World of X

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Open your eyes

von Sonja K

Kapitel 1

Dana Scully schloss die Augen. Tiefe Dunkelheit umhüllte sie, und sie wünschte sich, ihre Augen nie wieder öffnen zu müssen. Sie wollte nicht die schmerzhafte Realität sehen, die Trauer, die Angst, ihre eigene Ohnmacht. Aber sie wusste, es würde nichts nützen. Irgendwann würde sie ihre Augen öffnen und der Wahrheit ins Gesicht blicken müssen, die sie in den vergangenen Wochen immer wieder eingeholt hatte.
Die junge Agentin war an Krebs erkrankt, und es hatte sich herausgestellt, dass dieser inoperabel war. Sie würde sterben, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Krankheit so weit fortgeschritten war, dass sie Scully daran hindern würde, ihre Arbeit zu tun, etwas, das ihr in den letzten Jahren immer wichtiger geworden war.
Ihre Arbeit...und Mulder.
Mulder, ihr Partner und Freund, war der Erste gewesen, dem sie die Hiobsbotschaft mitgeteilt hatte. Sie hatte insgeheim gewünscht, er werde auf irgendeine Art ein Wunder aus dem Hut zaubern, wie er es während ihrer vielen seltsamen Fälle immer wieder getan hatte. Zumindest aber hatte sie gewollt, dass er übernahm, als sie nicht weiter wusste, dass er für sie stark war und sie beschützte, sie stützte. Mulder hatte nichts dergleichen getan. Er hatte die Nachricht geschluckt, ohne sie weiter zu kommentieren, aber Scully hatte gemerkt, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Beinahe mehr als sie selbst. Mulder hatte reagiert, als sei er derjenige, der sterben würde, hatte sich in die Ermittlungen gegen Scanlon vergraben, als könne er damit etwas ändern oder ungeschehen machen. Scully hatte nur fassungslos zusehen können, mit welcher Energie er alles getan hatte, um die Wahrheit herauszufinden.
Die Wahrheit wird Sie retten, Scully. Sie wird uns beide retten. Diese Worte hatte Mulder damals in ihr Haar gemurmelt, als er sie nach Pennys Tod aus der Klinik abgeholt hatte, und sie wusste, dass es das war, woran sie beide sich klammerten: Die Wahrheit. Aber die Wahrheit hatte sie nicht gerettet, sie schien im Gegenteil das zu sein, was sie überhaupt an diesen Punkt gebracht hatte, an einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab, an dem die Karten verteilt waren und es nur noch darauf ankam, Zeit zu gewinnen, nicht zu sterben, bevor...
Bevor was? Was gab es denn noch so Wichtiges zu tun? Einen weiteren Mutanten zu jagen, ein paar Lichtern am Himmel hinterher zu rennen? Was brachte es ihr, wenn sie sich mit der ihr eigenen Vehemenz in ihre Arbeit stürzte, während ihr eigener Körper den Kampf schon längst verloren hatte? Die Antwort war ebenso einfach wie erschreckend: Leben.
Solange sie mit Mulder arbeitete, seine Theorien prüfte und sich mit ihm stritt, konnte sie spüren, dass sie lebte. Sobald sie jedoch damit aufhörte, hatte sie auch aufgegeben. Sie konnte nicht ohne ihre Arbeit sein, denn diese war ihr Lebenszweck. Es gab nichts, was sie unbedingt noch tun wollte, bevor sie starb, denn alles, was sie wollte, war, mit Mulder zusammen zu sein. Und das konnte sie nur, wenn sie weiter mit ihm arbeitete.
Es hatte Scully zutiefst verletzt mit ansehen zu müssen, wie ihr Partner immer mehr in seinen Schuldgefühlen versank.
Mulder gab sich die Schuld an dem, was ihr zugestoßen war, und das konnte sie nicht ertragen, da nicht einmal sie selbst ihn dafür verantwortlich machte.
Scully seufzte leise und zwang sich dann, der Realität ins Auge zu blicken: Sie lag wieder einmal im Krankenhaus, wie so oft in der letzten Zeit. Wieder einmal sollten Untersuchungen durchgeführt werden, die angeblich eine gute Chance auf mögliche Gesundung boten. Scully glaubte nicht daran. Zu oft hatte man ihr von solchen Chancen gesprochen, und zu oft war sie enttäuscht worden. Jetzt hatte sie sich damit abgefunden, dass es keine Rettung für sie gab, zumindest nicht auf medizinischem Weg, und sie war eigentlich nur hier, weil es ihre Familie so wollte. Und Mulder. Er glaubte zwar tief in seinem Innern auch nicht, dass die herkömmliche Medizin sie retten würde, aber er zwang sie erbarmungslos, jede noch so kleine Möglichkeit zu versuchen. Mulder sorgte dafür, dass sie nicht aufgab, und das war gut so, auch wenn Scully das nicht gern zugab.
Der Aufenthalt im Krankenhaus behagte ihr nicht, weil sie dadurch an andere, vergangene Untersuchungen erinnert wurde, die sie vergessen zu haben geglaubt hatte. Sie hatte es Mulder verschwiegen, um seinen Schuldgefühlen nicht noch neue Nahrung zu geben, aber sie begann, sich an das zu erinnern, was man ihr während ihrer Entführung angetan hatte.
Noch war die Erinnerung vage, kam in der Nacht mit ihren Träumen, oder manchmal auch am Tag, wenn sie gerade an nichts Bestimmtes dachte, aber seit ein paar Tagen kam sie auch während der Untersuchungen; Bilder von Schmerz, von Furcht und schrecklicher Verzweiflung, sogar von Todesangst. Scully hatte sie mit niemandem geteilt, denn sie wusste, dass das eine Abgrenzung von den anderen Menschen bedeutet hätte. So blieb sie allein mit ihren Gedanken und Ängsten, blieb stumm, auch wenn sie am liebsten ihre Gefühle herausgeschrien hätte.
Ein leises Geräusch an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte den Kopf und sah sich Mulder gegenüber. Ihr Partner stand einfach in der Türöffnung und sah sie an. Scully erwiderte seinen Blick, bis sie es nicht mehr aushielt. Dann brach sie das Schweigen: "Mulder, kommen Sie doch rein."
Er folgte ihrer Aufforderung und trat ins Zimmer, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihr Bett.
"Gibt's was Neues?"
Es war immer dieselbe Frage, und er stellte sie jedes Mal, wenn er sie wieder in einem Krankenzimmer besuchte. Sie wussten beide, dass es keine Antwort auf diese Frage gab, denn es gab nie etwas Neues. Jede Untersuchung zwang sie, sich der Realität ein Stück mehr zu stellen, denn mit jeder vergeblichen Erwartung schwand wieder ein Stückchen Hoffnung.
Scully schüttelte den Kopf und stellte die erwartete Gegenfrage: "Und bei Ihnen?"
Mulders Gesicht verzog sich fast augenblicklich zu einer Maske des Schmerzes, und er wich ihrem Blick aus.
"Skinner hat mir untersagt, weiter an Scanlon dranzubleiben. Und..."
Er brach ab, und Scully spürte, dass das Schlimmste noch kommen würde.
"Und was?" erkundigte sie sich, wohl wissend, dass sie ihn fragen musste, weil er es nicht von allein sagen würde.
"Und er hat gesagt, wenn ich mich noch ein einziges Mal darüber hinwegsetze, wird er mir einen neuen Partner zuteilen, der dafür sorgt, dass ich mich an meine Befehle halte."
Sie erkannte die Tragweite seiner Worte noch im selben Moment, in dem er sie ausgesprochen hatte. Es war vorbei. Mulder konnte sich nicht über Skinners Anordnung hinwegsetzen, weil er dadurch sie verlieren würde, und es war unmöglich für sie beide, nicht zusammenzuarbeiten. Wenn Mulder allerdings nicht weitermachte, war jede Hoffnung für Scully verloren. Die einzige kleine Hoffnung, die sie beide gehabt hatten war Scanlon gewesen, und nun schien es, als sei diese auch vergeblich.
"Ich halte das nicht aus, Scully. Ich weiß, dass ich etwas tun müsste, aber ich werde dazu verurteilt, tatenlos zuzusehen, anstatt alles zu versuchen, Ihnen zu helfen. Und selbst wenn ich etwas tue, habe ich die ganze Zeit über das Gefühl, dass es nicht genug ist. Es wird nie genug sein."
Scully schwieg. So offen war er noch nie zu ihr gewesen, und sie wusste nicht, wie sie ihn trösten sollte.
Das ist doch absurd, sagte die kleine, böse Stimme in ihrem Innern. Du bist diejenige, die sterben wird, und du überlegst, wie du ihn trösten kannst. Scully ignorierte die Stimme und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Mulder hatte ihr soeben eröffnet, dass es keine Hoffnung mehr gab, und gleichzeitig hatte er sich ihr in einer Weise offenbart, die sie nicht gewöhnt war. Er sprach selten über seine Gefühle, und noch seltener über seine Schuldgefühle ihr gegenüber.
Mulder kam ihr zu Hilfe, indem er das Schweigen brach, bevor es unbehaglich zu werden drohte.
"Wir haben einen neuen Fall, und ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen."
Er hätte sich selbst ohrfeigen können, aber er brachte es nicht über sich, den Weg weiterzugehen, den er gerade eingeschlagen hatte, denn das würde bedeuten, ihr seine ganze Seele zu zeigen, all seine Gefühle vor ihr auszubreiten, und das hatte er bisher immer vermieden weil er wusste, dass es nicht gut war, wenn sie weiter zusammen arbeiten wollten. Aber selten war es ihm so schwer gefallen wie jetzt, da sie blass und traurig im Krankenbett vor ihm lag. Er fragte sich, ob es etwas ändern würde, wenn er es ihr irgendwann gesagt hätte. Aber das spielte keine Rolle. Er hatte es nicht getan, und es war gut so.
"Warum?"
Einen Moment lang fürchtete Mulder, er habe seine Gedanken laut ausgesprochen, doch dann wurde ihm klar, dass sie nicht auf seine innere Frage antwortete sondern auf das, was er zuvor gesagt hatte.
Er stand vom Stuhl auf und setzte sich auf die Bettkante, als müsse er Scully durch seine Nähe schützen, bevor er antwortete: "Weil ich nicht sicher bin, ob es überhaupt eine X-Akte ist. Ich habe den Fall von allen Seiten betrachtet, aber es ergibt einfach keinen Sinn. Deshalb wollte ich, dass Sie mir Ihre Meinung dazu sagen."
"Okay. Ich müsste nur vorher die Akte sehen."
"Kein Problem, ich habe sie Ihnen mitgebracht; vielleicht tut Ihnen ein wenig Abwechslung von den ewigen Krankenblättern ganz gut."
Scully musste lächeln. "Keine Baseballvideos diesmal?" erkundigte sie sich scherzend, und Mulder schüttelte den Kopf.
"Ich denke, das wäre wohl keine allzu große Überraschung mehr, oder?"
"Nein, das wäre es nicht. Aber Ihnen wäre es durchaus zuzutrauen."
"Ich wusste es schon immer: Sie denken nur das Schlimmste von mir."
"Immer doch", warf sie ihm entgegen, ihren Worten mit einem Grinsen die Schärfe nehmend. "Und jetzt verschwinden Sie, damit ich in Ruhe die Akte durchgehen kann. Wir sehen uns morgen, und dann sage ich Ihnen, was ich denke."
Mulder stand auf, beugte sich aber noch einmal zu seiner Partnerin hinab, um sie auf die Wange zu küssen, bevor er das Zimmer verließ.
"Bis morgen. Und vergessen Sie mich nicht."
"Wie könnte ich?" gab sie lachend zurück. Kopfschüttelnd sah sie ihm nach. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, verschwand das Lächeln von ihren Lippen, und sie brach in Tränen aus, sofort das Gesicht in ihrem Kopfkissen verbergend, damit auch ja niemand die Tränen bemerkte, die sie um Mulder weinte. Um Mulder und um ihre Liebe, die sie ihm niemals gestanden hatte. Sie weinte lange und heftig, bis sie sich schließlich zurückfallen ließ und die Augen schloss, aufs Neue von dem Wunsch erfüllt, sie nie wieder öffnen zu müssen.


><


Scully öffnete wieder ihre Augen, diesmal jedoch bei weitem nicht so widerwillig wie sonst. Der Grund dafür waren die regelmäßigen Atemzüge, die sie in der Dunkelheit hören konnte, die Atemzüge ihres Partners. Sie war nicht allein, und es erstaunte sie jedesmal aufs Neue, was Mulders Nähe ausmachte.
Es war inzwischen drei Tage her, seit er ihr eröffnet hatte, dass er trotz Skinners Verbot weiter gegen diejenigen ermitteln würde, die ihr das alles angetan hatten. Es hatte sie tief berührt, dass er bereit war, für sie seine sowieso ständig wacklige Karriere beim FBI aufs Spiel zu setzen, und sie hatte versucht, es ihm auszureden, auch wenn es ihr entgegen aller Vernunft auch ein wenig gut tat.
Heute war Mulder wie jeden Tag ins Krankenhaus gekommen, um sie zu besuchen, aber er hatte keine guten Nachrichten gebracht.
"Morgen nachmittag fliege ich nach Alabama, um dort ein paar Nachforschungen bezüglich unseres Falles anzustellen. Das heißt, ich werde ein oder zwei Tage nicht kommen können. Es...es tut mir leid."
Sie hatte versichert, das sei schon in Ordnung, und vielleicht sei sie bei seiner Rückkehr sogar schon aus dem Krankenhaus entlassen. Sie war ganz ruhig gewesen und hatte sich nichts von dem inneren Stich anmerken lassen, den seine Eröffnung ihr gegeben hatte.
Es war das erste Mal seit der Diagnose, dass Mulder allein einen Fall übernahm und sie gezwungen war, tatenlos zurückzubleiben. Es war eine Sache, wenn er während ihres Krankenhausaufenthaltes einen Fall bearbeitete, von dem er ihr dann während seiner Besuche erzählte, sie um ihre Meinung bat, eine wissenschaftliche Stellungnahme oder einfach nur eine Idee von ihr hören wollte, aber es war etwas völlig anderes, wenn er ohne sie wegging, zu Tatorten flog und Ortstermine wahrnahm.
Natürlich war es von Anfang an klar gewesen, dass es einmal soweit kommen würde, weil sie nicht ewig ihre Arbeit würde tun können, und rein rational sah sie es auch ein, aber emotional sah die Sache schon wieder anders aus. Es lag nicht an dem zu bearbeitenden Fall; es war nur so, dass diese Begebenheit Scully auf schmerzhafte Weise bewusst machte, wie die Zukunft aussah. Es würde für Mulder ein Leben ohne sie geben, und er würde weitermachen wie bisher, auch wenn sie starb. Das einzige, was ihn für immer an sie erinnern würde, war ein weiteres nagendes Schuldgefühl, eine neue blutende Wunde in seiner Seele, die ihn noch stärker als zuvor antreiben würde, nach der Wahrheit zu suchen, eine weitere Verzweiflung, die an seiner Substanz fraß, ihn daran erinnerte, dass er wieder einmal versagt hatte. Mulder würde an ihrem Tod zerbrechen, wie er schon viele Male innerlich zerbrochen war, und seine Welt würde in Millionen spitzer Scherben zerfallen. Er würde Trost brauchen, aber es würde keinen Trost geben. Wenn sie starb, würde sich niemand die Mühe machen, für Mulder zu sorgen. In dem Moment, wo er sie am meisten brauchte, würde sie ihn im Stich lassen. Das war es, was sie am Tiefsten schmerzte, der Gedanke, dass sie Mulder im Stich ließ, den Mann, der ihr bedingungslos vertraute, obwohl er schon so oft verletzt worden war, dass sie sein Vertrauen in sie enttäuschte, ihn mit seinem Schmerz allein ließ, den sie verursachte. Sie konnte es nicht verhindern. Nicht einmal der Gedanke an ihren eigenen Tod vermochte ihr so sehr weh zu tun wie dieser Gedanke.
Nachdem Mulder ihr von seinen Plänen in Alabama erzählt hatte, war er eine ganze Weile stumm an ihrem Bett sitzen geblieben, als hätte er bemerkt, was seine Ankündigung in ihr ausgelöst hatte. Keine der Schwestern hatte es gewagt, ihn nach Ende der Besuchszeit vor die Tür zu setzen, denn sie alle wussten, dass Scully unheilbar krank war und noch dazu selten Besuch bekam, der nicht auf den Namen Fox Mulder hörte. Deshalb erlaubten sie es ihm, so lange zu bleiben wie er wollte, wenn Scully nicht gerade eine Untersuchung hatte.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, und anstatt zu gehen, war Mulder bei ihr geblieben und selbst eingeschlafen, wobei er mit dem Oberkörper auf dem Bett gelandet war. Scully unterdrückte ein Schluchzen und wischte sich die Tränen aus den Augen, die sich schon wieder ihren Weg über ihre Wangen bahnen wollten. Wann genau war sie eigentlich zu einer Heulsuse geworden, fragte sie sich und gestand sich schließlich ein, dass es Mulders Nähe war, die sie zum Weinen brachte. Er war so nah und gleichzeitig so weit weg, denn auch wenn er hier an ihrem Bett saß, konnte sie ihn doch nicht mehr erreichen. Irgendwann, kurz nach der Diagnose, hatte sie gedacht, dass der Krebs vielleicht ein Zeichen war, das ihr die Gelegenheit gab, Mulder ihre Gefühle offenzulegen, aber inzwischen war sie anderer Meinung. Sie konnte ihm das nicht antun. Es wäre nur ein weiterer Schlag für ihn, der ohnehin schon glaubte, er habe ihr Leben ruiniert. Wenn er jetzt auch noch erfuhr, dass sie ihn die ganze Zeit über geliebt hatte, würde er vollends zusammenbrechen. Er würde denken, wegen ihm habe sie niemals eine glückliche Beziehung gehabt und sich möglicherweise sogar verpflichtet fühlen, deswegen bei ihr zu bleiben, und das wollte Scully nicht. Auf keinen Fall konnte sie ihm weitere Schuldgefühle aufladen, und aus diesem Grund würde sie Mulder nichts sagen. Trotzdem machte es dieser Entschluss nicht leichter, in seiner Nähe zu sein. Im Gegenteil, früher hatte sie wenigstens eine Hoffnung gehabt, dass er irgendwann ihre Gefühle erwidern würde, aber jetzt war das unmöglich geworden. Im Geiste sah sie Mulder schon auf dem Weg zu seinem neuen Fall, allein unterwegs, auf der Jagd, und sich selbst hier in diesem Bett, aus dem sie nicht einfach aufstehen konnte. Selbst wenn sie das tat, konnte sie doch dem Krebs nicht entfliehen, der seit einiger Zeit zu ihrem ständigen Begleiter geworden war.
Eigentlich sollte sie Mulder wecken, damit er nach Hause kam und dort in einer bequemeren Lage noch ein paar Stunden Schlaf bekam, bevor sein Flug ging. Andererseits brachte sie es nicht übers Herz, seinen Schlaf zu stören, den er nur selten ohne Alpträume genießen konnte. Bald würde sie ein weiterer Alptraum in seiner gequälten Seele sein... Nein, sie konnte ihn nicht wecken, wollte noch ein paar Stunden lang seine Nähe genießen, bevor er aufstand und sie verließ, den ersten Schritt in ein Leben ohne sie tat. Sie machte sich nichts vor: Mulder würde zurückkommen, aber er würde lernen, ohne sie zu sein. Das war auch gut, denn es gab keinen gemeinsamen Weg für sie beide. Sie würden irgendwohin gehen, aber nicht zusammen, und sie fragte sich, wohin.

Where do we go from here?
This isn't where we intented to be.
We had it all,
you believed in me.
I believed in you.

Scully sah eine Landstraße vor sich, auf der ihr Partner in einem Mietwagen entlang fuhr, konzentriert in die tiefe Dunkelheit vor sich starrend und im Geist schon am Tatort seines nächsten Falles. Ab und zu blickte er in Richtung Beifahrersitz, als ob ihn etwas irritierte, dann schüttelte er den Kopf und sah wieder geradeaus auf die Straße, an deren Anfang Scully stand und dem sich entfernenden Wagen nachblickte. Sie dachte an die letzte Auseinandersetzung mit Mulder, und Tränen brannten in ihren Augen. Er hatte für sie beide in einem Motel in Greentown, dem Ort ihres neuen Falles, Zimmer gebucht und gesagt, er würde sie am Flughafen treffen, wie er es immer tat, aber sie hatte nicht mitkommen können. Ein Arzttermin, hatte sie gesagt, reine Routine, aber trotzdem notwendig. Wenn er also ohne sie auskommen könnte...
Mulder hatte sie auf eine Weise angesehen, die sie bereits von ihm kannte: verletzt und traurig, aber doch ein wenig trotzig. Er hatte gefragt, warum er von dem Termin nichts wisse, und sie hatte geantwortet, dass das ihre Sache sei. Was sie ihm verschwiegen hatte war, dass sie wegen akuter Ohnmachtsanfälle zum Arzt musste, denn sie wollte nicht, dass er sich sorgte. In Wahrheit wünschte sie sich nichts sehnlicher als dass er sie in die Arme nahm und ihr versprach, dass alles wieder gut werden und er mit dem Fall auf sie warten würde, aber das konnte er nicht tun, also schwieg sie. Mulder hatte schließlich gesagt, er werde sie anrufen, wenn er angekommen sei, und sie solle sich melden, wenn etwas Besonderes sei, aber ansonsten könne er ohne sie fliegen. Sie hatte gespürt, dass er log. Er konnte nicht ohne sie auskommen, das hörte sie schon allein an seiner Stimme, der jegliche Leidenschaft fehlte, die ihn sonst am Anfang eines jeden Falles auszeichnete und die sie oft genug hatte bremsen müssen. Ihr erging es genauso: Auch sie verspürte nicht den gewohnten Enthusiasmus, den ein neues Geheimnis mit sich brachte, das nur darauf wartete, von ihnen gelöst zu werden. Wo war dieses Gefühl geblieben, und wann hatten sie es verloren? Und vor allem, konnten sie es wiederfinden? Scully bezweifelte das, zumindest für sich selbst. Das hier war nicht länger ihr Leben, sie hatte einen ganz anderen Kampf auszufechten, einen Kampf auf Leben und Tod, von dem ihr Partner ausgeschlossen blieb. Und deshalb fuhr er jetzt auch ohne sie diese Straße entlang, die Rücklichter seines Wagens immer kleiner werdend, bis sie nur noch zwei winzige rote Punkte in der Nacht waren, die eine der wenigen selbstverständlichen Dinge in ihrem Leben symbolisierten, das jetzt auch verschwand: Ihre Arbeit.

Certainties disappear.
What do we do
for our dream to survive?
How do we keep all our passions alive
as we used to do?

Deep in my heart I'm conceling
things that I'm longing to say.
Scared to confess what I'm feeling,
frightened you'll slip away.
You must love me.
You must love me.

Dana wollte schreien, wollte Mulder zurückrufen, ihn bitten, bei ihr zu bleiben, aber sie konnte es nicht. Wenn sie das tat, würde er den Grund wissen wollen, und den konnte sie ihm nicht sagen. Er durfte nichts von ihren Gefühlen erfahren, nicht von ihrer Liebe zu ihm und auch nicht von der unglaublichen Angst vor dem Tod, vor der Einsamkeit, in der sie sterben würde. Ihre Familie würde für sie da sein, natürlich, aber sie wusste, dass es für sie keinen Unterschied machen würde, ob sie da waren oder nicht. Sterben würde sie trotzdem. Es mochte ein Trost sein, dass sie mit ihr litten, aber es machte alles auch noch schmerzhafter. Dana wusste, sie fürchtete sich weniger vor ihrem eigenen Tod als vor dem Kummer, den sie den Menschen bereiten würde, die sie liebte. Besonders dem einen Menschen, nach dem sie sich jetzt mehr als je zuvor sehnte. Sie erinnerte sich an ein Spiel, das sie in ihrer Kindheit oft gespielt hatte: Man schloss die Augen und wünschte sich etwas, und wenn man die Augen wieder öffnete, war der Wunsch in Erfüllung gegangen. Es war klar, was sie sich wünschen würde, wenn sie den Mut dazu hätte. Wenn es doch nur so einfach wäre... Dana schloss ihre Augen, um die verschwindenden Rücklichter nicht sehen zu müssen, die sie allein auf der langen, dunklen Straße zurückließen und flüsterte kaum hörbar: "Mulder, bitte lassen Sie mich nicht allein."

Irgend etwas veränderte sich. Sie spürte eine Hand, die ihre Stirn streifte, leicht wie ein Windhauch, und als sie ihre Augen wieder aufschlug, sah sie in Mulders besorgtes Gesicht. Er beugte sich über sie und schaute in ihr Gesicht, suchte nach einem Zeichen des Erkennens darin. Scully erkannte, dass sie nicht länger auf der Straße stand, sondern wieder in einem Krankenhausbett lag, in die typische weiße Decke gehüllt, umgeben von medizinischen Geräten, deren Zweck ihr vertraut war.
"Hey, ist alles in Ordnung?" erkundigte sich Mulder sanft. Auch als sie schwach nickte, ließ er seine Hand auf ihrer Stirn liegen, nahm mit der anderen ihre Hand und drückte sie leicht.
"Muss ja ein schrecklicher Traum gewesen sein." sagte er, forderte sie mit den Augen auf zu erzählen. Aber sie konnte es nicht, konnte ihm nicht sagen, was sie so bedrückt hatte, dass sie um sich schlagend aufgewacht war. Es war nicht die übliche Vision von ihrer Entführung gewesen, nein, diesmal war es eine ganz andere Angst, eine elementare Furcht, die sich in letzter Zeit noch stärker in ihrem Innern manifestiert hatte: Die Angst, Mulder könne sie verlassen, weil es jetzt, da sie für ihn nicht mehr von Nutzen war, keinen Grund mehr für ihn gab, zu bleiben. Im Gegenteil, ihre Anwesenheit musste seine Schuldgefühle nur noch verstärken, und sie fragte sich, warum er dennoch blieb, sich sogar nachts um sie kümmerte, obwohl ihre ständige Nähe ihm den Abschied unerträglich schwer machen musste. Ihr ging es jedenfalls so, und sie suchte verzweifelt nach dem Grund, warum Mulder noch immer für sie da war, wollte wissen, was er erwartete, um es ihm geben zu können. Das war das Einzige, was sie noch für ihn tun konnte. Aber wie sollte sie ihm das begreiflich machen?
"Warum..." flüsterte sie schließlich so leise, dass Mulder sich über sie beugen musste, um sie zu verstehen. Ihre Worte ergaben keinen Sinn, und er überlegte schon, die Schwester zu rufen, als sie weitersprach.

Why are you at my side?
How can I be
any use to you now?

"Mulder, warum bleiben Sie bei mir? Wieso tun Sie sich das an, obwohl ich Ihnen nur hinderlich bin?"
Dieser eine Satz machte ihm begreiflich, was sie durchmachte. Er erkannte, was es ihr antat, dass er gehen und sie allein lassen musste, womit sie sich quälte, wenn er nicht da war. Sie hatte Angst, er würde nicht zurückkommen!
Mulder wünschte, er könnte die Worte finden, um ihr diese Furcht zu nehmen, aber weil er wusste, dass das unmöglich war, folgte er seinen Gefühlen und nahm Scully in die Arme, zog sie fest an sich, damit sie sich beruhigen und, geborgen an seiner Brust, ihre Sicherheit wiederfinden konnte.
Nachdem sie eine Weile so gesessen hatten, brach Mulder das Schweigen: "Warum ich bei Ihnen bleibe, fragen Sie? Weil Sie für mich der wertvollste Mensch auf der Welt sind und das immer bleiben werden, ganz egal, was passiert. Nichts wird mich je davon abhalten, in Ihrer Nähe sein zu wollen, und ich werde auch nach diesem Fall wieder zurückkommen, das verspreche ich."
Scully drehte den Kopf, um ihm in die Augen sehen zu können. Sie sehnte sich nach seinem Blick, in dem immer so unendlich viel Wärme stand, und er schenkte ihn ihr auch jetzt, streichelte ihre Seele mit seinen Augen, dieses Mal ganz ohne Scheu, sie könne vielleicht seine Gefühle in ihnen lesen. Das war ihm jetzt egal, was zählte war nur, ihr Geborgenheit zu geben, und das würde er tun, auch wenn der Gedanke an ihren Tod ihm schier das Herz brechen wollte. Er wollte, dass sie lebte, auch wenn sie sich dann vielleicht irgendwann verlieben würde. Er könnte es ertragen, ihre Liebe niemals zu spüren, aber nicht ihren Tod.
Diese schwache, traurige Person in seinen Armen, die ihren Kopf an seine Brust schmiegte, war nicht die Scully, die er kannte und liebte, es war ein schwacher Schatten ihrer selbst, ohne den Mut zu kämpfen. Scully hatte immer dort weitergemacht, wo alle anderen schon längst aufgegeben hatten, und er wünschte sich, sie würde diese Kraft wiederfinden und endlich wütend werden. Bisher war sie nur traurig gewesen, aber jetzt war es an der Zeit, ihre Wut auf die Leute zu richten, die ihr das alles angetan hatten. Er würde für sie kämpfen, aber er wollte, dass sie selbst das auch tat.
"Scully," begann er eindringlich, "Kann ich Ihnen etwas sagen?"
"Klar, was gibt's?"
Ihre erstaunten Augen forschten in seinem Gesicht, suchten nach einem Zeichen für das, was jetzt kommen würde.
"Ich habe Sie in den Wochen nach der Diagnose beobachtet. Sie haben sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen und lassen alles über sich ergehen wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie versuchen, Ihren Schmerz zu verbergen, aus welchem Grund auch immer. Aber solange Sie den Schmerz nicht zulassen, wird auch die Wut nicht kommen. Und diese Wut ist lebensnotwendig, wenn Sie weitermachen wollen. Und das wollen Sie doch, oder irre ich mich?"
Scully verkrampfte sich in Mulders Armen. Wie hatte er es nur geschafft, sie so zu durchschauen? Sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihre Gedanken und Gefühle vor aller Welt zu verbergen, und dann kam Mulder und erkannte mit einem Blick, was in ihr vorging. Aber er hatte recht: Sie versuchte, sich zu verstecken und leistete keinen Widerstand mehr. In diesem Moment erkannte sie, dass es nur einen einzigen Grund gab, aus dem sie nicht hatte weitermachen und kämpfen wollen: Sie hatte nicht mehr an sich selbst geglaubt. Und jetzt zeigte ihr Mulder, dass er es tat. Er hatte nie den Glauben an sie verloren, auch als sie selbst keinen mehr hatte, und nun gab er ihn ihr zurück. Sie wusste plötzlich, dass sie kämpfen musste, wenn schon nicht für sich, dann doch wenigstens für Mulder. Er verdiente es, dass sie ehrlich zu ihm war und nicht den Mut verlor, solange sie noch am Leben war. Mulder hatte immer für sie gekämpft, und jetzt war es an der Zeit, dass sie ihm wieder dabei half. Er hatte keine Chance, allein gegen die ganze Welt zu kämpfen, aber zusammen konnten sie es schaffen. Das hatten sie immer.
"Geben Sie mir noch 'ne Chance, und ich werde es denen zeigen." sagte sie entschlossen und schlang ihre Arme um Mulder, ihn fest an sich drückend, nicht nur, um ihm Trost zu geben, sondern auch, um selber welchen zu finden. Es fühlte sich so gut an, von ihm gehalten zu werden, und sie spürte, dass es das war, wofür sie so lange wie möglich am Leben bleiben wollte: um in seiner Nähe zu sein, von ihm berührt zu werden und ihn zu berühren, auch wenn er nie den wahren Grund dafür erfahren würde.

Give me a chance
and I'll let you see how:
Nothing has changed.

Mulder spürte die Veränderung, die in Scully vor sich ging, und er löste sich vorsichtig von ihr, um in ihre Augen sehen zu können.
"Von mir kriegen Sie jede Chance, die Sie wollen, wenn Sie nur kämpfen. Ich will Sie nicht verlieren, Scully."
Seine Stimme nahm einen schmerzlichen Klang an, der Scully beinahe körperlich weh tat. Sie dachte einen Moment über seine Worte nach und erwiderte dann langsam: "Das trifft sich gut. Ich will nämlich auch nicht verloren werden."
Mulder sah das kleine Lächeln in ihrem Mundwinkel und wusste, dass er sich in jedem Moment seines Lebens wieder in diese Frau verlieben würde, wenn er das nicht schon längst getan hätte. Dieses Lächeln zeigte ihm, dass es noch nicht zu spät war, auch wenn das den Anschein hatte. Auch wenn Scully sterben würde, konnte er ihr noch seine Ehrlichkeit schenken und ihr sagen, was er die ganze Zeit über hatte sagen wollen. Plötzlich waren alle Bedenken wie weggespült, denn sie hatten keine Zeit mehr dafür. Mulder musste sich entscheiden, und das hatte er eigentlich schon längst getan, auch wenn er sich das selbst nur sehr selten eingestand. Er würde ihr die Wahrheit sagen, weil er das musste. Sie durfte nicht sterben, ohne zu wissen, wie sehr er sie liebte. Trotz seiner Entschlossenheit wollte er sie nicht überfallen und erkundigte sich deshalb vorsichtig: "Kann ich Ihnen was sagen?"
"Alles." erwiderte sie und sah ihn mit diesem wissenden Blick an der ihn in Erstaunen versetzte. Sie wusste es! Aber das konnte sie unmöglich. Er hatte sich immer Mühe gegeben, es sie nicht wissen zu lassen. Scully hatte ihn wieder einmal durchschaut, und Mulder fragte sich, wie lange schon.
"Wirklich alles?" wollte er wissen, gewissermaßen nach ihrer Erlaubnis für sein Geständnis fragend.
"Ja." sagte sie schlicht, und Mulder fuhr fort: "Sie wissen es schon, oder?" Als sie nickte sprach er rasch weiter: "Ich werde es aber trotzdem sagen. Ich...ich liebe dich."
Einen Augenblick lang hingen seine Worte in der Luft, schienen im dunklen Krankenzimmer nachzuhallen, das nur von einer Nachttischlampe beleuchtet wurde, in deren Schein Mulder jetzt ein glückliches Lächeln auf Scullys Lippen ausmachte.
"Ich weiß", brach Scully schließlich das Schweigen. "Und das ist auch der Grund, warum ich weitermachen werde. Weil ich dich nicht allein lassen will."
"Und ich werde dich nicht allein lassen. Niemals, das verspreche ich."
Ihre Augen nahmen einen weichen Ausdruck an, den Mulder noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Sie sah ihn direkt an, als sie seine Lippen mit ihren streifte und Mulder erkannte, dass sie ihn in ihr Innerstes blicken ließ. Er las in ihren Augen, und was er dort sah machte ihn beinahe glücklicher als die Berührung ihrer Lippen. Es war Mut in ihnen zu lesen, der Wille weiterzumachen, und tiefes Vertrauen, dass er ihr dabei helfen würde. Als sie einander küssten, schloss Dana die Augen, aber sie wusste, sie würde nie mehr Angst davor haben, sie wieder zu öffnen. Schließlich war sie nicht allein. Wovor sollte sie sich also fürchten? Sie würde ihre Augen öffnen und sich der Welt stellen.


The End
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