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Falling

von Suzanne Schramm

Kapitel 1

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Manchmal träume ich, dass ich falle. Ich hatte diese Träume schon mein ganzes Leben lang. Als Kind hatte ich einen wiederkehrenden Traum, in dem ich über den Rand einer Klippe gejagt wurde. Ich hatte diesen Traum mindestens fünf oder sechs Mal im Jahr - bevor ich in die Schule kam, vor einem wichtigen Test, jedes Mal, wenn wir zu einem neuen Stützpunkt umgezogen sind und, seltsam genug, in der Nacht vor meinem Geburtstag.

Oft war es nur ein namenloser, gesichtsloser Schrecken, der mich hinunter ins Nichts gestoßen hat. Ich sah den Boden auf mich zurasen und war unfähig, meine Augen zu schließen. Mein Mund öffnete sich, um zu schreien, aber kein Ton kam heraus. Gerade, als ich dabei war, auf den Boden aufzuschlagen, wachte ich auf, schreckte im Bett hoch, beinahe so, als würde ich von dem Aufschlag zurückprallen.

Als ich zehn war, gab ich Melissa gegenüber zu, dass ich die Träume hatte und sie wurde umgehend ein Experte in Traumdeutung. "Träume des Fallens bedeuten, dass du dich außer Kontrolle und hilflos fühlst", informierte sie mich. Nun, wie ich sagte, ich war ein Kind. Wie viel Kontrolle hat eine Zehnjährige?

"Gehe sicher, dass du aufwachst, Dana, bevor du auf dem Boden aufschlägst. Wenn du in deinem Traum aufprallst und stirbst, wirst du auch im richtigen Leben sterben."

Diese Worte kamen mir wieder in den Sinn, wenn ich später vom Fallen geträumt habe. Ich erkannte, dass ich träumte und lange, bevor ich den Boden erreichte, aufwachte. Dafür schulde ich Melissa etwas.

Die Träume wurden weniger häufig, als ich älter wurde und mein Schicksal mehr unter Kontrolle hatte. Tatsächlich, bis auf die letzten paar Jahre, hatte ich sie überhaupt nicht mehr.

Dann kamen sie in gewaltigen Mengen zurück.

Ich wachte im Northeast Georgetown Medical Center in der Nacht, nachdem ich aus dem Koma gekommen war, panisch auf. Ich hatte geträumt, ich wäre zurück auf Skyland Mountain im Kofferraum meines Autos. Ich konnte Duane Barry über mir sehen, seine Augen unruhig, während er zu mir in einem Ton sprach, von dem er, kein Zweifel, hoffte, dass er beruhigend war: "Es ist fast soweit. Du musst mit mir kommen."

Nach Stunden, in denen ich in dem Kofferraum eingeengt war, knickten meine Beine ein und ich war unfähig, zu gehen. Barry hatte mich in seiner Begeisterung halb gezerrt, halb getragen.

"Los! Los! Es ist gleich soweit!" Er war umso aufgeregter geworden, je näher wir dem Gipfel des Hügels kamen.

In meinem Traum tat ich, wozu ich im wirklichen Leben nicht fähig gewesen war, ich rannte weg. Meine zusammengebundenen Handgelenke schwangen vor mir von links nach rechts, während ich nach Luft, die sich schwer und dick anfühlte, rang. Mein ganzer Körper zitterte unter der Anstrengung, voranzukommen, Verzweiflung trieb mich vorwärts. Als meine Beine unter mir wegrutschten, dachte ich flüchtig, ich wäre gestolpert, bis ich bemerkte, dass ich fiel. Zum ersten Mal konnte ich nicht den Boden auf mich zurasen sehen. Ich war von einer stygischen Leere und dem Übelkeit erregenden Gefühl umgeben, durch den offenen Raum zu stürzen. Ohne den Boden, der mich daran erinnerte, dass es nur ein Traum war und dass ich nur aufwachen musste, um es aufhören zu lassen, fiel ich weiterhin, während mein Hals wund von stummen Schreien wurde.

Nach einer Ewigkeit schreckte ich in meinem Bett hoch. Mein linkes Handgelenk stach, wo ich die Infusionsnadel herausgezogen hatte. Benommen und blinzelnd starrte ich durch die halb geschlossene Jalousie vor meinem Fenster auf die Lichter des Parkplatzes. Was hatte mich hierher gebracht - literarisch und bildlich? Ich konnte die Antwort nicht herausfinden. Meine Gedanken liefen für ein paar Stunden im Kreis, bevor ich schließlich in einen traumlosen Schlaf hinüber glitt.

Ich hatte den Traum seitdem mehrmals. Am seltsamsten eine Woche, nachdem Eddie von Blundht seinen Auftritt auf meiner Couch gehabt hatte. Nur dieses Mal verwandelte er sich nicht zurück in Eddie. Stattdessen verwandelte er sich in diesen Stilett-tragenden Bounty Hunter, der auch Mulders Gesicht als seinen Pass benutzt hatte. Entsetzt hatte ich mich von ihm weggestoßen, von der Couch herunter und ins Nichts hinein. Während ich fiel, sah ich nach oben, um sein gefühlloses Gesicht gefolgt von Mulders zu sehen. Den Unglauben und Schock auf Mulders Gesichtszügen sah ich immer noch vor mir, als ich aufwachte.

Ich träumte vom Fallen, als mein Krebs diagnostiziert wurde. Ich wachte mit einem Nasenbluten auf, mein Betttuch zerwühlt und verschwitzt um mich herum.

Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass ich angefangen habe, das Gefühl des Fallens und die Bedeutung, die es für meine Fähigkeit hat, mein Leben zu kontrollieren, zu hassen.

Bis genau jetzt. Heute Nacht.

Heute Nacht, völlig wach, aber zur selben Zeit schläfrig, fühle ich mich selbst der metaphorischen Klippe näher rücken, auf deren Kante Mulder und ich jetzt für die letzten sechs Jahre getanzt haben. Die Anziehung zwischen uns, niemals ausgesprochen, aber klar verstanden, bekommt ein Eigenleben. Auf eine Art war es viel offensichtlicher, als wir damals anfingen, miteinander zu arbeiten. Er hat immer offen mit mir geflirtet. Während die Zeit verging und wir unsere gegenseitigen Launen und ungesprochene Sprache kennen lernten, wurde er viel subtiler - eine Berührung, ein flüchtiger Blick, eine neckende Anmerkung. Ich kenne sie in ihrer wahren Bedeutung - Verführung.

Heute Nacht ist Mulder mutig geworden, getrieben von der Erkenntnis, dass er mich verliert. Er hält meinen Blick fest, sich weigernd, klein beizugeben und ich bin unfähig, wegzusehen. Er bekennt mit seinen Worten, dass er mich braucht, während seine Augen bekennen, dass dieses Brauchen viel tiefer als irgendetwas Sexuelles geht. Es ist ein elementareres Brauchen, eine Anerkennung all unserer gemeinsamen Erfahrungen und der Mächte, die es immer noch nicht geschafft haben, uns zu trennen. Genau jetzt bin ich überzeugt, dass nichts uns jemals trennen könnte.

Ich bewege mich, um ihn zu umarmen und wir stehen da, halten uns einfach nur gegenseitig, besiegeln seine Worte zwischen unseren Körpern.

"Du machst mich zu einer ganzen Person."

Als ich mich leicht zurückbewege, bleibt sein Kopf gebeugt. Es ist für mich die natürlichste Sache in der Welt, ihn auf seine Stirn zu küssen. Es ist ein Versprechen, eine schweigende Rückgabe all der Emotionen, die er gerade vor mir enthüllt hat. Ich lasse meine Stirn an seiner ruhen, überkommen von Zärtlichkeit.

Ich falle nur in meinen Alpträumen. Mulder hat über zwanzig Jahre in einem freien Fall verbracht. Ich war mir immer bewusst, dass ich seine Lebenslinie war, aber heute Nacht scheint es mir keine solche Last mehr zu sein. Ich gestehe zumindest mir selber ein, dass ich ihn genauso verzweifelt brauche. Er macht mich ebenfalls zu einem Ganzen. Heute Nacht ist er derjenige, der auf dem Boden steht und ich falle. Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich kann nicht die Worte finden, um meine überwältigende Liebe für ihn zum Ausdruck zu bringen.

Mulders Hand legt sich rückwirkend stärker um meine Schulter und ich weiß, dass er versteht. Ich gebe ihm ein zittriges Lächeln, während ich mich zu ihm neige und mache dabei den ersten Schritt herunter von der Klippe. Seine Lippen streifen meine und die Welt dreht sich. Ich bin in einem freien Fall und dann, Schmerz!, plötzlich und scharf auf der Rückseite meines Nackens.

Ich reiße meinen Kopf zurück, verwirrt. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, dass es tatsächlich mein Gewissen ist, das bei dem Bruch dieses ultimativen Tabus aufschreit.

"Entschuldigung." Mulders Stimme ist sanft und unsicher.

"Nein. Etwas hat mich gestochen."

Mein Mund ist trocken und meine Zunge fühlt sich dick an. Meine plötzlich tauben Finger lokalisieren die Biene und ich sehe sie nicht verstehend an.

Mulder murmelt mir etwas zu, aber ich kann ihn nicht verstehen, meine Ohren rauschen. Ich kann seine Hand fühlen, die sich beruhigend über meinen Nacken bewegt und ich lasse meinen Kopf an seiner Schulter ruhen und fühle mich schwer und schwach. Ich versuche, mich zurückzuschieben, sodass ich seine Augen sehen kann, aber ich bemerke, dass ich mich nicht bewegen kann.

"Scully?"

Jetzt falle ich wirklich. Ich kann Mulders Arme fühlen, wie sie versuchen, mich aufzuhalten. Ich kann seine Panik spüren, die genauso groß wie meine eigene ist, als ich ihm versuche in kalten, klinischen Ausdrücken zu erzählen, was passiert, während ich weiter hinunter in die Schwärze falle.

Mein letzter bewusster Gedanke ist, dass er mich auffangen wird.


ENDE
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