World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Train Ride

von Sonja K

Kapitel #1

Mulder langweilte sich. Er langweilte sich mehr, als er sich jemals in seinem Leben gelangweilt hatte, aber er konnte nicht das geringste dagegen tun. Schließlich war alles seine eigene Schuld. Es hatte zwar eine Weile gedauert, aber er hatte es schließlich geschafft, genug Dienstwagen zu Schrott zu fahren um vor einen Untersuchungsausschuss gerufen und darüber befragt zu werden. Natürlich war er seinen Vorgesetzten auf seine übliche, höfliche Art begegnet, was diesen ganz und gar nicht gepasst hatte. Sie hatten ihm erklärt, er werde für seinen nächsten Fall keinen Dienstwagen bekommen, und um einen Teil des verschwendeten Geldes wieder hereinzuholen und Mulder eine Lektion zu erteilen, hatten sie ihm und Scully die Flüge zu ihrem nächsten Einsatzort gestrichen und sie aufgefordert, mit dem Zug zu fahren. Da der Ort des Verbrechens sich auf der anderen Seite des Landes befand, sah sich Mulder einer sehr langen Fahrt gegenüber. Einer sehr langen Zugfahrt mit Scully, um genau zu sein. Mit einer sehr wütenden Scully. Natürlich war sie nicht gerade erfreut gewesen als sie erfahren hatte, warum sie mit dem Zug durchs halbe Land fahren würde, aber sie hatte es geschafft ruhig zu bleiben und Mulder nicht umzubringen. Zumindest noch nicht. Im Moment saß sie relativ still neben ihm in ihrem Zweite- Klasse- Sitz und las einen Artikel in einer medizinischen Zeitschrift. Mulder war klug genug sie nicht zu stören, da er sich nicht ausgerechnet jetzt mit ihr anlegen wollte, aber er musste etwas gegen seine Langeweile tun, die immer stärker an ihm nagte, also griff er in seine Tasche und holte eine Papiertüte mit Sonnenblumenkernen heraus. Wenn er schon seiner Partnerin nicht auf die Nerven gehen konnte, dann wollte er wenigstens seiner zweitliebsten Beschäftigung frönen. Er holte eine Handvoll der Kerne aus der Tüte und steckte sie sich einen nach dem anderen in den Mund, knackte die Schale und spuckte sie anschließend in seine hohle Hand, um sie danach in dem Mülleimer zu versenken, der auf Scullys anderer Seite neben dem Fenster befestigt war. Natürlich gingen dabei immer wieder Schalen verloren und begaben sich auf Reisen, die sie zum größten Teil auf die Seiten von Scullys aufgeschlagener Zeitschrift führten. Jedesmal, wenn er eine weitere Schale dort deponierte, warf ihm seine Partnerin einen genervten Blick zu, und Mulder fand Gefallen an dem Spiel, da es ihm zumindest die Gelegenheit bot, ihre Augen zu sehen, die sonst auf die Zeitschrift gerichtet waren. Selbst wenn sie wütend war, wollte Mulder, dass sie ihn ansah. Sie hatte bisher noch nichts über seine Schuld an ihrer unfreiwilligen Zugfahrt gesagt, und er wusste, dass das noch kommen würde und wollte es lieber jetzt hinter sich bringen, damit sie den Rest der Fahrt gemeinsam genießen konnten. Falls man eine Fahrt in der zweiten Klasse eines Zuges überhaupt genießen konnte. Mulder hatte alle Mühe, seine langen Beine in dem engen Raum zwischen seinem und dem Vordersitz unterzubringen, und er hatte das Gefühl, als stünden seine Knie in einem unnatürlichen Winkel vom Rest seines Körpers ab. Mulder versuchte zum wiederholten Mal, eine bequemere Position zu finden, und stieß dabei die Tüte mit den Sonnenblumenkernen um, die in seinem Schoß gestanden hatte. Die Flut der Kerne ergoss sich über seine Beine, den Sitz, den Boden, und, viel schlimmer noch, über Scullys Artikel. 

Das hatte sie gerade noch gebraucht. Zuerst in einem Zug quer durchs Land fahren, weil Mulder ihre Vorgesetzten mal wieder verärgert hatte, dann sein ewiges Herumgerutsche auf dem Sitz, die Sonnenblumenkerne, deren Schalen er großzügig zwischen den Seiten ihrer Zeitschrift verteilte, und nun auch noch die geballte Ladung dieser störenden Objekte, die sich über sie und ihre Zeitschrift ergoss und sich sicher nicht durch einfaches Abbürsten ganz von ihrer Kleidung wieder entfernen lassen würde. Mit einem Ruck warf sie die Zeitschrift zur Seite und ließ einen Haufen Sonnenblumenkerne in alle Richtungen segeln. „Passen Sie doch auf!“ schnauzte sie ihren vollkommen perplexen Partner an. „Nur weil Sie nichts von dem verstehen, was ich da lese, müssen Sie doch noch lange nicht Ihren Abfall darüber verteilen. Schlimm genug, dass Sie die Dinger überhaupt dauernd essen müssen. Sie machen nichts als Unordnung.“ Noch bevor Mulder entschieden hatte, ob mit „sie“ er oder seine Sonnenblumenkerne gemeint gewesen war hatte ihm Scully die noch nicht ganz leere Tüte weggenommen – Autsch, Scully, passen Sie doch auf, wo Sie hinfassen; das muss man ganz vorsichtig behandeln – und in ihrer Tasche versenkt. Sie wollte sich nicht auf ein kindischeres Level hinabbegeben als das, auf dem sich ihr Partner gewöhnlich befand, und deshalb warf sie seinen Reiseproviant nicht in den Mülleimer, auch wenn diese Vorstellung durchaus reizvoll war. Statt dessen begnügte sie sich damit aufzustehen, wobei sie sich erst einmal an Mulder vorbeizwängen musste, und zu versuchen, die Kerne, die überall in ihren Kleidern hingen, abzubürsten. Bei dem anschließenden Versuch, wieder zu ihrem Sitz zu kommen, wurde sie von einer ruckartigen Bewegung des Zuges aus dem Gleichgewicht gebracht und landete direkt in Mulders Schoß. Dieser musste sich auf die Zunge beißen, um eine unpassende Bemerkung zu verschlucken. Es wäre zu schön gewesen, Scully damit zu ärgern, aber in ihrer momentanen Stimmung erschien es ihm nicht ratsam, besonders wenn man bedachte, wie heftig sie ihre Hand in seinen Schoß gerammt hatte, als sie nach der Tüte gegriffen hatte. Und dass das an der Bewegung des Zuges gelegen hatte, bezweifelte Mulder doch sehr...

Er wagte es nicht, seine Partnerin noch mehr zu verärgern und beschloss, ein wenig zu schlafen. Lange genug würden sie ja wohl unterwegs sein, und wenn er in Flugzeugen schlafen konnte, würde das doch wohl auch in einem Zug möglich sein. Außerdem war er sich sicher, dass er im Schlaf nichts tun würde, um Scullys Stimmung noch weiter zu verschlechtern.

Scully seufzte innerlich. Er schaffte es doch immer wieder. Eigentlich sollte sie stinksauer auf ihn sein, da er sie in diesen verdammten Zug gebracht hatte, und spätestens die Sache mit den Sonnenblumenkernen hätte ihr den Rest geben sollen, aber sie konnte es einfach nicht über sich bringen, ihm böse zu sein. Nicht, wenn er so friedlich schlief. Mulder hatte nicht versucht, mit ihr über die Konfiszierung seiner Sonnenblumenkerne zu streiten, sondern hatte sich in sein Schicksal gefügt und still hingesetzt, und nach wenigen Minuten war er eingeschlafen. Scully konnte ihren Blick nicht von ihm wenden; er sah einfach zu... süß aus, wie er da gleich einem kleinen Jungen in seinem Sitz zusammengerollt schlief. Na gut, soweit man bei Mulder von zusammengerollt sprechen konnte. Er hatte versucht, eine bequeme Position zu finden, und dabei war sein Kopf an Scullys Schulter gelandet. Sie bewegte sich nicht, um ihn nicht aufzuwecken, denn auch wenn sie nicht begeistert von dem war, was er mal wieder getan hatte, wusste sie doch, dass er seinen Schlaf brauchte. Schließlich waren die Nächte, in denen er welchen fand, selten genug. Sie wusste jedesmal, wenn er ins Büro kam, ob er geschlafen hatte oder nicht, wenn ja wie lange, und ob er wieder von Samantha geträumt hatte. So gut kannten sie einander, dass sie diese Informationen aus seinem Blick entnehmen konnte, wenn sie ihn nur ein paar Minuten ansah. So seltsam es ihr auch vorkam, Mulder schien auf Reisen besser zu schlafen als zu Hause auf seiner Couch. Sie konnte gar nicht mehr zählen, auf wie vielen Flügen er an ihrer Schulter geschlafen hatte, wie viele Observierungen sie allein durchgeführt hatte, weil sie es nicht über sich brachte, ihn zu wecken, wenn er neben ihr im Wagen eingeschlafen war, wie viele Landstraßen sie schon entlanggefahren war, mit einem schlafenden Mulder auf dem Beifahrersitz, der sie eigentlich ablösen sollte. Scully lächelte unbewusst; sie wusste, wenn er wieder aufwachte, würde sie ihm nicht mehr böse sein können, egal was er sagte oder tat. Nicht, nachdem er seinen Kopf vertrauensvoll an ihre Schulter gelehnt hatte um Ruhe zu finden. Nicht, nachdem sie einen weiteren Blick auf den kleinen Jungen geworfen hatte, der noch immer in ihrem Partner steckte, und den sie für ihren Geschmack viel zu selten zu sehen bekam. Nein, sie würde ihm definitiv nicht mehr böse sein können, dem Mann mit dem kindlich friedlichen Gesichtsausdruck, dessen Mund leicht geöffnet war und dessen Atem ruhig und gleichmäßig ging. Scully spürte eine leichte Feuchtigkeit an ihrer Schulter und verdrehte die Augen genug, um deren Ursache erkennen zu können ohne Mulder zu wecken. Das durfte doch nicht wahr sein! Mitten im Tiefschlaf lief ihrem Partner ein feiner Speichelfaden aus dem Mund, nicht viel, aber genug, um den Stoff ihrer Bluse zu durchdringen. Sie schüttelte leicht den Kopf und unterdrückte ein Lächeln. Anstatt sie wieder wütend zu machen, kam ihr Mulders Missgeschick wie eine intime Geste vor, etwas, das nur zwischen ihnen vorkommen konnte und das sie sonderbar anrührte. Sie streckte die Hand aus und wischte mit sanften Fingern die Feuchtigkeit von Mulders Lippen, bevor sie ihre Hand zurückzog und wieder in ihrem Schoß ruhen ließ. Keine Chance, sich jetzt noch auf ihren Artikel zu konzentrieren, egal wie gern sie endlich all die noch nicht gelesenen Zeitschriften durchgegangen wäre, die ihren Schreibtisch überfluteten. Ein andermal vielleicht; jetzt war sie zu beschäftigt mit den Gefühlen, die nur ein schlafender Mulder an ihrer Schulter auslösen konnte, und die irgendwo zwischen mütterlichem Beschützerinstinkt und etwas anderem lagen, das sie lieber nicht genauer erforschen und benennen wollte...

Irgendwann hob Scully vorsichtig ihren linken Arm, um auf ihre Uhr zu sehen, und ein scharfer Schmerz durchzuckte sie. Obwohl sie sich im selben Moment auf die Lippen biss, musste Mulder ihren leisen Schmerzenslaut gehört haben, denn er begann sich zu bewegen, was den zuerst nur kurzen Schmerz mit voller Wucht zurückbrachte. Dennoch brachte sie es fertig, einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk zu werfen und fand dort auch gleich die Erklärung für ihre schmerzende Schulter. Sie hatte über zwei Stunden vollkommen bewegungslos dagesessen und Mulder beobachtet, und allein die ungesund verkrampfte Haltung musste Gift für ihre Muskeln gewesen sein, ganz zu schweigen vom Gewicht ihres Partners. Wie auf ein Stichwort wachte Mulder bei diesem Gedanken endgültig auf und richtete sich auf. Auch er schien unter den Folgen seiner Schlafhaltung zu leiden, denn er rieb sich stöhnend den Nacken. Allerdings brauchte er nur eine Sekunde, um zu erkennen, dass es Scully nicht besser ging als ihm selbst, und er richtete seine volle Aufmerksamkeit auf sie.

„Scully, was ist mit Ihnen? Hab ich schon wieder an Ihrer Schulter geschlafen? – als ob du das nicht ganz genau wüsstest, du scheinheiliger Bastard – Sie hätten mich wecken müssen, wenn ich Ihnen zu schwer geworden bin, oder zumindest wegschieben. Schließlich kann niemand von Ihnen verlangen, dass Sie das Kopfkissen für mich spielen.“ Mit diesen Worten legte Mulder ihr seine Hand auf die schmerzende Schulter und strich sanft und vorsichtig darüber, bis ein scharf eingesaugter Atemzug ihm verriet, dass er an der richtigen Stelle angekommen war. Mulder begann vorsichtig, mit den Fingern und dem Handballen Druck auszuüben und versuchte so, die Verspannung und den Schmerz aus ihrer Schulter zu vertreiben, solange sie ihn ließ. Was nicht sehr lange war.

Auf diese geballte Ladung Mulder- Besorgnis war Scully nicht gefasst, und sie versuchte, sich mit einem lockeren Kommentar aus der Affäre zu ziehen: „Mulder, Sie brauchen Ihre Hände nun wirklich nicht an meiner Bluse abzuwischen, nachdem Sie sowieso schon draufgespuckt haben.“ Sie hätte ihn genauso gut auf Chinesisch ansprechen können, die Reaktion wäre auch dann nicht geringer ausgefallen. Er dachte gar nicht daran, seine Hand wegzunehmen, sondern benutzte nun auch noch seine andere Hand, um Scullys Schultern richtig festzuhalten, damit sie seiner Berührung nicht mehr ausweichen konnte. Als er sprach, war seine Stimme eine seltsame Mischung aus entschuldigend und sanft: „Hey, Scully, jetzt sitzen Sie doch endlich mal still; ich will Ihnen nur helfen. Schließlich bin ich an Ihrer verkrampften Schulter schuld, da kann ich Sie doch wenigstens mit einer kleinen Massage entschädigen.“

„Das ist wirklich nicht nötig.“ Scully bemühte sich, beiläufig zu klingen, aber sie hörte selbst, wie nachdrücklich und unnötig hastig ihre Worte klangen. So gern sie Mulder auch hatte, sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine Massage von ihm ihren Muskeln besonders gut tun würde. Mulder würde den Schmerz wahrscheinlich nur noch schlimmer machen. Sie schätzte die Fähigkeiten ihres Partners in jeder Hinsicht, aber eine wirksame Massage traute sie ihm nun wirklich nicht zu. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass ihre Erwartungen durch ihre professionelle medizinische Ausbildung auch in dieser Hinsicht vielleicht etwas zu hoch angesetzt waren. Woran sie ebenfalls nicht dachte war, dass der Sinn einer Massage nicht unbedingt nur in der Entspannung von Schultermuskeln liegen musste. Typisch; du wirst es eben nie kapieren, wenn du es nicht ausprobierst. Sie schob diesen unangenehmen Gedanken und Mulders durch ihren Tonfall leicht verletzten Gesichtsausdruck beiseite und vergrub sich wieder in ihrer Zeitschrift, die sie vorhin achtlos beiseite gelegt hatte. Ja, Dana, so ist’s richtig; denial is policy, stimmt’s? Mach dir nur weiter was vor. 

Mulder war allerdings nicht lange gekränkt, denn eigentlich hatte er von seiner Partnerin nichts anderes als eine Zurückweisung erwartet. Gib’s zu, du wärst doch enttäuscht, wenn sie zugestimmt hätte. Das wäre viel zu einfach, und wo bliebe da der Spaß? Es wäre einfach nicht Scully, richtig? Irgendwo in seinem Innern nagte die Frage, was er tun würde, sollte sie eines Tages auf eine seiner Anspielungen eingehen. Er war sich nicht im klaren, ob er das überhaupt so genau wissen wollte. Natürlich hegte er Gefühle für sie, sehr tiefe und nicht unbedingt nur partnerschaftliche, aber eben für die ganze Person Scully, und sollte sie auf ihn eingehen, wäre sie einfach nicht mehr seine Scully. Apropos Scully: Sie schien schon wieder vollkommen in ihren Artikel vertieft zu sein. Das konnte er natürlich nicht durchgehen lassen! Da sie ihn seiner Sonnenblumenkerne beraubt hatte und er mit der Massage als Ablenkung gescheitert war, musste er sich wohl oder übel etwas anderes einfallen lassen, um seine Langeweile loszuwerden. Kein Problem für einen brillanten Geist... schließlich kannte er Scully lange genug um zu wissen, was ihr mit hundertprozentiger Sicherheit auf die Nerven ging – meist schaffte er das sogar vollkommen unabsichtlich; da würde er doch jetzt noch ein paar Tricks aus dem Ärmel zaubern können... Zuerst versuchte Mulder, die Aufmerksamkeit seiner Partnerin durch unauffälliges hin- und herrutschen zu erlangen. Als das jedoch nicht half, beschloss er, eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Methode anzuwenden: Wenn Scully etwas ganz sicher nicht leiden konnte, dann war es... Ein boshaftes Lächeln setzte sich in Mulders Mundwinkeln fest, und er begann mit der Ausführung von Plan B.

„Scully...“ Beim Klang seiner Stimme sah sie auf, halb befürchtend, dass er noch immer verletzt war. Aber als sie in sein Gesicht sah, das die personifizierte Unschuld ausdrückte, wusste sie, dass sie es zurückbekommen würde. Ebensogut hätte sich Mulder ein Schild mit der Aufschrift „Rache“ auf die Stirn kleben können. Er war eindeutig auf etwas aus, und je eher sie herausfand worauf, desto besser für sie. 

„Was gibt’s?“ erkundigte sie sich, bemüht, den genervten Klang aus ihrer Stimme zu verbannen, den sie gewöhnlich für ihren Neffen reservierte, wenn er sie dazu zu bringen versuchte, sich zum siebten Mal an einem Wochenende mit ihm „Babe“ anzusehen. Wenn sie es sich recht überlegte, klang Mulder gerade in diesem Moment genauso begeistert und drängend wie eben dieser Neffe. Anscheinend war ihr ein neutraler Tonfall gelungen, denn Mulder fuhr munter fort: „Was lesen Sie da eigentlich?“

Das überraschte sie nun doch, auch wenn sie sich an einem Punkt geglaubt hatte, an dem sie nichts von dem mehr überraschen konnte, was Mulder zu ihr sagte. „Was...?“ brachte sie nur hervor. 

„Ich wollte nur wissen, was Sie lesen.“ entgegnete Mulder ruhig, als sei das die natürlichste Sache der Welt und als erkundige er sich jeden Tag nach den Inhalten ihrer wissenschaftlichen Artikel. Scully erholte sich allmählich von ihrem Erstaunen und antwortete: „Seit wann interessiert Sie, was ich lese?“

Gut gemacht, Mulder, jetzt hast du sie am Haken! „Ich möchte eben wissen, womit sich meine Partnerin so beschäftigt.“

Das war’s. Scully spürte, wie ihre Abwehr dahinschmolz; mit seinem Interesse, ob gespielt oder ehrlich, hatte Mulder sie mal wieder rumgekriegt. Es war nur noch eine Frage der Zeit; sie konnte also ebensogut sofort aufgeben. Scully schalt sich schwach, weil Mulder diese „Macht“ über sie hatte, und beschloss, dass sie es ihm wenigstens ein bisschen heimzahlen konnte. Er wollte wissen, worüber sie las? Gut, das konnte er haben. Sie legte die Zeitschrift in ihren Schoß und sah Mulder direkt in die Augen. „Ich habe hier einige sehr aufschlussreiche Artikel über die Geschichte der Pathologie. In diesem hier“, sie deutete auf die aufgeschlagene Seite in ihrem Schoß, „geht es zum Beispiel um die Möglichkeiten des Nachweises von metallischen Giften im Körper. Es ist erwiesenermaßen  möglich, auch nach fast tausend Jahren Spuren von solchen Giften in einer Leiche nachzuweisen. Das gilt nicht für pflanzliche Gifte, die sich nach einer Zeit zersetzen und keine Spuren mehr hinterlassen. In dem hier beschriebenen Fall wurden nach über neunhundert Jahren die Überreste eines Papstes wiederentdeckt, der nach der Geschichtsschreibung vermutlich vergiftet worden war. Man nahm die Gelegenheit wahr und versuchte herauszufinden, welches Gift bei diesem vermutlichen Mord angewendet worden war. Die Ergebnisse, die die Tests anhand einer erhaltenen Rippe lieferten, wiesen auf eine Bleivergiftung hin. Dies war eine Weile eine sehr häufige Todesursache, da man sie lange Zeit nicht nachweisen konnte, und die Diagnose lautete oft fälschlicherweise „Bleichsucht“ oder war zumindest ähnlich vage, da die Folgen einer langwierigen Bleivergiftung Appetitmangel, Blutarmut und Gewichtsverlust sind, und diese konnte man noch im Mittelalter nicht unbedingt als Vergiftung identifizieren. In der Antike gab es sogar professionelle Giftmörder, die den Tod einer Person bei genau bemessener Verabreichung bestimmter Gifte bis auf eine Woche genau planen konnten, und das, nachdem sie das Opfer über ein halbes Jahr oder länger langsam vergifteten. Das faszinierendste jedoch ist meiner Meinung nach, dass ein Nachweis bestimmter Gifte nach so langer Zeit zum ersten Mal bereits 1957 gelungen ist, als die Toxikologie noch in den Anfängen war. Aber das interessiert Sie sowieso nicht wirklich.“ Mit diesem abschließenden Satz lächelte sie Mulder fröhlich an und beugte sich nach vorn, um die Zeitschrift in ihre Tasche zu stecken. Mulder starrte sie mit offenem Mund an. Erwischt. Gib’s zu, Mulder, sie hat dich mal wieder vollkommen durchschaut. Scully unterdrückte ein Lächeln über Mulders verdutzten Gesichtsausdruck, den sie aus den Augenwinkeln beobachten konnte. Tja, Mulder, Rache ist süß, dachte sie mit wachsender Befriedigung und holte ein eingewickeltes Sandwich aus der Tasche, bevor sie diese wieder schloss und aus der Versenkung auftauchte.

„Mmmmmm, Sandwich!“

Scully verdrehte die Augen. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde annehmen können, dass es etwas geben könnte, das Mulder nicht interessierte, und dass dieses „etwas“ ausgerechnet ihr Reiseproviant sein sollte. Sie sollte ihn wirklich besser kennen. Scully überlegte, Mulder einfach zu ignorieren, damit er sie in Ruhe ließ, aber sie hätte es besser wissen müssen. Noch bevor sie das Einwickelpapier ihres Sandwichs im Mülleimer versenken konnte, beugte sich Mulder über ihre Schulter und beäugte interessiert das Sandwich in ihrer Hand. „Was ist das für eins?“ erkundigte er sich.

„Mulder, Sie wollen mir doch jetzt nicht erzählen, dass Sie sich `einfach nur dafür interessieren, was Ihre Partnerin so isst´. Das wissen Sie vermutlich sowieso besser als meine Mutter.“

Mulders Unschuldsmiene war bühnenreif. „Eigentlich habe ich einfach Hunger und wollte wissen, ob es sich lohnt, Ihnen etwas abzuluchsen. Aber schön, dass Sie mir so lautere Motive unterstellen.“

Das brachte ihm eine hochgezogene Braue ein, und er gratulierte sich innerlich. Zwar hatte er sie noch nicht dazu gebracht, ihm etwas abzugeben, aber das würde er schon noch schaffen. Du bist auch gar nicht von dir selbst überzeugt, was? Mulder forderte seine innere Stimme nicht gerade freundlich auf, die Klappe zu halten und ihm nicht die Konzentration für sein Vorhaben zu nehmen. Etwas von Scullys Sandwich abzubekommen war eine delikate Angelegenheit und musste mit größter Vorsicht angefangen werden. Zwar war seine Partnerin von Natur aus ein großzügiger Mensch, aber bei allem Spaß musste er sich sicher sein, dass er es nicht übertrieb und sie ihm aus freien Stücken etwas abgab. Schließlich wollte er sie nicht ausnutzen, und das war ihm um so wichtiger, als sie der Mensch war, mit dem er vorhatte, den Rest seines Lebens zu teilen (wenn sie ihn dann ließ), und da konnte er nicht schon beim Essen anfangen, sie auszunutzen. Trotzdem würde er es versuchen, denn jedes Zugeständnis, das sie machte, brachte ihn näher zu ihr, und das war auch ein paar Zurückweisungen wert. 

Scully unterdrückte ein Lächeln. Sie hätte es wissen müssen. Sobald sie einmal versuchte, Mulder mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, kam dieser Versuch ganz sicher zu ihr zurück, und zwar ins Gegenteil von dem verkehrt, was sie eigentlich wollte. Wie auch jetzt: Wieder einmal hatte Mulder es geschafft, schneller zu sein und sie zu besiegen. Nicht, dass es ihr allzu viel ausmachte. Sie genoss diese Wettkämpfe, und es war ja nicht so, dass sie nie gewann...

„Vergessen Sie’s, Mulder. Sie bekommen ganz sicher nichts von meinem Sandwich ab.“ Damit biss sie in das von ihm begehrte Objekt hinein und schielte dabei aus den Augenwinkeln zu ihrem Partner, da sie eine Attacke von der Seite erwartete. Niemals würde er die Sache so einfach auf sich beruhen lassen. Sie behielt recht. Zwar versuchte Mulder nicht, ihr das Sandwich mit Gewalt aus der Hand zu reißen, aber er setzte eine mindestens ebenso wirksame und hinterhältige Waffe ein: Seinen patentierten Dackelblick. Um nichts in der Welt konnte Scully dem länger als ein paar Minuten widerstehen, und sie fragte sich, ob er das wusste oder diesen Blick eher bei allen ihm bekannten weiblichen Wesen einsetzte. 

„Ach, kommen Sie schon, Scully... Schließlich haben Sie mir meine Sonnenblumenkerne weggenommen, und jetzt hab ich nichts mehr zu essen. Sie können doch unmöglich so hartherzig sein und ihren Partner hungern lassen...“

„Darf ich Sie an die Mengen an Schokolade erinnern, die Sie noch in Ihrer Tasche haben? Ich hab selber gesehen, wie Sie das Zeug da reingestopft haben.“

„Also hören Sie mal; Sie wollen mir doch nicht etwa vorschlagen, dass ich meinen gesunden Hunger mit ungesunder Schokolade stillen soll. Das müssten Sie als Ärztin doch wirklich besser wissen. Sowas darf man seinen Patienten nicht raten!“

„Meine „Patienten“ sind üblicherweise tot und stellen mir daher auch keine Ernährungsfragen. Außerdem interessiert es Sie doch sonst auch nicht, was ich Ihnen zu sagen habe, schon gar nicht, wenn es Ihre Ernährung betrifft.“

„Und üblicherweise beschweren Sie sich darüber. Und jetzt will ich mal Ihren Rat befolgen, und es ist schon wieder nicht richtig. Was wollen Sie eigentlich, Scully? Entscheiden Sie sich endlich mal, damit ich mich auf Sie einstellen kann.“

Wie war eine Bitte um ein Sandwich so schnell zu einer Grundsatzdiskussion geworden? Das konnte auch wirklich nur Mulder schaffen, und Scully beschloss, das Thema zu seinem Ursprung zurückzuführen, bevor es noch zu einem richtigen Streit wurde. 

„Ich hab mich bereits entschieden: Sie bekommen nichts ab, und damit basta.“

„Ja, Mom. Aber könnte ich nicht doch ein ganz kleines Stückchen...“

Scully gab auf. Dackelblick und Kleiner- Jungen- Tonfall, das war einfach zu viel. Sie brach ihr Sandwich (das sie zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon gegessen haben wollte) in zwei Teile und gab Mulder eine Hälfte. Er bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln und beäugte seine Beute zufrieden, bevor er der überraschten Scully einen kurzen Kuss auf die Wange gab. „Ich wusste doch immer, dass Sie ein Herz für hungrige Partner haben.“ kommentierte er noch und biss dann in das erbeutete Sandwich. Eine Weile waren sie beide mit essen beschäftigt und schwiegen, und als Scully schließlich einen Seitenblick auf Mulder warf, sah sie, dass er beim Essen wie üblich unvorsichtig gewesen war und sein Shirt, das von der Reise sowieso schon reichlich zerknittert war, über der Brust mit Mayonnaise bekleckert hatte. Dieser Mann ist schlimmer als ein dreijähriges Kind, dachte sie resigniert und beschloss, seine mangelnden Essmanieren nicht zu kommentieren. Statt dessen wischte sie ihre Finger an einem Taschentuch ab, das sie im Mülleimer verstaute, und holte sich eine neue Lektüre aus ihrer Tasche. Kein wissenschaftlicher Artikel diesmal; sie kannte Mulder zu gut um zu glauben, dass er sie beim nächsten Versuch in Ruhe lassen würde. Statt dessen entschied sie sich für die neueste Ausgabe der „Vogue“, die sie eigentlich für ihre Nachbarin gekauft hatte, eine zur Zeit aufgrund eines Beinbruchs nicht ganz mobilen Studentin, die dann aber bei ihrem mehr oder weniger überstürzten Aufbruch in ihrer Tasche gelandet war. Okay, dann würde Nell eben einmal ohne ihre bevorzugte Lektüre auskommen müssen. Eigentlich las Scully keine Zeitschriften, allein aus Zeitgründen, außer es handelte sich um fallbezogene oder wissenschaftliche Artikel, aber heute war sie dankbar für die Möglichkeit, in den Artikeln schmökern zu können, da sie sich darauf bestimmt auch neben Mulders Versuchen, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, würde konzentrieren können.

Mulder blickte irritiert zu Scully hinüber. Er hatte erwartet, dass sie erneut versuchen würde, sich in den Artikel zu vertiefen, in dem sie zuvor gelesen hatte, und mit ihrem Ausweichen auf die „Vogue“ hatte sie ihn vollkommen überrumpelt. Ausgerechnet „Vogue“. Er hätte seiner Partnerin niemals zugetraut, so etwas Triviales zu lesen, und er fragte sich, was genau in dieser Zeitschrift ihre Aufmerksamkeit so sehr fesselte. Allerdings hütete er sich, sie wieder zu fragen, was sie da las, denn er hatte keine Lust auf einen weiteren Vortrag, egal über welches Thema. Also tat er das einzige, was ihm einfiel: Er beugte sich zu Scully, um über ihre Schulter lesen zu können. Dass er dabei sein bekleckertes Shirt in engeren Kontakt mit ihrer Bluse brachte, bemerkte er nicht einmal. Scully hingegen entging es nicht. Sie schob Mulder mit einer ärgerlichen Armbewegung zur Seite und begutachtete ihre nun auch schmutzige Bluse. 

Sie hatte ihn schnell weggeschoben, aber nicht schnell genug. „Wie komme ich an einen Mann ran?“ Der Tonfall, in dem Mulder die Überschrift zitierte ließ nun wirklich keinerlei Illusionen zu: Sie würde den Rest der Reise, vermutlich sogar den Rest ihres Lebens – Wie komm ich eigentlich darauf, dass ich ihn so lange kennen werde? – von ihm aufgezogen werden, weil sie einen derart albernen Artikel gelesen hatte. Oh ja, Fox Mulder wusste genau, wie er ihr das Leben schwer machen konnte. Bevor er jedoch damit weitermachen konnte, würde sie erstmal ihm das Leben ein wenig schwer machen; schließlich hatte er gerade ihre Bluse ruiniert. Sie holte tief Luft, und Mulder duckte sich schon mal, denn er konnte sich genau vorstellen, was jetzt kam. Und natürlich hatte er recht. „Sagen Sie mal, können Sie eigentlich nie aufpassen, was Sie tun? Reicht es nicht, dass Sie sich selber immer bekleckern müssen? Muss ich auch noch aussehen wie ein Ferkel auf Urlaub? Oder ist das Ihre Art zu zeigen, dass wir Partner sind? Wenn ja, dann verzichte ich gern.“ Shit, das war jetzt doch wohl etwas zu hart. Eigentlich bin ich ja gern seine Partnerin; und nun muss er doch wieder denken, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will. Aber Mulder war nicht im geringsten gekränkt. Er hatte Scullys Ausbruch als das erkannt was er war: Ein Ablenkungsversuch. Und zwar einer, mit dem sie nicht durchkommen würde. Mulder setzte seine schönste Unschuldsmiene auf und wischte mit der Hand an dem Mayonnaisefleck auf Scullys Bluse herum, bis sie seine Hand wegschlug und die Arme vor der Brust kreuzte als eindeutiges Zeichen dafür, dass er zu weit gegangen war. „Wie komme ich an einen Mann ran?“ wiederholte Mulder und erkundigte sich gleich darauf: „Und? Steht was Interessantes drin?“ 

„Das dürfte Sie doch nun wirklich nicht interessieren; oder sollte ich da etwas übersehen haben?“ gab sie zurück. Mit gespielt schockierter Miene sah Mulder sie an. „Nicht, dass ich wüsste. Ich frag mich nur gerade, ob Sie es nötig haben, solche Sachen zu lesen. Schließlich haben Sie bereits einen Mann in Ihrer Nähe.“

„Und wer soll das sein?“ 

„Gucken Sie doch mal genau hin. Oder sollte ich in Ihren Augen doch den einen oder anderen Fehler gemacht haben und nun nicht mehr als männlich gelten?“

„Mulder, ich weiß nicht, ob Sie nicht sowieso schon viel zu nah bei mir sind; Sie sehen ja, was dabei rauskommt.“ Damit deutete sie auf ihre Bluse, auf der noch immer ein mittelgroßer Fettfleck prangte, der ganz sicher nicht leicht zu entfernen sein würde. „Und außerdem“, fuhr sie fort, „hab ich von dieser Sorte Männer wirklich genug um mich herum. Das ganze Bureau ist voll davon.“ Es gelang Mulder, ein gekränktes Gesicht zu machen, und er erwiderte: „Dass Sie mich mit denen auf eine Stufe stellen, hätte ich nun wirklich nicht von Ihnen gedacht. Schließlich bin ich nicht gerade das, was man einen Insider nennen würde. Außerdem würde ich nie so weit gehen und Wetten abschließen, dass ich eine bestimmte Frau ins Bett kriege.“

Scullys skeptisch hochgezogene Braue war nicht ganz ernst gemeint, ebensowenig wie ihr Kommentar: „Ich muss mir noch schwer überlegen, ob ich ihnen das abnehme.“ Damit versenkte sie ihren Blick wieder in der Zeitschrift und signalisierte so, dass das Gespräch für sie beendet war. Nicht so für Mulder. „Ich bin verletzt!“ merkte er an, und als sie nicht reagierte, griff er sich mit einer schnellen Handbewegung die Zeitschrift und rollte sie zusammen. Scully griff danach, um sie ihm wieder zu entreißen, aber Mulder war schneller und nutzte die Gelegenheit, sie ihr über den Kopf zu hauen. Daraufhin entbrannte ein lautstarker Kampf um die Zeitschrift, aus dem letzten Endes der Mülleimer als Sieger hervorging, da die beiden Agenten es schafften, das Heft in mehrere Stücke zu zerfetzen. Seufzend knüllte Scully die Überreste zusammen und stopfte sie in den mittlerweile schon ziemlich vollen Mülleimer, dessen Deckel sie mit einem lauten Knall schloss. Da ging ihre letzte Ablenkung; von nun an war sie Mulder vollkommen ausgeliefert, es gab keine Rückzugsmöglichkeit mehr, und sie war sich sicher, wenn es eine gegeben hätte, dann hätte Mulder diese im Kampf um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auch noch vernichtet. Er war schrecklich, wenn er sich langweilte. 

Mulder bekam allmählich das Gefühl, es möglicherweise doch zu weit getrieben zu haben, und er setzte zu einer Entschuldigung an. „Scully, das mit der Zeitschrift tut mir leid. Ich wollte eigentlich nur mit Ihnen reden, aber Sie vergraben sich die ganze Zeit hinter irgendwelchen mehr oder weniger wissenschaftlich fundierten Artikeln. Dabei wollte ich ihnen nur sagen, dass es mir leid tut...“ Sie unterbrach ihn. „Es sollte Ihnen auch leid tun. Schließlich waren Sie es, der mit seiner Neigung, das letzte Wort haben zu müssen, den Untersuchungsausschuss so sehr verärgert hat, dass wir nun in dieser Lage sind. Ich frage mich, wann Sie uns so weit reinreiten werden, dass wir laufen müssen. Man muss nicht immer alles sagen, was man denkt, besonders nicht, wenn man es über die Frau eines der Ausschussmitglieder denkt, die zufällig auch noch Agentin ist.“ Sie hob die Hand, um seinen Protest zu unterbrechen. „Mir ist es egal, wie oft diese Person ihre Wagen ruiniert und womit, aber Sie hätten das nicht unbedingt erwähnen müssen, besonders nicht dann, wenn ihr Mann gerade dabei ist, etwas gegen Sie zu unternehmen. Jedenfalls sitzt sie nicht mit Ihnen in diesem Zug, sondern ich. Und Sie sollen im Moment wirklich froh sein, dass ich meine Waffe nicht griffbereit habe.“  Ihr halbes Lächeln signalisierte Mulder, dass sie den letzten Satz nicht ganz ernst gemeint hatte, und er lächelte aufmunternd zurück. „Okay, Sie haben recht, und ich war ein Idiot. Ich hätte die Leute nicht so sehr verärgern sollen, und noch weniger hätte ich mich wie ein Kind aufführen dürfen, nur um Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber ich hatte eben Angst, dass Sie sauer auf mich sind, und wollte mich entschuldigen. Na gut, ich hab vielleicht nicht die günstigste Art gewählt, aber immerhin waren meine Absichten ehrenvoll. Und nun, da wir das geklärt haben, kann ich Sie auch in Ruhe lassen. Zufrieden?“ Scully musste über Mulders gespielt ritterlichen Tonfall lächeln, und sie schüttelte den Kopf. Es sah ihrem Partner ähnlich, diesen ganzen Aufstand zu treiben, nur um sich bei ihr zu entschuldigen, und sie hatte ihm in ihrem Innern schon verziehen. Nicht, dass sie es ihm nach außen hin so leicht machen würde... „Ich weiß nicht.“ gab sie zurück. „Sie haben mir meine gesamte Ablenkung ruiniert, und ich fürchte, jetzt werde ich mich aus lauter Frust an Ihrer Schokolade vergreifen müssen.“ Mit diesen Worten griff sie in seine Tasche und holte eine Tafel heraus, die ihr schon vorhin ins Auge gefallen war. Bevor Mulder protestieren konnte, hatte sie sich schon ein Stück in den Mund gesteckt. 

Mulder wusste, dass es idiotisch wäre, das zu sagen, was ihm beim Anblick seiner kauenden Partnerin durch den Kopf ging, besonders nachdem sie ihm gerade erst verziehen hatte, aber natürlich war sein Mund mal wieder schneller als der Teil seines Verstandes, der ihn zurückhalten wollte, und so hörte er sich sagen: „Scully, ich hab mal gehört, dass Schokolade besser sein soll als Sex. Und die Gründe dafür schienen mir sogar ziemlich einleuchtend.“ Shit!! Das hab ich doch nicht wirklich gesagt, oder? Bitte, sag mir, dass ich mir das alles nur einbilde und gleich an ihrer Schulter aufwache, meinetwegen mit dem steifsten Nacken aller Zeiten, aber bitte sag mir, dass ich das nicht wirklich gesagt habe! Aber ein Blick in Scullys Gesicht belehrte ihn eines besseren. Sie war mitten in der Kaubewegung erstarrt und sah ihn nur an, der Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht zu deuten. Schließlich fasste sie sich genug, um die Schokolade herunterzuschlucken, und sie nutzte ihren nun leeren Mund um eine Frage zu stellen, auch wenn sie die Worte nur mit Mühe herausbrachte. „Und was genau wären das für Gründe?“ Nein, du wirst ihr diese Gründe nicht sagen! Mach nicht alles noch schlimmer, als es ohnehin schon ist. Mulder suchte in seinem Gedächtnis fieberhaft nach einer der Begründungen, die er einmal an der Wand einer Herrentoilette gelesen hatte, die Scully nicht verletzen oder schockieren würde. Verdammtes fotografisches Gedächtnis; das ist auch nicht mehr das, was es früher mal war. Schließlich hatte er die rettende Idee. „Ganz einfach: Schokolade ist besser, weil Sie ohne Probleme in einem Zug mit Ihrem Partner Schokolade haben können, ohne dafür wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt zu werden.“ Sie lachte. Sie lachte wirklich und tatsächlich! Mulder konnte es nicht glauben, aber Scully lachte zum ersten Mal an diesem Tag (wahrscheinlich sogar zum ersten Mal seit Wochen) aus vollem Herzen, und Mulder spürte einen gewissen Stolz, sie endlich wieder einmal zum Lachen gebracht zu haben. 

„Na, wenn das so ist...Vielleicht sollten wir dann auch beide Schokolade essen, damit Sie endlich mal für fünf Minuten den Mund halten.“ keuchte Scully zwischen zwei hastig eingesaugten Atemzügen und streckte die Hand aus, um Mulder ein großes Stück Schokolade in den Mund zu schieben und so ihre Theorie zu beweisen, aber er schüttelte den Kopf. „Dazu brauchen Sie schon härtere Methoden. Sie glauben doch nicht, dass Sie mich so leicht zum Schweigen bringen.“ 

„Vermutlich nicht, und da ich meine Waffe nicht griffbereit habe, bleibt mir dann wohl nur noch eins.“ Sie beugte sich zu Mulder und küsste ihn kurz auf die Lippen, bevor sie sich wieder zurückzog und unsicher in ihren Schoß blickte. Was war da nur wieder in sie gefahren? Sie wollte gar nicht wissen, was er jetzt von ihr dachte; er sagte nichts, also hatte sie ihn wohl wirklich geschockt. 

Mulder wusste im ersten Moment nicht, wie ihm geschah. Noch vor ein paar Minuten hatte er gedacht, Scully sei wütend auf ihn, dann hatte sie ihm seine Schokolade geklaut und über einen seiner Witze gelacht, was genauer betrachtet kaum einmal in einem halben Jahr vorkam, und dann... Hab ich mir das nur eingebildet, oder hat sie mich wirklich geküsst? – Frag nicht so dumm, guck sie dir an. Sie bereut es schon, und du sitzt hier rum und redest mit dir selbst. Mulder sah, dass Scully seinem Blick auswich, und er legte eine Hand an ihre Wange. „Sie glauben doch nicht, dass mir das eben genügt, um meine These zu widerlegen, oder? Ich meine, wenn Sie das nochmal tun, könnte ich mir überlegen, ob ich mir für den Rest meines Lebens das Schokolade essen abgewöhne, aber...“ Ein scheues Lächeln legte sich auf ihre Lippen, und Mulder wusste, dass er vermutlich genauso lächelte. „Aber dazu müsste es schon etwas mehr sein?“ erkundigte sie sich, und Mulder nickte. „Ja. Aber ich warne dich: Wenn du das jetzt tust, wirst du mich nie wieder los. Denn es wird nie genug sein.“ 

„Nein, das wird es nicht, aber deswegen sollten wir trotzdem erstmal anfangen, oder nicht?“ Und diese Worte waren die letzten, die sie für eine lange Zeit sprachen...

...bis sie von einem hörbaren Räuspern unterbrochen wurden, das von einem ziemlich missbilligend dreinblickenden Mann in Uniform ausging. „Die Fahrscheine!“ knurrte dieser, sobald er sicher sein konnte, die Aufmerksamkeit der beiden Turteltauben vor sich auch wirklich erlangt zu haben. Scully reichte sie ihm mit einen Blick, der einen Vulkan hätte einfrieren können, und drehte sich dann wieder zu Mulder um. „Versuch, nächstes Mal niemanden zu verärgern, damit wir wieder fliegen können. Da bleiben wir wenigstens von Störungen dieser Art verschont!“ Und ausnahmsweise nahm sich Mulder vor, genau das zu tun, was seine Partnerin ihm sagte...

 

Finis

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