World of X

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von Schnusi

Kapitel 2

„Eigentlich können wir auch gleich freiwillig in Skinners Büro gehen oder?“, sagte Mulder, als die Tür zu seinem Büro aufging. Das sanfte Morgenlicht der Kellerfenster fiel auf Scully, deren Backen von dem warmen Wind draußen gerötet waren. In ihren Augen saß noch der Schlaf.

Etwas bitter lächelnd, erwiderte sie: „Nicht nötig. Er hat uns bereits vorgeladen!“, tat ein paar Schritte nach vorne und wedelte mit einem Papier vor seiner Nase rum.

Mulder erhob sich dem Unausweichlichen ergeben: „Na dann auf zum wöchentlichen Sonntagsausflug in Skinners Büro!“

Schulter an Schulter liefen sie durch die Gänge, um sich Skinners Standpauke zu stellen. Die Sekretärin bedachte die zwei mit einem Lächeln und schickte sie gleich weiter ins Büro. Das alles kannte sie schon zur Genüge.

Zaghaft steckte Scully ihren Kopf durch die Tür und musste sich erst an die hellen Lampen gewöhnen. Sie betraten das Zimmer, das das absolute Gegenstück zu Mulders abgedunkelten, unordentlichen Kellerbüro war. Die Wände waren weiß getüncht, jeder Gegenstand war gewissenhaft in eine scheinbare Ordnung gedrückt worden.

„OK. Kommen wir gleich zur Sache. Ich denke, Sie wissen um was es geht. Ihr Dienstwagen wurde gestern zu Schrott gefahren, woran Sie beide offensichtlich ganz und gar alleine die Schuld tragen. Ich habe aus sicheren Quellen erfahren, dass Sie sich in dem Wagen geprügelt haben, bevor Sie damit einen Baum umgefahren haben. Stimmt das?“

Beide starrten auf den Boden, was Skinner zur Weißglut brachte. „Langsam sollten Sie doch aus diesem Alter heraus sein. Ich schätze es kommt uns auf Dauer billiger, wenn ich einen Erzieher einstelle. Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“

Reflexartig stieß Scully kleinlaut hervor: „Er hat angefangen.“ Sie verstummte augenblicklich, als sie in das säuerliche Gesicht Skinners blickte. Eine Weile herrschte Stille. Dann setzte Skinner erneut an.

„Ich nehme an, es beeinträchtigt Ihre Zusammenarbeit ganz wesentlich, wenn Sie nicht miteinander auskommen. Ich hätte das kommen sehen müssen. In diesen Fällen neige ich dazu, einen der Beteiligten einer anderen Abteilung zuzuteilen. Ist es Ihnen Recht, wenn ich Agent Scully in den medizinischen Sektor versetze?“

„Nein!“ Wie aus der Pistole geschossen hatten beide geantwortet.

Erstaunt blickte Mulder Scully an. Sie lächelte verlegen und lenkte dann ihren Blick schnell wieder auf Skinner, der sie irritiert ansah. „Wenn Sie meinen. Von mir aus können Sie sich auch totschlagen. Wenn Sie dabei allerdings FBI-Eigentum beschädigen, war’s das für Sie, klar?“

Sie nickten beide und standen auf. Auf dem Rückweg schwiegen sie. Warum wollte er nicht das Scully ging, fragte sich Mulder. Er war richtig erschrocken, als Skinner diesen Vorschlag gemacht hatte. Es war kaum ein halbes Jahr her, da hätte er sie am liebsten eigenhändig wieder rausgeworfen, sobald sie eine seiner Theorien mit einer ihrer absurden, superrationalen Erklärungen zu übertrumpfen versuchte. Irgendwas hatte sich geändert. Der Gedanke, wieder allein in seinem Büro zu sitzen und auf keine Scully mehr zu warten, die ihn auslachte, erfüllte ihn nur mit Schrecken. Abgesehen davon konnte Mulder einfach nicht verstehen, warum auch Scully nicht gehen wollte. Sie hatte ihm immer absolut deutlich gemacht, dass diese Arbeit für sie nur eine Übergangszeit in ihrer Karriere bedeutete.

Zögerlich begann er. „Scully...?“ Sie unterbrach ihn fast im gleichen Moment. „Mulder, ich weiß. Ich meine, das klingt jetzt wirklich blöd, aber vielleicht, vielleicht sind Sie ja doch gar nicht so schlimm, wie es immer heißt. Also, ähm... verstehen Sie. Ich weiß auch nicht... Verdammt. Tut mir einfach Leid.“

Mulder musste unwillkürlich lächeln, als Scully so herum druckste und es vermied, in seine Augen zu sehen. Sie schluckte und starrte auf ihre Fingernägel. Dann beschleunigte Sie ihren ohnehin schon schnellen Schritt und sagte verlegen, ohne sich noch einmal umzudrehen: „Also, ich muss jetzt gehen, zur... Obduktion. Sie wissen schon... obduzieren.“

Schnell entfernte sie sich von ihm und Mulder blieb eine Weile stehen. Vergnügt sagte er mehr zu sich selbst: „War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?“ und ging dann in sein Büro, das auf einmal so viel heller war.







5. November 1989

Enttäuscht gehe ich aus dem Zimmer der Basketball-Talentsucher. Ich habe einen guten Eindruck gemacht, getan was ich konnte, doch ich weiß, sie wollen den Jungen, der vor mir dran war. Wie ein letztes Hindernis zum Erfolg steht er vor mir und mein Blick verschwimmt. Ich will überleben, kämpfen, um mich treten und auf einmal... töten.

Verklärt reiche ich ihm meine Hand. Noch schaut er mich verwirrt an. Und da packt mich die Kälte. Sie strömt durch meine Adern und ich zittere. Vom Herz in meinen Kopf, wieder zurück und die langen, verzwickten Wege, meinen Arm hinunter in meine Hand und dann hinaus. Meine Gedanken setzen aus. Schwäche durchbricht das machtlose Gehorchen und meine Beine geben nach.

Als ich meine Augen wieder öffne, liege ich am Boden. Der andere Junge ebenfalls. Längst ist er tot. Er sieht schrecklich aus. Seine Augen sind aufgerissen. Erfroren starren sie mich an. Das junge, faltenlose Gesicht hebt sich kalkweiß gegen die dunklen Haare ab. Weil das Dunkel in mir ihn getötet hat.







So schnell wie möglich arbeitend, um sich abzulenken, durchkämmte Scully Stück für Stück das tote Gewebe von Paul Simpson. Aber ihre Gedanken gehorchten ihr nicht. Es dauerte nicht lange und in ihrem Kopf drehte sich wieder alles um das vergangene Gespräch. Toll hatte sie das gemacht. Warum musste ausgerechnet sie in Gestotter verfallen, wenn man ihr nur eine ganz normale Frage stellte? Sie hatte ganz genau gesehen, wie Mulder sich hinterher über sie schlappgelacht hatte. Wütend feuerte sie das Seziermesser durch den Raum und konnte ihm gerade noch ausweichen als es über ihren Kopf schlingerte.

Sie atmete heftig aus um sich zu beruhigen und sich wieder auf die Obduktion zu konzentrieren. Aber über die konnte sie sich genauso gut den Kopf zerbrechen, denn der Körper wies unmögliche Symptome auf. Augenscheinlich waren alle Organe beinahe zeitgleich ausgefallen und nirgendwo gab es ein Zeichen warum. Verwirrt nahm sie einen Abstrich der Zellen, um sie sich unter dem Mikroskop näher anzusehen. Was sie hier entdeckte, warf sie noch mehr aus ihrem theoretischen Denken. Die Zellen hatten sich merkwürdig verändert. Das Gewirr von unübersichtlichen Hautsegmenten, erzählte Scully mehr als es jeder Zeuge konnte. Hier war alles verewigt was der Körper jemals erlebt hatte. In Erstaunen verharrte sie. Die letzten Millisekunden vor dem Tod hatten die Zellen auf einmal schlagartig aufgehört, ihre rasend schnelle Vermehrung fortzuführen und nur noch unendlich langsam (wenigstens für eine Zelle) hatten sich neue gebildet. Fast wie bei einer Erfrierung, dachte Scully, was auch das kalkweiße Gesicht zu bestätigen schien.

Aber das konnte unmöglich so schnell gegangen sein. Normalerweise brauchten schon die ersten Anzeichen, das rote Anschwellen der Gliedmaßen, in eisiger Kälte Stunden. Schnell streifte sie ihren Kittel ab und nahm ihre Notizen. Widerwillig (sie hatte ihre letzte Aktion noch nicht vergessen) kehrte sie zurück in Mulders Büro.

Als sie die Tür schwungvoll aufstieß, konnte sie live miterleben, wie Mulder blitzschnell ein kleines, blaues Büchlein, das er über die Akten, die er eigentlich lesen sollte, gelegt hatte, in einer Schublade verschwinden ließ. Zu spät bemerkte er ihren Blick, der das ganze interessiert mitverfolgte. Sie musste schmunzeln, als er sie schuldbewusst ansah.

„Also, Mulder, im Gegensatz zu Ihnen, habe ich gearbeitet, und etwas Erstaunliches herausgefunden... .“

Er unterbrach sie. „Halt, lassen Sie mich raten.“ Er legte die Zeigefinger an die Schläfen, schloss die Augen und gab ein Summen von sich, dessen Sinn Scully leider nicht erraten konnte, das aber anscheinend zu Mulders Vorstellung eines Wahrsagers gehörte. Na ja er kannte sich da wahrscheinlich besser aus als sie. Affektiert sog Mulder die Luft ein:

„Universum sprich zu mir! ... Ich sehe... ich sehe..., dass Paul Simpson und sein Teamkollege erfroren sind, und zwar schlagartig“, er öffnete die Augen und blitzte sie verschmitzt an, „Stimmt’s Frau Doktor?“

Scully war verblüfft. „Woher wissen Sie das? Und warum zum Teufel lassen Sie mich die Leiche obduzieren, wenn es vorher schon jemand getan hat?“

„Das hat niemand. Keine Medizin, auch kein Zauber, sondern... das hier.“ Er zog das blaue Büchlein in dem er vorher gelesen hatte heraus und hielt es ihr stolz unter die Nase.

Sie nahm es und durchblätterte es flüchtig. Aha, das war ja mal wieder typisch. Mulder bildete seine Theorien mit Hilfe von Tagebüchern, die allein zu lesen schon zu ihren Todsünden zählte.

Seufzend sagte sie: „Jetzt lassen Sie mich raten. Der geheimnisvolle Meuchelmörder hat den geheimen Hinweis dem talentierten, jungen Detektiv in den Briefkasten geworfen. Aber der Detektiv hat es noch nicht mal überprüfen lassen, weil er es sich absolut nicht vorstellen kann, dass ihn ein Meuchelmörder anlügt“, sie äffte ihn abschließend nach: „Stimmt’s?“

Mulder kratzte sich ertappt am Kopf und verteidigte sich: „Es war nicht in meinem Briefkasten.“ Munter grinste er sie an.

Scully erwiderte: „So, und was schlagen Sie jetzt also vor? Selbst wenn wir Ihre Spinnereien nur in Betracht ziehen - und das tun wir nicht! - wie bringt uns das weiter? Wollen Sie die Spieler mit Frostschutzmittel abfüllen? Mulder, ich weiß dass Sie das schwer enttäuscht, aber wir sind hier nicht bei Star Wars, wo sie mit Freezing-Pistolen rumrennen.“

„Also, Scully! Man sieht gleich, dass Sie gar keine Ahnung von Star Wars haben! Und wissen Sie... Da die Opfer Basketballspieler waren, und dann auch noch dieses Buch (nicht durchdrehen, okay?), wäre doch theoretisch eine Basketballhalle der geeignete Ort um nachzuforschen.“

„Nein!“, Scullys Gesicht gefror. Ehe sie ihren Mund zwecks Protest wieder öffnen konnte, stand Mulder plötzlich dicht vor ihr und beugte sich eindringlich zu ihr herunter. „Scully. Tut mir leid, wie ich mich gestern benommen habe.“ Unerträglich nah war sein Gesicht an ihres herangerückt. Seine angenehm braune Haut, die weich, kaum sichtbar von einem Drei-Tage-Bart durchstoßen wurde, strömte einen angenehmen Duft aus. „Denken Sie doch daran wie sehr es uns helfen würde. Wir müssen der Sache wenigstens nachgehen.“ Ihr Blick wanderte unruhig über Mulders Gesicht, seinen blitzenden, braunen Augen ausweichend, die sie so zu fesseln vermochten. Wie betäubt horchte sie auf ihr Herz, das ihr bis zum Hals schlug und im nächsten Moment drohte herauszuspringen. In die Enge getrieben wich sie zu der Wand hinter ihr zurück, den schier winzigen Abstand zu seinen kleinen Grübchen und den glänzenden Lippen, die sich öffneten und schlossen, um ihr unverständliche Wörter entgegen zu hauchen, wieder zu vergrößern. Erwartungsvoll harrten seine Augen auf ihren. Endlich bemerkte Scully, dass er längst nicht mehr redete und eine Antwort von ihr erwartete. Verwirrt und beschämt stieß sie hervor: “Von mir aus!“, tauchte unter ihm hinweg und rannte mehr als sie ging aus der Tür.







Ich schreie ihn an. Das Gesicht meines Trainers ist wutverzerrt, seine Augen sind zu kleinen Schlitzen geworden, die mich gefährlich anblitzen. Mit einer Energie, dass es mich fast umhaut, brüllt er los: „Wenn du Streit suchst bist du in meinem Team falsch. Dann bist du in jedem verdammten Team dieser Welt falsch. Noch mal so eine Aktion und du bist draußen, klar?“

Er ist fertig mit mir und kehrt mir den Rücken zu, um aus dem Raum zu gehen. Doch ich lege ihm die Hand auf die Schulter. Die Kälte fließt so schnell in ihn, dass er kaum darüber nachdenken kann. Diesmal ist es keine instinktive, ziellose Handlung. Ich will es. Ich will den Schatten, wenn auch nur für Sekunden, aus mir verbannen und ihn in einen anderen Körper schicken. Den Trainer, der mir die Schuld zuschiebt, einen Moment bevor er stirbt spüren lassen, was mich quält.

Ich irre durch die Straßen und nicht Erleichterung, wie erhofft, erfüllt mich. Die Sonne brennt hell und trocken auf mich. Eine graue Stadt, in der kein Grashalm lebt, nimmt alle Hitze auf und strahlt sie in mein müdes Gesicht zurück. Ich kann die Erschöpfung, das einzige was übrig geblieben ist, nicht mehr ertragen. Zu Hause lege ich mich hin und warte auf die Nacht.





Verdutzt hatte Mulder ihr hinterher geschaut. Manchmal war sie wirklich merkwürdig. Scully war mitunter eine der wenigen Persönlichkeiten, die er absolut nicht ergründen konnte.

Jetzt waren sie bereits zum zweiten mal in zwei Tagen auf dem Weg zu den Hallen der Wizards. Diesmal hatte sich Scully sofort auf den Beifahrersitz verdrückt. Er schämte sich ein bisschen dafür, dass er sie gestern so auf den Arm genommen hatte. Sie schien es wirklich ernst genommen zu haben, oder warum war sie jetzt so still? Seit gestern stimmte einfach überhaupt nichts mehr zwischen ihnen. Er biss sich auf die Lippen und guckte zu Scully, die nur zu ihrer Rechten aus dem Fenster starrte. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie sie ohne sich zu rühren, nachdenklich die vorbeiziehende Landschaft betrachtete.

Als sie an dem Baum vorbeikamen, den sie gestern mit gemeinsamem Idiotismus fast aus seinen Wurzeln gerissen hatten, stahl sich zu seiner Erleichterung endlich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. Aha, das waren also die inneren Beweggründe ihrer Prügelei gewesen. Eine kleine Sadistin! Auch Mulder musste schmunzeln.

Nun kamen die Hallen in Sicht. Er parkte und sie betraten von neuem das Gebäude. Diesmal wurden sie richtig freudig von den Spielern begrüßt. Offensichtlich war ihnen jede Ablenkung genauso willkommen wie kleinen Schuljungen.

Während sich Scully sogleich von FBI-begeisterten Spielern, die an Seltenheiten von ihrer Größe anscheinend Gefallen fanden, umringt sah, ging Mulder direkt auf den Trainer zu. Unverkennbar war er an Alter und Auftreten aus den Spielern herauszuhalten. Seine schwarze Gesichtshaut wurde von unglaublich vielen Lachfältchen durchzogen, die jetzt, als sie in Aktion traten, sein ganzes Gesicht durchfurchten und Mulders Laune schlagartig besserten.

„Ah, Sie sind die beiden FBI-Agenten? Ich habe Sie gestern hier spielen sehen. Sagen Sie nicht Ihre Partnerin spielt auch so gut Basketball. Dann können wir Sie beide gleich engagieren.“

Trotz Bemühung es nicht zu zeigen, schwoll Mulders Brust vor Stolz an. Dann blickte er zu Scully hinüber, die ihren Kopf tief in den Nacken gelegt hatte, um sich mit einem Basketballspieler zu unterhalten und musste lachen:

„Haha, ich würd’ sie nicht danach fragen. Die haut Ihnen glatt eine runter.“

Der Trainer grinste verschwörerisch und fragte, was sie denn nun eigentlich wollten.

„Haben Sie eine Ahnung, wer ihren Spielern schaden wollte?“, fragte Mulder.

Einen Moment dachte sein Gegenüber nach. „Da sind natürlich immer unsere Gegner in der Liga. Doch ich glaube kaum, dass wir noch eine Rolle für sie spielen. Wir haben schon die ganze Saison nicht gerade geglänzt und nachdem wir jetzt gleich zwei Mittelspieler verloren haben, können wir sie wohl ganz abhaken.“

„Paul Simpson war auch Mittelfeldspieler?“

„Ja, gleiche Position wie der andere Tote. Jeremiah King, unser dritter Ersatz für diesen Platz, spielt zwar nicht schlecht, gute Technik, viel Kraft, Leidenschaft. Doch es mangelt ihm an Teamgeist und ich befürchte er ruiniert uns das ganze Spiel.“

„Können Sie mir diesen Jungen zeigen?“, fragte Mulder mit einem schlechten Gefühl im Bauch.

„Nein, Jeremiah ist heute nicht gekommen. Er scheint komischerweise heute krank zu sein. Er hat bis jetzt nämlich kein einziges Mal das Training verpasst. Ich kann Ihnen die Adresse geben.“

Der Trainer kritzelte sie auf einen Zettel und Mulder steckte sie so schnell wie möglich ein. Dann rannte er zu der überraschten Scully und zog sie am Ärmel hinter sich her.

„Ich habe gerade herausgefunden, dass beide Opfer auf der gleichen Position gespielt haben und der Ersatzspieler, der jetzt diese Stellung hält ist heute nicht zum Training gekommen.“

„Jetzt beruhigen Sie sich mal“, ausweichend auf seinen Oberkörper sehend, löste sie seine Hand von ihrem Ärmel. Weder wütend, noch gleichgültig fuhr Scully fort: „Das heißt noch gar nichts. Ich werde nach ihm sehen, während Sie wie verabredet endlich die Akten der beiden Opfer durchsehen.“

Schuldbewusst erinnerte sich Mulder an seine Untaten. Niedergeschlagen nickte er.





Das Böse ist wie ein Virus, das sich von alleine, kaum merklich unter der Haut ausbreitet und vermehrt. Und kein Polizist oder Gesetz kann es aufhalten, denn es sind nicht die Diebe oder verurteilten Mörder. Auch Terroristen haben damit nichts zu tun, denn wenigstens kämpfen sie für ihren Glauben. Es sind die Leute, die Kindern kein warmes Wasser geben, weil sie sich ekeln und Obdachlose aus Bahnhöfen vertreiben, um sie sauber zu halten. Und es sind die braven Mittelstandsbürger, Mitte nicht nur nach ihrem Einkommen, die sterbenden Menschen nicht helfen, weil es kein Gesetz gebietet, und weil es eigentlich auch sehr unbequem wäre. Was sollte mich also davon abhalten, diese abstoßende Fassade zu durchstoßen? Sollte ich wegen des geringfügigen Unterschieds, der Art zu töten, ein schlechtes Gewissen haben? Nein.

Ich habe die Gesetze dieser Welt schon lange verstanden. Und mit jeder Sekunde, die die Kälte länger in mir wohnt, bin ich mir dessen sicherer. Ich gehe meinen Weg weiter in die Schwärze hinein.

Nur manchmal, wenn ich meine Gedanken eine Weile zu ungezügelt kreisen lasse, blicke ich zurück in das schwache Licht am Anfang dieses Tunnels, das kleiner und kleiner wird.







Es war bereits dunkel geworden und Straßenlampen hatte dieses Viertel wohl nie gehabt. Es war kaum möglich draußen irgendwas zu sehen, doch soweit Scully es erkennen konnte, war in der ganzen Straße kein Haus, in dem sie hätte wohnen wollen. Sie sahen so eingefallen und verlassen aus, dass es ihr kaum möglich schien, dass hier überhaupt jemand hauste. Aber sie hatte sich bestimmt 5 Mal auf der Notiz des Trainers vergewissert, dass sie hier richtig war. Die Unruhe, die sie schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, verstärkte sich. Was machte wohl ein Basketballspieler in einem derartig verkommenen Viertel? Sogar Sozialhilfeempfänger konnten sich etwas Besseres leisten. Hier trieben sich nur die finstersten Gestalten, die Ausgestoßenen der Gesellschaft rum.

Endlich hielt sie ihren Wagen vor Haus Nr. 47 an. Auch hier zeigten sich keine Lebenszeichen. Eine Weile blieb sie unentschlossen in ihrem Wagen sitzen und guckte noch einmal auf die Adresse. Wahrscheinlich war sie doch falsch. Sie würde einfach wieder abhauen, ohne zu gucken. Doch schließlich siegte das Pflichtgefühl. Sie stieg aus, fasste unsicher nach ihrer Waffe und ging schnell, ohne sich umzusehen, zur Tür.

Verzweifelt suchte sie nach einer Klingel, während sie immer wieder unruhig um sich blickte. Schließlich klopfte sie. Mit dem Rücken zur Wand wartete sie, doch sie fühlte sich nicht viel sicherer dabei. Es war unwirklich ruhig. Jedes Geräusch wurde von der tiefschwarzen Nacht aufgenommen. Die Scheinwerfer, die sie angelassen hatte, wurden schon nach wenigen Metern von ihrer kalten Dunkelheit verschluckt. Durch ein Zittern versuchte sie die Stille abzuschütteln.

Plötzlich durchschnitt ein herzzerreißendes Quietschen ihre Gedanken. Erschrocken zuckte sie zusammen. Die eiserne Tür war langsam aufgegangen, doch niemand kam dahinter zum Vorschein. Am liebsten wäre sie in ihr Auto gesprungen und hätte diese Gegend so schnell wie möglich hinter sich gelassen. Sie nahm sich ein Herz, atmete tief durch und tat mutig einen Schritt in den dunklen Flur des Hauses.







Wehmütig widerstand Mulder der Versuchung, wieder in dem Tagebuch zu lesen. Es wäre Scully gegenüber nicht fair gewesen. Eine Weile blieb er einfach so sitzen und starrte ins Nirgendwo. Scheißtag! Dann griff er sich endlich lustlos die Akte von Jeremiah King. Der schien ihm noch der interessanteste von den ganzen Typen zu sein. Mit geübten Augen überflog er das Blatt. Geboren in New York. Früher Tod der Eltern. Selbstmord und Raubüberfall. Das kam ihm so bekannt vor. Wahrscheinlich alles nichts besonderes für ein New Yorker Straßenkind. Doch da war noch mehr dahinter. Er grübelte und grübelte, doch sein Unterbewusstsein ließ ihn im Stich. Noch einmal ging er darüber, diesmal genauer.

Todesdatum des Vaters: 25. November 1986

Todesdatum der Mutter: 17. Dezember 1986.

17. Dezember. Das Datum hämmerte gegen seinen Kopf. 17. Dezember . Unsicher wühlte er in seinen Schubladen herum. Da fiel ihm das blaue Büchlein ins Auge. Natürlich, da hatte er es gelesen. Er öffnete es vorsichtig und starrte fassungslos auf den ersten Eintrag.

17. Dezember 1986... Blut....als hätte es den schmalen, zierlichen Körper meiner Mutter von außen durchtränkt...

In Mulders Kopf begann es zu arbeiten und plötzlich fügte sich in seinem Kopf das Puzzle zusammen. Jeremiah King war der Mörder! Er hatte gemordet, um Basketball zu spielen, um ganz oben zu sein. Und dabei hatten ihm seine Team-Kollegen, die statt ihm gespielt hätten, nun mal im Weg gestanden. Aber was war dann mit... Scully. Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals. Das eisig verhärtete Gesicht, das ihm seine Phantasie von dem jungen Basketballspieler ins Gedächtnis gezeichnet hatte, ließ ihn rennen, bis er vor Erschöpfung fast vor seinem Wagen zusammenbrach. Wie in Trance geleiteten ihn seine Hände, fest an das Lenkrad geklammert, durch die Stadt, in die Richtung, die ihm der Trainer angegeben hatte. Die roten Rücklichter der Autos sausten fast im Sekundentakt an ihm vorbei. Mit verschleiertem Blick fuhr er Slalom um sie durch die belebte Hauptstraße.

Endlich, längst in kleinere Nebenstraßen abgewichen, blieb er vor einem kleinen Schild stehen. Doch das zeigte nicht den Weg in eine schöne, breite Straße wie er erwartete hatte. Stattdessen tat sich vor ihm eine kleine, dustere Gasse auf, die er von dieser Seite nicht einmal befahren konnte. Der Eingang war durch eine Absperrung blockiert, so dass ihm nur zwei Möglichkeiten blieben: Entweder, er fuhr noch einmal quer durch die Stadt, um von der anderen Seite an die Straße heranzukommen oder er musste seinen Wagen hier stehen lassen und zu Fuß weitergehen.

Ohne zu zögern stürzte er aus seinem Wagen und hechtete durch die Absperrung, die jedem Auto die Zufahrt zur Straße verweigerte. Kein Geräusch, außer sein eigener ächzender Atem drang zu ihm durch. Bei jedem Atemzug zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Doch ein Durchhaltevermögen, das aus dem Nichts zu kommen schien, trieb ihn weiter, bis die Gasse schließlich in eine breitere, doch keineswegs angenehmere Straße mündete. Aus tausend schwarzen Fenstern starrten ihn Scullys gequälte Augen an. Eine eisige Hand klammerte sich um sein Herz. Gehetzt folgte er dem Lichtkegel seiner Taschenlampe, der in willkürlichen, blitzschnellen Bewegungen über den Asphalt zuckte.

Endlich sah er in der Ferne ein schwaches, doch näherkommendes Licht leuchten. Ein kleiner Hoffungsschimmer loderte in ihm auf, als er erkannte dass dessen Quelle Scullys Wagen war.

Hätte sie nicht so sehr damit recht gehabt, hätte Mulder jetzt über ihre urmenschliche Angst vor der Dunkelheit, die sie sonst vorgab, nicht zu haben, gelächelt. Doch seine Gedanken waren auf das Ziel fixiert. Training und Erfahrung hatten es nicht vermocht die Panik zu besiegen, die jetzt unter seiner Haut schwelte, jeder Zeit in Gefahr, der Furcht, jemanden zu verlieren, nachzugeben.

Kurz vor der Haustür blieb er stehen, um seinen Atem zu beruhigen, das Entsetzen unter Kontrolle zu bringen. Dann wagte er sich langsam zu der Tür, und lugte vorsichtig hindurch. Dort war es nicht viel heller als draußen und nur eine kleine Glühbirne, die ohne Lampenschirm von der Decke hing, erhellte den Raum. Seine Augen, die noch von den grellen Scheinwerfern geblendet waren, mussten sich erst an das düstere Licht gewöhnen. Doch dann konnte er auf der gegenüberliegenden Seite eine Tür erkennen. Er wollte sich ihr mit gezogener Waffe ebenso vorsichtig nähern, als er plötzlich in der Mitte des Raumes versteinerte. Aus dem Raum vor ihm war Scullys Stimme zu hören, in der fast unkenntlich überspielt, doch für ihn riesengroß, die Panik aufflackerte. Bedrängt, so leise und schwach, dass er es kaum hörte, wimmerte sie: „Nein, bitte nicht. Sie müssen das nicht tun.“

Mulder hatte es nicht für möglich gehalten, dass nach all den Jahren der Abstumpfung beim FBI noch so viel Gefühl in ihm stecken würde. Eine ungeheure Welle von Wut, Angst und Verletztheit stieg in ihm auf und übernahm die Kontrolle über seinen Körper. Mit einem Wutschrei durchtrat er die Tür und stürzte einen fremden, schwarzen Mann zu Boden, der gerade noch die Schulter seiner kleinen Scully berührt hatte.

Ohne nachzudenken prügelte er auf ihn ein, bis ihn plötzlich ein eisiger Schock durchfuhr. Er hatte über kurz oder lang damit gerechnet, doch nun da er da war und ihn rasend schnell durchfuhr, ihm jedes einzelne Haar zu Berge stehen ließ, wäre er fast ohnmächtig geworden. Mit letzter Kraft wälzte er sich von Jeremiah King und versuchte, der Schwärze, die seinen Verstand schon halb umdunkelte zu trotzen. Er wusste, wenn er ihr nachgab war das sein Tod.



Was für Idioten. Jetzt habe ich den zweiten Agenten auch noch getötet. Und was für zwei schräge Vögel sind das überhaupt? Verständnislos sehe ich auf die beiden hinunter. Wären sie nicht so weiß wie eine Wand, könnte man meinen, dass sie nur ein gemütliches Schläfchen auf dem Boden halten. Mit einander zugewandten Gesichtern werden sie jetzt hier liegen bleiben. Der Arm des Mannes ist weit ausgestreckt, in einer letzten Regung, die Finger sehnend und bangend nach seiner Partnerin reichend. Ein grotesker Zufall? Es ist eine seltsame Methode nacheinander hier hereinzukommen. Und was glauben die überhaupt, dass man mir ohne Waffe beikommen kann? Was ist da los gewesen? Ob noch jemand von mir weiß? Dann war alle Mühe umsonst und ich muss mich wieder von neuem in einer anderen Stadt vom Nullpunkt aus aufwärts kämpfen. Ich habe so gut wie kein Bargeld bei mir.

Ich muss es riskieren zu bleiben. Obwohl ich weiß, dass eine Verhaftung den Tod bedeuten würde, fühle ich nicht einen Schimmer Furcht, nur seltsamerweise... Trauer. Ich senke meinen Blick wieder auf die leere, langende Hand. Plötzlich beginnt in mir ein riesiger Wirbel erdrückender, unbestimmter Gedanken zu toben. Die schwarzen Wände meines Heims engen mich ein. Gejagt schnappe ich mir den Autoschlüssel der Agentin und stürze blind aus dem Haus.



Wie aus Hunderten Kilometern Entfernung hörte er ein leises Echo von Schritten durch das Dröhnen in seinem Kopf. Dann wurde es ruhig. Bald fühlte er wie sein Körper begann zu beben. Er wurde von der Kälte regelrecht geschüttelt. Mulder schlug die Augen auf und zuckte sofort erschreckt zurück. Direkt vor ihm lag das leichenblasse, tote Gesicht von Scully. War er zu spät?

Keuchend überwand er seine Müdigkeit und kroch zu ihr. Seine Hände tastete nach dem Puls an ihrer kalten, kleinen Hand. Langsam, sehr langsam spürte er, wie sich ein zartes Klopfen, stärker werdend, gegen seinen Finger drückte. Unglaublich erleichtert, kroch er zu Scully und umschloss sie mit seinen Armen. Eine wohlige Wärme kroch aus ihrem in seinen Körper und seine Sinne wurden wieder wacher. Ein blumiger, köstlicher Duft, der seine Konzentration völlig gefangen hielt, obwohl er ihn doch schon ewig zu kennen schien, stieg ihm in die Nase und kroch durch seine Adern. Langsam vergaß er das Davor und Danach. Und irgendwann verschwand mit der Umgebung auch das Jetzt. Mulder hätte weinen mögen, so wohl fühlte er sich in dieser warmen, duftenden Welt.

Plötzlich brachte ihn ein schwacher Laut wieder zur Besinnung. Ihre Lippen, Scullys blaue Lippen bewegten sich. Mit verklärtem Blick, kaum bei Bewusstsein hauchte sie ihn an: „Hallo Schatz!“ Verwirrt spürte Mulder, wie ihr kleiner Finger zärtlich über seine Lippen strich, um dann über seine unrasierten Wangen zu wandern. Sie lächelte: „Ich mag’s, wenn du Bart hast!“

Unfähig sich zu rühren, blieb er mit klopfendem Herzen liegen. Er spürte wie sich ihr Körper gegen seinen drückte und ihm wurde heiß und kalt. Wie von einem Magnet wurde sein Blick in das Blau ihrer Augen, dessen Tiefe ins Unermessliche zugenommen hatte, hineingesogen. Ihre Wimpern klimperten verspielt aneinander und ließen für eine halbe Sekunde, die Mulder in atemlose Verzweiflung stürzte, die Welt hinter ihren Lidern verschwinden. Seinen Sinnen ausgeliefert, schloss er die Augen und der Widerstand sie zu küssen brach. Zaghaft berührte er ihre kalten, doch feuchten, weichen Lippen und strich sachte über sie. Ein warmes Flattern floh durch seine Brust, als Scully die zarten Berührungen erwiderte. Jegliche Gedanken, an Sinn oder Folgen verbannte er aus seinem Bewusstsein. Die bedrohliche, eiskalte Dunkelheit um ihn hatte sich verflüchtigt, bis er plötzlich davon aufschreckte, dass Scullys Lippen verstummt waren. Augenblicklich wich er zurück. Sie bewegte sich nicht. Was um Himmels Willen hatte er getan? Scully phantasierte halb erfroren vor sich hin, und anstatt etwas zu tun, nutzte er das auch noch aus. Was war er für ein fürchterliches Arschloch. Sie würde ihn hassen. Sie hasste alle Männer, die ihr Entscheidungen abnahmen. Und er war einer davon, dachte er schmerzlich. Er hatte es ihr genauso schwer gemacht, wie jeder der intoleranten Schweine beim FBI. Und trotzdem hatte sie nicht aufgegeben. Es war ihm rätselhaft wie, und vor allem warum sie das durchstand. Schwach und fast durchsichtig schien sie in dem düsteren Licht. Wie ein Schatten schwebte sie im Raum, schon halb vom Wind davongetragen. Lange würde sie es ohne Hilfe nicht mehr schaffen. Er musste sie hier wegbringen, aber zu seinem Wagen war es zu weit. In seinem Zustand schaffte er das niemals. Schmerzhaft, so weit er sie überhaupt spüren konnte, knackten seine Glieder, als er Scully aufhob und nach draußen schleppte. Erschöpft ließ er sie in das feuchte Gras vor dem verlassenen Haus sinken und griff nach ihrem Handy. Seines hatte er bei seinem eiligen Aufbruch vergessen. Doch auch Scullys war unbrauchbar geworden. Ihr heftiger Sturz hatte es hoffnungslos zerschmettert. Er biss sich auf die Lippen. Nicht aufgeben. Wieder raffte er sich auf und hastete in das Nachbarhaus. Wie erwartet regte sich dort nichts. Er schluckte den weiteren Schlag hinunter und rannte zum nächsten Haus. Immer wilder und gehetzter durchforstete er die Straße nach einem Lebenszeichen, bis er schließlich verzweifelt neben Scully zu Boden sank. Hoffnungslose Gedanken purzelten in ungeordnetem Chaos durch sein Gehirn. Er legte seinen Kopf in die Hände. Sie würden beide sterben und das alles nur, weil er wie gewöhnlich das Aktenlesen zu lange aufgeschoben hatte. Tränen der Erschöpfung stiegen ihm in die Augen und er hatte nicht mehr die Kraft sie zurückzuhalten. Die Kälte der Nacht drang langsam durch das klamme Hemd, das er noch trug. Irgendwann fielen ihm die Augen zu und sein Körper kippte langsam zur Seite.





Die Schmerzen pochten durch jedes einzelne Glied in seinem Körper. Ihn juckte es überall. Mühsam öffnete Mulder seine schweren Lider, um in grelles Licht zu blinzeln. Draußen ging gerade die Sonne unter und schickte ihre letzten roten Strahlen in das Krankenhauszimmer. Etwas verwirrt sah er sich um. Wie war er denn diesmal hier hergekommen? Vorsichtig darauf bedacht zusätzliche Schmerzen zu vermeiden, setzte er sich stöhnend auf. Dann drückte er ungeduldig auf dem roten Knopf herum, den er neben seinem Bett entdeckte. Nichts passierte. Er erforschte seine Umgebung weiter und fand schließlich drei weitere Knöpfe. Eine Weile rätselte er herum, welcher wohl der war, der hier mal jemanden antanzen ließ. Er fühlte sich nämlich ein wenig einsam und irgendwie auch orientierungslos. Kurz entschlossen hämmerte er auf alle ein. Es wurde verdächtig still. Schließlich nahm er die Sache selber in die Hand, stieg aus seinem Bett und öffnete die schneeweiße Tür zum Gang. Auch hier tat sich nichts. Es war wie ausgestorben. Ein kalter Windzug strich ihm unter das Krankenhaushemd und das erste Mal wurde ihm bewusst, dass er unter dem dünnen Ding vollkommen nackt war.

Etwas hilflos tapste er barfuss über den kalten Gummiboden zur nächsten Kreuzung zweier Gänge. Unentschlossen sah er in jeden von ihnen hinein. Sie sahen so absolut gleich aus, dass er sich nicht entscheiden konnte. Er zog die Stirn ein wenig kraus und wollte sich gerade der Erforschung des ersten widmen, als er plötzlich ein Rumpeln, das aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien, hörte. Unsicher tat er einen Schritt rückwärts in Richtung seines Zimmers. Was war das? Es hörte sich nicht wie ein Erdbeben an. Ehe er einmal mit der Wimper gezuckt hatte, sausten plötzlich drei außergewöhnliche Gefährte, von einem ohrenbetäubenden Geschepper begleitet, um die Ecken von allen drei Gängen, auf ihn zu. Entsetzt tat er eine Satz nach hinten und keinen Moment zu früh, denn die drei Stahlmonster krachten in vollem Tempo gegeneinander, verhakten sich und etliche ihrer metallenen Bestandteile wirbelten durch die Luft. Mulder hielt sich schützend die Arme vor sein Gesicht und wartete bis der Lärm verstummt war. Endlich wagte er wieder ein Auge zu öffnen, um sich zu vergewissern dass er nicht träumte. Noch einmal zuckte er zusammen, als eine letzte Stahlstange zu Boden krachte.

Dann bemerkte er, wie sich hinter den geschrotteten Gestellen, die entfernte Verwandte von Krankenhausliegen sein musste, ein paar eingezogene Köpfe regten. Drei junge Menschen, ausnahmslos in Pflegertracht, tauchten schuldbewusst auf und starrten ebenso perplex auf das Durcheinander wie Mulder. Für einen Moment sahen sie sich still an, um dann ohne Vorwarnung in ein hoffnungsloses Gezeter auszubrechen. Mit einem wilden Blick zerrte jeder an dem, was von seinem Gefährt übriggeblieben war und schimpfte währenddessen unablässig auf die anderen ein. In Sekundenschnelle waren sie wieder klappernd und scheppernd dahin verschwunden, wo sie hergekommen waren. Mulder war verdutzt zurückgeblieben und hätte auf dem Boden nicht ein Chaos von Metallstangen gelegen, hätte er sich gefragt, ob er das eben geträumt hatte. Ob das jetzt wohl das Leben nach dem Tod war?

Ein rührige Stimme hinter ihm, ließ ihn zusammenzucken. „Was Sie gerade miterleben durften, war einer der vervollkommnesten Krankenhaus-Pflegeleistungen der Welt. Sämtliche Geräte sind hochtechnisiert und werden ständig dem genauesten Stand der Entwicklung angeglichen. Wir bieten chirurgischen, ambulanten, wie auch diagnostischen Beistand auf Knopfdruck des Patienten.“

Mit großen Augen wandte sich Mulder zu einem etwas verplant aussehenden, doch jungen Professor zu. Der rückte mit einer beeindruckenden Gesichtsakrobatik seine Brille zurecht, strich sich erfolglos die abstehenden Haare nach hinten und fügte zackig und etwas affektiert hinzu: „Zugegeben, es ist noch etwas verbesserungsbedürftig.“

Mit einem Schnappen zückte er Kugelschreiber und Notizblock, blickte über seine Brille hinweg und schrieb mit gerümpfter Nase: Verkehrsschilder aufhängen!

Neugierig ließ Mulder seinen Blick die restlichen Einträge hinaufwandern.



Wasserversorgung & künstliche Beatmung regeln

Sekretärin aufwecken

Tragendes Seil im Aufzug flicken

Voltanzahl der Elektroschockgeräte herunterdrehen.

Stromkabel isolieren



Er rückte ein ganzes Stück von dem Professor weg. Es weckte in ihm einiges an Erstaunen, dass er hier drinnen solange überlebt hatte. Sein Gegenüber fuhr ungerührt fort. „Wir befinden uns in einem geheimen Krankenhaustrakt, über 4 Stockwerke groß, der eigens für Agenten und andere Regierungsbeauftragte geschaffen wurde, um dummen Fragen der Behörden zu umgehen. Wir beschäftigen ausnahmslos junge Leute, die an der Universität ausgezeichnet abgeschnitten haben und sind ein junges, aufstrebendes Unternehmen, stets auf der Suche nach neuen Verbesserungen. Für etwaige Vorschläge wenden Sie sich bitte an die Sekretärin.“

„Aber die schläft!“, platzte Mulder heraus. Der Professor musterte ihn mit einem abschätzigen, irritierten Blick und sagte: „Mit derlei nebensächlichen Dingen beschäftigt man sich in diesem Krankenhaus nicht. Guten Tag!“

Mulders Gesellschaft müde geworden, machte er auf dem Absatz kehrt und machte sich emsig auf zu neuen Inspektionen. Mulder lief ihm verblüfft hinter her.

„Warten Sie!“

Der Professor blieb, mit einem vorwurfsvoll genervtem Blick stehen. „Ihrer Partnerin geht es gut.“

„Meiner Partnerin?“, wieder versuchte Mulder sich zu erinnern wie er hier hergekommen war.

„Ja, Dana Scully. Zimmer 109. Man hat Sie beide mit starken Unterkühlungen an einem sehr, sehr abstoßenden und unschönen Ort gefunden.“ Er schüttelte sich bei der Erinnerung daran. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich habe zu tun.“ Der Professor erhob seine Nase wieder auf ursprüngliche Erhabenheit und wuselte davon.

Völlig entgeistert von dessen konfuser Erscheinung blieb Mulder zurück, um sich eine Weile zu sammeln. Dann schluckte er sämtliche Fragen hinunter und machte sich auf die Suche nach Scullys Zimmernummer. Endlich fand er sie und trat leise ein. Das wäre jedoch nicht nötig gewesen. Scully saß aufrecht, mit unglaublich verstrubbelten Harren in ihrem Bett und begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. Auch auf sein Gesicht zog sich unweigerlich ein Grinsen. Doch das erlosch und wandelte sich in eine zarte Röte, als Scully langsam an seiner spärlichen Bekleidung hinuntersah.

Möglichst unauffällig wandte er sich dem Spiegel neben ihm zu, um einen Blick auf seine Erscheinung zu erhaschen. Er vergaß die Verzweiflung darüber, als er im Spiegel Scully dabei ertappte, wie sie hektisch versuchte, ihre Haare in Ordnung zu bringen.

Scheinheilig verschwanden ihre Hände wieder unter der Decke, als er sich grinsend zu ihr umdrehte. Dann sagte sie: „Ich nehme an, Jeremiah King sitzt bereits hinter Gittern?“

Mulder fühlte wie in seinem Kopf ein Schalter umgelegt wurde, als er diesen Namen hörte. Aus den Tiefen seines Unterbewusstseins gruben sich langsam die Erlebnisse der vergangenen Nacht hervor. Er starrte Scully an. „Nein...“ Sie zog ihre berühmte, einzelne Augenbraue hoch.

„Er ist entkommen, er ist...“, Mulder sah erschreckt auf seine Uhr, „Er ist genau jetzt bei dem Spiel, wo er wahrscheinlich gerade sein nächstes Opfer findet. Können Sie aufstehen? Dann ziehen Sie sich an. Ich warte in 5 Minuten vor dem Krankenhauseingang... wenn ich ihn finde“, fügte er mit einem Anflug von Verwirrung hinzu, woraufhin Scully ihn mit einem besorgtem Blick bedachte.

Mulder eilte wieder hinaus und zurück in sein Zimmer, um sich seine Anziehsachen überzustreifen. Dann irrte er durch die Gänge, bis er schließlich den Ausgang fand.

Dort wartete Scully schon in einem Taxi auf ihn. Offensichtlich waren ihre Lebensgeister bereits wieder weitaus besser aktiv als seine.

Er hüpfte zu ihr auf den Rücksitz und sie rasten, so gut das bei dem Verkehr in Washington ging, zu den Sporthallen der Wizards. Schon als sie aus dem Wagen stürzten, hörten sie das laute Gejubel der Fans.

Diesmal eilten sie durch den Haupteingang und fanden sich in einer riesigen Menschenmenge wieder. Mulder griff nach Scullys Hand, um sie nicht zu verlieren. Unwillkürlich drückte er sie und stellte fest wie entsetzlich froh er darüber war, dass sie sich wieder warm und lebendig anfühlte.

Er kämpfte sich einen schmalen Weg durch die Masse und zog Scully hinter sich her, bis sie freie Sicht auf das Spielfeld hatten. Es war schwer, die Spieler auseinander zu halten, zumal er ihre Nummern nicht zuordnen konnte. Mit geübtem Blick prüfte er jedes einzelne Gesicht und versuchte Jeremiah Kings Züge darin zu erkennen. Doch immer wieder verlor er die Kontrolle über das Geschehen und die Spieler vermischten sich von neuem zu einem bunten Wirrwarr aus roten und gelben Trikots. Hilflos biss er sich auf die Lippe. Da flog auf einmal dicht an ihm vorbei ein vertrautes Antlitz. Instinktiv zog er seine Waffe und in diesem einen Atemzug der nachlassenden Konzentration verschwand es wieder aus seinem Sichtfeld. Verzweifelt jagte Mulder seinen Blick über das Spielfeld und plötzlich wurde ihm bewusst, dass der kleine, flinke Spieler am Ball, kein anderer als Jeremiah King war. Gespannt verfolgte er jede seiner Bewegungen, eine Gelegenheit suchend, in der dieser etwas isolierter stand, damit er nicht so leicht entwischen konnte, wenn er ihn stellen wollte. Doch im Moment war das nicht möglich, noch immer war er in Ballbesitz. Der Trainer hatte Recht. King spielte mit Leidenschaft. Seine Augen funkelten, wenn er sich zwischen den anderen Spielern gekonnt hindurch schlängelte. Doch er gab niemals den Ball ab, auch nicht wenn ein anderer Spieler frei stand. Er war in seine eigene Welt versunken und kämpfte verbissen gegen ein paar Statisten, die ansonsten nichts mit ihm zu tun hatten. Mulder spürte kaum, was mit ihm geschah. Diese tiefen, schwarzen Augen konnten sprechen. Sie erzählten nicht nur ein ganzes Leben, sie erzählten von einer düsteren, melancholischen Wahrheit, nur jenen offengelegt, die sehen wollten.

Verschwommen nahm er das Geschehen war, während er versonnen die geschmeidigen Bewegungen Kings beobachtete. Plötzlich kam Hektik ins Spiel. Jeremiah King stieß einen wütenden Schrei aus, als ihm der Ball unvermittelt von einem Gegner aus der Hand geschlagen wurde. Wie aus einem Traum erwachte Mulder und realisierte langsam was auf dem Spielfeld geschehen war. Langsam, unbeeinflusst von Mulders wilden Gebeten, innezuhalten, wollte sich die Hand auf die Schulter des Spielers legen. Verzweifelt schrie Mulder, um den Todgeweihten zu warnen, doch es ging in dem Gebrüll der Menge unter. Erst jetzt zog er seine Waffe und stürzte über die Bande. Nun wurde er dem Publikum und auch King gewahr. Einen Moment hielt er inne und das erste Mal sah Mulder direkt in seine klaren, tiefen Augen. Fast hätte ihn die Gewalt der Gedanken, die er darin wiedererkannte übermannt. Unsicher rief er in die Totenstille: „Nehmen Sie die Hände hoch!“ Alle Spieler erhoben ihre Hände rasch, bis auf Jeremiah King.



Was erwartet Gott von mir? Den Kampf weiter zu existieren, und wenn es sein muss gegen das Leben. Gott gegen das Leben. Ich wusste es war falsch. Und ich meinte zu wissen warum. Denn es gibt ihn nicht, wie es auch die Liebe nicht gibt. Dunkelheit und Schatten. Hass und Leidenschaft. Aber nicht die Liebe.

Doch was ist das? Beim Anblick dieses Agenten, blitzt die Erinnerung an eine nur unscheinbare Geste mit mehr Härte auf. Ein zierlicher Sonnenstrahl strahlt in die umnachtete Welt, lässt den Schmerz in mir auflodern. Er brennt und frisst mich von innen auf, denn dadurch vertreibt er die Kälte. Der eiserne Soldat flieht und lässt eine wahnsinnige Lücke zurück.

Nun dämmert es mir. Langsam tritt es an die Oberfläche und ich sehe klar. Dies war nicht die Geschichte der Welt. Es war meine Geschichte. Die Geschichte eines Irrtums. Ein kleiner Fehler in meiner genialen Gleichung, ein Faktor so riesig, dass er meinen nach winzigen Details spähenden Augen entging.

In diesen Momenten habe ich alles verloren. Ich erkenne, dass ich immer die Wahl hatte. Es gab eine andere Seite, als diese hier, die ich in der Winternacht gewählt und dann gelebt habe. Wenn es auch den Kältetod bedeutet hätte, wäre es besser gewesen, als ewig leidend zu kämpfen und zu vernichten. Es wäre klüger gewesen, als etwas zu bekriegen, das man nicht ausrotten kann.

Was hat Gott von mir erwartet? Nichts, was manchmal alles bedeutet. Beides habe ich ihm versagt.



Jeremiahs Arme blieben unten. Stattdessen, näherte er seine Hand weiter der Schulter seines vorherigen Spielgegners, der dies erst jetzt verwundert registrierte.

Hilflos blickte Mulder zwischen den beiden hin und her. Er sah, dass da etwas nicht stimmte. Keine Spur der Wut fand sich mehr in Jeremiahs Zügen. Mit sicherer Hand folgte der seinem Kurs, ohne seinen Blick von Mulder nehmen.

In diesem lag jetzt etwas, was Mulder nicht erwartet hatte. Sehnsucht. Warten. In diesen Erkenntnissen gefangen, schwamm ihm die Zeit davon. Es war immer noch das Leben eines Unschuldigen, das er gefährdete, wenn er Jeremiah jetzt nicht tötete.

Dann drückte er ab. Und in dieser Sekunde sah er etwas in den schwarzen Augen. Die Berechnung des eigenen Todes. Der Rückstoß des Schusses traf Mulder wie ein Schlag und zuckte durch seinen Körper. Einen Moment schloss er die Augen und versuchte den Schmerz zu verdrängen, der durch seinen Kopf pulsierte und die Gedanken durcheinanderwirbelte.

Er öffnete sie wieder und starrte in das Chaos, dass nun um ihn herum ausbrach. Mit Bedauern betrachtete er das erstarrende Angesicht Jeremiahs. Ein ganz normales totes Gesicht, wie er es Hunderte Male gesehen hatte und doch... Es schien Mulder fast, als verstecke sich da ein Lächeln, über einen Witz lachend, den niemand anders verstand. Nachdenklich biss er sich auf die Lippe und drehte sich um, um dort Scully zu entdecken, die sich wie ein Ruhepool gegen die drängende Menge abhob.







Ende
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