsichtbare Erscheinungen, Reinkarnationen. Alles, was sie bisher erfahren hatten und nicht beweisen konnten. Und an allem fühlte er sich schuldig. Vermutlich auch an seinem jetzigen Zustand. Und zwar deshalb, daß er Scully nun solche Sorgen bereitete und sie wegen ihm solche Ängste ausstehen mußte. Wenn sie es genau betrachtete wurde Mulder von einem riesigen Berg an Schuldgefühlen erdrückt, den er sich selbst aufgeladen hatte. Und nun ging es ihr genauso.

Sich für eine Sache verantwortlich zu fühlen, die außerhalb ihrer Möglichkeiten gelegen hatte. Sie wußte genauso gut wie Mulder, daß sie die Tat nicht hätte verhindern können. Es hatte nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben, daß so etwas geschehen würde.

Genauso wenig konnte Mulder etwas für das Verschwinden seiner Schwester. Er war damals gerade 12 und selbst noch ein Kind. Als Scully verschwand, war es auch nicht seine Schuld. Keiner hatte damit gerechnet, daß Duane Barry aus dem Hospital fliehen und bei ihr auftauchen würde. Keiner hatte erwartet, das so etwas geschehen könnte. Keiner hatte damit gerechnet, daß die Entfernung dieses Implantats in ihrem Nacken bei ihr Krebs auslösen würde.

Mulder hätte nichts davon verhindern können. Er hatte das getan, von dem er glaubte, das es das richtige war. Er war ins Pentagon eingedrungen, hatte einen Chip entwendet und ihn Scully unter die Haut setzen lassen. Und wie durch ein Wunder hatte sich ihr Krebs zurück gebildet. Ob es tatsächlich an dem Chip oder an der Medizin lag, konnte keiner beantworten.

Scully seufzte. Soweit war es nun schon mit ihr, daß sie sich für Dinge rechtfertigte, die nur aufgrund des Schicksals geschehen waren.

Bei dem Gedanken daran mußte sie grinsen. ‘Schicksal‘, das Wort wäre das Richtige für Mulder. Er würde es in seine Einzelteile zerlegen, genauestens untersuchen und anders herum wieder zusammen setzen. Er würde daraus ein Mysterium gemacht. Eine Vorbestimmung, die bereits seit Beginn der Menschwerdung genau festgelegt war und nach dem alles ablief, was mit ihnen geschah.

Doch wenn er daran glaubte, dann durfte er sich an den ganzen Ereignissen auch keine Schuld geben. Schließlich schloß das eine, das andere ja aus. Es sei denn, Mulder hätte die ganzen Geschehnisse voraussagen und verhindern können, indem er rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen hätte.

Doch wenn er das könnte, hätte er das Geschehen an diesem Donnerstag umgangen.

Scully schloß die Augen. ‚Gott, jetzt fange ich schon genauso an, konfuse Gedankengänge zu spinnen, wie Mulder,‘ überlegte sie und rollte sich auf die Seite. Sie zog die Decke bis zum Kinn hinauf und versuchte sich ganz auf ihren Körper zu konzentrieren. Sie mußte einfach etwas schlafen, und wenn es nur einige Stunden waren. Sie brauchte ihren Schlaf.

Eine Weile lag sie da, lauschte dem sanften Klopfen ihres Herzen und dem Rauschen des Blutes, das durch ihre Adern floß.

Doch das helle Licht im Wohnzimmer war ungewohnt.

Zwar hatte sie, seit ihrer Entführung, nachts immer eine Lampe brennen, doch nicht in ihrem Schlafzimmer. Es fiel durch den schmalen Spalt der leicht geöffneten Tür vom Wohnraum herein. Und jetzt blendete sie die helle Deckenlampe direkt über ihr.

Resignierend drückte sie sich in die Höhe, stapfte zur Küche und knipste dort das Licht an, dann kehrte sie zum Sofa zurück und machte das Licht im Wohnzimmer aus.

Sie legte sich hin, zog die Decke hoch und schloß abermals die Augen, um den Tönen ihres Körpers zu lauschen. Wenn sie ihr Ohr gegen das Kissen drückte, konnte sie ihren Herzschlag und ihre eigene Atmung hören. Konnte hören, wie die Luft ihrer Lungen sanft über den Bezug strich.

Immer wieder blinzelte sie auf ihre Armbanduhr. Sie glaubte, daß sich der Zeiger kaum vorwärts bewegte. 3 Uhr, 3:10 Uhr, 3:30 Uhr, 3:48 Uhr.

Wieder schloß sie die Augen und begann Schafe zu zählen.

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