World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Spiegelbilder

von Martina Bernsdorf

Kapitel 1

Pittsburgh, Pennsylvania
Masterstr. 3
19.2.96
15.30 Uhr


Wie der Atem eines Gottes bewegte der Wind die Vorhänge, suchte sich seinen Weg durch den Raum, wirbelte Staub an manchen Stellen auf, während er andere Partikel unberührt in ihrem jahrelangen Schlaf ließ.
Die Beine einer toten Fliege raschelten im Scheinleben unter diesem Hauch, ein sanftes, flüsterndes Geräusch der Vergänglichkeit und des Todes.
Die Stille an diesem Ort hatte etwas Endgültiges, ungestört von der Hektik und der Lautstärke des Lebens.
Der Wind, der durch die seit langer Zeit zerborstene Scheibe wehte, bewegte das Haar des Mannes, der in der Mitte des Raumes lag.
Seine Hände waren über der Brust gefaltet, doch die Geste des Friedens und der Ruhe wurde durch den Eichenholzpfahl, der aus seiner Brust ragte, gestört.
Sein Blut war längst geronnen und glänzte eher schwarz, als rot im sanften Licht, welches, gefiltert von den Brettern, die vor die Fenster genagelt waren, hineindrang.
Ein Geräusch brach durch diese Stille des Todes. Das sanfte Plätschern einer Flüssigkeit, die sich über den Boden ergoss, sich ihren Weg durch Ritzen und Löcher im Holz suchte. Der scharfe Geruch von Benzin drang in die Nase des Mannes, welcher sorgfältig und mit seltsamer Ruhe den roten Kanister schwang.
Er betrachtete den Toten mit Gelassenheit, kein Erschrecken war in seinen Zügen, weshalb auch, er hatte den Frieden gebracht, der diese stumme Gestalt nun umhüllte. Er beobachtete, wie das Benzin Muster in den Staub fraß.
Von fern drangen die Geräusche der Straße an sein Ohr, doch es war ein gedämpftes Geräusch, er schloss kurz die Augen und stellte sich vor, dass es so klingen mochte, wenn man tief unter Wasser war.
Reinheit, Klarheit, sanft gewiegt von den Gezeiten, schlafen, ruhen.
Er öffnete die Augen wieder und schalt sich selbst einen Narren, dies war nicht die Zeit für Ruhe, nicht die Zeit für Träume.
Der Mann beugte sich zu seinem stillen Gefährten, denn das war er für ihn. Sein Schattenbruder, er war das Licht, der Tote war der Schatten, er war ein Mensch, der Tote war keiner.
Ob jemand begriff, welche Bürde er trug? Der Mann strich sanft über das wirre, lange Haar des Toten. Es war schmutzig und roch übel, so wie der ganze Mann schmutzig war, eine hervorragende Tarnung, und doch, vor den Augen eines Sehenden konnte er sich nicht verbergen.
Ob seine Seele nun befreit war, oder würde sie in der Hölle brennen? Er hatte sich diese Frage oft gestellt, rettete er Seelen oder führte er sie der Verdammnis zu? Und waren am Ende diese Fragen nicht gleichgültig, es lag in den Händen einer höheren Macht, dies zu bestimmen.
Eigentlich hatte er nie an Gott geglaubt, nicht bevor seine Augen geöffnet wurden, nicht bevor die Wahrheit ihm einen Spiegel vorhielt, und er hatte dem, was er darin gesehen hatte, nicht entkommen können.
Musste er nicht an Gott glauben, wenn er Dämonen auf Erden fand? Waren sie nicht ebenso der Beweis für Gott, wie Gott ein Beweis dafür war, dass es Dämonen gab?
Einst hatte er gelacht, über solche Argumente, gelacht über die Narren, die an Gott glaubten oder an Dämonen.
Das Böse gab es, oh ja. Er war ihm begegnet, immer und immer wieder, es war ein Böses, welches Krebs, Aids oder sonst einen Namen trug. Es war der betrunkene Autofahrer, der mit seinem Wagen ein Kind auf einem Gehweg zermalmte. Es war auch manchmal ein Mensch, der in düsteren Gassen ein Messer zog und für zwei Dollar ein Menschenleben nahm, all dieses Böse war real gewesen, aber das Böse war nicht in Gestalt von Dämonen über die Erde gewandelt.
Er war blind gewesen, bis zu dem Moment, als er in den Spiegel sah und die Welt danach nie wieder dieselbe war.
Ein letztes Mal spielten seine Finger mit dem fettigen Haar des Mannes: „Möge deine Seele nun Frieden finden!“ Er griff wieder nach dem Benzinkanister und leerte die restliche Flüssigkeit über dem Mann aus, er sah zu wie sich das Benzin mit seinem erstarrten Blut vermischte.
Langsam trat er zurück, seine rechte Hand griff in seine Manteltasche. Er berührte den kühlen Gegenstand darin, liebkoste den Schwung der Form, seine Fingerspitzen kribbelten, aber es war ein gutes Gefühl, ein tröstliches Gefühl, voller Zustimmung und Geborgenheit.
Es gab ihm Kraft, wann immer er zu zweifeln begann.
Seine linke Hand suchte sich ihren Weg durch das Innenfutter der anderen Manteltasche, ertastete die Streichholzschachtel und zog sie heraus. Mit Bedacht öffnete er die kleine Schachtel, wählte ein Streichholz und entzündete es an der Reibfläche.
Er betrachtete die kleine, blaurote Flamme, wie schön das Feuer doch war, reinigend, verzehrend. Der scharfe Geruch des Benzins ließ seine Nasenlöcher schmerzen, so als fordere es endlich, entzündet zu werden.
Ein letzter Blick ruhte auf dem Toten. „Asche zu Asche, Staub zu Staub!“
Das Streichholz fiel zu Boden, der Mann erlaubte sich, diesem lautlosen Sturz zu seiner Bestimmung mit den Augen zu folgen. Mit einem gierigen Zischen, ein Geräusch, das so lebendig klang, reagierte das Benzin mit dem Feuer.
Lodernd fraßen sich orangerote Flammen über den Boden, leckten über die Leiche und entzündeten sie lichterloh. Der Mann hustete in dem Rauch und trat weiter zurück, er durfte sein Werk nicht länger betrachten, seine Arbeit war getan.
Er huschte zum Ausgang des abbruchreifen Hauses, zog die klare Luft in seine Lungen und entfernte sich weit genug, dass er sich gefahrlos in die Menge der Schaulustigen, die sich schnell sammelten, eintauchen konnte.
Dort konnte er ein Schatten unter Schatten werden, gesichtslos, in der Masse.
Wie er sich gedacht hatte, kümmerte sich die Feuerwehr nicht sonderlich darum, den Brand zu löschen, ihre Aufmerksamkeit galt den umliegenden Häusern. Das Haus war unbewohnt gewesen, reif zum Abriss, niemand außer ihm wusste, dass darin ein Untier gehaust hatte, denn sie waren blind.
Er griff in seine Innentasche und berührte die Karten darin, sie hatten seine Körperwärme angenommen. Eine Aufgabe war beendet, seine Finger strichen über die Karten und wählten eine davon aus.
Er zog sie langsam hervor und betrachtete sie. Sie zeigte einen Mann, über dessen Kopf horizontal eine Acht schwebte, das Zeichen für Unsterblichkeit, die Karte des Magiers.
Der Mann betrachtete die Tarotkarte nachdenklich. Eine neue Aufgabe. Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken fließen, während er sich vor seinem inneren Auge eine Landkarte vorstellte.
„Hey, Mister!“ Eine Hand schüttelte ihn grob an der Schulter, er riss die Augen auf und starrte in das Gesicht eines Feuerwehrmanns.
„Geht es Ihnen gut?“ Der Feuerwehrmann kniff misstrauisch die Augen zusammen, roch er das Benzin an ihm? Angst kitzelte die Ränder seines Bewusstseins, seine Aufgaben waren zu wichtig, er durfte noch nicht aufgehalten werden, nicht solange er keinen Nachfolger gefunden hatte, jemanden, den er unterrichten konnte, ehe, ja, ehe er den eigenen Frieden finden konnte.
„Ja, alles in Ordnung, der Rauch hat mich nur schwindlig gemacht.“
Der Feuerwehrmann knurrte etwas Unfreundliches über Schaulustige und riet ihm, weiter zurückzutreten.
„Natürlich, ich habe es ohnehin eilig, ich muss noch einen Flug nach Washington erwischen.“

XXX

Washington D.C.
Maplestr. 5
24.2.96
23.45 Uhr


Tatorte hatten alle eines gemeinsam, stellte Scully fest, sie waren auf schreckliche Weise intim. Die Polizei und Spurensicherung drang in solche Häuser ein, fast wie Voyeure betrachteten sie die Anatomie eines Mordes.
Oft waren an solchen Tatorten die Täter noch anwesend, in den meisten Fällen, kannten die Opfer ihren Mörder, waren diese Orte Schauspiele von Liebesdramen, Verzweiflung und Gewalt gewesen, geboren aus Frustrationen, Psychosen oder Leidenschaft, die zu extrem geworden waren und sich brutal, roh und endgültig ihren Weg gebahnt hatten.
Manchmal bedeckten die Mörder ihre Opfer mit einem Laken, ein Zeichen von Reue, ein Versuch, sich vor den anklagend gebrochenen Augen zu verstecken.
Aber manchmal waren die Täter nicht so offensichtlich erkennbar, waren es keine gequälten Ehefrauen, die sich eines Abends entschlossen, eine Fleischgabel in den Hals ihres Mannes zu stechen. Keine Männer, die ihre Ehefrauen eines Seitensprungs verdächtigten oder sie gar in flagranti erwischten und dann ein Blutbad anrichteten. Keine weißen Stellen an Wänden und Kommoden, keine Schubladen, roh herausgerissen, auf der Suche nach Wertgegenständen, die auf einen Raubüberfall schließen ließen.
Die Anatomie eines Mordes konnte manchmal schrecklich simpel erscheinen, ein anderes Mal wie ein kompliziertes Puzzle, sich allem Offensichtlichen verbergend.
Auch jene Menschen, die in diese Räume eindrangen, hatten etwas untereinander Verschworenes. Sie alle sprachen leise an solchen Orten, zogen ihre Gummihandschuhe mit fast schon religiösem Ernst an, betrachteten die schrecklichen Bilder mit seltsamer Distanz, die nicht ihrem Herzen entsprang.
Blitzlichter bannten die Toten auf Film, feiner Staub wurde mit hingebungsvoller Ernsthaftigkeit auf Gläsern, Tischen und anderen Gegenständen verteilt, auf der Suche nach Fingerabdrücken.
Manchmal dachte Scully, dass es etwas seltsam Irrationales hatte, dieses Ballett der Ermittlungen am Tatort.
Scully betrachtete die Fassade des Hauses, eine Wohngegend der Mittelschicht, ein einfaches Haus, vermutlich vermietet. Sie blickte zu ihrem Partner, der sich mit wachsamen Augen umblickte. Die bunten Lichter der Streifenwagen warfen Schatten auf die Schaulustigen, die sich hinter der Absperrung aufhielten.
Welches Geheimnis verbargen diese Mauern, welche Tragödie hatte sich hier abgespielt und vor allem, warum hatte man sie gerufen? Normalerweise waren sie nicht zuständig für Mordfälle, Scully warf einen Blick zu ihrem Partner und suchte nach einer Regung in seinem Gesicht, wusste er, warum sie hier waren?
„Wollen wir, Scully?“ Der leichte Unterton von Ungeduld in Mulders Stimme ließ Scully zu dem Schluss kommen, dass er ebenso wenig wusste wie sie, warum man sie gerufen hatte.
„Wer weiß, vielleicht haben sie ja diesmal einen waschechten Außerirdischen gefunden.“ Scullys Spott war gutmütig, und Mulder belohnte sie dafür mit einem Grinsen.
„Ja, möglich wäre es, gerade in Vororten sollen sie die Bevölkerung mächtig infiltriert haben. Vermutlich steht im Keller bereits eine umgebaute Waschmaschine, mit der er heimfliegen wollte!“
Scully öffnete mit einem sanften Kopfschütteln die Autotür und stieg aus, Mulder folgte ihr, ihre kleinen Spötteleien ließen sie im Wagen zurück. Ihr Ruf war unter den FBI-Ermittlern ohnehin etwas suspekt, „spooky“ Mulder war ein geflügeltes Wort geworden, und Scully versuchte immer diesem Ruf mit ernsthafter Professionalität entgegenzuwirken.
Wogegen Mulder öfters mal den Erwartungen in seine Person gerecht wurde, in dem er dem Klischee, das man ihm anhängte, gerecht wurde oder es noch überzog. Zwar wusste Scully, dass Zynismus eine gute Waffe war, die Mulder perfekt beherrschte, aber sie wünschte sich, er würde sie nicht bei Personen einsetzen, die jedes seiner Worte für bare Münze nehmen würden.
Sie hoffte, dass an diesem Tatort keine Agenten versammelt waren, die gerne mal „spooky“ Mulder verspotten wollten.
Mit ihren Ausweisen kamen sie leicht durch die Polizeiabsperrung. Mulder ließ einen Blick über die Schaulustigen schweifen und zog den Polizeiphotographen, der gerade das Haus verließ, zu sich. „Machen Sie möglichst unauffällig auch ein paar Aufnahmen von den Schaulustigen.“
Der Mann nickte, es war kein ungewöhnliches Vorgehen, Mörder sahen sich gerne, im Schutz der gesichtslosen Masse, die Orte ihrer Verbrechen an.
Scully und Mulder betraten den Tatort, die Türe stand offen und wies keine Zeichen von extremer Gewalteinwirkung auf. Feiner Staub von Fingerabdruckpulver lag darauf.
„Das Schloss wurde nicht mit einem Schlüssel geöffnet, vermutlich mit einer schmalen Klinge, aber sehr geschickt!“ Ein breitschultriger Mann mit einem Block in Händen trat auf sie zu. „Sind Sie die FBI-Leute?“
Scully und Mulder zückten unisono ihre Ausweise.
„Ich bin Inspektor Sheldon, ich habe Sie angefordert!“
Scully hob eine Augenbraue. „Ausdrücklich uns, Sir?“
Sheldon ließ ein Lächeln aufblitzen, das jedoch nichts mit Humor zu tun hatte. „Ja, ein befreundeter Inspektor hat mir von Ihren außergewöhnlichen Fällen, und sagen wir einmal, ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden berichtet, und ich denke, genau das brauchen wir hier.“
Mulder lächelte. „Wir werden noch berühmt, Scully!“
Seine Partnerin warf ihm einen Blick zu, der so viel besagte wie „Werden sie endlich erwachsen, Mulder!“, worauf er ihr ein Lächeln schenkte, das ebenso deutlich ausdrückte, dass ihr Wunsch vergebliche Liebesmühe war und sie ihn doch gar nicht anders wollte.
„Wer ist das Opfer?“ Scully ließ einen Blick durch die Wohnung schweifen, sie strahlte etwas Kaltes aus, die Möbel waren in dunklen Tönen gehalten, spartanisch, sauber, aber ohne die Spur einer Persönlichkeit.
Keine Bilder hingen an der Wand, bis auf eines, das einen Sonnenaufgang zeigte und in seiner Farbenpracht nicht zum übrigen Stil der Wohnung passte.
„Mark Joran, 29 Jahre alt, alleinstehend, arbeitete als Barkeeper und hielt in kleinen Clubs Illusionsshows ab, soll ganz gut gewesen sein.“
„Ein ordentlicher Mann!“ Mulder fielen die Flecken auf dem Teppichboden auf, er kniete hin, und der Geruch nach Benzin stieg in seine Nase.
„Überall wurde Benzin verschüttet, aber anscheinend wurde unser Täter gestört. Ein Kollege von Joran wollte ihn um 22.30 Uhr abholen, klingelte und klopfte mehrmals, ehe ihm auffiel, dass die Türe nicht verschlossen war. Er ging einige Schritte in den Raum, bemerkte den Benzingeruch, verließ die Wohnung sofort und alarmierte uns. Inzwischen ist der Geruch nicht mehr so stark, aber als wir ankamen, wagte kaum einer zu atmen! Wir fanden Joran dann im Schlafzimmer, dort liegt er noch immer, ich dachte, Sie sollten das alles mit eigenen Augen sehen.“
Scully wechselte mit Mulder einen Blick, es war beiden aufgefallen, wie Sheldon unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte, und ein leichtes Zittern schien darauf hinzudeuten, dass er Angst hatte.
„Sehen wir uns die Leiche an.“ Mulder ließ Sheldon den Vortritt und folgte ihm mit seiner Partnerin.
Bislang gab es keine Erklärung, warum Sheldon sie angefordert hatte, das änderte sich, als sie das Schlafzimmer betraten.
Der Blutgeruch war hier so stark, dass es den Gestank des Benzins überdeckt hatte. Joran lag auf seinem Bett, die schwarze Satinwäsche verhinderte, dass man das Ausmaß des Blutbades sofort feststellen konnte.
Einige Blutspritzer hatten die weißgetünchte Wand hinter dem Bett mit einem grotesken Muster versehen.
Die Todesursache war nicht zu übersehen, ein Eichenholzpfahl ragte aus seiner Brust, der Mann war noch nicht angekleidet gewesen, sein Oberkörper nackt und nun in Rot getaucht.
Er hatte den Mund weit aufgerissen, und etwas stak darin. Scully zog ihre Gummihandschuhe an, ohne auf ihre Hände zu sehen, Mulder beneidete sie manchmal um diese Fähigkeit, er selbst schaffte es immer wieder, die Gummifinger zu verdrehen, oder der Gummi quietschte und wollte nicht über seine Finger rutschen. Er fragte sich, wie Scully dies machte, vielleicht gab es ja einen Trick dabei, aber er wollte sie nicht fragen, außerdem, man wusste ja, dass Frauen gerne ein paar Geheimnisse für sich behielten.
Scully hatte schon die Bettkante erreicht, hielt sich aber von der bluttriefenden Bettwäsche fern, als sie die Leiche betrachtete. „Der Photograph ist fertig?“ Ihre Frage galt Sheldon.
„Ja, Sie können die der Leiche untersuchen, wir haben unsere Spurensicherung beendet, der Leichensack wartet auf Mr. Joran.“
Scully nickte und steckte ihren Zeigefinger in den Mund des Toten, brachte ihn damit unter den weißen, knolligen Gegenstand, sie zog rasch und energisch, der Kiefer des Toten schloss sich mit einem laut hörbaren Geräusch, das Sheldon und Mulder zusammenzucken ließ.
„Alle Finger noch dran, Scully?“ Mulder wusste ohnehin schon, was in dem Mund des Toten gesteckt hatte, nachdem er mit einem Eichenholzpflock getötet worden war, war der Gedanke sehr naheliegend.
Scully warf ihrem Partner einen Blick zu. „Natürlich, ich kenne die kleinen Überraschungen, die Leichenstarren auslösen können!“ Mulder hob in einer entschuldigenden Gestik die Hände, er hatte Scullys Professionalität nicht anzweifeln wollen.
„Knoblauch, nicht?“ Mulder deutete auf das Gewächs in Scullys Hand. Diese roch daran und betrachtete die Zahnabdrücke des Toten auf der Knolle. „Ja, anscheinend hält sich der Mörder für einen Vampirkiller.“
Mulder nickte und beugte sich über die Leiche, er zog die Oberlippe Jorans hoch und betrachtete dessen Gebiss. Scully warf ihm einen erstaunten Blick zu, Mulder fasste Leichen normalerweise nicht gerne an.
„Was suchen Sie, Mulder? Lange Eckzähne?“
Mulder legte seine Stirn in Falten, als er die Augenbrauen nachdenklich zusammenzog. Der Tonfall seiner Partnerin klang ungläubig, aber im Gegensatz zu ihr war er einmal Vampiren begegnet. Sein Blick wanderte unwillkürlich zu dem kleinen Kreuz, das Scully um den Hals trug, welches im warmen, sanften Glanz von Gold schimmerte.

Er hatte Scully nie von seinem Erlebnis erzählt, zu dieser Zeit hatte er nicht einmal gewusst, ob seine Partnerin noch lebte, entführt, von was auch immer. Er fragte sich oft, was in Scullys Unterbewusstsein für Geheimnisse lauerten, und ob sie je erfahren würde, was damals geschehen war. Aber eine innere Stimme ermahnte ihn, dass Scully vielleicht gar nicht wissen wollte, was geschehen war.
„Man kann ja nie wissen, Scully! Auf jeden Fall war der Mann, der dies tat, davon überzeugt, dass er einen Vampir tötet! Ein Eichenholzpfahl ins Herz, das tötet jeden Vampir!“ Mulder stellte sich dem Blick, den ihm Scully nun zuwarf.
„Ein Eichenholzpfahl ins Herz tötet jeden, Mulder! Und wie kommen Sie darauf, dass es ein Mann war? Zwar lässt die Wucht, mit der dieser Pfahl in den Oberkörper Jorans getrieben wurde, auf eine gewisse Körperkraft schließen, aber mit einem Hammer und genug Schwung könnte es auch eine Frau gewesen sein.“
Mulder nickte. „Vorausgesetzt sie trug ungefähr Schuhgröße 45!“ Mulder zog die Satindecke ein wenig zur Seite und enthüllte auf dem Teppichboden einen blutigen Fußabdruck. Er war verschmiert, so dass man das Muster der Sohle nicht mehr deutlich erkennen konnte, aber er war groß, zu groß, um von einer Frau zu sein.
„Rufen Sie den Photographen noch einmal, Sheldon! Davon hätte ich gerne ein paar gute Bilder und möglichst einen Abdruck, der in etwa hinkommt.“
Sheldon betrachtete den Fußabdruck und zuckte mit den Schultern. „Ein Abdruck wird sehr schwierig werden, vermutlich können die Jungs im Labor ihn nur rekonstruieren.“
Mulder nickte zustimmend, während Scully die Knoblauchknolle in eine Plastiktüte steckte.
„Sie können die Leiche jetzt einpacken, wir lassen sie dann abholen. Ich möchte die Autopsie in der FBI-Zentrale selbst durchführen, sofern Sie nichts dagegen einzuwenden haben, Inspektor.“
Sheldon nickte. „Ich habe Sie angefordert, mir ist egal, wer diesen Mann aufschneidet. Ich will nur seinen Mörder!“
Mulder beugte sich nahe an Scullys Ohr, so dass nur sie ihn hören konnte. „Wollen Sie selbst nach langen Eckzähnen suchen? Vielleicht sind sie ja im Oberkiefer versteckt, bis der Vampir sie braucht?“
Scully blickte in Mulders Gesicht, der breit grinste, wie ein Junge, der nie erwachsen geworden war. „Sie sehen eindeutig zu viel schlechte Filme, Mulder!“, erklärte sie nachdrücklich und machte den zwei Männern mit dem schwarzen Leichensack Platz. Gemeinsam verließen die Agenten das Schlafzimmer.
„Was haben wir denn hier?“
Mulder hatte die Gummihandschuhe noch nicht ausgezogen und hob die Karte auf, die zwischen Schlaf- und Wohnzimmer lag. Er betrachtete das farbenfrohe, detaillierte Bild darauf. „Der Herrscher.“
Scully zog die Augenbrauen zusammen. „Was?“
Mulder drehte die Karte so um, dass Scully sie sehen konnte. Auf der Karte war ein König abgebildet.
„Was ist das? Tarot, nicht wahr?“ Scullys Stimme schwankte ein wenig.
Mulders hellbraune Augen tauchten in Scullys blaugrüne, sie wich seinem Blick aus, Trauer und ein Hauch von Schuld auf ihrem Gesicht.
„Melissa hat sich mit Tarot beschäftigt.“ Scullys Stimme schwankte.
Mulder nickte. „Ja, es ist eine Tarotkarte, und wenn ich mich nicht irre, sogar ein Satz, der nicht in jedem Laden zu bekommen ist! Es ist kein Druck, sie sind handgemalt, und das ist teuer.“
„Könnten wir so den Käufer feststellen?“ Scully verdrängte ihre Gedanken an ihre Schwester, die gestorben war, weil sie zur falschen Zeit die falsche Türe geöffnet hatte. Sie hatte ihr Leben gegeben, für sie, denn diese Kugel war nicht für Melissa bestimmt gewesen, sondern für sie.
Mulder hob die Schultern. „So selten ist das dann auch wieder nicht. Es gibt kleine Firmen, die diese Karten herstellen, viele bekannte Kartenleger arbeiten mit solchen Sätzen.“
„Vielleicht sollten wir feststellen, was diese Karte bedeutet?“
Mulder nickte zustimmend. „Seltsam“, murmelte er beim Hinausgehen.
„Was ist seltsam?“ Scully folgte ihm auf seinem Weg nach draußen.
„Wir haben es mit einem Mann zu tun, der gegen Vampire kämpft, selbst wenn sie nur in seiner Fantasie existieren, und das lässt auf eine religiöse Fixierung schließen, jemand, der im wahrsten Sinne Dämonen jagt, und doch beschäftigt er sich mit Tarot, welches nicht unbedingt zur normalen Ausstattung eines Christen gehört.“
Scully zuckte die Schultern. „Melissa war gläubig, ich denke nicht, dass sich Esoterik und Religion ausschließen, die Wurzeln liegen in der Mystik, die in jeder Religion eine wichtige Bedeutung hat.“
Scully und Mulder traten auf die Straße, noch immer waren viele Schaulustige um die Absperrung versammelt.
Ein seltsames Kribbeln, nicht fassbar, ließ Scully aufschauen, kurz hatte sie den Eindruck, in ein Paar Augen zu sehen, für ein paar Sekundenbruchteile wurde ein Gesicht in der Menge klar und deutlich, doch dann zog Mulder sanft an ihrem Mantelärmel und löschte diesen Augenblick aus.
Scully schüttelte leicht irritiert den Kopf und stieg in den Wagen, während Mulder sich ans Steuer setzte.
Unter den Schaulustigen atmete ein Mann scharf aus, für ein paar Sekunden hatte er in die Augen der Polizistin oder FBI-Agentin gesehen. Sein Herz hatte hart gegen seine Rippen getrommelt, nicht aus Angst, dass sie mit dem Finger auf ihn deuten und sagen könnte: „Das ist der Mörder“, sondern weil er in diesen blaugrünen Augen, die er für einen Wimpernschlag der Ewigkeit deutlich gesehen hatte, sie erkannt hatte.
Er kannte nicht ihren Namen, noch ihr Leben, aber er kannte sie, wusste in dem Moment, dass alles Bestimmung gewesen war. Er begriff, warum dieser Kollege von Joran ihn hatte stören müssen und in seiner gewohnten Vorgehensweise, die Spuren zu verwischen, unterbrach.
Er verstand nun, warum er die Tarotkarte verloren hatte, dies alles war ein Fingerzeig einer höheren Macht, vielleicht die von Gott selbst!
Seine Finger umspielten die Karten in seiner Jackentasche, berührten sie, erforschten sie allein mit dem Tastsinn, und schließlich zog er eine Karte hervor und lächelte.
Er berührte die Frau auf der abgebildeten Karte, die ihren Kelch einem Mann entgegenhielt. Die Zwei der Kelche deutete auf den Anfang einer Beziehung hin, den Anfang einer Liebe und auf eine Vereinigung, aus der etwas Machtvolles wachsen würde.
Er war nicht länger allein!
Rezensionen