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Self esteem

von Mareike

Kapitel 1

The more you suffer,
The more it shows you really care. Right?!

Yeah!


- The Offspring, Self Esteem


XXXXXX

Vielleicht ist das Leben wie eine Fahrt auf einer Autobahn. Schnell, hektisch, rücksichtslos und brutal. Ich habe immer auf der Überholspur gelebt, aber jetzt geht mir der Treibstoff aus. Und meine Verfolger holen auf.

Vielleicht ist dieses Bild zu kitschig und warum ich mich so einen Schwachsinn frage, weiß ich eigentlich selber nicht. Es sind die typischen Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, wenn man in der Kälte sitzt und jemanden in einer warmen Wohnung beschattet. Warum muss ich das tun? Wissen DIE nicht schon alles über ihn? Seine Angewohnheiten, seine Ziele, seine geheimsten Gedanken, wissen SIE nicht schon alles?

Ich habe keine Möglichkeit, zu entscheiden, ob ich hier das Richtige tue. Überhaupt, was ist richtig? Ist es richtig, unbequeme Personen zu töten, nur um selbst nicht draufzugehen? Ich denke nicht, dass es richtig ist. Und doch tue ich es. Tag für Tag. Woche für Woche. Jahr für Jahr.

XXXXXX

Irgendetwas stimmt nicht heute Nacht. Scully ist vor einer Stunde nach Hause gegangen, wir mussten noch einen Bericht zusammen schreiben. Nicht, dass ich nicht gewollt hätte, dass sie noch bleibt. Ich hätte mich sogar gefreut. Aber wie so oft brachte ich es nicht fertig, sie darum zu bitten.

Wieder gehe ich zum Fenster. Nein, irgendetwas stimmt mit Sicherheit nicht. Es ist, als hätte die Nacht Augen. So, als würde ich ständig beobachtet... Doch auf der verschneiten Straße ist nichts zu erkennen. Nichts, was meinen Verdacht bestätigen würde. Ob ich trotzdem noch einmal nachsehen sollte? Scully würde mich auslachen, wenn ich mich meinen paranoiden Wahnvorstellungen hingeben würde. Schon bei dem Gedanken ihr zu erzählen, wie ich mich jetzt gerade fühle, muss ich grinsen. Und doch werde ich dieses Gefühl nicht los...

Ich lasse wohl doch lieber die Jalousien herunter. Und rufe Scully an. Wer weiß, vielleicht muss ich nur mal mit jemandem reden.

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Verdammter Scheißkerl! Warum muss er jetzt auch noch die Rollläden herunterlassen? Spinnt der? Dann sitze ich hier ja noch dämlicher in der Kälte rum... Ich hasse Washington! Ich hasse diese verschneiten Straßen! Ich hasse dieses Leben als kleiner Laufbursche von DENEN!

Oh, Wahnsinn, wenigstens telefoniert der Typ mal. Ich drücke auf ein paar Knöpfe, und seine Stimme schallt laut und klar in meinen Kopfhörer.

„Ja?“

„Oh, hallo, Scully, hier ist Mulder...“

Wider Erwarten muss ich grinsen. Die Frau ist erst seit einer halben Stunde weg und er ruft sie an. Ob es da nicht einfacher gewesen wäre, sie gleich dazubehalten? Ich verstehe diesen Mann nicht. Weiß er immer noch nicht, dass sie ihn liebt? Oh Mann, ich sollte aufhören, mir über das Leben anderer Leute Gedanken zu machen. Ich komme ja schon mit meinem nicht klar.

XXXXXX

„Mulder? Sie? Was ist denn los?“

Ich reibe meine Stirn. Das kann doch nicht wahr sein! Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und wollte ein Bad nehmen. Das Wasser läuft schon ein und es riecht viel versprechend nach einem teuren Duschbad. Und jetzt ruft mich Mulder an. Mulder. Mein Gott, ich war gerade drei Stunden wegen diesem gottverdammten Bericht bei ihm. Ich habe Kopfschmerzen. Und jetzt fällt ihm ein, dass er Unterhaltung braucht!

„Ich habe ein komisches Gefühl heute Nacht“, höre ich seine Stimme.

Ja, das sollte er auch besser haben, wenn er mich bei meinem Bad stört!

„Wieso?“, frage ich zurück, mehr unterbewusst als aus wirklichem Interesse. Dieser Mann hat ein paar Mal zu häufig ein komisches Gefühl für meine Verhältnisse. Ich kriege mit, dass er etwas von „werde beobachtet“ redet, als ich mich mit dem Telefon in der Hand zum Bad begebe.

„Was kann ich dann für Sie tun?“ Meine Stimme klingt genervt. Sorry, Mulder, aber ich habe nun mal Kopfschmerzen. Es war ein langer Tag. Und ich will jetzt absolut nichts von kleinen grauen Männchen oder Formwandlern mit grünem Blut hören. Kann sein, dass ich übertrieben empfindlich bin, was solche Dinge angeht.

„Ich dachte, vielleicht hätten Sie Lust, sich mit mir zu treffen.“

Oh mein Gott, auch das noch! Nicht, dass ich mich nicht gerne mit Mulder treffen würde; das ist es nicht, was mir Gedanken macht. Es ist vielmehr der Klang seiner Stimme, so, als wäre er nicht ernsthaft daran interessiert, sondern als suche er eine Ablenkung von seinen paranoiden Gedanken.

„Scully, seien Sie doch nicht gleich so sauer!“, bittet er mich.

Mist, sollte ich das laut gesagt haben? Ich brauche meine Ruhe.

„Mulder, wir reden morgen weiter“, sage ich.

Wie peinlich! Warum muss so etwas ausgerechnet mir passieren? Ich will schon auflegen, doch etwas hält mich davon zurück.

Und schon bricht seine Stimme wieder durch meine Gedanken: „Scully, bitte, ich muss Sie sehen!“

Nein! Ausgeschlossen! Nicht, wenn ich es mir einmal mit einem Buch in der Badewanne gemütlich machen möchte! Dazu komme ich sowieso schon viel zu selten bei meinem Job.

„Scully, was wäre, wenn ich dieses Mal Recht hätte?“

„Womit?“

„Damit, dass da draußen wer ist?“

„Hören Sie, Mulder, es reicht. Sie haben zu viele Mystery-Serien gesehen. Nehmen Sie sich ein Buch, und legen Sie sich auf Ihr Bett, äh, auf Ihre Couch! Sie werden sehen, es wird Ihnen gut tun.“

Ich lege den Hörer auf die Gabel. Mein Badewasser ist bestimmt schon kalt. Ich werde es nicht länger warten lassen. Nicht für Mulder, nicht für irgendwen.

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Die Beiden sind zu niedlich! Als ich das gerade gehört habe, fiel alle Müdigkeit von mir ab. Vergessen diese schweinische Kälte, bei der ich Mulder beobachten soll. Vergessen die Müdigkeit. Gut, dass mich jetzt keiner von meinen Chefs sehen kann. Wie würde das auch auf sie wirken? Ich, einsam in diesem zugigen LKW vor Mulders Haus, lache mich halbtot über diese verrückten FBI-Agenten. Dabei hätte Mulder heute sogar mal Recht gehabt, er wird ja beobachtet. Von mir. Fühle dich geehrt, Fox!

Oh, hey, das gibt noch Action heute Nacht! Die Tür des Hochhauses geht auf, und heraus tritt mein Ex-Partner. Er trägt Jeans und eine Lederjacke, wir sehen uns heute Abend ähnlich... Er tritt auf die Straße, sieht sich vorsichtig um. Sein Blick bleibt für einige Sekunden auf dem LKW hängen. Automatisch halte ich die Luft an. Bitte, Fox, komm nicht her! Zwinge mich nicht, etwas zu tun, was wir beide später bereuen würden! Sein Blick schweift weiter, und ich atme auf. Vielleicht habe ich mir das ja auch nur eingebildet...

Er beginnt zu joggen, die Straße herunter. So leise das möglich ist, öffne ich die Tür des Lieferwagens und springe auf die Straße. Die Nachtluft ist noch kälter, als ich das im Inneren des Wagens angenommen habe. So ein Mist! Bei so einem Wetter jagt man doch keine Ratte vor die Tür... Ich beginne ebenfalls zu joggen. Bei jedem Atemzug dringt die Luft eiskalt in meine Lungen. Es ist ein Gefühl, als würde man ein Messer in den Rücken gestochen kriegen. Und ich weiß, wovon ich rede.

Mulder scheint recht zielstrebig zu laufen - es soll mir recht sein. Langsam wird mir wärmer, und ich bin froh, dass ich im Training geblieben bin, obwohl es einige Veränderungen in meinem Leben gab, seit ich anfing, für diese Männer zu arbeiten. Ah, Mulder wählt den Weg zum Park...

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Ich bin mir wirklich sicher, ich werde verfolgt. Scully, verdammt, warum sind Sie nicht hier? Wieder drehe ich mich um, doch da ist nichts. Nichts als finstere Dunkelheit. Mir geht ein Zitat aus einem Theaterstück durch den Kopf, das ich mal gesehen habe: „Du siehst die Dunkelheit, aber nicht, was in ihr ist.“ Es passt gut zu dieser Nacht. Sie ist irgendwie, auf eine seltsame Art und Weise, anders als alle die Nächte, die ich zuvor erlebt habe. Sie scheint, auch wenn mich Scully jetzt zum Psychiater schicken würde, unentschlossen zu sein. So, als wüsste sie selbst nicht, was noch alles passieren kann...

Schritte. Waren da wirklich Schritte hinter mir? Oder bilde ich mir das nur ein? Ich erhöhe mein Tempo. Nicht viel, aber doch so, dass jemand, der nicht so häufig läuft wie ich, schon starke Probleme kriegen könnte. Ich tauche ein in die Dunkelheit des Parks und im selben Moment habe ich das Gefühl, dass es keine gute Idee war, hierher zu kommen. Schließlich ist hier um diese Uhrzeit niemand mehr. Niemand, außer den wenigen Pennern, die sich auch im Winter auf den Parkbänken aufhalten. Und doch, da sind Schritte hinter mir. Und je mehr ich versuche, sie zu überhören, desto sicherer werde ich.

XXXXXX

Shit, jetzt rennt der auch noch in den Park! Über die Kälte der Nacht beschwere ich mich schon länger nicht mehr, beim Laufen ist mir wärmer geworden, als mir lieb ist. Warum ist der Typ nur so verdammt sportlich? Er scheint irgendwie unsicher zu werden. Und er weiß, dass ihm jemand folgt. Mein Glück, dass er nicht weiß, wer ihm folgt. Ich glaube, sonst könnte ich nicht mehr aufrecht laufen. Noch vor einiger Zeit hätte ich es problemlos geschafft, ihn zu Boden zu zwingen. Aber heute... Die Welt verändert sich, wenn man nur noch einen Arm hat. Das merkt man schon an den kleinen Dingen des Lebens. Nie hätte ich Probleme damit gehabt, Mulder zusammenzuschlagen...

XXXXXX

Meine Füße finden den Weg zu den feineren Villen am Rande des Parks fast automatisch. Die Straßenlaternen verbreiten ein seltsames, gelb-weißes Licht, das sich in den dunklen Fenstern widerspiegelt. Ich werde ruhiger, kann wieder denken. Warum bin ich nicht vorher darauf gekommen? Ich wünschte, mein logischer Verstand würde immer arbeiten; auch und gerade, wenn ich in Gefahr bin oder vermute, es zu sein. Ich lege einen kurzen Sprint ein, der mich hinter eine Häuserecke führt. Nun warte ich. Ich habe nichts anderes zu tun, als zu warten.

Mein Atem steigt in kleinen Wolken in die Luft, deren Kälte ich erst jetzt wieder wahrnehme, wo ich nicht mehr in Bewegung bin. Und langsam höre ich sie deutlicher werden, Schritte. Ein Jogger. Nachts, hier, in dieser einsamen Gegend. Auf meiner Strecke, hinter mir. Fast automatisch höre ich auf zu atmen. Jeder Muskel meines Körpers spannt sich. Diesmal werde ich sehen, wer es ist, der mich beschattet. Und wenn DIE es sind, gut, dann werden DIE eben auch über Konsequenzen nachdenken müssen. DIE, nicht ich. Denn diesmal werde ich gewinnen...

XXXXXX

Wo ist dieser Idiot nur? Ich verlangsame meine Schritte zu einem schnellen Gehen. Die Straße vor mir ist leer, die beleuchteten Bürgersteige liegen friedlich in der Nacht. Mist! Wie soll ich das meinem Chef erklären?

Plötzlich nehme ich eine schnelle Bewegung wahr. Jemand springt hinter einer Häuserecke hervor, auf mich zu. Instinktiv versuche ich, mich zu schützen, als er mich angreift und zu Boden werfen will. Seine Hände umfassen meine Arme - oder zumindest den einen - ich packe ihn am Handgelenk. Er sieht auf. Es ist Mulder. Für einen Moment scheint die Zeit angehalten zu sein. Wir stehen uns gegenüber, und in seinen dunklen Augen spiegelt sich Hass. Tiefer, bodenloser Hass. Er hat nicht vergessen, was ich damals getan habe. Wie sollte er auch? Er hatte nie einen Grund, an meiner Schuld zu zweifeln.

Die Sekunden verstreichen, dehnen sich zu einer Ewigkeit, die doch erstaunlich kurz ist. Wir beide scheinen darauf zu warten, dass der Andere eine Bewegung macht.

„Krycek!“, höre ich ihn sagen. Nicht erstaunt, oder ängstlich. Sogar seine Stimme verkörpert seinen Hass. Er scheint aber dennoch auf seine eigene Art froh zu sein, mich zu sehen. Vielleicht, weil er sich von mir die Antworten auf einige Fragen erhofft, die er schon zu lange stellt. Vielleicht aber auch, weil er an mir Rache nehmen möchte. Und wenn ich ihn so sehe, erscheint mir das bei Weitem wahrscheinlicher.

Er wartet. Ich warte. Die Sekunden verstreichen.

Zwei Männer, die sich gegenüberstehen. Beide starren gebannt ins Gesicht des Anderen, um auf die winzige Regung in den Augen zu warten, die man fast automatisch vor einem Angriff macht.

Was soll ich sagen? Ich bin kein Mann, der lange wartet. Wenn sich mir eine Möglichkeit bietet, nutze ich sie.

Mulder fällt stöhnend zu Boden, nachdem ihn mein Knie in die Magengegend getroffen hat.

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Verdammt, Mulder, jetzt gehen Sie schon ans Telefon! Vielleicht hätte ich doch nicht so hart ihm gegenüber sein sollen. Seit zehn Minuten versuche ich nun schon, ihn zu erreichen. Dass meine Bemühungen vergeblich waren, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. Mulder. Der Gedanke an ihn lässt mich nicht los. An ihn, und an seine Furcht. Was, wenn er doch Recht hatte? Wenn DIE doch da gewesen waren?

Aber jetzt werde ich schon genauso paranoid wie er... Das ist doch nicht zu fassen! Ich dachte bis jetzt, ich sei die Vernünftigere aus unserem Team. Und jetzt muss ich einsehen, dass das nicht stimmt. Verdammt, wenn er doch nur ans Telefon gehen würde, dann wäre doch alles schon viel einfacher...

Warum mache ich mir eigentlich solche Sorgen? Mulder wird nur schlafen oder so, oder auch ein Bad nehmen, oder was auch immer er gerade tut, sodass er nicht ans Telefon gehen kann. Trotzdem wähle ich noch einmal die vertraute Handynummer. Nichts. Ein paar Mal klingelt es, ohne dass jemand abhebt. Dann lege ich auf. Es ist sinnlos.

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Oh, shit! Was mache ich nur immer für undurchdachten Schwachsinn? Jetzt stehe ich hier, und zittere am ganzen Körper wegen dieser Kälte. Vor mir auf dem Boden liegt Mulder. Damned! Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann ihn doch nicht einfach hier liegen lassen, in dieser Kälte... Eigentlich seltsam, dass ich bei ihm deswegen Gewissensbisse hätte. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil mein Auftrag ausdrücklich lautete: „Beschatten Sie ihn unauffällig! Er darf nichts davon merken, dass er beobachtet wird.“

Tja. Er hat es wohl gemerkt, nehme ich an.

Wie soll ich DENEN das nur erklären? Als hätte ich nicht schon genug Probleme mit IHNEN gehabt. Zu häufig sind meine Aufträge nicht ganz nach deren Vorstellungen gelaufen... Aber diese Überlegungen helfen mir nicht so recht weiter. Ich weiß einfach nicht, wohin ich ihn bringen soll. Ich kann ihn nicht hierlassen. Ich kann einfach nicht.

Mein Blick fällt auf ein rotes, dreckiges Auto, das am Straßenrand steht. Ein Auto. Flucht. Weit weg von hier. Von diesen Männern. Ich wende mich von der Gestalt am Boden ab. Gehe zu dem Auto. Auf dem Kofferraum klebt ein Aufkleber mit einem Zitat von Che Guevara: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“ Ich muss lächeln. Es passiert selten, dass ich grinse. Aber in diesem Moment, hier, in dieser kalten Nacht, unter dem klaren Sternenhimmel, scheint dieser Aufkleber mein Lebensgefühl wiederzugeben. „Versuchen wir das Unmögliche.“ Oh, ja, genau das werde ich tun. Das Unmögliche.

Die Tür ist nicht abgeschlossen und das Auto kurzzuschließen ist eigentlich kein Problem. Bleibt nur noch die Frage: Was wird aus Mulder? Die simpelste Idee kommt mir erst jetzt, wo alles einfacher wird: Ich könnte ganz einfach einen Krankenwagen rufen und ihn von den Sanitätern retten lassen. Kein Problem mehr mit der Kälte. Mit der Nacht. Mit dem Verletzten. Doch etwas hält mich davon zurück, den Notruf zu alarmieren. Wenn DIE so scharf sind auf Mulder, muss er etwas wissen. Oder zu irgendetwas Beweise haben, von dem ich nichts ahne. Seltsam, das zuzugeben, aber manchmal ist mir selbst Mulder ein Stück voraus.

Ich gehe zu ihm. Noch immer liegt er bewusstlos auf dem Boden. Ich muss ihn nur noch irgendwie ins Auto kriegen, gar nicht so einfach, wenn man nur noch einen Arm hat. Aber was soll’s? Man gewöhnt sich an alles. Und ich habe schon Schlimmeres geschafft.

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Halt! Irgendetwas scheine ich da nicht mitgekriegt zu haben... Um mich herum ist es dunkel. Ich liege auf einem Stoffsitz und da ist ein komisches Geräusch wie - ein Auto. Ja, wirklich ich fahre in einem Auto und ich kauere aus unerfindlichen Gründen auf der Rückbank. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich versuche, mich zu konzentrieren auf das, was passiert ist.

Dann fällt es mir wieder ein. Krycek. Joggen im Park. Und dann die Begegnung mit dieser Ratte. Mühsam richte ich mich auf, mein ganzer Körper scheint voller blauer Flecken zu sein. Alles schmerzt und unbewusst stöhne ich leise auf. Der Fahrer dreht sich um. Alter Hass keimt in mir auf. ER ist es! Diese... Ratte!

„Das hätte ich mir ja denken können“, sage ich, doch meine Stimme klingt nicht so fest, wie ich das gerne hätte. Eher im Gegenteil. Es gibt wenig, was mich aus der Ruhe bringt, doch Krycek mit einem solchen Lächeln, wie er es im Moment zeigt, gehört zu den gefährlichsten Dingen, die ich mir vorstellen kann.

„Wieder wach?“, fragt er, den Blick mittlerweile auf die Strasse gerichtet. Fast könnte man meinen, er hätte seine fürsorgliche Ader entdeckt. „Mulder, ich dachte nicht, dass ich Sie so hart getroffen hätte. Tut mir leid.“

Wie bitte? Krycek tut etwas leid? Sein Lächeln, das er mir über den Rückspiegel nach hinten sendet, weist diesen unheimlichen Verdacht sofort zurück. Es ist einfach zu sarkastisch, als dass ich mich noch länger an der Vorstellung festhalten könnte, er wollte mich nicht irgendwo in der Einöde erschießen. Oder sonst etwas mit mir tun.

„Was wollen Sie, Krycek?“, frage ich ihn endlich. Und diesmal gelingt es mir, meine Stimme unter Kontrolle zu behalten.

„Gegenfrage, Mulder: Was wollen DIE von Ihnen?“

Er lenkt das Auto an den Straßenrand. Sein Gesicht wird vom Mondlicht gespenstisch beleuchtet und ich glaube, er weiß, dass er trotz seiner Prothese immer noch ein Furcht einflößender Mann ist. Trotzdem kann ich ihm die Antwort auf seine Frage nicht geben.

„Wer sind DIE?“, will ich von ihm wissen.

Er grinst. Scheint Drogen genommen zu haben, denke ich. Ich habe Krycek noch nie so häufig grinsen sehen.

„Mulder, das wissen Sie.“

„Nein.“

„Sie wissen es.“ Er lehnt sich in seinem Sitz zurück, so dass sein Gesicht gefährlich nahe an meins kommt. „Wenn nicht, dann raten Sie eben. Es ist mir gleich.“

Ich starte also einen Versuch.

„Der Krebskandidat?“

Er grinst schon wieder. Irgendwie... siegesgewiss. Ja, das trifft diesen Gesichtsausdruck ziemlich gut. In seinen dunklen Augen brennt ein Feuer, das ich bei ihm noch nie gesehen habe. Sowieso wirkt Alex Krycek nicht so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Es ist, als hätte er Hoffnung gewonnen. Ich weiß nicht, wie ich das anders beschreiben soll. Es ist, als hätte er plötzlich ein Ziel, für das er kämpfen kann. Einen Sinn in seinem Leben.

„Habe ich Recht?“, frage ich, um das Gespräch nicht absterben zu lassen.

„Sagen wir mal, er gehört dazu, ja. Also, Mulder, was wollen die von Ihnen?“

„Ich habe keine Ahnung.“

Wortlos dreht er sich um, startet den Motor erneut. Der Wagen macht einen unkontrollierten Satz nach vorne, dann fährt er in einem halsbrecherischen Tempo über den Highway. Ich merke, dass ich müde werde. Es ist verrückt, ich sitze mit Krycek in einem Auto und will nur noch eins: Schlafen...

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Das Mittel wirkt, Mulder schläft wieder. Das gibt auch mir die Chance, mich etwas zu erholen. Doch viel Zeit bleibt mir dafür nicht. Verdammt. Dabei würde ich gerade das so dringend brauchen: Zeit. Zeit, um nachzudenken, Zeit... Zeit, um selbst mal etwas zu schlafen... Ich lenke den Wagen wieder an den Straßenrand. Warum musste ich vorhin mit Mulder nur so die Beherrschung verlieren? Mein Gott, es ist doch nur Mulder...

Übermüdet. Ich bin wahrscheinlich einfach übermüdet...



Drei Männer sitzen in einem dunklen Raum. Ich sehe sie vor mir und obwohl ich ihre Gesichter im Dämmerlicht nicht erkennen kann, weiß ich doch sofort, wer sie sind. Es riecht unangenehm nach kaltem Rauch und nach einem teuren, aber geschmacklosen Rasierwasser.

„Krycek, haben Sie getan, um was wir Sie gebeten haben?“, höre ich die arrogante Stimme sagen. Als wüssten sie das nicht. Nein, nein, ich habe nicht Mulder umgebracht, nein...

„Noch nicht.“ Und ich werde es auch nicht tun, ihr...

„Krycek...“

„Es wird bald erledigt sein.“ Wird es nicht, wird es niemals, Hurensohn...

„Krycek, Sie sind ein Versager. Sie sind schlecht geworden...“

Der Raucher zieht eine Waffe. Will der mich erschießen? Er, der sich sonst doch nicht die Hände schmutzig macht? Ich greife zu meiner Jeans, doch da ist keine Waffe. Nichts. Ich starre ihn an.

„Sie sind ein Versager, Krycek...“ , wiederholt er, bevor er auf mich zielt.

Eigentlich sollte ich jetzt irgendetwas Gescheites machen. Ihm die Waffe wegnehmen, ihn zusammenschlagen oder erschießen, warum auch nicht, und dann abhauen... Doch ich bin unfähig, mich zu bewegen. Ich starre ihn einfach nur ungläubig an.

„Versager“, sagt er noch einmal und ich sehe, wie sich sein Finger um den Abzug krallt...



„Nein!!!!“

Meine Hand schnellt in einer sinnlosen Abwehrbewegung nach vorne und trifft hartes Plastik. Das Lenkrad. Ich versuche, mich zu beruhigen, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.

Es war ein Traum. Ein Traum, Alex, ein verdammter Traum, nichts weiter als ein Traum. Ruhig, alter Junge. Nur ruhig. Hier ist kein Raucher, der dich erschießen möchte und du hattest noch nicht einmal den Auftrag, Mulder zu töten. Ganz ruhig. Du bist kein Versager, ruhig, Junge, ruhig...

Vielleicht hatte der Raucher in meinem Traum doch nicht so unrecht. Vielleicht bin ich ein Versager. Vielleicht ist es aber auch schon ein Achtungserfolg, wenn man überlebt. Und das habe ich bis jetzt relativ gut geschafft.

Am Himmel zeigen sich erste Streifen der Morgendämmerung. Ich sollte wohl langsam weiterfahren, aber irgendwie ist mir die Lust an diesem Abenteuer vergangen. Was, wenn Mulder wirklich keine Ahnung hat, was hier vor sich geht? Er sollte es zwar eigentlich wissen, aber das könnte man auch von mir sagen. Und ich habe meistens auch keine Ahnung, wofür ich etwas tue. Meistens intuitiv, oder weil ich Aufträge habe... Scheiß unbestimmtes Leben.

Wenn er aber nun wirklich nichts weiß? Dann können wir einen Club der Unwissenden aufmachen, aber nichts weiter. Ich hasse so etwas. Ich hasse es, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Das passiert mir in letzter Zeit viel zu häufig. Pläne, die ich hatte, lösen sich in Nichts auf. Werden falsch. Typisch. Typisch für Versager.

Ich starte den Motor erneut. Etwas schneller als nötig ziehe ich den Wagen wieder auf den Highway. Wenn ich auch nicht weiß, wohin ich fahren soll: es ist immer noch besser, in Bewegung zu bleiben.

So sieht es wenigstens für Mulder so aus, als wüsste ich, was ich tue.

XXXXXX

Wieder drücke ich den Klingelknopf. Ich stehe vor dem Appartement mit der Nummer 42, Mulders Wohnung. Doch er öffnet nicht. Es ist 8 Uhr 20, also 20 Minuten nach Dienstbeginn, und er ist nicht beim FBI erschienen. Er hat auch nicht angerufen. Gar nichts. Verdammt, warum habe ich es nur abgelehnt, mich mit ihm zu treffen? Warum nur? Jetzt, wo es zu spät ist, mache ich mir Vorwürfe. Wie immer. Wie immer, wenn es zu spät ist.

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Mulder schläft immer noch und eigentlich ist das auch ganz gut so. Ich weiß immer noch nicht, wo ich hinfahren soll, aber irgendetwas gibt mir das Gefühl, dass es nicht schaden kann, sich ein wenig aus Washington zu entfernen. Ich denke, da würden zu viele Leute nach mir suchen. DIE würden mir kaum eine Chance geben. Und Scully ist bestimmt auch schon ganz versessen darauf, ihren Mulder wieder zu sehen...

Ein Handy klingelt. Wo hab’ ich es nur hingetan... Endlich finde ich es in meiner Westentasche. Aber es ist nicht mein Handy, das da klingelt. Mulder wird mal wieder angerufen. Er ist wohl ein viel gefragter Mann, in der letzten halben Stunde hat es wohl an die vier Mal geklingelt, ich habe irgendwann aufgehört mitzuzählen. Mein Gott, es ist ja süß, wenn Scully sich um ihren Mulder solche Sorgen macht. Aber man kann es auch übertreiben.

Aber es nervt. Vielleicht sollte ich ihr das einfach mal sagen. Wenn es noch zweimal klingelt, gehe ich ran. Eins... Zwei. Okay, Scully, oder wer auch immer, du hast gewonnen. Ich seufze, greife neben mich und drücke auf die kleine grüne Taste an dem Gerät.

„Ja?“, melde ich mich.

„Wer ist da?“, werde ich gefragt. Es ist unverkennbar Scully.

„Scully! Welche Überraschung!“

An ihrem Zögern kann ich erkennen, dass sie krampfhaft versucht, meine Stimme irgendeiner ihr bekannten Person zuzuordnen.

„Was ist mit Agent Mulder?“

Unweigerlich mustere ich den Schlafenden, der zusammengekauert auf der Rückbank liegt.

„Ich denke, es geht ihm gut. Er schläft“, antworte ich dann.

„Ich will ihn sprechen. Was ist mit ihm?“

Moment, Scully. Wer stellt hier eigentlich die Fragen? Sie oder ich? Wer ist denn hier in der besseren Position? Wer hat eine Geisel, hä, Scully?

„Geben Sie mir sofort Agent Mulder!“, wiederholt sie ihre Aufforderung und ich merke, dass ich es nicht mehr bin, der hier die Regeln festsetzt.

Also nehme ich das Telefon vom Ohr, grinse kurz und drücke einen anderen Knopf. Schade, Scully. Wären Sie ein bisschen höflicher gewesen, wer weiß, vielleicht hätten Sie sogar nachher mit ihm sprechen dürfen. Vielleicht. Das Telefon klingelt wieder, doch ich werfe es auf den Beifahrersitz, ohne es weiter zu beachten.

Ärgere dich ruhig, Scully! Schadenfreude ist die beste Freude.

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Wer könnte das am Telefon vorhin gewesen sein? Ich bin mir sicher, ich kenne diese Stimme. Sie klingt seltsam vertraut. Irgendwie heiser und so, als wäre der Mann, der so spricht, nicht reiner Amerikaner... Ich überlege. Komme zu keinem Ergebnis. Verdammt! Vielleicht muss ich ganz von vorne anfangen. Bei all den Personen, die Mulder und ich im Laufe unserer Zusammenarbeit kennen gelernt haben und die uns nun als Feinde vertraut sind.

Aber halt. Vielleicht finde ich ja in seiner Wohnung einen Hinweis darauf, wer ihn entführt haben könnte. Entführt? Ist er allen Ernstes entführt worden oder macht er freiwillig bei einem solchen Schwachsinn mit? Mulder ist ja alles zuzutrauen... Trotzdem übermannt mich irgendwie die Sorge um meinen Partner. Ich suche in meiner Handtasche nach dem Zweitschlüssel zu seiner Wohnung. Verdammt, irgendwo muss ich den doch hingetan haben...

Endlich spüre ich das kühle Metall an meiner Hand. Ich ziehe den Schlüssel hervor, klopfe aber noch einmal an die Tür, bevor ich wirklich aufschließe. Nichts. Wieder keine Antwort. Okay, Mulder. Solltest du aus irgendeinem unerfindlichen Grund mit einem Mann da drin sein, der dich nicht ans Telefon gehen lässt, ist das nicht mehr mein Problem. Nervös stecke ich den Schlüssel ins Schloss. Sollte ich vielleicht meine Waffe ziehen? Ich bin mir nicht sicher. Andererseits... Nein. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier sowieso keiner ist.

Vorsichtig gehe ich in die Wohnung. Es ist still hier. Die Rollläden sind noch immer geschlossen. Ich drücke fast reflexartig auf den Lichtschalter. Ein eigentümliches Chaos empfängt mich. Typisch Mulder. Er hatte es noch nie so sehr damit, Ordnung zu halten.

Hier werde ich keinen Hinweis auf mögliche Täter finden. Nicht in diesem Chaos aus alten Zeitschriften, herausgerissenen Zeitungsseiten und über die ganze Wohnung verstreuten Fotos, die helle Punkte am dunklem Himmel zeigen. Wie viel Freude man einigen Menschen doch mit der simpelsten Fotoausrüstung machen kann... Scully, werde nicht zynisch! Du bist hier, um etwas über das Verschwinden deines Partners herauszufinden. Nicht, um sich über seine Hobbys lustig zu machen. Und: Etwas Gutes hat dieses Chaos doch. DIE hätten hier ebenfalls niemals etwas gefunden.

Ich lasse mich auf einen halbwegs freien Sessel fallen und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Wer könnte ein Interesse an Mulder haben? Hat es „nur“ etwas mit unserem Fall zu tun oder mit Mulder selbst? Unser derzeitiger Fall. Das Verschwinden von zwei Jugendlichen, die zusammen Urlaub machten. Wahrscheinlich sind die beiden Mädchen getrampt. Ich möchte mir nicht vorstellen, was dann mit ihnen passiert ist. Selbst Mulder glaubt, es wäre ein ganz normaler Mordfall. Ganz normal. Naja, so normal eben, wie so was sein kann. Business as usual.

Also wohl nicht unser derzeitiger Fall. Vor mir auf dem Couchtisch liegt eine Zeitung. Mein Blick fällt auf eine Anzeige, die rot eingekreist ist. Ich hebe die Zeitung auf. Vielleicht ist das ja ein Hinweis...

„Müde? Abgespannt? Probieren Sie doch auch unsere neuen Fitness-Dragees...“ Nein, danke. Mulder, verdammt, langte Ihnen ihr Jogging nicht mehr oder was soll der Schwachsinn? Enttäuscht blättere ich die Seite um. Erst jetzt merke ich, dass sich der Stift nur von dieser Seite durch das dünne Papier durchgedrückt hat. Gebrauchtanzeigen. „Gute Fotokamera...“ Okay. Okay, das passt schon eher zu Mulder. Hilft mir aber nicht weiter. Genervt werfe ich die Zeitung zurück auf den Tisch.

Überlege, Scully! Wer könnte dieser Mann gewesen sein? Gesichter ziehen an meinem inneren Auge vorüber. Vielleicht ein Ausländer... Ein Russe? Könnte der Mann Russe gewesen sein?

Krycek! Bestimmt wieder diese Ratte! Hass kommt in mir auf. Wieder greife ich zum Telefon.

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Eins muss man ihr lassen: Diese Frau hat Durchhaltevermögen. Okay, Scully, eine weitere Chance? Sollen wir zwei es noch mal versuchen? Also schön.

Ich greife neben mich, hebe das Telefon vom Beifahrersitz auf.

„Ja?“, melde ich mich.

„Krycek, sind Sie das?“

Wow. Sie hat mich wirklich erkannt! Das hätte ich nicht gedacht. Nicht so schnell. Nicht nach einem kurzen Gespräch. Gute Leistung, Agent Scully! Die Kandidatin erhält hundert Punkte.

„Scully, ich bin froh, dass Sie sich noch an mich erinnern! Nicht wahr, mich vergisst man nicht so leicht?“

Ich kann hören, wie sie genervt seufzt. Unwillkürlich muss ich grinsen.

„Was wollen Sie von Mulder?“, will sie wissen.

Hey, gute Frage. Weiß ich selbst nicht. Ob sie mir das glauben würde? Verdammt, ich wünschte, ich könnte ihr Gesicht sehen, wenn ich ihr das jetzt sagen würde. Wäre bestimmt interessant... Zu schade, dass das nicht geht.

„Können Sie sich das nicht selbst beantworten, Scully?“

„Nein, kann ich nicht.“

Oh, wirklich schade. Ich dachte, sie könnte mir weiterhelfen.

„Gewissermaßen ist es Mulders Schuld, dass er hier ist“, erkläre ich ihr.

„Wie meinen Sie das?“

Sie scheint mich wirklich nicht zu verstehen. Na ja, ist vielleicht auch ein bisschen schwierig. Tut mir leid, Scully. Ich bin hier nicht derjenige, der auf Fragen antworten muss.

„Sie machen denselben Fehler wie vorhin, Scully! Sie fragen zu viel. Wie wär’s mal mit ein paar Antworten?“

„Ist es das, worauf Sie scharf sind, Krycek? Auf ein paar dämliche Antworten?“

„Keine Fragen mehr, sonst lege ich auf.“

„Oh, Okay. Alles klar.“

Brav, Scully. Wirklich brav.

„An was für einem Fall arbeiten Sie momentan?“

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Verdammt, hat der Typ wirklich keine Ahnung oder spielt der nur so gut? Ich weiß es nicht. Krycek war mir schon damals ein Rätsel, als er noch fürs FBI gearbeitet hat.

„Was ist nun, Scully? Wollen Sie Ihren Partner wiedersehen oder nicht?“

Seine Stimme klingt seltsam angespannt. Nervös. Ich glaube, er weiß wirklich nicht, worum es geht. Macht zwei von der Sorte. Vielleicht sollte er Mulder fragen... Mulder. Kann er ihn etwa nicht fragen? Was ist mit ihm?

„Scully?“

Meine Gedanken rasen, als ich irgendwie versuche, ihm den Fall zu erklären. Stille am anderen Ende der Leitung. Scheint fast so, als hätte er etwas Anderes erwartet.

„Das ist Ihr einziger Fall?“, vergewissert er sich.

Meines Wissens ja. Verdammt, warum fragt er nicht Mulder? Keine Fragen mehr, sonst lege ich auf. Verdammt, Krycek, ich will es aber wissen! Ich will wissen, was mit meinem Partner ist!

„Krycek, eine Frage, bitte!“

Ich hasse es, diesen Mann um etwas bitten zu müssen. Diese... dreckige Ratte! Verdammt, ich hasse es! Ich hasse ihn! Wenn ich könnte, würde ich...

„Okay.“

Okay. So einfach ging das? Ein simples „Okay“? Also schön.

„Was ist mit Mulder?“, frage ich.

„Sie machen sich wirklich Sorgen um ihn, was?“

Ist das eine Form von Triumph in seiner Stimme? Oder eine einfache Feststellung?

„Ja, mache ich. Was ist mit ihm?“

„Ich habe ihm Schlafmittel gegeben. Es geht ihm gut.“

Wenigsten etwas. Immerhin liegt Mulder nicht im Sterben. Obwohl, vielleicht lügt Krycek ja auch nur. Vielleicht ist Mulder schon lange tot? Nein, bitte nicht. Krycek fordert nichts von mir. Warum sollte er mich anlügen? Weil er das schon immer getan hat. Weil er ein Verräter ist. Jemand, mit dem ich nie etwas zu tun haben möchte. Aber er hat meinen Partner in seiner Gewalt. Ich werde wohl mit ihm fertig werden müssen.

„Was haben Sie vor, Krycek?“

„Sie hatten Ihre Frage, Scully!“

Verdammt. Er hat wieder aufgelegt.

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Verdammt. Wem habe ich eigentlich das Schlafmittel gegeben, Fox oder mir? Ich bin so müde, dass ich kaum mehr denken kann. Geschweige denn Auto fahren. Mulder scheint immer noch tief und fest zu schlafen. Beneidenswert! Wie gerne würde ich mit ihm tauschen!

Ich drehe das Radio lauter. Die Bee Gees singen ihr „Stayin’ Alive“. Mensch, was glaubt ihr, was ich die ganze Zeit versuche? Haltet doch die Klappe... Haltet doch verdammt noch mal die Klappe! Alex, es ist das Radio. Kein Grund, die Kontrolle zu verlieren. Du bist müde, du bist nervös. Du hast ein paar Aufputschmittel zu viel genommen. Aber kein Grund, wegen einem Radio außer Kontrolle zu geraten. Auf der nächsten Station läuft „Self Esteem“ von Offspring. Schon besser, auf jeden Fall, wenn man verzweifelt versucht, wach zu bleiben.



Yes, I know, I’m being used

That’s okay, man, ’cause I like the abuse

Yes, I know, she’s playing with me,
That’s okay ’cause I’ve no self esteem




Was soll das sein? Eine Kurzcharakterisierung übers Radio? Na, danke. Vielleicht haben sie gar nicht so unrecht. Vielleicht bin ich nur ein kleiner Idiot, mit dem DIE spielen. Ich meine, wer bin ich schon? Gut, einer von DENEN. Ein Killer, der mehr weiß, als DIE vermuten oder hoffen. Aber immer noch ein Killer, der auf deren Aufträge reagieren muss. Der sich wer weiß wie toll vorkommt, aber in Wirklichkeit... Selbstwertgefühl? Habe ich so was? Hat man so was, wenn man seinen Charakter aufgeben muss, weil man Killer wird? Für DIE? Nicht, dass ich das freiwillig täte. Aber der Zeitpunkt kommt, wo man vieles tut, um sein eigenes Leben zu schützen. Nicht zu vergessen das von seiner Familie. Und die Zukunft... Die Zukunft von -

Eine Hupe reißt mich aus meinen Gedanken. Im letzten Moment ziehe ich den Wagen wieder auf die richtige Spur, der LKW fährt knapp an mir vorbei. Komisch. Nach einem solchen Beinahe-Unfall sollte man doch wenigstens flaue Knie haben. Hab’ ich nicht. Ist doch irgendwie egal, was passiert. Wenn ich durch einen Autounfall sterbe, haben wenigstens DIE nicht den Triumph, mich getötet zu haben.


I may be dump, but I’m not a dweeb
I’m just a sucker with no self esteem




Oh, Mann, ist ja gut, ist ja gut! Was macht es schon aus? Wer interessiert sich denn schon dafür, was mit mir ist? Ich bin nur eine Marionette von DENEN. Und, so leid es mir auch tut, ich habe keine Chance, ihnen jemals zu entkommen. Mein Blick fällt auf Mulder. Warum habe ich ihn da mit 'reingezogen? Mulder kann mir auch nicht mehr helfen. Selbst, wenn ich noch mehr wüsste, als ich das jetzt schon tue, würde es mir helfen? Würde es mich weiterbringen? Hätte ich damit eine Chance, vor DENEN zu fliehen und ein normales Leben zu führen? Überhaupt, was ist normal? Kann man von einem normalen Leben reden, wenn man so viel erlebt hat wie ich?

Ein normales Leben. Hätte ich dann nicht jede Nacht diese Alpträume, in denen ich in einem Raketensilo eingesperrt bin? Hätte ich dann nicht mehr diese Angst, wenn ich aus dem Haus gehe, dass ich sofort erschossen werde? Was macht mich so naiv zu glauben, es könnte alles besser werden? Besser kann es nur werden, wenn DIE verschwinden. Für immer. Aber das werden sie nicht tun. Niemals. Es wird Neue geben, die IHNEN folgen. Ob sie besser sind oder schlimmer, wer kann das sagen...? Es ist nicht Mulders Schuld. Vielleicht auch nicht meine. Vielleicht kann man nur denen die Schuld geben, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin.

XXXXXX

Bitte, Krycek, gehen Sie ans Telefon! Bitte. Nur noch dieses eine Mal...

„Ja?“

„Krycek?“

Gott sei Dank. Ich freue mich schon wirklich, seine Stimme zu hören, das ist doch etwas dämlich.

„Ah, Sie sind es, Scully!“

Irgendetwas ist anders mit ihm. Er klingt so ruhig, so, als hätte er... aufgegeben.

„Krycek? Ist alles in Ordnung?“ Komm schon, Junge, antworte, mach keinen Scheiß! Nicht, wenn mein Partner noch bei dir ist... „Krycek?“

„Ja. Ja, alles okay“, höre ich seine matte Stimme sagen. „Es geht mir gut, Scully, es geht Mulder gut, es ist alles in bester Ordnung. Wir werden nicht verfolgt, alles bestens.“

Ich wusste noch gar nicht, welch bissigen Humor der Mensch hat. Aber er ist nicht mehr der, mit dem ich gestern geredet habe. Ich habe das Gefühl, dass... hat er vielleicht nachgedacht? Ist er sich im Klaren darüber, was er gemacht hat?

„Was wollen Sie, Krycek?“

„Leben.“

Aha.

„Das tun Sie doch ganz prima, Krycek, oder? Sie...?“

„Das kommt darauf an, ob Sie das leben nennen, was ich tue, Scully.“

Irgendwie begreife ich den Sinn hinter seinen Worten. Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber das ist der Moment, in dem ich das erste Mal Mitleid mit Alex Krycek empfinde. Leben. Die einfachste, die simpelste aller Antworten auf die Frage, was man will und doch aus seinem Mund so anders als alles, was ich erwartet hätte. Leben.

„Was zwingt Sie denn dazu, so zu sein, wie Sie sind? Sie könnten doch auch etwas vollständig Anderes machen...“

Noch als ich diese Worte sage, merke ich, wie hohl sie sind. Krycek etwas Anderes machen, das würden einige Leute nicht zulassen. Dann würde ein Killer, genau wie er einer war, auf ihn angesetzt.

Wie viele Leute hast du schon getötet, weil sie aussteigen wollten, Krycek? Jetzt bist du einer von ihnen und du weißt es. Das ist dein Problem. DIE können nicht zulassen, dass dein Wissen an die Öffentlichkeit kommt.

Ich höre noch ein bitteres Lachen von ihm. Dann nur noch das Besetztzeichen im Telefon.

XXXXXX

Verdammt. Wenn man down ist, sollte man nicht mit Scully telefonieren. Mulder, alter Junge, du tust mir leid. Irgendwie ist Scully zu naiv für dich. Faszinierend, dass ihr beide überlebt habt. Keine schlechte Leistung, in Anbetracht der Tatsachen... Eine Leistung, die ich wahrscheinlich nicht erbracht hätte. Mulder, ich bin ein Versager. Du kannst kämpfen. Ich habe zu lange auf beiden Seiten gespielt, als dass ich noch wüsste, was gut und was böse ist. Und es ist nicht richtig, dich auf die Seite der Verlierer zu ziehen. Selbst wenn du dir wie einer vorkommst: In Wirklichkeit hast du gewonnen. Schon alleine dadurch, dass du noch lebst.

Da vorne ist ein Motel. Ich fahre langsam heran. Es hat ja doch keinen Sinn. Vielleicht sollte ich das einfach mal begreifen. Ich gebe auf. Sollen DIE doch machen, was sie wollen! Sollen sie mich umbringen, weil ich Mulder nicht so unauffällig beschattet habe, wie sie es sich gewünscht haben! Sollen sie doch! Es ist mir egal.

XXXXXX

Die Straße führt in sanften Kurven durch die schöne Landschaft. Es sind ein paar Stunden vergangen, seitdem ich Mulder an diesem Motel herausgelassen habe und weitergefahren bin. Mal hierhin, mal dorthin. Zwischendurch habe ich geschlafen, ich fühle mich wieder gut, wie ein neuer Mensch. Vielleicht war es nicht richtig. Vielleicht habe ich gerade die Chance meines Lebens verpasst. Aber Mulder und Scully... Die beiden zusammen können mehr erreichen als ich, wenn Mulder mir nicht vertraut. Und wer weiß, irgendwann kommt noch der Tag, an dem es soweit ist. Wir drei gegen den Rest der Welt. Und irgendwie gibt mir diese Hoffnung neuen Mut. Es gibt doch noch etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt...



The End.
So, nun mal ganz ehrlich. Ihr habt euch elf Seiten durch diese Fic gequält, habt euch vielleicht über Krycek geärgert, habt euch eventuell um Mulder Sorgen gemacht...

Aber wer von euch hat an mich gedacht, die stundenlang am Computer saß, und das geschrieben hat? Die ständig 'Self Esteem' gehört hat, um bei Laune zu bleiben, und die nun immer bei dem Song daran denken muss? Mal ehrlich, habt ihr mal daran gedacht? *ggd*

Falls ja, wie wär's, mich das mal wissen zu lassen?

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